Perljunge, Pferde, Menschen & die Liebe

Katharina Sperberg
PERLJUNGEPferde, Menschen & die Liebe
Roman
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Katharina Sperberg
PERLJUNGEPferde, Menschen & die Liebe
Roman
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Dieses Buch ist allen Pferden gewidmet,
auch den weniger schönen und erfolgreichen,
denn jedes dieser Tiere verdient Respekt,
Schutz und Liebe.
Der berühmte russische Balletttänzer und Choreograf Vaslav Nijinsky,
gestorben am 8. April 1950, soll mit seinem letzten Atemzug geflüstert
haben: „Ich werde wiederkommen – als ein wildes, schönes Pferd.“
Eines der berühmtesten Galopprennpferde war der braune Vollbluthengst
Nijinsky. Er wurde am 21. Februar 1967 geboren und lebte bis zum 15.
April 1992.
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Wer einen Tag lang glücklich sein will,
der betrinke sich.
Wer eine Woche lang glücklich sein will,
der schlachte ein Schwein und esse es auf.
Wer einen Monat lang glücklich sein will,
der sollte heiraten.
Wer sein Leben lang glücklich sein will,
der kaufe sich ein Pferd.
∞∞ 1 ∞∞
An einem warmen, ganz besonderen Spätnachmittag im Altweibersommer, fand die Sonne unter dem hohen Dach einen Spalt in der
südlichen Giebelwand und schickte einen langen, goldenen Strahl auf den
in romantische Szene gesetzten Heuboden.
Weit oben über dieser Szene hockte auf einem breiten Eckbalken eine
kleine Schleiereule. Der nachtaktive Raubvogel fühlte sich beim Schlafen
gestört, schaute mit halb geschlossenen Augen unter sich, sah mehr als
kleine aufgewirbelte Staubteilchen, die funkelnd durch den Sonnenstrahl
schwebten. Sich paarende Mäuse hatte der Vogel zu nächtlicher Stunde
schon öfters beobachtet, wobei meistens eines der Mäuschen anschließend
in seinem Magen gelandet war. Auch zwei Steinmarder hatten dort vor
einigen Monaten zusammengefunden, die daraus entstandenen Nachkommen wurden jedoch viele Kilometer entfernt unter einem anderen
Dach aufgezogen.
Nun waren dort unten zwei Menschen aufgetaucht, die selten ihre
Hände voneinander lassen konnten, wenn sie zusammen waren. Heute, an
diesem ganz besonderen Tag, gelang es ihnen noch weniger.
Als Tobias sie zum ersten Mal an ihrer intimsten Stelle öffnete, als er
den Widerstand ihres Hymens durchbrach, spürte er, dass es schmerzhaft
für sie, doch gleichzeitig auch ihre Erfüllung war. Er schmunzelte in sich
hinein, denn so billig war er bei einem Geburtstagsgeschenk noch nie
weggekommen.
Der Duft ihrer Haut war ihm vertraut, er bewegte sich langsam und
vorsichtig, ließ ihre Körper einander zart berühren. Ihre Handflächen
pressten sich gegen seinen Rücken, bei jeder Bewegung schien das Heu
unter ihnen zu wispern. Er spürte, dass Hitzeschauer sie überliefen,
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beobachtete fasziniert, wie sich ihre Wangen röteten. Mit der Zunge strich
er über ihre rosigen Knospen, konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er
erreichte den Gipfel des sekundenlangen Glücks, hörte, wie sie seinen
Namen seufzte, wusste, dass er alles war, was sie wollte und brauchte.
Wenige Sekunden später schaute Merle ihn so glücklich an, als hätte er
für sie die Sterne an den Himmel gehängt. Sie war verliebt. Verliebt mit
Kopf, Herz, Körper und Seele. Das nicht erst seit Kurzem. Nein, eigentlich
liebte sie ihn schon seit einigen Jahren, nur nicht so bewusst wie in letzter
Zeit. Und da für Schüchternheit schon länger kein Platz mehr in ihrer
Beziehung war, fragte sie nun kichernd: „Hattest du vor mir viele
Freundinnen?“
Man sah Merle an, dass sie gerne Süßes aß. Wenn sie mit ihren braunen
Augen, der schmalen Stupsnase und dem ausdrucksvollen Mund lächelte,
strahlte ihr Gesicht auf. Ein kleiner roter Pickel unter ihrem Kinn war fast
nicht mehr zu sehen, hatte sich glücklicherweise verflüchtigt.
„Du kennst sie alle“, antwortete Tobias ehrlich, während er mit einem
geblümten Papiertuch sanft die feinen, rötlichen Spuren ihrer ersten
Vereinigung von der Innenseite ihrer Oberschenkel tupfte. Was er
zwischen ihren geöffneten Schenkeln sah, erfreute sein 24-jähriges Herz.
