Janine Schneider Die Schwalben ziehen wieder „Die Schwalben ziehen wieder“, sagte der Mann und zeigte aus dem Fenster des Bahnhofbuffets. Marlies war der fremde Mann sogleich verdächtig vorgekommen. Mit forschem Schritt hatte er die Bahnhofshalle durchquert, sich ungewöhnlich gründlich die Abfahrtspläne angeschaut, die Familie im Warteraum beobachtet und sich schliesslich etwas in sein Büchlein notiert. Aus den Augenwinkeln hatte Marlies ihn misstrauisch beobachtet, auch wenn sie nicht mehr so gut sah wie früher. Nun stand er vor ihr am Tresen, den Kaffee in der Hand, den sie ihm gerade eingeschenkt hatte. Seine Nase war leicht gekrümmt und blasse Augen spähten unter der Brille hervor. Marlies schmale, zerbrechliche Hände zitterten. Sie setzte frischen Kaffee auf und ordnete die Nussschnecken. Es roch nach vergessenem Staub. „Sehen Sie doch“, wiederholte er, etwas eindringlicher, „Die Schwalben gehen fort.“ Sie antwortete nicht. Die Schwalben gingen jedes Jahr fort. Jedes Jahr, wenn der Ostwind wieder über die Hügel strich und die ersten frostigen Nächte brachte. Tom hatte immer gesagt: „ Sie bringen uns die ersten Blüten des Winters, damit wir uns nicht fürchten.“ Doch was nützten ihr jetzt noch die Blüten des Winters? Sie waren in ein peinliches Schweigen verfallen, nur unterbrochen von den durchfahrenden Zügen, ab und an. Der Hahn tropfte. Marlies musste husten. In der Ecke hing das Bild eines Ehepaars, ernst, doch ihre Augen lächelten. Marlies schaute es einen Moment gedankenversunken an, dann widmete sie sich wieder dem Kaffee. Sie fügte Zucker und Kardamon hinzu, ihre Spezialität und fragte sich, ob Annie heute Abend wohl einen Apfelkuchen mitbringen würde. Der fremde Mann stand immer noch am Tresen und spielte nervös mit seinem obersten Hemdknopf. Das Rattern eines einfahrenden Zuges ertönte. Hastig stand er auf und legte einige Münzen auf den Tisch. „Ist gut so“, meinte er und ging zur Tür Richtung Bahnsteig. Plötzlich hielt er inne und drehte sich nochmals zu ihr um: „Es ist schon schade, dass so viele alte Bahnhöfe geschlossen werden müssen. Besonders dieser hier… er…gefällt mir.“ Es schien, als wollte er noch etwas sagen, doch dann ertönte auch schon der Pfiff und er liess die Tür hinter sich zufallen. Er stieg in den Zug und der Zug fuhr davon. Zurück blieb eine bleierne Stille. Staub tanzte im Sonnenlicht. Marlies kam langsam, mit vorsichtigen Schritten hinter dem Tresen hervor. Eine Hand vor sich, als müsste sie sich vor etwas schützen. Sie starrte an die Decke. Die Decke war braun, haselnussbraun, wie Toms Augen es auch gewesen waren. Ärger stieg in ihr auf. Niemand würde sie von hier vertreiben, das war ihr Leben hier, ihr Bahnhof, ihr gemeinsamer Bahnhof. Sie ging zur Besenkammer hinüber, es war Zeit den Bahnsteig zu fegen, doch plötzlich überkam sie ein Hustenanfall. Ein stechender Schmerz in der Brust nahm ihr den Atem. Das Stechen nahm zu, leichte Panik regte sich in ihr. Hastig stöberte sie in der Schürzentasche, stöberte nach einem Fläschchen, tannengrün. Der Apotheker hatte gesagt, nicht mehr als zwei Tropfen pro Tag. Sie nahm drei. „Tom“, hustete sie in die Stille hinaus, „Tom!