EchtzeiT Wer die Wahrheit quält Thriller Sam Feuerbach & Thariot LESEPROBE Kein Buch entsteht ohne Hilfe. Unser Dank an Nici, Bene und Jasmin. Lektorat: Dagmar Lüdtke Foto: © mrspopman, © jessicahyde, © stockpics; alle Fotolia Sam Feuerbach & Thariot 1. Auflage (1.0) 2016 Bisher in dieser Reihe erschienen: Band1: EchtzeiT – Leid kennt keinen Sonntag Band 2: EchtzeiT – Wer die Wahrheit quält Thariot.de SamFeuerbach.de 01 Am Pool Blaue Augen, der Mann hatte blaue Augen. Keine strahlend blauen Augen, nein, nicht wie aus einer metrosexuellen Kosmetikwerbung, Claire konnte einen grauen Schimmer erkennen. Er drehte den Kopf zu ihr und sah sie an. Der Blick, wach, kalt, durchdringend. Nicht der erste visuelle Kontakt zwischen ihnen. Er ließ sie nicht unbeobachtet. Zu den blauen Augen gehörten auch ein maskulines Kinn, kurze schwarze Haare, eine von der Sonne gebräunte Haut und 90 Kilogramm Muskeln, die sich auf 1,92 Meter Mann in einer schwarzen Badehose verteilten. Sein Körperfettanteil lag unter acht Prozent. An der Vorderund Rückseite des Kapuzenmuskels und am linken Oberarm konnte sie verheilte Narben erkennen. Zwei Durchschüsse, typische Verletzungen militärischer Spezialeinsatzkräfte, vor denen auch schwere Kevlar Körperpanzer nicht schützen konnten. Claire hätte sich im Zweifelsfall auch immer für leichte Schutzkleidung entschieden, die ihre Beweglichkeit nicht einschränken würde. Personenschützer waren unschwer zu erkennen. Auch Blauauge war einer, der nicht nur Claire, sondern auch die anderen 103 Gäste am Pool unter Kontrolle hatte. Inklusive der 14 Angestellten, die Getränke servierten, Handtücher brachten, Sonnenschirme aufspannten oder die wohlbetuchte Kundschaft des Luxusressorts in San Ġiljans auf Malta auf jede andere erdenkliche Art verwöhnten. Claire neigte auf der Sonnenliege den Kopf nach vorne und zupfte sich demonstrativ ihr Bikinihöschen in Form. Damit diese Geste auch die passende Wirkung zeigte, strich sie sich langsam mit der Hand über ihren in der Sonne glänzenden Bauch. Andere Frauen wurden mit 38 und nach einer Schwangerschaft fülliger, sie nicht. Bei 1,72 Meter und ihren 55 Kilogramm wog sie eher zu wenig. Während Blauauge, ohne auf Claires Charmeoffensive zu reagieren, seinen wachenden Blick weiterwandern ließ, stach sich ein männlicher Hotelgast, der sie die ganze Zeit schon anhimmelte, den Strohhalm seines Longdrinks ins Auge. Alkohol vor dem Mittagessen war ungesund. »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte eine junge Hotelangestellte mit britischem Akzent. Vermutlich eine Studentin, die in den Ferien auf Malta jobbte. »Orangensaft, bitte.« »Wieder drei?« »Ja.« Claire nickte zufrieden. Sie schätzte Aufmerksamkeit und Professionalität. Egal ob bei einem Kommandoeinsatz oder beim Getränkeservice am Hotelpool. Blauauge war natürlich nicht allein. Neben ihm saß sein Flügelmann mit den Beinen im Wasser am Beckenrand. Oder in diesem Fall Flügelfrau. Die Personenschützerin hätte auch seine Schwester sein können. Lange dunkle Haare zu einem Zopf geflochten, ein schwarzer Einteiler und ansonsten genauso drahtig wie er. Gute Leute, unter dreißig, weitreichend ausgebildet, hoch motiviert und äußerst effektiv. Zusätzliche Argumente für Letzteres, zwei Handfeuerwaffen, befanden sich in kleinen Nylontaschen mit Schnellverschluss unter einem Handtuch bei der Liege. Claires Blick folgte einem Wasserball, der von vergnügtem Kindergeschrei begleitet durch die Luft flog. Unter den 103 Hotelgästen, nein, inzwischen waren es nur noch 101, ein älteres italienisches Ehepaar hatte den Poolbereich verlassen, befanden sich sieben Kinder unter zehn Jahren und vier Teenager unter 16. Zum Personenschutzteam gehörten zwei weitere Agenten, die in beiger Freizeitkleidung den Rückraum sicherten. Einer stand am Zugang zum Strand, der zweite am Hoteleingang. Insgesamt waren es fünf Israelis, von denen sich einer immer in einem schweren britischen Geländewagen vor dem Hotel bereithielt. Die Agenten des Sajeret Matkal, Späher des Generalsstabs, eine Spezialeinheit der israelischen Streitkräfte, wurden innerhalb der Truppe nur haJechida, die Einheit, gerufen. Meist koordinierte sie der Militärnachrichtendienst Aman, sie wurden aber auch an den Mossad ausgeliehen. Unangenehme Gegner, denen man bei einem Angriff niemals die Chance zum Gegenschlag geben sollte. Und mittendrin saß Noa Rosenbaum, nur