Die Wolkengucker

N ATU R
Himmel über Berlin:
Dank der Nähe zur
Ostsee hat die Stadt
einen wolkenreichen
Horizont.
Foto: Vera Rüttimann
Die Wolken gucker
Auch von oben haben Wolken ihren Reiz.
Foto: Vera Rüttimann
blauer, wolkenloser Himmel ist für ihn
kein Sinnesgenuss. Oft zieht es ihn bei
Wetterlagen hinaus, bei denen die meisten Menschen lieber zu Hause bleiben.
Während manche Menschen einen wolkenverhangenen Himmel verwünschen,
drehen andere dabei richtig auf.
Die «Cloudspotter» (Wolkenbeobachter)
gehen einer eigentümlichen
Freizeitbeschäftigung nach.
Foto: Ph
otocase
von Vera Rüttimann
D
as Wetter an diesem Frühlingstag ist für Gerhard Lang eine
wahre Freude. Schon am frühen
Mittag hängt über der Lüneburger Heide
eine Wolke vom Typ Cumulus, eine
weisse Schönheit von imposanten Ausmassen. Dann peitscht der Westwind
Wolke an Wolke dem Horizont entlang.
Ein ständiger Wechsel ineinander übergehender Formen beginnt. Gegen Abend
geht das Zartgrau in bedrohliches
Schwarz über. In diesem Moment ist
Lang im Einklang mit der Welt, denn ein
Gesellschaft
zur Wertschätzung der Wolke
Die flaumigen Gebilde am Firmament
sind für den Wissenschaftler und Aktionskünstler geschätzte Weggefährten. Der
43-Jährige ist ein «Cloudspotter», einer,
der sich in der Freizeit dem Spiel der
Wolken hingibt. Mit seiner Passion ist er
einer unter den vielen Hundert Mitgliedern der «Cloud Appreciation Society»,
der Gesellschaft zur Wertschätzung der
Wolke. Seit dem Jahr 2004 besteht der
Wolkenklub; er hat mehr als 10 000 Mitglieder in 44 Ländern. Täglich kommen
neue hinzu. Was der Niedersachse im
Gründungsmanifest las, traf bei ihm
einen Nerv: «Wir glauben, dass Wolken
zu Unrecht schlechtgemacht werden
und dass das Leben ohne sie unendlich
ärmer wäre.»
Auf der Website des Wolkenklubs traf
Lang auf Leute, die sich wie er schon
immer ärgerten, dass der Himmel auf
Kalender- und Werbebildern grundsätzlich blau sein muss. «Ich halte es durchaus für denkbar, dass ein paar pfiffige
Anwälte der Werbebranche auf den Gedanken kommen, für jede Wolke am
Himmel Schadenersatz zu fordern», sagt
Lang mit scherzhaftem Unterton. Ihn erstaunt es nicht, dass die mit viel Wolkenwetter «gesegneten» die Briten mit 3800
Mitgliedern die grösste Gruppe der
Cloud Appreciation Society stellen. Gegründet wurde die Vereinigung von Gavin
Pretor-Pinney, auch er ein Engländer.
Der 38-jährige Journalist mit Universitätsabschluss in Philosophie und Meteorologie war von Kindheit an fasziniert
von den Himmelsgebilden und liess sich
durch ihre Traumwelten inspirieren.
Auch ihm war früh aufgefallen, dass die
Menschen annehmen, nur ein wolkenloser Himmel mache einen Tag erträglich.
Wolken, sagt Gavin Pretor-Pinney hingegen, werden in Wahrheit masslos unterschätzt. Der Journalist erkannte, dass
die durch Tourismus und Werbung untermauerte Haltung vom ewigen Himmelsblau kaum aus den Köpfen der Leute herauszubringen ist. Pretor-Pinney
nahm sich zum Ziel, die Menschen dazu zu verführen, dass sie Wolkengebilde anders und facettenreicher wahrnehmen sollten. «Die Leute beklagen sich oft
über Wolken. Sie sehen in ihnen immer
nur die Metapher für schwere Zeiten.
Wenn Wolken am Horizont aufziehen,
heisst das für die meisten nichts Gutes.
Das wollte ich ändern.» Und so gründete er bei einem Literaturfest in Cornwall die Cloud Appreciation Society.
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Fotos: Vera Rüttimann
Zunächst dachte er, dass sich für sein
Thema kaum jemand ernsthaft interessieren würde. Doch Menschen in aller
Welt begannen, seinen Rechner mit
Wolkenbildern zu überfluten. Auf das
grösste Interesse stiess die Vereinigung
bei Bewohnern wolkenarmer Gegenden.