„Beim ersten Mal ist es nicht schön, aber das wusstest du ja“, fügte er hinzu,
als er sich neben das an diesem Tag sechzehn Jahre alt gewordene
Mädchen legte.
Merle kuschelte sich in seine Arme. Die Sonne warf einen zarten
Lichtstreifen auf sein Gesicht, das von sandblondem Haar umrahmt wurde,
und züngelte über die winzigen Sommersprossen auf seiner Nase. Er legte
eine Hand auf ihre Wange und spürte in seinen Fingerspitzen die Ader an
ihrer Schläfe pochen.
„Es war mein bisher schönstes Geburtstagsgeschenk, du hast mich
lange zappeln lassen“, gestand sie, die Augen feucht vor Zärtlichkeit.
„Ich habe nun mal meine Prinzipien. Was wir bisher zusammen
gemacht haben, war doch auch schön, oder etwa nicht?“ In seinem Blick lag
liebevolle Bewunderung, und er spazierte mit seinen Fingerspitzen über
ihren reizvollen Körper.
Draußen auf dem kleinen Teich begannen sich die Enten vom
Lichtenberg-Hof zu unterhalten, ihr geschwätziges Quaken drang bis zu
ihnen hinauf.
Merles Kopf ruhte auf seiner Brust. Sie lauschte seinem gleichmäßig
ruhigen Herzschlag, genoss wie stets das Spiel seiner Finger auf ihrer Haut,
die nun über ihren Arm spazierten. Ein warmes Gefühl erfüllte sie, und sie
grinste in sich hinein. Als er sie vor zwei Wochen gefragt hatte, was sie sich
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von ihm zum 16. Geburtstag wünscht, hatte sie prompt geantwortet:
„Meine Entjungferung auf eurem Heuboden.“ Sie sprachen über alles. Ihm
konnte sie sagen, wie einsam sie sich manchmal daheim bei ihrer Mutter
und ihrer Schwester fühlte, dass sie von ihnen kaum verstanden wurde.
„Als was möchtest du mal wiedergeboren werden?“, fragte Merle und
beobachtete den länger werdenden Sonnenstrahl, der sich ihrem Liebesnest näherte. In der Schule hatten sie am Vortag über den Hinduismus
gesprochen, nach dessen Glauben eine Seele wiedergeboren wird.
„An so etwas glaube ich nicht.“ Er konnte ihren Atem auf der Haut
spüren.
„Warum nicht? Das macht die Angst vor dem Tod doch leichter, mir
jedenfalls.“
„Wir sind noch viel zu jung, um uns mit solchen Gedanken zu
beschäftigen. Menschen glauben an alles Mögliche, an Gott, an die Macht
des Geldes. Ich glaube an uns.“
„Ich möchte als Vogel, vielleicht als Paradiesvogel wiedergeboren
werden, obwohl ja eigentlich nur die männlichen Paradiesvögel schön sind.
Da ich´s im jetzigen Leben nicht bin, spielt es auch keine Rolle, wenn´s im
nächsten nicht anders ist.“
„Schönheit liegt im Auge des Betrachters, ist relativ. Die meisten
Menschen sind keine Schönheiten, doch für mich bist du schön!“ Mit seinen
kräftigen Armen zog er sie ganz eng an sich, kniff ihr in die Pobacke, fragte:
„Du liebst Pferde – warum möchtest du nicht als Pferd wiedergeboren
werden?“
„Das Leben vieler Pferde ist oft eine üble Sache. Eigentlich kenne ich
nur ein Pferd, dem es richtig gut ging – eurer Pamina. Den anderen geht´s
auch gut, während du sie ausbildest und in Beritt hast. Wie alt ist Pamina
jetzt?“
„Zweiunddreißig. Mein Vater hat sie als Fohlen gekauft, später eingeritten und eingefahren, dann auch mit ihr gezüchtet.“
„Aber keines ihrer Fohlen habt ihr behalten.“
„Doch, ihr letztes Kind, eine Stute. Danuta hieß sie. Allerdings wurde sie
nur sechs Jahre alt. Sie war immer so gierig und verfressen, hat sich eines
abends die Pellets wie ein Staubsauger reingezogen und eine Schlundverstopfung bekommen. Als mein Vater sie am nächsten Morgen fand, war
eine Rettung nicht mehr möglich, und sie musste notgeschlachtet werden.“
„Wie schrecklich!“
„Pamina war das erste Pferd, auf dem ich zusammen mit meinem Vater
sitzen durfte. Sie ist noch gut drauf, vielleicht überlebt sie uns alle.“
„Sie hat ja auch noch viel Lebensfreude und Spaß daran, wenn sich die
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kleinen Schreikröten mit ihr beschäftigen. Ich kann mich immer kringeln,
wenn sie die Aluleiter nehmen und hoch steigen.“
„Sie ist nur so geduldig, weil sie weiß, dass hinterher die Leckerlitüte
für sie geöffnet wird.“
„Denkst du, dass sie es ohne Bestechung nicht tun würde?“
„Frauen mögen Belohnungen.“
„Ich bin jetzt auch eine Frau“, flüsterte Merle, küsste ihn auf die
Schulter, biss sanft in seine rechte Brustwarze, piekte ihm in den
Bauchnabel. „In den Winterferien möchte ich ein Praktikum im
Kindergarten machen, was hältst du davon?“
„Die Idee gefällt mir.“
Der Sonnenstrahl zog sich zurück, dafür schallte der Ruf von Beauty,
dem Pfau, zu ihnen herauf.