ein Jahr jünger als Claire und etwas zierlicher als sie, die Schutzperson, die auf Malta gemeinsam mit ihrer 9-jährigen Tochter Talya Urlaub machte. Ihre kurzen dunklen Haare glänzten in der Sonne. Auch einflussreiche Menschen hatten Kinder, machten Urlaub und taten andere belanglose Dinge, wenn ihre Zeit es zuließ. Als Sgen Aluf, das entsprach dem Nato-Rangcode OF-4, also einem Lieutenant Colonel oder Oberstleutnant, leitete sie die Region Zentraleuropa beim Mossad. Ihr Mann Aluf Asa Rosenbaum, Direktor des Militärnachrichtendienstes Aman, vertrat die Ansicht, dass Israel aufgrund seiner geringen territorialen Ausdehnung keinen Raum für defensive Kriegstaktiken hatte. Daraus leitete er ab, dass militärische Konflikte, egal ob vorbereitet oder durch militärische Eskalationen ausgelöst, auf politischer Ebene verhindert werden mussten. Im Falle eines Krieges war sein primäres Ziel, die strategische Initiative an sich zu reißen und den Krieg so effektiv wie möglich zu Ende zu führen. Ein Hardliner, der bei Konflikten meist für offensive Taktiken votierte. Claire hat das letzte Zusammentreffen mit ihm nicht vergessen, als er ihr nach einer Feier die Bluse aufgerissen hatte und sie ihm daraufhin, aufgrund unüberbrückbarer romantischer Dissonanzen die Schulter ausgekugelt, die Nase gebrochen und ihn um drei Zähne erleichtert hatte. Das war zugleich der Schlusspunkt dieser Feierlichkeit und ihrer militärischen Karriere. »Bitte, der Orangensaft.« Die nette Bedienung stellte die drei Gläser mit Eiswürfeln, einer Orangescheibe als Verzierung und einem Strohhalm auf einen Tisch neben ihrer Liege in den Schatten. »Danke.« Claire lächelte und drückte ihren Finger zur Bestätigung der Bestellung auf ein mobiles Pad-System. Noa Rosenbaum stand auf und bewegte sich in Richtung Pool. Endlich. Der Orangensaft musste warten. Ihre Tochter Talya pflegte in der Regel, das Schwimmbecken nicht freiwillig zu verlassen. Seit zwei Tagen sah Claire sich Gewohnheiten ihrer Zielperson und deren Tochter an. Jetzt oder nie. Auch Claire stand auf und zupfte sich das knappe Oberteil zurecht. Die Männer sahen genau das, was sie ihnen zeigen wollte. Sie benahm sich genau so, wie es erwartet wurde. Blauauge und die anderen Personenschützer von Noa Rosenbaum dürften sich inzwischen an die Blondine aus dem Norden, die jeden Tag auf derselben Liege auf der gegenüberliegenden Seite lag, gewöhnt haben. Früher hatte Claire solche Missionen geliebt. Allein. Von allen unterschätzt. Inzwischen hat sich allerdings die Prämisse geändert: Sie hat verlernt, Kompromisse einzugehen, weswegen sie auch die Reise nach Malta auf sich genommen hat. Im Gegensatz zu Noa Rosenbaum war sie nicht zum Spaß hier. Claire schritt am Poolrand entlang, nicht zu schnell, aber auch nicht verträumt. Sie schlüpfte in die Rolle einer Frau, die genau wusste, welche Wirkung ihr trainierter und nur minimal bekleideter Körper auf Männer hatte. Keiner von den Gaffern würde später ihr Gesicht beschreiben können. Auch Blauauge folgte ihren Schritten, genau wie seine Kollegin, sichtlich unentschlossen, fragend, weil Claires körperliche Präsenz natürlich nicht zu übersehen war, sie aber trotzdem nicht in das Raster typischer Bedrohungen zu passen schien. Nur noch zehn Meter. Claire ließ sich Zeit. Eile würde sie in dieser Situation nicht weiterbringen. Noa Rosenbaum befand sich inzwischen mit ihrer Tochter auf dem Rücken im Wasser. Sie lachten, johlten und genossen die Erfrischung in der Sonne. Noch drei Meter. Claire schüttelte ihre blonden Haare, die sie für diesen Einsatz mit polangen Extensions auf die richtige Länge gebracht hatte. In diesem Moment dürften sie lediglich die sieben Kinder unter zehn am Pool nicht ansehen. Claire setzte den rechten Fuß ins Wasser. 