Annie MG Schmidt Der fliegende Fahrstuhl

Annie M. G. Schmidt
Der fliegende Fahrstuhl
Aus dem Holländischen von
Else v. Hollander-Lossow
Illustrationen von
Margret Rettich
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG
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Inhalt
Lizenzausgabe des Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG , Hamburg,
für die ZEIT Edition »Bücherschatz«, 2015
Der fliegende Fahrstuhl
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Nachwort der ZEIT 203
Die niederländische Originalausgabe erschien 1953 unter dem Titel Abeltje.
© 1953 by Annie M. G. Schmidt
ZEIT -Nachwort © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG , Hamburg 2015
Umschlagillustration: Ute Krause
Umschlaggestaltung: Ingrid Wernitz
Satz und Repro: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Herstellung: Torsten Bastian (verantwortlich), Dirk Woschei
Printed in Germany
ISBN 978-3-944227-70-2
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Ihr seid viel­leicht schon ein­mal in Midde­lum ge­we­sen, Midde­
lum an der Ijs­sel, meine ich, wo die Putz­lap­pen­fab­rik ist. Wo
all die ro­ten Back­stein­häu­ser an dem blau­en Fluss ste­hen und
wo ihr schon von Weitem die drei gro­ßen Ul­men auf dem Deich
seht. Und wo Abel­tje wohnt, Abel­tje Roef, der Sohn von Frau
Roef, die den Blu­men­la­den in der Kirch­stra­ße hat.
Es ist üb­ri­gens einer­lei, ob ihr je­mals dort ge­we­sen seid, denn
es han­delt sich hier haupt­säch­lich um die­sen Abel­tje. Tat­säch­
lich dreht sich die gan­ze Er­zäh­lung um Abel­tje.
Als er die Schu­le ver­ließ, soll­te er et­was wer­den. Das ist nun ein­
mal so: Jun­gen müs­sen et­was wer­den, und Mut­ter Roef re­de­te
den gan­zen Tag da­von. »Was willst du denn nun eigent­lich, Abel­
tje?«, frag­te sie. »Willst du in das Fri­seur­ge­schäft von Nach­bar
Jas­pers als jüngs­ter Lehr­ling eintre­ten und Fri­seur wer­den mit
einem Kamm hin­ter dem Ohr und einer Müt­ze auf dem Kopf?«
»Nä­ääh!«, sag­te Abel­tje.
»Ja, das Liebs­te wäre mir«, sag­te Mut­ter Roef, »das Liebs­te wäre
mir, wenn du hier in meinen La­den kämst. Ich muss al­les al­lein
ma­chen, und du könn­test so gut die Blu­men­ar­ran­ge­ments aus­
tra­gen. Aber«, fuhr sie has­tig fort, »nein, Abel­tje, ich weiß ja,
dass es nicht das Rich­ti­ge für dich ist. Du hast da­mals die Kalla
für vier Gul­den neun­zig in den Dreck fal­len las­sen, und die
gro­ße Aza­lee für den Bür­ger­meis­ter hast du mit­ten auf den
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Deich ge­stellt und da ste­hen­las­sen. Du hast kein Ge­fühl für
Blu­men, du hast kein Ge­fühl fürs Ge­schäft, und du hast kein
Ge­fühl für Blu­men­ge­schäf­te. Das hat also keinen Sinn. Aber
du musst doch et­was wer­den. Willst du als Lehr­ling in eine
Ga­ra­ge, Abel­tje? Und mit Au­tos zu tun ha­ben?«
»Hmmm, ich weiß nicht«, sag­te Abel­tje.
Tat­sa­che war, dass Abel­tje je­den Tag eine Weile oben auf dem
Deich ne­ben den drei Ul­men stand und die gro­ßen fla­chen
Schif­fe be­ob­ach­te­te, die da ent­lang­fuh­ren. Er blick­te über den
blin­ken­den, son­ni­gen Fluss hin, der mit einem breiten Bo­gen
in den Wie­sen ver­schwand. Da­hin­ter, in der Fer­ne, war das
Meer. Da­hin­ter war die gan­ze weite Welt. Da­hin­ter la­gen all die
selt­sa­men frem­den Län­der, in die man reisen konn­te. Abel­tje
wäre am liebs­ten fort­ge­gan­gen – auf See – in die Freiheit! Al­les
er­le­ben! Al­les se­hen! Aber das wol­len alle Jun­gen, und das war
also nichts Be­son­de­res.
Nun müsst ihr wis­sen, dass in Midde­lum et­was im Gan­ge war.