„Hast du noch eine Mütze für deinen kleinen Kopf?“ Sie nahm seine
Hand und führte seine Fingerspitzen über ihre Brüste, über ihren Bauch
hinunter zur klebrigen Feuchtigkeit, die sie kurz zuvor erzeugt hatten. „Es
war ja beim ersten Mal nicht so schön, daher möchte ich gerne wissen, wie
es beim zweiten Mal ist.“ Sie nahm Tobias´ Kopf in die Hände und küsste
ihn, ließ die Wärme ihrer feuchten Lippen auf seiner Stirn zurück.
„Was für eine Seite kommt in dir zum Vorschein? Du bist doch sonst so
ein ruhiges, bescheidenes Mädchen“, flüsterte er.
Mit den Händen durch die Wolke ihres dunklen Haares fahrend,
begannen ihre Zungen einander zu streicheln. Der Kuss wurde intensiver,
beide wurden scharf und schärfer aufeinander. Seine Finger verließen ihre
Haare und wanderten abwärts, um ihre Brüste zu streicheln, um ihre hart
werdenden, blassrosa Brustwarzen zu liebkosen. Wieder verloren sie jedes
Gefühl für Zeit und Raum.
Merle traute sich etwas an diesem besonderen Tag, rutschte ein Stück
herunter und kauerte sich über ihn. Ihre Haarspitzen berührten seine
Schenkel. Dann umgaben ihn ihre warmen Lippen. Er war überrascht, wie
geschickt sie ihn langsam, gleichmäßig und liebevoll verwöhnte. Plötzlich
war er so stark erregt, dass er erschauerte und tief Luft holte. Nicht nur an
seinem Halsansatz pochte eine feine Ader.
Tobias´ Verlangen spornte sie an. Grinsend schaute sie ihn an, wollte
ihn in sich haben, zog fragend die Augenbrauen hoch. Schnell richtete er
sich auf, hatte sich in Sekunden etwas Schützendes übergestreift. Zärtlich
begann er die Innenseite ihrer Beine zu streicheln, küsste abwechselnd
ihre Brüste, atmete ihren Duft tief ein, als wolle er darin ertrinken. Mit den
Händen unter ihrem Po legte er sie sich zurecht, hob ihren Körper hoch
und passte ihn in einem Bogen seinem eigenen an. Jetzt war alles passend,
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um schnell, leicht und geschickt in sie zu schlüpfen.
Ihre Körper waren wie zwei Magneten. Jedes Mal, wenn sie leise
stöhnend bebte, ging es ihm durch und durch, dass er sich kaum
beherrschen konnte. Sie legte ihm die Hände um den Nacken und hielt ihn
fest. Seine behutsamen Bewegungen weckten bisher unbekannte Sehnsüchte in ihr, und tatsächlich war es für Merle schöner als beim ersten Mal.
Beide hörten auf zu denken und gaben sich einander hin. Ihre sinnlichen Körper verschmolzen zu einer Einheit, stimmten sich aufeinander
ein. Das Erschauern ihres Leibes erfüllte ihn mit Dankbarkeit darüber, dass
sie sich ihm so liebevoll hingab. Über seinem Rücken kreuzte sie die Beine,
so dass er immer tiefer in ihre Wärme dringen konnte. Seine erst
bedächtigen Bewegungen wurden schneller, noch erregender, ließen beide
viel zu schnell in einen tiefen, endlos samtigen Abgrund fallen, während
funkelnde Staubwolken durch einen weiteren Sonnenstrahl wirbelten, der
sich durch eine andere Ritze im Giebel hereinstahl.
Von draußen drang aus der Entfernung das Lärmen kleiner spielender
Kinder, das himmelwärts flatterte wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel.
Nachdem sie die Leiter vom Heuboden herabgestiegen waren, klopften
sie sich gegenseitig den Staub von der Kleidung. Während er ihr ein paar
Halme aus den verwuschelten Haaren zupfte, die wieder zu einem
Pferdeschwanz zusammengebunden waren, fiel ihm ein, dass er etwas
vergessen hatte. Er griff in die rechte Tasche seiner Levi´s, die sich an seine
Hüften klammerte, und überreichte Merle einen Schlüsselring mit einem
daran baumelnden silbernen Pferdekopf. In seinen Augen war eine tiefe
Intensität, als er sagte: „Nochmals alles Gute zum Geburtstag.“
„Ich liebe dich, Tobi“, sagte sie, und ihr Herz weitete sich, wurde zu
einem Galopp angefeuert. Sie umarmte ihn glücklich, ihre braunen Augen
schienen von innen heraus zu leuchten, die grünen Einschlüsse glitzerten.