28 Grad Celsius zeigte das digitale Thermometer am Beckenrand an. Bei 37 Grad Celsius Lufttemperatur fühlte sich der Pool ähnlich kalt an wie der Orangensaft. Nur nicht so klebrig. Jetzt der linke Fuß. Schritt für Schritt, das Wasser reichte ihr nun bis zu den Knien. Noa Rosenbaum hat ihr den Rücken zugewandt und bemühte sich, nicht von ihrer Tochter ertränkt zu werden. Blauauge sah zum Hoteleingang, wo gerade einige Russen lautstark die Poolzone enterten. Seine Kollegin lächelte, als Talya auch sie nass spritzte und Noa sich das Wasser aus den Augen rieb. Der ideale Moment. Claire würde sich diese Chance nicht entgehen lassen. Schritt für Schritt. Das Wasser reichte ihr bereits bis zu Hüfte. Erneut sprang Talya, der kleine Wirbelwind, auf die Schultern ihrer Mutter, die sie nicht halten konnte und nach hinten kippte. Auch die anderen Kinder machten einen Mordsradau. Der Wasserball verfehlte Claires Kopf nur um Zentimeter. Kinder lachten und planschten um sie herum. Alles kein Grund, sich ablenken zu lassen. Für diesen Einsatz würde sie keine zweite Chance bekommen. Wasser spritzte Claire ins Gesicht. Sie hat die tiefste Stelle des Pools erreicht, das Wasser reichte ihr bis knapp unter die Brust. Zwangsläufig konnte hier niemand schnell gehen. Noa Rosenbaum tauchte direkt vor ihr auf. Talya hing schon wieder an ihrem Rücken. Wie auch zwei Claire wohlbekannte junge Männer, die die kleine israelische Schönheit mit sportlichem Ehrgeiz ins Visier genommen haben. Große Ziele, da Noa Rosenbaums Tochter sie um eine ganze Haupteslänge überragte. Ein Nachteil, den ihre Ambitionen und ein für dieses Alter überproportional jungenhaftes Ego spielend ausglichen. Zeit für den Zugriff. Claires schnappte sich den ersten und auch den zweiten kleinen Quälgeist. »Entschuldigung ... die beiden kennen kein Erbarmen.« »Nicht so schlimm ...« Noa lachte. Eine sympathische Frau, die Asa Rosenbaum, dieser grabschende Widerling, nicht verdient hat. Wobei Talya den beiden verdammt gut gelungen war. »Mama!«, protestierte Justin, dem Claire den rechten Arm um die Brust geschlungen hat. »Wir spielen!«, pflichtete Pascal seinem Bruder von links bei. Als ob das Ertränken einer anderen Mutter mit dieser Entschuldigung zu rechtfertigen wäre. »Lass uns los!« Justin zappelte wie ein Fisch im Netz. Zeit für eine Abkühlung. Claire tauchte gemeinsam mit ihren beiden Söhnen und blieb einige Sekunden unter Wasser. »Jetzt besser?«, fragte sie nach dem Auftauchen, bereit, die erzieherische Tauchbehandlung fortzusetzen. Talya lachte und schien die Bestrafung ihrer Peiniger als gerechtfertigt zu erachten. »Ja ...«, antworteten Justin und Pascal, die Claires Unnachgiebigkeit kannten, im Chor. »Dann bitte zwei Gänge herunterschalten!« Sie nickten schmollend, lachten aber direkt wieder, weil Talya ihnen die Zunge herausstreckte und andere Faxen machte. »Ich glaube, meine Kleine kommt mit ihren Söhnen klar«, erklärte Noa Rosenbaum und sah Talya nach, die wie ein Delfin durchs Wasser flüchtete. Auch Claire ließ ihre beiden Wildfänge wieder frei. »Ich habe immer Angst, dass sie es übertreiben.« »Erfahrungen sind wertvoll.« Noa lächelte und sah Talya nach. »Justin und Pascal, richtig?« »Ja.« Claire nickte. »Die Zeit mit den Kindern ist viel zu knapp, um sie zu versäumen.« »Das stimmt.« Dieser Aussage konnte Claire nur beipflichten. »Sie genießen die Zeit auf Malta?« »Ja, sehr. Leider reisen wir morgen wieder ab. Meine Jungs spielen Fußball und kein Urlaub der Welt, darf ihnen ein Sonntagsspiel mit ihrer Mannschaft nehmen.« »Ehrgeiz und Prinzipien. Die beiden werden später im Leben viel erreichen.« »Was sich jede Mutter wünscht.« »Noa Rosenbaum.« Sie streckte Claire die Hand entgegen. »Sehr erfreut, Claire Demer.« Claire klappte ihr Visier hoch und stürzte sich in die Schlacht. »Claire Demer?« Noa Rosenbaums Augen wurden schmaler. Sie hatte ihre Position nicht wegen ihres Mannes bekommen. Claire Demer, bei diesem Namen wusste sie sofort, dass die Begegnung im Pool kein Zufall war. Die dunklen Augen der Israeli durchdrangen Claire wie Speere. Das Wasser im Pool kühlte um fünf Grad ab. Auch Blauauge reagierte, bereit, sich sofort auf die Angreiferin zu stürzen, während seine Kollegin unvermittelt nach der Waffe unter dem Handtuch griff. »Ja.« Claire bewegte sich keinen Zentimeter, so dass kein Weg daran vorbeiging, mit ihr zu sprechen. »Was tun Sie hier?«, fragte Noa Rosenbaum mit schmalen Lippen, hob aber die Hand, um das Eingreifen ihrer Personenschützer zu verhindern, die nach militärischen Gesichtspunkten bereits gnadenlos versagt hatten. Wenn Claire die Frau hätte töten wollen, würde ihr Opfer jetzt mit dem Kopf nach unten im Wasser schwimmen. Das wäre zwar Selbstmord gewesen, denn den Gegenschlag der Personenschützer hätte Claire nicht überlebt, was den Schützling allerdings nicht wieder lebendig gemacht hätte. »Ich mache Urlaub mit meinen Jungs. Mein Mann ist beruflich unterwegs und kann leider nicht bei uns sein.« »Und was wollen Sie von mir?