Midde­lum war in den letz­ten zehn Jah­ren sehr groß ge­wor­den;
es wur­de eine rich­ti­ge Stadt, vor al­lem durch die Putz­lap­pen­
fabrik. Es ver­kehr­ten dort schon drei Au­to­bus­se: Li­nie F, Li­nie
L und Li­nie Q. Es gab zwei Ki­nos und ein gro­ßes Café, die »Kro­
ne«, mit einer Ter­ras­se und mit Mu­sik. Und jetzt, es ist fast nicht
zu glau­ben, jetzt kam ein Wa­ren­haus. Das Wa­ren­haus Knots.
So ein rie­si­ges Wa­ren­haus, in dem man al­les kau­fen kann:
Ta­schen­tü­cher und Schreib­ma­schi­nen und Ko­kos­mak­ro­nen und
Lie­ge­stüh­le und Ein­le­ge­soh­len und – kurz und gut: al­les. Ein
Wa­ren­haus mit vier Stock­wer­ken au­ßer dem Erd­geschoss und
mit rich­ti­gen Dreh­tü­ren und gro­ßen Schau­fens­tern und Leucht­
buch­sta­ben ganz oben: KNOTS .
Fast ein Jahr lang war da­ran ge­baut wor­den, und jetzt war es
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also fer­tig. Jun­ge, war das ein Bau­werk! Alle Leu­te blie­ben
da­vor ste­hen. »Wann wird es er­öff­net?«, frag­ten sie. »Im nächs­
ten Mo­nat? Du meine Güte, was sind wir jetzt doch für eine
gro­ße Stadt!«
Mut­ter Roef sag­te: »Viel­leicht kann Abel­tje da un­ter­kom­men,
bei Knots. Wisst ihr was? Ich gehe mal hin. Ich hab’ ge­se­hen,
da ist ein Büro, in dem eini­ge Her­ren sit­zen.«
Und an einem Mon­tag­mor­gen setz­te sie ih­ren neu­en brau­nen
Hut mit der grü­nen Fe­der auf und ging in das Büro im Wa­ren­
haus Knots.
Da saß ein gro­ßer, breit­schult­ri­ger, di­cker Herr mit einer Zi­gar­re,
der ihr einen Stuhl an­bot und sag­te: »Ihr Sohn? Soso! Sa­gen
Sie, wie alt ist er?«
»Vier­zehn Jah­re«, sag­te Mut­ter Roef. »Er ist ein biss­chen klein
für sein Al­ter, aber ein ge­scheiter Jun­ge, das muss ich selbst
sa­gen. Und ein flin­ker Jun­ge, sehr flink! Ein flin­ker, sau­be­rer,
ge­scheiter Jun­ge.«
»Möch­te er viel­leicht Lift­boy wer­den?«, frag­te der Herr nach­
denk­lich und blies einen Rauch­krin­gel in die Luft.
»Er will al­les«, sag­te Mut­ter Roef. »Der Jun­ge will al­les!« Aber
bei sich selbst dach­te sie: Lie­ber Him­mel, er will über­haupt
nichts, also dies auch nicht.
»Las­sen Sie ihn heu­te Nach­mit­tag mal zu mir kom­men«, sag­te
der Herr. »Um vier Uhr. Ich brau­che einen Lift­boy. Er be­kommt
eine rote Liv­ree.«
Als Mut­ter Roef nach Hau­se kam und ih­ren Hut ab­setz­te, sag­te
sie: »Um vier sollst du ins Wa­ren­haus Knots kom­men, Abel­tje.
Du kannst Lift­boy wer­den. Du be­kommst eine feu­er­ro­te Liv­ree
mit gol­de­nen Tres­sen und sil­ber­nen Streifen und … Was ist
eigent­lich ein Lift­boy?«, füg­te sie hin­zu.
»Ich weiß es auch nicht ge­nau«, sag­te Abel­tje. Er be­griff nur,
dass es et­was mit einem Lift zu tun hat­te, so einem Ding, das
auf­wärts und ab­wärts fuhr, aber ir­gend­wo in seinem Kopf war
auch die Vor­stel­lung von »Lif­ten«, wie die Eng­län­der sa­gen,
wenn einer per An­hal­ter mit einem Auto mit­fährt, ganz weit
weg. »Ich gehe heu­te Nach­mit­tag hin«, sag­te er.
Mut­ter Roef war­te­te nach­mit­tags von vier Uhr an sehn­süch­
tig und ver­kauf­te in ih­rem La­den ver­se­hent­lich die Al­pen­
veil­
chen für zwei Gul­
den statt für drei, so auf­
ge­
regt war
sie. »Und?«, frag­te sie, als Abel­tje he­rein­kam, die Müt­ze auf
einem Ohr.
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