Selbst eine Baustelle wird mit passender Wolkenkulisse poetisch.
Der Himmel weidet seine Schäfchen.
Buchtipp
Gavin Pretor-Pinney: Wolkengucken.
Heyne-Verlag, .  Seiten,
Fr. .. ISBN ----.
www.cloudappreciationsociety.org
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Gefühlsstarke Gebilde
Joachim Vehse, ebenfalls Mitglied des
Wolkenklubs, traf Gavin Pretor-Pinney
in Hamburg, wo der Brite vor Publikum
unlängst über die Cloud Appreciation
Society sprach. «Ein sympathischer Kerl,
leicht exzentrisch, was mir ohnehin an
Engländern gefällt», sagt Vehse. Der 57Jährige ist seit April 2006 bei den Cloudspotters, Mitgliedsnummer 2836. Sein
ursprüngliches Interesse an dieser «typisch englischen Idee» galt zunächst
dem eher schrulligen Aspekt des Themas. Bald jedoch liess er sich von PretorPinneys Leidenschaft anstecken.
Mittlerweile kennt sich Vehse am Himmel bestens aus. Kommt ein Gebilde herangezogen, kann der Norddeutsche es
sofort der Wolkenfamilie Stratus, Cumulus oder Nimbus zuordnen. Vehse weiss
auch, welche Wolken Hagel oder Schnee
verheissen oder welche bei Ballonfahrern und Segelfliegern gefürchtet sind.
Nur die Bezeichnungen für die Wolkenunterarten muss er noch lernen. Seine
Kenntnisse gewinnt der gebürtige
Kieler hauptsächlich aus Pretor-Pinneys
launig geschriebenem «Cloudspotter’s
Guide», der in England zu einem Bestseller avanciert ist. Mit dem Buch
betrachtet der Autor das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln: vom künstlerisch-ästhetischen über den emotionalen bis zum wissenschaftlichen. Es
ist die Komplexität des Themas, die Wolkenfans wie Vehse fasziniert: Einerseits
sind es Phänomene, die physikalischen
Gesetzmässigkeiten gehorchen, andererseits üben Wolken eine starke Wirkung
auf die Gefühle der Menschen aus.
Wolke des Monats
Das Buch hat Joachim Vehse bereits von
vorn bis hinten studiert, doch am liebsten tauscht sich der Gymnasiallehrer –
er unterrichtet Religion – mit Gleichgesinnten im World Wide Web aus. Im
Netz können alle in die für Aussenstehende etwas sonderbar anmutende Welt
der Wolkenenthusiasten eintauchen.
Im Onlineshop gibt es CloudspotterT-Shirts zu kaufen. Ausserdem hat
jeder die Möglichkeit, seine eigenen
Wolkenbilder und -gedichte ins Netz zu
stellen. Mit Glück wird das Gewölk vielleicht sogar zur «Wolke des Monats»
gekürt. In einer anderen Spalte werden
Nachrichten über Geschichte, Wissenschaft und Kultur aus der Welt der Wolken zusammengetragen.
Vor allem der Cloud-Chat ist eine wahre Fundgrube für Wissensdurstige, die
noch das letzte Detail über ihre Lieblingswolkenformation in Erfahrung
bringen möchten. Am Chat beteiligen
sich nicht nur Meteorologen und Wolkenphysiker, sondern auch Segelflieger
und Hobbyknipser. Gemeinsam schwärmen sie von atemberaubenden Erscheinungen wie der «Morning Glory» in
Australien – einer bis zu tausend Kilometer langen Wolke, auf der Segelflieger regelrecht surfen. Im Chat erfahren
sie etwa, dass der englische Apotheker
Luke Howard im Jahre 1803 der Erste
war, der Wolken in Kategorien einteilte, um Ordnung ins Durcheinander der
Begriffe zu bringen. Sie lernen, dass
2004 an der Society for Arts and Technology in Montreal eine Wolkenharfe
aufgebaut wurde, ein Instrument, das
die Bewegungen am Himmel in Musik
umwandelt. Beliebt sind Chats, in denen
etwas über die Bedeutung der Wolken in
den Religionen und Mythen, aber auch
in der Kunst in Erfahrung gebracht
werden kann.
Gerade unter Künstlern hat Wolkengucken Tradition, wie etwa bei dem italienischen Renaissance-Maler Andrea
Mantegna, der ein Reiterbild in einer
Wolke versteckte. In der Malerei sind
Wolken die Sofas der Heiligen, ihre
Möbel zwischen Himmel und Erde. Für
den amerikanischen Fotografen Alfred
Stieglitz, ebenfalls ein passionierter
Himmelsgucker, sind Wolken «die abstrakte Kunst der Natur». In der Kunst
gingen Wolken und christlicher Glaube
zudem schon immer Hand in Hand. Die
Naturgebilde dienten Künstlern schon
früh als Symbol für Religiosität und
Transzendenz.