« Ihre Stimmung wirkte konzentriert und angespannt. »Reden ...« Mossad Offiziere ließen sich am treffendsten als bürokratische Schattenwesen bezeichnen. Es gab zu dieser riskanten Kontaktaufnahme keine Alternative, Claire hielt ihr Anliegen über das Telefon nicht für vermittelbar. »Warum sollte ich das wollen?« »Weil wir es schon tun ...« »Eine Geste genügt ...« »... damit mich Ihre Personenschützer angreifen? Natürlich ... aber auch unnötig. Wenn ich Ihnen oder Ihrer Tochter schaden wollte, würden Sie nicht mehr leben ... kein Mensch ist unangreifbar.« Claire lächelte und drehte den Personenschützern bewusst den Rücken zu. Heute galt es, mit Worten zu kämpfen. »Worüber sollen wir sprechen?« »Über mich.« »Claire Demer? Kennen Sie überhaupt noch Ihren richtigen Namen?«, fragte Noa Rosenbaum. Nur dank des Kinderlärms konnte niemand ihrem Gespräch folgen. »Ich habe mein eigenes, neues Leben gewählt.« Ab einem gewissen Punkt hatte sie ihren alten Namen nicht mehr ertragen. Inzwischen hat sie ihn vergessen. »Ein Leben mit zweifelhaften Kontakten.« Noa spielte unverhohlen auf ihre Dienstleistungen für Kriminelle an. »Geschäftsleute«, erklärte Claire, »deren Interessen ich gewahrt habe. Wie ein guter Anwalt, oder Arzt.« »Wie ein Klempner, trifft es besser. Sie und Ihre Kunden gelten als Sicherheitsrisiko«, erklärte Noa Rosenbaum. »Wir sollten über wichtige Dinge sprechen.« Claire wollte keine Zeit vergeuden. Noa würde ihr nicht ewig zuhören. Bis vor drei Monaten, dem Zwischenfall mit Timmm Gudis, als sie sich selbst wieder ins Spiel gebracht hatte, war sie nahezu unsichtbar gewesen. Ein Zustand, der sich mittlerweile verändert hat. In Düsseldorf wurden ihre Kinder, sie und ihr Mann seitdem ständig beobachtet. Sie wurde in Verbindung mit dem größten Daten-GAU seit Bestehen des Mossad gebracht. »Was ist für Sie wichtig?« »Das wissen Sie nicht? Von Mutter zu Mutter, was würden Sie tun, um Ihre Tochter zu schützen?« »Alles.« »Wir verstehen uns ... sehr gut.« Claire wollte für alle Zeiten von der Watchlist des Mossad gelöscht werden. Dabei sollte ihr Noa Rosenbaum helfen. Sie hatte sich einiges einfallen lassen müssen, um ihre Reise nach Malta zu tarnen. Vor dem Abflug waren ihre Jungs felsenfest davon überzeugt gewesen, nach Spanien zu fliegen. »Ihre Entschlossenheit stelle ich nicht in Frage ... leider ist die Welt komplizierter, als es von Mutter zu Mutter zu vermitteln ist ... Sie müssen mir mehr geben.« »Ich setze mich zur Ruhe.« Claire hatte genug Geld, sie wollte nicht mehr als Dienstleister für Kriminelle arbeiten und genauso wenig für Geheimdienste. »Sie werden nichts mehr von mir hören.« Noa nickte. »In Tel Aviv wären Sie sicher.« »Ich schätze Düsseldorf sehr.« In Israel würde es dem Mossad nicht schwerfallen, sie zu kontrollieren. Ein solches Leben wäre nicht akzeptabel. »Sie fordern mehr, als ich Ihnen zusichern kann ...« Noa Rosenbaum schüttelte den Kopf. »Auch wenn Vertrauen nicht gerade das Credo unserer Branche ist ... ist es doch die Basis jeder Beziehung.« Auge in Auge. Von Mutter zu Mutter. Dieses Gespräch wäre am Telefon nicht möglich gewesen. Claire musste die Frau kennenlernen, der sie vertrauen wollte und die ihr vertrauen musste. Noa in die Augen sehen, ihr Innerstes erreichen. »Mama, Mama, können wir mit Justin, Pascal und ihrer Mama zusammen Abendessen?«, fragte Talya, die völlig außer Atem aus dem Wasser auftauchte. Eskortiert wurde sie von Claires Jungs, die aus Freude über ihre Eroberung grinsten wie zwei kleine Honigkuchenpferde unterm Tannenbaum. *** 02 Der Betreuer »Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen – Rahn schießt – Tooooor! Tooooor! Tooooor! Tooooor!«, krächzte der Papagei und wackelte auf seiner Stange etwa einen Meter unterhalb der Decke wie ein betrunkener Seiltänzer. »Schlaubi, keine Panik. Deutschland gewinnt das Spiel und wird Weltmeister. Pass lieber auf, dass du nicht runterfällst.«, rief Timmm dem Vogel zu. »Durch fallen lernt man gehen«, konterte Schlaubi. »Ja, 'kaputt gehen'. Deine Sensoren und Platinen sind nicht für den Aufschlag aufs Parkett gemacht. Und es gibt in Düsseldorf noch kein Krankenhaus für künstliche Papageien.« Darauf fiel Schlaubi offensichtlich nichts ein. Er drehte lediglich den Kopf einmal um 360 Grad. »Du bist ein Papagei und keine Eule – merk dir das!