Ein Gott, der unser Bruder ist

Reformierte Kirchgemeinde Hasle bei Burgdorf
Predigt zum Weihnachtsmorgen 2015: „Ein Gott, der unser Bruder ist“
Texte: „In tiefer Nacht“ (Lied) / Hebräer 2,14.17a (NGÜ)
Pfr. Hannes Müri
In tiefer Nacht trifft uns die Kunde: Der Lauf des Morgensterns beginnt.
Ein Menschensohn ist uns geboren, „Gott wird uns retten“ heisst das Kind.
Tut auf das Herz, glaubt euren Augen, vertraut euch dem Geschauten an;
denn Gottes Wort stieg aus der Höhe und ist uns menschlich zugetan.
Kein andres Zeichen ist uns eigen, kein Licht in unsrer Finsternis,
als dieser Mensch, mit dem wir leben, ein Gott, der unser Bruder ist.
Singt eurem Gott, er hat in Jesus uns seine Liebe anvertraut.
So wird die Welt zur neuen Erde, bis alles Fleisch sein Heil erschaut.
Und wie die Sonne für uns leuchtet in Glut und Licht, ein Bräutigam,
so wird der Friedensfürst erscheinen, weil endlich seine Stunde kam.
Er führt die Menschen zueinander, macht seine Liebe allen kund.
Er hat uns seinen Leib gegeben. So feiern wir den neuen Bund. 1
Liebe Gemeinde!
Weihnachten ist das Fest, an dem wir uns vergegenwärtigen, dass Gott unser
Bruder geworden ist, und darüber neue Hoffnung schöpfen und froh werden!
„Ein Gott, der unser Bruder ist?“ – Fragezeichen. Wollen wir ihn vom Thron holen?
Wollen wir den Himmel leer sehen, „above us only sky“2? Wollen wir Gott auf
Mitmenschlichkeit reduzieren? Versuchen wir, ihn mit dem Gerede vom Bruder
irgendwie verfügbar zu machen?
Nichts von all dem. Jesus Christus ist und bleibt der Herr über unsere Schöpfung,
bleibt unser Herr – gerade weil er uns Menschen in jeder Hinsicht gleich geworden
ist, wie es im Hebräerbrief steht.3 Er hat alles erlebt und erlitten, was wir erleben und
erleiden. Er weiss, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Es fällt mir leichter, einem Chef zu folgen, der nicht einfach aus der Teppichetage
seine Anweisungen gibt, sondern der weiss, was die Mitarbeiter bewegt, und zwar,
weil er selber an ihrer Stelle gewesen ist und die Arbeit getan hat, die sie tun.
In der Filmtrilogie „Der Hobbit“4 regiert ein Bürgermeister über die Seestadt Esgaroth,
dem es vor allem um Geld und Gold geht. Als die Stadt und ihre Menschen in
tödliche Bedrohung kommen, versucht er, sich auf einem mit Schätzen gefüllten
1
T: Huub Oosterhuis; dt. Peter Pawlowsky / M/S: Antoine Oomen
John Lennon in seinem Song „Imagine“
3
Hebräer 2,17
4
Filmadaption des gleichnamigen Romans von J. R. R. Tolkien (1937)
2
Schiff in Sicherheit zu bringen. Er stösst dabei um ihr Leben schwimmende
Menschen ins Wasser zurück, weil neben dem Gold kein Platz ist. Einem solchen
Herrn ist nicht zu trauen; sein Tod löst in der Stadt nicht viel Mitleid aus.
Wer später zum neuen Anführer gemacht wird, ist ein Mann vom Volk. Man hat seine
Familie kennengelernt, hat erfahren, wie er sich durchs Leben schlägt und dafür
schaut, dass seine Frau und seine Kinder essen können. Man hat gesehen, wie er
ein Opfer des Neids geworden ist und eingesperrt worden ist. Man hat miterlebt, wie
er der Gefahr nicht ausgewichen ist, sondern Seite an Seite mit den Bewohnern
der Seestadt gekämpft hat. Ein „Bruder“ wird zum neuen Herrn, der von allen
geachtet und geschätzt wird.