„Ich dich auch, Merle.“
„Warum liebst du mich?“
„Weil du du bist.“
„Meine Mutter kriegt ´nen dicken Hals, wenn sie davon erfährt.“ Sie zog
eine Schnute.
„Deine Mutter will nur dein Bestes.“
„Du bist mein Bestes.“
„Seit heute ist dein süßes Pfläumchen für mich reif zum Vernaschen. Ich
hätte es aber auch noch etwas länger ohne ausgehalten“, er grinste, „doch
dein Wunsch war mir Befehl. Erinnerst du dich an den Tag, als du das erste
Mal zu uns auf den Hof gekommen bist?“
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Merle in Erinnerung erheitert kichernd: „Du hast gemeckert, weil Evi
und ich am Zaun standen und zuschauten, als du zum ersten Mal auf einen
Dreijährigen gestiegen bist. Und als er dich in der riesigen Pfütze auf dem
Reitplatz abgeworfen hat, hast du dich geärgert, weil ich gelacht habe.“ Sie
weitete ihre Augen und blies die Wangen zu einer komischen Grimasse auf.
Tobias schmunzelte und gestand: „Ob du´s glaubst oder nicht, mein
Schatz – in dem Moment, als mir die Pfützensuppe in die Reitschuhe lief
und du so frech gelacht hast, da dachte ich, dass du vielleicht später mal
die richtige Frau für mich sein könntest.“
„Cool! Da war ich neun und du sechzehn!“ Beim Funkeln der Sonnenstrahlen, die sich in seinen Augen widerspiegelten, fühlte sich Merle dem
Himmel ganz nah.
Eine halbe Stunde später kam Merle, noch mit von männlichem
Bartwuchs gereiztem und gerötetem Gesicht, gerade zu Hause an, als ihr
Handy klingelte. Eva, ihre beste Freundin war neugierig, fragte sofort:
„Und?“
„Ja.“
„Erzähl.“ Einige Momente Schweigen und Eva wusste, dass nichts mehr
kam, daher: „Ich bin sicher, er wird dich auch mal heiraten.“
„Wirklich?“
„Du bist die Beste für ihn, das denke ich schon lange, und er weiß es
sicher auch, sonst hätte er mit dir nichts angefangen. Wenn er dich mal
fragt, wirst du doch Ja sagen?“
„Nur, wenn du als Schwägerin meine beste Freundin bleibst.“
In einem mehrstöckigen Mietshaus klingelten am nächsten Morgen
gegen sechs zwei nebeneinander stehende Wecker. Gähnend schob sich
Tatjana, ihr Nachname, Kudrjawzew, war eine Lautquälerei, aus dem Bett.
Sie war eine resolute Frau die versuchte, sich mit ihren beiden Mädchen
einigermaßen gut durchs Leben zu bringen. Auf dem Weg ins Badezimmer
klopfte sie an die Zimmertür von Jennifer und Merle.
Merle war bereits wach, hörte wenig später die Toilette im Bad
rauschen, schob ihre Bettdecke zur Seite und entstieg ihrem Nachtlager.
Auf nackten Füßen tapste sie in die Küche, um den Frühstückstisch zu
decken, dachte wie schon so oft, dass das Beste an der Dreizimmerwohnung eigentlich die Gästetoilette war.
Jennifer war am Abend zuvor spät nach Hause gekommen. Sie blieb im
Bett bis sie hörte, dass ihre Mutter das Bad verließ, hatte ebenfalls vor, sich
für den vor ihr liegenden Tag zu stylen, obwohl sie auch naturbelassen
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hübsch war. Vor einem halben Jahr hatte sie eine Ausbildung zur
Großhandelskauffrau begonnen, doch wie die Dinge lagen, würde sie das
erste Lehrjahr wohl nicht überstehen, denn die bisherigen Tätigkeiten
gefielen ihr nicht.
Merle kam zurück ins gemeinsame Zimmer, zog der zwei Jahre älteren
Schwester die Bettdecke weg, forderte unwirsch: „Steh auf, eigentlich bist
du diese Woche mit Frühstück dran!“
Jennifer kroch aus den warmen Federn, strich sich lange, goldblond
gefärbte Haarsträhnen aus dem Gesicht, gähnte mit weit offenem Mund,
streifte sich ungeniert das kurze Nachthemd ab. Während sie sich räkelte
und auf dem Rücken kratzte, beobachtete sie, wie ihre Schwester, in T-Shirt
und Slip, in ihrer Schreibtischschublade kramte. Trocken kritisierte sie:
„Dein Arsch wird vom Reiten immer breiter.“
„Sei froh, dass es meiner und nicht deiner ist“, kam als Antwort zurück.