« Eine weitere Halsumdrehung zurück – Timmm wurde fast schwindelig vom Zusehen, weshalb er wieder auf seinen Bildschirm sah. Lustlos hämmerte er auf seiner Tastatur herum. Die Nachrichten im Netz zu lesen, frustrierte ihn nur. Sie wurden am Samstag nicht besser als unter der Woche. Zu viele negative und zu wenig positive News. Entweder lag dies daran, dass die Menschen schlecht waren, oder dass die Menschen schlechte Nachrichten liebten. Oder beides – denn die Symbiose daraus ergab stündlich abertausende Hiobsbotschaften für die ganze Welt – eine gruseliger als die andere. Schön, wenn der Stoff niemals ausging. Timmm stützte sein Kinn in seine Hände, während sich die Ellenbogen in den Tisch bohrten. Der wahre Grund für seine dauerhaft schlechte Laune saß im kleinen Zimmer nebenan. Wie hatte es dazu kommen können? Ganz einfach – im Juni vor zwei Monaten hatte Timmm, genau wie in diesem Moment, auch vor seinem Display gesessen, als es an der Haustür geklingelt hatte. Nichtsahnend von seinem Unglück war Timmm gedanklich seine Netzaktivitäten bei den Onlinehändlern durchgegangen – hatte er etwas bestellt? Eigentlich nicht. Er war aufgestanden und hatte die Tür geöffnet. Feiner Besuch! Auf der Schwelle stand sein Vormund Dr. Dr. Greichert mit grauem Anzug, gleichfarbiger Krawatte, gleichfarbigen Gesicht und schob einen Mann vor sich her, den Timmm auf Mitte dreißig schätzte. »Guten Tag, Herr Gudis.« »Guten Morgen, Herr Greichert.« Timmm schwante Böses. Der Anwalt sah auf seine Rolex. »Wir haben 12:45 Uhr. Für Sie mag dies der Morgen sein, ich hingegen arbeite bereits seit 6:30 Uhr.« Tatsächlich war Timmm erst seit knapp einer Stunde wach. Schließlich hatte er Semesterferien. Bemerkenswert, wie schon bei der schlichten Begrüßung die Dinge aus dem Ruder liefen. »Darf ich Ihnen Ihren neuen Betreuer vorstellen?« Bevor Timmm »nö« antworten konnte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. »Dr. Sigmund Müller.« Greichert schob den Mann wie einen Kinderwagen in Timmms gute Stube. Wie, nur ein Doktor? Seit wann pflegte Greichert Umgang mit dem Proletariat? »Diplom-Psychologe – eine hervorragend ausgebildete Fachkraft, die genau weiß, worauf es im Leben eines Jugendlichen ankommt«, pries sein Vormund den Mann an, als könnte er Gedanken lesen. »Speziell in der Pubertät«, schaffte er es tatsächlich, gegenüber einem Siebzehnjährigen da noch einen draufzusetzen. Gerade als Timmm überlegte, ob die ultimative Fachkraft auch selbst reden konnte, bewegten sich deren Lippen: »Dr. Sigmund Müller. Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er streckte Timmm eine rosa Hand entgegen. Ein angestrengtes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel als jagte jemand Strom hinein. Timmms Lippen wurden schmal. Der hieß aber nicht wirklich Sigmund!? Der berüchtigte erste Eindruck entsteht nach hundert Millisekunden. Timmm benötigte fünfzig davon, um zu beschließen, dass der Typ nicht nur kacke aussah und Kacke redete, sondern auch kacke war. Unverwandt sah er ihn an, wobei sein Blick sich in dem wuseligen Walrossschnäuzer verfing. Was für eine niedliche Extravaganz. Dann siegte seine Ratio oder sein gutes Benehmen, jedenfalls gab er sich einen Ruck. Timmm entschied, das Beste aus der Situation zu machen und seinem Betreuer wohl oder übel eine Chance zu geben. Mit maximal freundlicher Miene ergriff er beherzt die ihm dargebotene Hand. Der gute Vorsatz hielt weitere hundert Millisekunden, nämlich genau bis zu dem labbrigen, feuchtwarmen Begrüßungshändedruck. Timmm glaubte, ein gebrauchtes Papiertaschentuch zu ergreifen. Verstärkt wurde sein Unbehagen noch dadurch, dass sein neuer Kumpel Sigmund offensichtlich eine Riesenportion pädagogische Psychologie in die erste Berührung legte. Das seichte Schütteln wollte gar nicht mehr enden, es dauerte den halben Nachmittag, bis er endlich Timmms vollgesabberte Hand mit einem sanften Streicheln losließ. Der Typ hatte es drauf, Leute zu manipulieren. Wie hypnotisiert konnte Timmm danach nur noch an »Hände waschen – ich muss meine Hände waschen« denken. Dr. Dr. Greichert stand daneben und betrachtete mit Wohlwollen das Entstehen dieser fabelhaften, frischen Freundschaft. Wenn normale Menschen lächelten, benutzten sie 43 Muskeln. Sein Vormund erledigte dies bei guter Laune maximal effizient mit höchstens einem Duzend – und genau so sah es auch aus. Vermutlich drückte der Stock zu sehr auf seinen Schließmuskel. Der Moment der Sparflammenfreundlichkeit verflog, als sein Vormund auf den Punkt kam: »Herr Gudis, Sie sehen, ich kümmere mich um die bestmögliche Fürsorge. Ihr bemitleidenswertes Seelenleid auf dem Polizeirevier, als sie Ihren Verfolgungswahn und Ihr vermeintliches Morderlebnisse an Kurt Schmitz zu Protokoll gegeben haben, macht diesen Schritt unabdingbar – ich habe schließlich Ihrem Vater ein Versprechen gegeben.