An Weihnachten wird der Herr zum Bruder. Dafür wollen wir ihn achten und
lieben, wollen an seiner Seite sein und bleiben, wenn das Leben schwierig ist, aber
auch wenn es uns leicht fällt.
Im Lied „In tiefer Nacht“ von Huub Oosterhuis, das uns der Kirchenchor
gesungen hat, sind die Worte „ein Gott, der unser Bruder ist“ eine Schlüsselstelle.
Das Weihnachtslied ist in der Wir-Form aufgeschrieben, und so sind wir mit
hineingenommen in die biblische Weihnachtsgeschichte, sind bei den Hirten und
ihren Herden, machen uns mit ihnen auf die Suche nach dem neugeborenen Retter,
sind zusammen mit den Weisen aus dem Osten unterwegs, die dem „Morgenstern“
folgen.
Die „tiefe Nacht“ ist die Nacht, in der Jesus geboren wurde, aber auch die Nacht der
menschlichen Not. In diese Nacht hinein wird ein „Menschensohn“ geboren, also ein
Mensch, dessen Name bedeutet: „Gott wird uns retten“. Das ist tatsächlich die
Bedeutung des Namens Jesus, nur setzt sie Oosterhuis in die Zukunftsform. Das
finde ich bemerkenswert, denn es zeigt uns, dass es bei Weihnachten nicht bloss um
etwas Vergangenes geht, an das wir uns erinnern. Sondern Jesus ist ein Name, den
wir uns merken sollten, den wir uns merken dürfen in Bezug auf alles, was kommt!
Die Geburt dieses Kindes sei ein Zeichen für uns, sie zeigt uns etwas. Was wohl?
Dass Gott uns Menschen so sehr liebt, dass er seinen Sohn als einen Menschen hat
geboren werden lassen. Eben: „Ein Gott, der unser Bruder ist.“
Die Aussage berührt mich zuerst einmal persönlich: Ich habe auch einen Bruder und
eine Schwester; er ist zwei Jahre älter, sie drei Jahre jünger als ich. Wir sehen uns
nicht mehr so häufig wie früher, aber dafür merken wir immer mehr, wie wir wegen
unserer gemeinsamen Lebensgeschichte und unserem Hintergrund miteinander
verbunden sind. Dass mich mein Bruder in einer Lebensphase, als es mir nicht
besonders gut ging, bei unserem Besuch auf mein Ergehen angesprochen hat und
mir von seinen Erfahrungen erzählte, ist mir in besonderer Erinnerung geblieben.
Dass Jesus uns zum Bruder geworden ist, ist der besondere Beitrag des
Hebräerbriefs im Neuen Testament zum Weihnachtsgeschehen. In seinem zweiten
Kapitel schreibt sein Verfasser, dass Gott uns als Söhne und Töchter an seiner
Herrlichkeit (seinem Reichtum, seinem Leben, seiner Zukunft) teilhaben lassen wolle.
Jesus, also Gottes „erster Sohn“, sei dabei unser Wegbereiter. Durch sein Leiden
und Sterben sei er „vollkommen gemacht“ worden; und ich verstehe das so, dass ihm
keine menschliche Erfahrung vorenthalten und erspart worden ist. So ist er unser
Bruder geworden.5
Die „Spitzensätze“ aus der Weihnachtsbotschaft des Hebräerbriefs lauten:
Weil nun aber alle diese Kinder Geschöpfe aus Fleisch und Blut sind, ist auch
[Jesus] ein Mensch von Fleisch und Blut geworden.
Ihnen, seinen Brüdern und Schwestern, musste er in jeder Hinsicht gleich
werden. Deshalb kann er jetzt als ein barmherziger und treuer Hohepriester
vor Gott für sie eintreten. 6
Kurz gesagt: Jesus war einer von uns!7 – Mehr nicht? – Doch: Gott und Mensch
zugleich! Wer kann das ganz erfassen...?
Er wurde geboren – wie wir. Dabei war sein Bett eine Futterkrippe in einem
armseligen Stall. Er lebte als Mensch – wie wir. Weder Angst noch Sorgen blieben
ihm erspart. Enttäuschungen, Not und Schmerzen hat er durchlitten. Freude und
Freundschaft hat er erfahren.