Merle hatte gefunden, was sie suchte, steckte es in ihre Schultasche, stieß
einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus.
„Hast du gestern wieder deinen Bauern getroffen?“ Jennifer stellte sich
aus ihrer Schrankhälfte den passenden Tageslook zusammen.
„Er ist kein Bauer, er ist Bereiter.“
„Für mich kein großer Unterschied. Hätten sich die Kühe noch gelohnt,
wären sie sicherlich nicht abgeschafft worden.“
„Sein Vater war schon immer Kraftfahrer, die Landwirtschaft war nur
noch ein Nebenerwerb.“
„Was kann dein Bereiter schon groß verdienen?“
Meine Liebe, dachte Merle, zog sich ihren BH an und sagte: „Nicht so
viel wie der Makler, mit dem du seit zwei Wochen rummachst.“
„Wenn du nicht so fett wärst, hättest du mehr Chancen.“
Ein Flämmchen Wut durchzüngelte Merle. Sie rückte ihre vollen Brüste
in den Körbchen zurecht, schielte auf Jennifers Salzstangenbeine, knurrte:
„Ich bin nicht fett, nur gut genährt. Kleidergröße 40 ist normal.“
„Du könntest 36 haben, wenn ...“
Genervt unterbrach Merle: „Ich war immer schon gierig nach mehr!
Wem ich gefallen möchte, dem gefalle ich!“
„Ja ja, Herrn Pinoccionase. Wenn er lügt, wächst sie bestimmt auch in
die Länge!“ Jennifer lachte blöd – es klang fast wie das Geräusch von
Fingernägeln, die über eine Tafel kratzen.
„Natürlich! Deswegen lügt er auch nicht!“
„Mit dem Zinken kann er winken! Weit bringst du´s mit dem nicht!“
„Bisher hast du es nach ´nem One-Night-Stand zu ´ner Abtreibung
gebracht, das ist lobenswert, nicht wahr?!“ Merle streifte sich ein rotes
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Sweatshirt über, das sie in ein Rechteck mit Beinen verwandelte. Sie griff
nach ihrer auffällig verschlissenen Jeans, die durch langes Tragen in diesen
Zustand gekommen war, nicht in China so hergestellt. Voller Liebe dachte
sie an gestern, dachte an Tobias. Ja, er hatte eine markante Nase, die aber
nicht zu lang war. Na ja, vielleicht ein bisschen. In Kombination mit Mund,
Augen, Ohren und allem anderen, hatte ihr Freund jedoch durchaus ein
attraktives Gesicht.
Die alte Kaffeemaschine gurgelte in der Küche ihr großes Finale. Tatjana
huschte über den Flur, verschwand in ihrem Schlafzimmer, das nur selten
einem männlichen Gast vorgestellt wurde. Sie war alleinerziehend, vom
Vater ihrer Töchter, den sie nicht geheiratet hatte, seit fast zehn Jahren
getrennt. Anfänglich war der väterliche Kontakt noch vorhanden gewesen,
doch nach seiner Heirat und einem dritten Kind, einem Sohn, war die
Sehnsucht nach seinen Töchtern eingeschlafen.
Hin und wieder gab es von Tatjana den Versuch, einen neuen Lebensgefährten zu finden, doch Beziehungen waren nach längstens einem Jahr
immer gescheitert. Jennifer und Merle, die ziemlich verschieden waren und
einander nicht sehr lieb hatten, waren daran nie ganz unschuldig.
An diesem Morgen fragte sich Merle mal wieder, als sie beim
gemeinsamen Frühstück auf die winzigen Linien schaute, die wie Kommas
an den Mundwinkeln ihrer Mutter hingen, ob man sie versehentlich nach
ihrer Geburt im Krankenhaus vertauscht hatte.
Tatjana hatte wie stets Augenbrauen, Balken, die aussahen, als ob sie
einem Filzstift entstammten. Hastig schob sie sich den letzten Bissen ihres
Marmeladentoasts in den Mund, spülte mit dem restlichen Kaffee nach,
stand auf, sprach herrisch: „Ich will hier heute Abend alles sauber
vorfinden!“
Erneut verschwand Merles Mutter im Bad, um sich, passend zum
Nagellack, die Lippen anzumalen. Make-up und Kleidung waren bereits
perfekt für den Arbeitstag, den sie als Filialleiterin eines Drogeriemarkts
verbringen würde. Nur drei Haltestellen mit dem Bus entfernt hatte sie
einen sicheren Job, wenn auch nicht so gut bezahlt, wie sicherlich mancher
dachte. Am Abend würde sie müde wieder nach Hause kommen,
desinteressiert an dem, was ihre Töchter an diesem Tag erlebt hatten. Und
sicherlich auch nicht böse darüber, wenn die Zeit bis zur Volljährigkeit
ihrer Töchter etwas schneller vergehen würde.