« Das Wort 'Fürsorge' klang aus Greicherts Mund wie eine Provokation, das Wort 'Versprechen' wie eine Drohung. Das Ende vom Lied war, dass Sigmund Müller noch am gleichen Tag als ständiger Betreuer bei Timmm ins Gästezimmer einzog. Und seitdem wohnte Herr Müller in seiner Wohnung, was letztere mit einem Mal nicht mehr zu seiner Wohnung machte. Der heimische Wohlfühlfaktor hat sich in Luft aufgelöst. Timmm hat sich diesem Schicksal ergeben, denn er konnte zunächst nichts dagegen tun. So war er zu seinem unerwünschten Untermieter gekommen. Immerhin verbrachte dieser neunzig Prozent seiner Zeit in dem kleinen Gästeraum und ließ ihn halbwegs in Ruhe. Was machte der nur die ganze Zeit in dem kargen Zimmer? Timmm wollte um nichts auf der Welt nachgucken, womöglich kämmte der gerade seinen Schnäuzer oder spielte sonst wo pädagogisch an sich herum. In diesem Moment ging die Tür auf und Herr Müller kam mit gewichtiger Miene heraus. Doch was war das? Er beachtete Timmm gar nicht, sondern stellte sich breitbeinig wie ein Cowboy nach einem Dreitagesritt vor Schlaubi auf und betrachtete den Papagei nachdenklich. Er trug keinen Revolver am Gürtel – duellieren wollte er sich demnach nicht mit ihm. Bedeutungsschwanger knetete er sein Kinn, was den Schnäuzer vibrieren ließ. In einem Tonfall, als hätte er gerade geschnittenes Brot erfunden, brach es aus ihm heraus: »Dieses … äh … Geschöpf könnte ein Teil Ihres Problems darstellen.« Ein beachtliches Ergebnis für zwei Monate Analyse. Aus Timmms Sicht machte ein Teil seines Problems gerade Spagat vor Schlaubi. »Ja, Herr Dr. Müller? Wie kommen Sie darauf?« Sein Betreuer wandte sich nun ihm zu. »Nennen Sie mich ruhig Sigmund«, sagte er freudlos. »Aber nur, wenn Sie Herr Gudis zu mir sagen», dachte Timmm, schwieg jedoch. Sigmunds Ton wurde gewichtiger als ein Zementsack: »Welchen Einfluss auf Ihre Psyche haben Unterhaltungen mit einem Papagei, der aus Motoren, jeder Menge Programmzeilen und Terrabytes an Sprachkonserven aus den letzten siebzig Jahren Menschheitsgeschichte besteht?« Fragend blickte er wieder auf den Vogel. »Herr Papagei, was denken Sie darüber?« Schlaubi sah ihn an wie einen Schimmelpilz und schwieg. Aha! Er wollte den Vogel nicht duellieren, sondern therapieren. Dr. Müller nickte dem Vogel herablassend zu. »Ich habe mir gedacht, dass bereits trivialste Fragen diesen … Gegenstand restlos überfordern. Er ist nicht befähigt, auf meinen Versuch der gehobenen Konversation eine adäquate Replik zu liefern. Da konnte ja mein Furby vor zwanzig Jahren mehr.« Gelangweilt schlug Schlaubi einmal mit den Flügeln und sagte träge: »Arschloch!« Sigmund kämpfte pädagogisch gegen jeden Anschein von Verdutztheit in seinem Gesichtsausdruck und verlor. Timmm verlieh seiner Miene ein unschuldiges Lächeln, doch innerlich lachte sein Herz voller Zustimmung. Ach, könnte diese wunderbare Szene nicht noch länger dauern? Und was auch immer ein Furby war, der hatte so etwas offensichtlich nicht draufgehabt. Timmm hatte der künstlichen Intelligenz des Vogels folgende Routine in Code-Zeile 6066 verpasst: Registrieren Schlaubis Sprachsensoren Geschwätz mit mindestens drei Fremdwörtern innerhalb von sechs Sekunden, bringt er diese herzerfrischende Antwort hervor. Mit einem Mund wie ein Strich meinte sein Betreuer: »Ein langweiliges Programm. Fäkalsprache – das ist schlicht. Primitiv. Enttäuschend.« »Enttäuscht ist nur der, der sich vorher selbst beschissen hat«, nahm Schlaubi den Faden auf. Sigmund nahm das irgendwie persönlich. »Was weiß denn dieses künstliche Vieh schon über Enttäuschungen?« »Enttäuschungen sind Steinchen im Mosaik der Realität«, wusste Schlaubi schon. »Das sind doch nur dahergeplapperte Sprüche, weit entfernt von wahrer künstlicher Intelligenz«, war sich Timmms Betreuer sicher. »Künstliche Intelligenz ist besser als natürliche Dummheit«, belehrte Schlaubi ihn krächzend. Dann herrschte ein wunderbarer Augenblick lang Stille. Gerade wollte Timmm diese angenehme Pause nutzen, um erneut ein wenig stolz auf Schlaubi zu sein, doch für solch innige Momente des Innehaltens hatte der Pädagoge keinen Sinn. »Stellen Sie den ab, dieser Gegenstand ist kein guter Umgang für Sie«, sagte Sigmund konsterniert. »Oder noch besser – sie entsorgen ihn, sonst lege ich ihn bei meinem Gutachten als weiteren Hinweis auf eine Psychose aus.