Seit Jesus einer von uns wurde, seit er auf dieser Erde lebte, kann und muss
niemand mehr sagen, dass Gott seine Lage nicht kenne, seine Not nicht
durchgemacht habe. Er starb einen grausamen Tod, wohl schlimmer, als er jedem
von uns bevorsteht. Er starb diesen Tod für uns, für alle Menschen, alle Völker, alle
Generationen. Er starb diesen Tod, beladen mit Schuld und Not der ganzen Welt, am
Kreuz vor den Toren Jerusalems.
So hat er uns mit Gott versöhnt, so ist er einer für uns geworden, einer, der keinen
übersieht, keinen vergisst, keinen im Stich lässt, der auf ihn seine Hoffnung setzt. Er
hat uns sein Versprechen gegeben, uns in dieser Welt nicht allein zu lassen.
„Moment!“, denken Sie jetzt vielleicht. „Heute feiern wir doch Weihnachten und sind
nicht im Karfreitagsgottesdienst.“ – In einem sehr lesenswerten Interview im
„Magazin“ vom letzten Samstag hat sich Niklaus Peter, Pfarrer am Fraumünster in
Zürich, gegen ein harmloses „Weihnachts-Christentum“ ausgesprochen und
gesagt:
„In der Weihnachtsgeschichte ist das spätere Leiden Jesu symbolisch schon präsent,
das darf man nicht trennen, sonst kriegen wir ein schrecklich sentimentales
Christentum. Wir brauchen einen Glauben, der erwachsen ist, sodass man die
Welt mit ihren Dunkelheiten wahrnehmen kann, so wie sie eben ist – und gleichzeitig
das Helle, das wirklich Tröstliche sehen kann.“ 8
Gerade wegen diesem Hellen und Tröstlichen mitten im Dunkeln feiere ich so
gern Weihnachten, freue ich mich immer auf dieses Fest, versuche ich es
auszukosten und nachklingen zu lassen. Ich freue mich an Gott, der unser Bruder ist!
Ich feiere mit Ihnen den Gott, der da ist! Wir zünden die Kerzen an!
5
Hebräer 2,10ff.
Hebräer 2,14.17a (Neue Genfer Übersetzung)
7
Ein Bildband des niederländischen Künstlers Rien Poortvliet über das Leben Jesu trägt den Titel „Er
war einer von uns“.
8
„Das Magazin“ 51/52 – 2015 (Beilage verschiedener Tageszeitungen, u. a. der Zeitung „Der Bund“)
6
Im Adventskalender9, der während der Adventszeit in unserer offenen Kirche
aufgelegen ist, habe ich gestern bei einem Bild eines neugeborenen Kindes 10 eine
Ermutigung zum Feiern des Weihnachtsfestes gefunden: „Zündet die Kerzen an!“,
schreibt der Theologe Karl Rahner. Seine guten Worte will ich Ihnen nicht
vorenthalten!
„Ich bin da – Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort im
fleischgewordenen Wort in die Welt hineingesagt, ein Wort, das nicht mehr
rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst
in der Welt ist. Und dieses Wort heisst: Ich liebe dich, du Welt und du Mensch. Ich
bin da, ich bin bei dir. Ich bin deine Zeit. Ich weine deine Tränen. Ich bin deine
Freude. Ich bin in deiner Angst, denn ich habe sie mitgelitten. Ich bin in deiner Not.
Ich bin in deinem Tod, denn heute begann ich mit dir zu sterben, da ich geboren
wurde, und ich habe mir von diesem Tod wahrhaftig nichts schenken lassen. Ich bin
da. Ich gehe nicht mehr von dieser Welt weg, wenn ihr mich jetzt auch nicht seht.
Und meine Liebe ist seitdem unbesieglich. Ich bin da. Es ist Weihnachten. Zündet die
Kerzen an. Sie haben mehr recht als alle Finsternis. Es ist Weihnacht, die bleibt in
Ewigkeit.“
AMEN
9
„Der Andere Advent“, mitherausgegeben vom Verein tecum (www.derandereadvent.ch)
Gerhard Richter, 2015, www.gerhard-richter.com
10