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Im Leben sind viele Dinge straffrei aber riskant.
Zum Beispiel: Flugreisen, Autofahren, Sex, Reiten ...
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Ein halbes Jahr später, Anfang März.
Links neben der Haustür stand in einer Nische des großen Bauernhauses
eine alte, verwitterte Christusstatue, die grüßend ihre Hände ausstreckte.
Auf der Küchenfensterbank leckte sich Noah, der grau getigerte Hofkater,
kurz vor halb sieben die Pfoten. Er hatte sein Frühstück in Form einer
molligen Maus hinter sich, wischte sich mit angefeuchteter Tatze vorsichtig
über den Kopf, ließ dabei das linke Ohr aus, denn es war leicht eingerissen.
In der Nacht hatte er sich mal wieder mit dem schwarz-weißen Rüpel aus
entfernter Nachbarschaft geprügelt, ihn mit einem tiefen Kratzer über der
Nase heimgeschickt. Immer wieder versuchte dieser unkastrierte
Casanova eine Abkürzung über den Lichtenberg-Hof zu nehmen, um ein
Katzenmädchen auf der anderen Talseite zu besuchen.
Noah war kastriert, was ihn nicht störte, denn so lebte er ruhiger, war
nicht ständig auf Achse, um sich zu vermehren und irgendwo für
ungewollten Nachwuchs zu sorgen, der oftmals in einer Regentonne
ertränkt wurde. Nein, er konnte sich auf die Verteidigung seines Reviers
konzentrieren, tat dies mit wahrem Eifer, fand nur kurze Besuche von
Katzen aus der Nachbarschaft tolerierbar.
Mit einem Ruck richtete sich der Kater auf, blinzelte in das gleißende
Licht der Morgensonne, das sich über den Hof ergoss. Mit langen Schritten
kam Tobias auf das Haus zu, rückseitig von den Sonnenstrahlen beleuchtet.
Er hatte die Pferde gefüttert, dabei auch absichtlich einige frisch gewalzte
Haferkörner zu Boden rieseln lassen, denn die Stallmäuschen sollten nicht
hungern, bis Noah sie erwischte. Dieser machte nun bei seinem Kommen
einen Buckel und maunzte leise. Ein kurzes Streicheln über den breiten
Katerkopf, das lädierte Ohr wurde nicht wahrgenommen, über den Rücken,
dann verschwand der Sohn des Hauses hinter der schweren Eichentür.
In der großen rustikalen Küche blubberte die Kaffeemaschine. Karin
Lichtenberg trug eine bunte Kittelschürze und deckte den Frühstückstisch
für ihren Sohn Tobias und seine Schwester Eva. Ihr Mann, Heinrich, der als
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Auslieferungsfahrer für einen Futtermittelhändler arbeitete, hatte bereits
vor einer Stunde das Haus verlassen.
„Morgen, Mama“, grüßte Tobias und ging zu seinem Platz am großen
Buchentisch, schob die Kristallvase mit den künstlichen weißen Rosen vor
sich zur Seite.
„Morgen, Tobi. Ist Eva schon auf? Heute Nachmittag müssen wir mit
Oma zum Hörtest.“
„Warum muss Eva mit?“ Tobias bekam von seiner Mutter einen großen
Kaffeebecher vorgesetzt. Sie schenkte duftenden Muntermacher ein, und er
gab sich großzügig Milch dazu.
„Sie hat sich dort für ein Praktikum beworben, möchte sich vorstellen,
ist ein Abwasch.“
„Weiß ich ja gar nichts von.“ Tobias strich Butter auf eine Semmel.
„Auch beim Juwelier Schubecker hat sie sich beworben.“
„Seit wann interessiert sie sich für Schmuck?“
„Was nicht ist, kann ja bekanntlich noch was werden“, meinte Eva, die in
die Küche trat. Aus einer Schublade holte sie sich ein Gummiband, machte
sich damit aus ihren langen Haaren einen Pferdeschwanz. Nachdem sie
sich neben ihren Bruder gesetzt hatte, bekam sie von ihrer Mutter eine
Schüssel Müsli vorgesetzt.
Eva grinste in ihr körniges Frühstück hinunter, gab einen großen Löffel
Honig dazu, griff zum Milchkrug, lehnte sich Richtung Bruderohr und
flüsterte: „Ich weiß, was du gestern Abend getan hast!“
„Wie immer stört mich das nicht!“, wisperte Tobias zurück, und sie
lächelten sich liebevoll verbündet an.
Jeder widmete sich seinem Frühstück, ihre Mutter verließ die Küche.
„Verrätst du mir Details?“
„Hat sie es nicht getan?“
„Nö. Alles erzählt sie mir auch nicht.“
„Schade, hm?“
„Mhm.“
Draußen schoben sich hellgraue Wolken vor die Sonne.