«Spaziergangswissenschaftler»
Gerhard Lang wiederum, der sich Spaziergangswissenschaftler nennt, stillt
seinen Wissensdurst seit 1996 auf Wan-
derungen durch Wolken. Ausgerüstet
mit einem Wolkenset – einer Kiste, in
der sich Scheidetrichter und Datenformular befinden –, mit meteorologischem
Gerät und Proviant geht es in irdische
Höhen, auf Hügel und Berge. Hat er eine
interessant erscheinende Wolke erspäht,
taucht er in den Wolkennebel ein und
untersucht dessen Temperatur, den Luftdruck und die relative Feuchtigkeit.
Am Ende der Prozedur wird der Wolke eine Probe entnommen. Sobald sich
2000 Milliliter Wolke in einer Flasche
befinden, wird sie verschlossen und zu
Forschungszwecken aufbewahrt. Um
seine eigenwillige Arbeit, die er Nubeologie nennt, darzustellen, veranstaltet
Lang Vorträge und präsentiert dort jeweils Wolkenkonserven, Datenblätter,
topografische Karten sowie Wolkenbilder. Für Lang sind Wolken Gebilde mit
Seele: Mit ihnen verbindet er Sehnsucht,
Weite und Fernweh. Das hat zur Folge,
dass er auf seinen Datenblättern eher
Ungewöhnliches notiert: Ist die Wolke
weich oder hart? Wie klingt sie? Hat sie
ein besonderes Aroma? Welchen Geschlechts mag sie sein? Manchmal
kommt sie ihm vor wie eine Zuckerwattemaschine ohne Aus-Schalter.
Als Kenner der Szene weiss Gerhard
Lang natürlich von der Wolkenforschungsstation Jungfraujoch im Berner
Oberland. Dort nutzt der Atmosphärenchemiker Urs Baltensperger vom
schweizerischen Paul-Scherrer-Institut
die einzigartigen hochalpinen Umweltbedingungen für seine Wolkenforschung. Auf 3500 Metern können Forscher hier nicht nur an Ort und Stelle die
Wolkenbildung studieren, sondern auch
direkt in Wolken Messungen vornehmen.
Gut für die Seele
Bei seinen «Cloud-Walks» hat Gerhard
Lang seinen Blick für Wolken geschärft:
Zirren, die wie weisse Kringel am Himmel hängen, erkennt er sofort. Er weiss,
dass fransige Streifen Vorboten eines
Wetterumschwungs sind, dass der Cumulus zu Recht den Titel Schönwetterwolke trägt und die Stratuswolke alles
in ein milchiges Einerlei legt. Auch die
englische Zeitung «Sunday Times» hat
das passionierte Wolkenbeobachten
aufs Korn genommen und Cloudspotting flugs zur neuen Religion erklärt.
Gewitteraufzug über Luzern.
So weit möchten die beiden Klubmitglieder nicht gehen. Für Joachim Vehse
drückt das Wolkengucken seine grosse
Lebensfreude an Dingen aus, die ohne
grossen Aufwand zu beachten und zu
geniessen sind. Die Betätigung sei
zweckfrei, sie gelte ganz dem ästhetischen Empfinden und dem gepflegten
Nichtstun.
Es ist jedoch auch das Metaphysische,
das Transzendentale, das den studierten
Theologen am Himmel fasziniert: «Beobachten wir den Himmel, so lehrt uns
das auch, die Vergänglichkeit des Lebens
zu akzeptieren; es erzeugt Sehnsucht
nach Ferne und sogar Jenseitigkeit», sagt
Vehse. Beobachte er Wolken, entspanne das Körper und Geist – eine Art Himmelsmeditation. Man nehme kurzzeitig
Tempo aus seinem Leben. Betrachte
man den Himmel, wie er sich verändere, dann schaue man auch in sich selbst.
Wichtiger als jedes meteorologische
Wissen über das Geschehen am Himmel
sei deshalb die Fähigkeit, Wolken zu «lesen». Ganz nach der Devise von Gavin
Pretor-Pinney: «Wolkengucken ist gut
für die Seele.»
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NOCH MEHR WOLKEN
Wolken sind bekanntlich nicht nur ein Thema
für Cloudspotter, sondern vor allem auch
für Meteorologen. Lesen Sie unseren Artikel
zu den professionellen Wolkenguckern
auf Seite 27.
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