“ Niemand antwortete ihr. Die Tropfen taten ihre Wirkung. Die Panik verschwand, sie atmete tief durch. Sie durfte nicht aufgeben, sie musste hierbleiben. Wie immer waren Annie und Willi die ersten, die kamen. Ein köstlicher Duft nach buttrig gebackenen Äpfeln eilte ihnen voraus, kaum waren sie durch die Tür getreten. „Wie immer pünktlich zu früh“, Marlies lächelte. Willi setzte sich vergnügt an den runden Tisch neben der Tür. Annie legte Marlies den Kuchen auf den Tresen: „ Er hat es heute wieder mal geschafft, sich im Kirschbaum zu verfangen. Ich musste mit der Schere kommen und ihn losschneiden.“ Willi besah sich einige Risse im Holzboden. „Ganz schön kalt was, da draussen? Zieht es in eurer Wohnung noch nicht durch die Ritzen?“ –„Tom hat letzten Winter noch einige gestopft, bevor….“, Marlies verstummte. Ein Bild erschien ihr, Tom auf den Knien, als er sich noch bewegen konnte, wie er mit grösster Sorgfalt die Wand ausbesserte. „Man muss nett mit ihr sein, sonst verbündet sie sich mit dem Winter“, hatte er gemeint. „Marlies?“, Annie legte ihr besorgt die Hand auf die Schulter. Das Quietschen der Türangeln unterbrach sie. Greta und Jörg kamen herein. Greta im Stechschritt, die altrosa Bluse ordentlich gebügelt und hinter ihr Jörg, leicht gebückt, wie immer mit einem Buch in der Hand, das Hemd zerknittert, aber strahlend bis unter die Ohren. „Meine Lieben! Jetzt hört mal, was diese frechen Nachbarskinder heute schon wieder mit den Radieschen angestellt haben. ..“ Greta fuhr fort, die Hände empört in die Seite gestemmt. Draussen hatte sich die Nacht über den kleinen Bahnhof gesenkt. Eine einzige Laterne verbreitete wohliges Licht und der Duft des Apfelkuchens erfüllte den Raum. Marlies nahm das Bier für Jörg aus dem brummenden Kühlschrank, den Kaffee von der Herdplatte, unterdrückte ein Husten und stellte alles auf ein Tablett. Die vier stürzten sich auf den Kuchen, als wären sie kleine Kinder. Marlies nahm sich ein Stück mit besonders viel Sahne. Für einen Moment war alles wie früher. Tom sass mit ihnen zusammen am Tisch, sein lockiger Kopf überragte alle andern, er zwinkerte ihr zu. Das Bahnhofsbuffet erschien auf einmal heller, lebendiger als zuvor, wie frisch gestrichen. Sie roch die Farbe, die frische Farbe, mit der sie an ihren ersten Tagen nach dem Einzug die ganzen Räume gestrichen hatten. Sie hatten getanzt. Farbbekleckst. Und gelacht, weil sie sich bei jedem zweiten Schritt auf die Füsse getreten waren. „Ich habe Gerüchte gehört, der Bahnhof soll abgerissen werden“, Willi klang besorgt. Marlies blieb der Kuchen im Mund stecken. Dann ist es also wirklich wahr, dachte sie und die Brust wurde ihr eng. „Warum denn?“, Greta runzelte die Stirn. „Zu wenig Kundschaft.“ Die Uhr tickte. Von weither ertönten die Kirchenglocken. Es schlug acht. „Das darf nicht sein“, Annie sah ihn ungläubig an, „Der Bahnhof… geschlossen.“ Jörg strahlte nun nicht mehr, tiefe Falten zogen sich über sein Gesicht: „Ja stellt euch mal vor, was Tom dazu gesagt hätte! Der Bahnhof war doch sein Leben!“ Marlies spürte plötzlich wieder das Stechen in der Lunge, heftiger als je zuvor. Sie keuchte. Die Luft schien auf einmal dicker, es ist zu viel Staub in der Luft, dachte sie, oder zu viel Angst. Sie musste wieder husten. Sie hörte Willi, der meinte: „Aber wir werden kämpfen, nicht wahr Marlies?“ Das Stechen wurde zu einem Riss, einem Riss tief in ihr drin, der nicht mehr aufhören wollte – „Ja, wir gemeinsam.“ – und der Riss erfasste ihren Kopf, alles war so weit weg, die Stimmen – „Wir dürfen den Bahnhof nicht im Stich lassen!