Zwei Stunden später saß Eva neben ihrer Busenfreundin in der Schule
und folgte aufmerksam dem Unterricht, während daheim die Großmutter,
Magdalena Lichtenberg, von ihrer Schwiegertochter in die Küche geführt
wurde. Die 73 Jahre alte Dame mit dem silbernen Haar ging gestützt auf
einen Stock, der bei jedem Schritt auf die Holzdielen klackte. Seit fast
einem Jahr war sie ein leichter Pflegefall, schlief zur Freude aller gerne
lange. Zunehmend litt sie, wie viele ältere Menschen, unter Demenz, wurde
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jedoch von ihren Angehörigen nicht in ein Pflegeheim abgeschoben,
sondern liebevoll betreut. Der Lichtenberg-Hof war ihr Zuhause, den sie
mit ihrem seit sechs Jahren verstorbenen Gatten nach dem Krieg aufgebaut
hatte. An diesem Morgen verspürte die alte Dame, nachdem sie ihren
Rosenkranz gebetet hatte, mal wieder etwas mehr Redebedarf.
„Wo ist Tobi?“, fragte sie, nachdem sie mit zittriger Hand einen kleinen
Schluck Tee aus ihrer Schnabeltasse genommen hatte.
„Im Büro. Er macht die Buchführung“, antwortete Tobias´ Mutter und
schob ihr den Plastikteller mit dem fertigen, mundgerechten Frühstück zu.
Eine Minute später, die Schwiegertochter räumte den Geschirrspüler
aus, fragte die Oma erneut: „Wo ist Tobi?“
Die geduldige Antwort lautete, wie so oft am frühen Morgen: „Im Büro.
Er macht die Buchführung.“
„Wo ist Eva?“
„In der Schule.“
„Hast du die Kühe gemolken?“
„Ja.“
Obwohl sie die Milchviehwirtschaft bereits vor zig Jahren aufgegeben
hatten, wurde diese seit einigen Wochen immer mal wieder gestellte Frage
mit Ja beantwortet. Was hätten Erklärungen genützt, die Minuten später
schon wieder vergessen waren?
„Schmeckt dir das Frühstück?“, wurde die Oma gefragt, damit sie
unterhalten wurde.
„Ja. Hast du die Kirschmarmelade selbst gemacht?“
Der Butter war Erdbeermarmelade aufs Brot gefolgt, aber egal, die
Frage wurde mit: „Ja“, beantwortet.
„Du hättest mehr Zucker reintun können.“
„Ja, nächstes Mal.“
„Ich helfe dir, komme mit, wenn du in die Kirschen steigst.“
„Glaubst du, dass du noch die Leiter hoch kommst?“
Die Großmutter dachte nach. In letzter Zeit kaute sie lange an ihren
kleinen Bissen, ihre dritten Zähne mussten überprüft werden. Mit
fortschreitendem Alter ließ nicht nur das Gehör nach, auch der
Knochenbau ging zurück, da saß ein Gebiss schon mal locker. Wenn es die
alte Dame gar zu sehr störte, genierte sie sich nicht, die beiden künstlichen
Zahnreihen aus dem Mund zu nehmen und neben ihrem Teller abzulegen,
auch wenn die Familie mit am Tisch saß.
Tobias kam in die Küche, sagte: „Guten Morgen, Oma, hast du gut
geschlafen?“
„Nein.“
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Zur Mutter gab er bekannt: „Ich reite gleich Jacky, danach bringe ich
den Wallach von Landsknecht zum Röntgen in die Klinik. Wird wahrscheinlich bis nach vier dauern.“
„Ich komm dem Grab immer näher.“ Dem Gesicht der verwelkten alten
Frau war anzusehen, dass es einst schön gewesen war. Ihre wässrig blauen
Augen, deren Winkel in unzähligen dünnen Fältchen steckten, blinzelten zu
ihrem Enkelsohn auf. Auch jetzt noch strahlte die alte Dame eine ruhige
Sanftmütigkeit aus, die ein Herz berühren konnte.
„Oma, wir brauchen dich, du musst mindestens hundert Jahre alt
werden.“ Tobias strich ihr über die altersfleckige, zerbrechliche Hand,
merkte dabei mal wieder, wie spindeldürr seine Vorfahrin geworden war,
und befahl liebevoll: „Du musst mehr essen, Oma!“ Er zupfte sich ein Blatt
vom Basilikum ab, das in einem Töpfchen auf der Fensterbank stand,
zerrieb es zwischen den Fingern, schnupperte am Duft. Hmm, frisches
Basilikum – gern parfümierte er sich morgens so seine Finger.
„Auf den Nebenstraßen ist es noch glatt. Ich wäre froh, wenn die
Temperaturen nachts nicht mehr so abstürzen würden“, meinte seine
Mutter und schaute ihm hinterher. Sie sah, wie er seine dunkelgrüne
Daunenreitjacke von der Garderobe nahm und das Haus verließ.