« Wie Gutachten, wie Psychose? »Von was für einem Gutachten reden Sie? Ich dachte, Sie sind mein Betreuer?«, fragte Timmm möglichst gleichgültig. »Dr. Dr. Greichert hat mich beauftragt, ein neutrales psychologisches Gutachten zu erstellen.« Sein Ton wurde geschäftsmäßig als wiederholte er eine Bestellung bei einem Pizzabringservice. »Wir wollen Ihnen helfen. Hat Dr. Dr. Greichert nicht mit Ihnen darüber gesprochen? Es geht unter anderem um Ihren Verfolgungswahn, um das, was in Ihrem Vernehmungsprotokoll der Düsseldorfer Polizei steht. Die ausführliche Beschreibung Ihrer Flucht vor irgendwelchen schwerbewaffneten Mördern, die Sie zu Protokoll gegeben haben. Eine schwere Belastung für labile Menschen in Ihrem Alter.« Er kniff sich in sein Kinn. »Diese fiktive Flucht könnte ein Weglaufen vor Verantwortung bedeuten. Das wiederum wirft die Frage auf, ob Sie tatsächlich gewissenhaft genug sind, um über ein solch großes Geldvermögen zu verfügen? Sind Sie bereit für eine solche Verantwortung?« »Ja, was denn sonst. Ich …« »Sehen Sie – solche Momente des zeitweiligen Realitätsverlustes sind äußerst ernst zu nehmen.« Timmm bekam kaum noch Luft. Langsam verstand er, was sich über ihm oder besser über seinem Geld zusammenbraute. Greichert wollte ihn für geschäftsunfähig erklären lassen und damit sein Erbe unter seinen Fittichen behalten. Und sein neuer Betreuerfreund nebenan diente ihm als Mittel zum Zweck. Timmm fasste sich an die Stirn – er wurde wirklich noch verrückt. Knapp drei Monate waren seit den Ereignissen vergangen, die Timmms Leben verändert hatten. Die Ermordung seines besten Freundes Kurt, die ständige Todesgefahr, in der er selbst geschwebt hatte, die Flucht im Auto neben dem gestressten Kommissar Hagen Melzer nach Köln. Letzterer hatte tatsächlich das Kunststück fertiggebracht, sich vom langweiligen Beamten zum meistgesuchten Verbrecher Deutschlands zu verwandeln, um dann wieder zum Helden zu mutieren. Und all dies innerhalb weniger Stunden. Timmm schüttelte den Kopf. Er vermisste vor allem Kurt, der mit ihm zusammen an der Düsseldorfer Universität studiert hatte. Seit den furchtbaren Ereignissen war ihm das Besuchen der Ökonomie-Vorlesungen unerwartet schwergefallen – seine Gedanken schweiften immer ab, suchten irgendwo in der Ferne Entspannung, sowohl während der Vorlesungen als auch jetzt hier in seinem Apartment. Das Erlebte hing ihm noch schwer in den Kleidern. Er stützte den Kopf auf seine Hand. Nein, nicht in den Kleidern, das wäre harmlos, zumal er die einfach ausziehen konnte. Nein, tiefe Narben im Gemüt haben die Geschehnisse hinterlassen. Und als wären dies nicht der Probleme genug, saß nun der Müller Sigmund nebenan und bewachte ihn. In diesem Moment fiel ihm Rosie ein – seine damalige Bewacherin aus dem Zeugenschutzprogramm. Sie hatte ihm das Leben gerettet und er hat sich immer noch nicht persönlich bei ihr bedankt. Er hat nun Semesterferien und genügend Zeit, um dies endlich nachzuholen. Die Tür öffnete sich und Dr. Sigmund Müller betrat Timmms Wohnzimmer. Er lächelte mechanischer als R2D2 und fuhr mit der linken Hand seinen Scheitel entlang. »Herr Gudis, lassen Sie mich Ihnen helfen. Ich habe in den letzten Wochen recherchiert und auch die Polizeiakte rund um den vermeintlichen Tod ihres Freundes Kurt Schmitz gelesen.« »Da hätten Sie mich nur zu fragen brauchen…«, empfahl Timmm im Nachhinein. Sigmund lächelte gutmütig über so viel Naivität. »Sehen Sie – einige konkrete Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung sind bei Ihnen evident.« »Arschloch!«, meinte Schlaubi. »Aha! Gut zu wissen«, meinte Timmm. Schlaubis Kommentar ignorierend, spornte Timmms Bemerkung den promovierten Siggi nur noch mehr an. »Ich glaube Ihnen, dass Sie von Kurt Schmitz' Tod überzeugt sind. Dabei gibt es hierfür keinerlei Hinweise, außer dass er seit diesen Ereignissen verschwunden ist. Sie wollen es glauben und verkriechen sich hier in ihrer Wohnung – eine konventionelle Vermeidung von Traumatastimuli.« Unschuldig warf Timmm einen schrägen Blick auf Schlaubi. Der hielt seinen Schnabel. Knapp. »Was raten Sie mir?