“ – sie wollte nach dem Fläschchen greifen – „Marlies, alles in Ordnung?“ aber es glitt ihr aus der Hand, fiel zu Boden, grüne Scherben, grüne scharfe Scherben ihres Lebens und sie hörte nichts mehr, wo war Tom, wo war sie, alles war weiss und – „Marlies?“ – sie fiel. Zwei Jahre. Zwei Jahre und es roch nach dreimal täglich geputzten Böden und weissen Kitteln. Der Arzt drehte sich um und drückte ihr die Bilder in die Hand. Darauf waren ihre Lungen zu sehen, kein schöner Anblick, ein gebrochenes Bergmassiv, in sich zusammengefallen. „Überlegen Sie es sich gut“, der Arzt sah sie eindringlich an, „Ich kann Ihnen eine Lungenoperation nur empfehlen. Wir wenden diese nur bei Fällen im Spätstadium an, aber es könnte Ihr Leben um einige Jahre verlängern. Sie müssten natürlich weg von hier. In die Stadt.“ Marlies schluckte schwer, ihre Beine zitterten als sie vom Stuhl aufstand. Zwei Jahre. So lange könnte sie noch leben, ohne Behandlung. Mit ihren Anfällen und eines Tages würde sie einfach umfallen und nicht wieder aufstehen. Die Welt drehte sich für einen kurzen Moment, dann war alles wieder am richtigen Platz, zumindest der Arzt und das Zimmer, wenn auch sonst nichts und sie gab ihm die Hand. „Danke“, ihre Zunge war trocken und bitter. „Melden Sie sich möglichst bald bei mir“, bat er. Er tat ihr Leid, wie er da stand, hilflos und stark zugleich, denn er konnte nichts tun und wollte doch so gerne. Sie liess die geputzten Böden und die Empfangsdame, die sie ansah, als würde sie schon im Sarg liegen, hinter sich und trat in den herbstlichen Wind. Letzte Blätter säumten den Weg in einem tristen Braun. Sie wusste nicht wohin. Hier bleiben und sterben oder gehen und leben. Und der Bahnhof? Starb dieser nicht auch, sobald sie ging? Also eher gehen und sterben lassen? Und ihre Freunde, und Tom? Marlies liess sich vom Wind treiben, es war ein stürmischer Tag. Heute Morgen hatte sie noch ihr Brot gegessen, wie immer, mit Himbeermarmelade, in ihrer kleinen Küche mit den purpurroten Vorhängen. Aber eigentlich war schon lange nichts mehr wie immer. Etwas knackte, ein schmaler Ast fiel zu Boden, am Ast ein einziges gelbes Blatt. Und sie dachte, eigentlich hatte es nie ein „wie immer“ gegeben. Von weitem sah sie das alte Bahnhofsgebäude. Es war etwas lottrig geworden über die Jahre, die Farbe schon abgeblättert, einige Schmierereien an der Wand. Ihr fiel ein, wie sie einmal hier gestanden hatten, frisch verheiratet und eingezogen. Der Bahnhof hatte noch geglänzt und die Züge waren ein-und ausgefahren alle Stunde, ein Hupen und Gehen, nie stehen bleiben, immer in Bewegung. Tom hatte sie plötzlich bestimmt beim Arm genommen und ihr fest in die Augen geschaut: „Wenn du einmal gehen musst, dann lass dich nicht von mir daran hindern.“ Es war ihm ernst gewesen. Er hatte nie gewollt, dass sie, das Mädchen aus der Stadt, alles aufgeben musste für ihn, den armen Bahnhofsjungen. Wenn du gehen musst, musst du gehen. Marlies machte versuchsweise ein paar Schritte. Ihre Beine waren nicht mehr so schwach, sie suchten sich einen Weg, einen Weg, den sie gehen konnten. Sie hob den schmalen Ast vom Boden auf. Er war leicht und fühlte sich angenehm glatt an in ihrer Hand. Wenn es auch kein Immer gibt, dachte sie, so gibt es doch ein Jetzt. Über ihr zogen einige Schwalben Richtung Süden.
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