«, fragte Timmm in maximal interessiertem Tonfall. Lässig haute der Promovierte seine Empfehlung raus: »Gehen Sie zur Universität. Studieren Sie, als sei nichts passiert.« »Es sind Semesterferien.« Durch derlei Nebensächlichkeiten ließ ein Sigmund Müller sich nicht bremsen. »Besuchen Sie Freunde, Verwandte.« Wahnsinn, auf was für ausgereifte Ideen der Typ kam, sein Hochschulabschluss und sein Doktortitel kamen nicht von ungefähr. Doch Timmm merkte, dass Sigmund es nicht böse mit ihm meinte. Und das Offensichtliche versteckte sich oftmals in der Trivialität. Einen richtigen besten Freund hatte er seit Kurts Tod nicht mehr, doch seine einzige lebende Verwandte, seine Großmutter mütterlicherseits, wohnte in Remscheid – keine Stunde mit der S-Bahn entfernt. Er hat sie seit einem knappen Jahr nicht mehr gesehen. Wieso also nicht mal wieder die Oma am Wochenende besuchen? Er käme hier raus und vielleicht auf andere Ideen. »Gut – wenn es bei meiner Großmutter passt, besuche ich sie morgen in Remscheid und komme am Abend wieder. Kommen Sie mit und halten meine Hand?« »Natürlich nicht. Genießen Sie die Abwechslung.« Sigmund nickte geschäftstüchtig. »Ich schlage vor, dass ich Sie nun sich selbst überlasse und nebenan weiterarbeite – sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie zu ihrer Großmutter aufbrechen.« »Nee, bloß nicht«, dachte Timmm. Nachher würde der Waschlappen ihm zum Abschied wieder die Hand streicheln wollen. Am Abend saß Timmm auf der Couch und schaute auf seiner Videowand diverse Sender gleichzeitig. Ständig und überall liefen Werbespots für die anstehende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Völlig uninteressant, zumal Timmm ohnehin nicht wählen durfte, da er noch nicht volljährig war. Und selbst wenn, hätte er keine Lust dazu gehabt – viel zu nervig gestaltete sich die Selbstdarstellung der Parteien auf allen Kanälen. Solch eine Wahl müsste eigentlich zum Wirtschaftaufschwung beitragen – denn Medienvertreter, Werbebüros, Fernsehanstalten hatten Hochkonjunktur. »Mehr Geld im Portemonnaie für unsere Wähler«, postulierte eine sympathische Stimme bürgernah. Ein Politiker des aktuellen Regierungsbündnisses wurde von einer Blondine interviewt. Letztere war der Grund, warum Timmms Blick auf dieser Szene hängen blieb. »Und wie will Ihre Partei das erreichen?« Die Reporterin hielt ihm ihr Mikrofon vor den Mund. »Das Wichtigste ist Stabilität und Sicherheit in Europa. Diese Zielsetzung haben wir während der letzten Legislaturperiode ausgerufen und nach Meinung alle Experten sind wir auf einem richtig guten Weg dorthin.« »Hierbei meinen Sie Ihre eigenen Parteiexperten?« Hehe, schön, wenn sensibel nachgehakt wird. Der Politiker lächelte charmant. »Sie haben recht, auch die – und die sind bekanntlich am schwersten zu überzeugen. Doch sehen Sie, das Minuswachstum ist beendet und die Zeichen stehen auf Aufschwung. Genau diesen Aufschwung sollten die Wählerinnen und Wähler wählen.« Aha! Minuswachstum?! Die Reporterin ließ dies leider so stehen. Sie sagte: »Kommen wir zum dickeren Portemonnaie zurück. Kündigen Sie etwa Steuersenkungen an?« 'Steuersenkung' – was für ein Oxymoron – besser noch als 'Minuswachstum'. Anstatt mit ja oder nein zu antworten, verstand jeder Politiker eine geschlossene Frage immer folgendermaßen: »Erzählen Sie dem Publikum genau an dieser Stelle irgendeinen Scheiß, der Ihnen gerade einfällt.« Und genauso kam es. »Die Markwirtschaft regelt die öffentlichen Haushalte. Die Bürgerinnen und Bürger können nur so viel ausgeben, wie sie verdienen. Die Energiekosten sind in den letzten Jahren überproportional gestiegen. Daher ist ein wichtiges ökonomisches Ziel meiner Partei, das neue Freihandelsabkommen, welches uns unabhängiger von russischen Gasund arabischen Öllieferungen macht, zu unterstützen.« Jetzt strahlte die Reporterin in die Kamera wie ein Kernreaktor: »Gleich diskutieren wir weiter – nach eine kurzen Werbeunterbrechung.« Passenderweise kam ein Werbespot für regenerative Energien. »Bereits 45 Prozent saubere Energie für Deutschland in 2025 – wir machen mit!« »Wenn unsere Kunden es bezahlen!", ergänzte Timmm und schaltete ab. Das reichte für heute. Er musste hier raus – weg von diesem Betreuer. »Oma anrufen«, sagte er laut. Sein Flex-Mobile baute umgehend eine Verbindung auf. Oma ging dran. ***
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