Karin Lichtenbergs Blick blieb an der Großmutter hängen, die in der
Tiefe ihrer Nase bohrte. Genauestens untersuchte die alte Frau, was sie ans
Tageslicht förderte, schmierte es anschließend auf eine neben ihrem Teller
liegende rote Serviette, fragte: „Gibt es heute wieder Linseneintopf?“
Bloß keine Hülsenfrüchte in der nächsten Zeit, dachte ihre Schwiegertochter, als sie zum Kühlschrank ging in Erinnerung an den gestrigen Tag,
an dem die Oma immer wieder einen fahren ließ – einen von diesen leisen
und tödlichen, die so stanken, dass jeder in ihrer Nähe anfing zu stöhnen
und etwas ergriff, um damit zu wedeln.
„Ich hab mir gestern Abend beim Lachen fast in die Hose gemacht“,
kicherte die alte Dame und schob sich ein weiteres Stückchen Marmeladenbrot in den Mund, kaute bedächtig, rülpste leise.
Wie bestellt schlüpfte die Vormittagssonne durch einen Schlitz in der
grauen Wolkenbank und tauchte den Schulhof in einen hellen Lichtstreifen.
Einträchtig saßen sie nebeneinander auf einer Bank und schmausten. Wie
immer hatte Frau Lichtenberg auch für Merle etwas in Evas Brotdose
gepackt. Gerade hatte Merle ihrer Freundin etwas erzählt, was sie bisher
vergessen hatte zu erwähnen.
„Manchmal bist du echt dämlich“, sagte Eva kauend, während sie nachschaute, welchen Belag das nächste Pausenbrot hatte – Kochschinken.
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„Willst du´s?“, bot sie es Merle an.
„Nee, danke, das mit Käse reicht mir.“
„Hast du´s ihm gesagt?“
„Ja.“
„Und?“
„Ich wäre ein unzuverlässiges Weib.“
Eva grinste. „Hat er doch Recht, oder?“
„Mhm.“ Merle schob sich den letzten Bissen in den Mund, kaute,
schluckte, sagte: „Ich hat´s vergessen. Als es mir wieder einfiel, bin ich
losgerannt, aber die Apotheke hatte schon zu.“
„Gibt immer eine, die Notdienst hat.“
„Weiß ich. Adresse und Telefonnummer stehen an der Tür von der
Geschlossenen. Ich hatte keine Lust, so weit zu laufen, mein Fahrrad war
hinten platt.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat er noch gesagt?“
„Er will das Geld für die Pille-danach nicht zurück. Und er will den
Schwangerschaftstest selbst besorgen, wenn meine Roten ausbleiben.“
Merle nahm den Apfel, den Eva ihr anbot, war überzeugt: „Meine Mutter
springt im Sechseck, wenn das schiefgeht!“
„Kannst du Tobi nicht für verantwortlich machen.“
„Tu ich doch gar nicht! Er hat´s gemerkt und wollte aufhören, doch ich
konnte nicht, es war einfach zu schön. Du hättest bestimmt auch nicht
aufgehört.“ Merle schloss bei der Erinnerung an den erotischen Ritt auf
ihrem Freund verzückt die Augen.
„Dir ist bekannt, dass ich dahingehend noch nicht mitreden kann. Falls
etwas passiert ist, lässt Tobi bestimmt nicht zu, dass du dich von deiner
Mutter überre...“
„Ich bin doch nicht Jennifer! Ich will mich doch nicht vor mir selbst
ekeln!“, unterbrach Merle sie entrüstet, schaute im nächsten Moment
beschämt auf ihren Apfel, flüsterte: „Na ja, viel besser als Jenni wäre ich
dann in den Augen meiner Mutter auch nicht.“
„Ich hab dir schon zigmal gesagt, du bekommst die Pille von der
Krankenkasse bezahlt. Deine Mutter kann sie dir, seit du sechzehn bist,
nicht mehr verbie...“ Eva brach ab, als sie Merles genervtes Gesicht
bemerkte, stieß sie mit dem Ellenbogen an, schlug grinsend vor: „Komm,
denk nicht mehr dran, wird schon nichts passiert sein. Wer zuerst seinen
Apfel verputzt hat, bekommt nachher ein Magnum spendiert.“
„Ich hab kein Geld dabei.“
17
„Schwägerin in spe, ich leih dir was.“
„Mein Apfel ist größer.“
„Dein Mund auch – hau rein!“ Krachend schlug Eva ihre Zähne ins Obst.
Tobias trug keinen Reithelm. Kurz dachte er an die runden Formen von
Merles Körper, als er auf Jacky, der dreijährigen Stute, im Schritt am langen
Zügel in der Reithalle ritt. Einige Momente dachte er auch an das Licht in
ihren Augen, das er so liebte, wenn sie ihn in sich haben wollte. Er freute
sich auf den Reitunterricht, zu dem er am Abend mit ihr verabredet war,
auf das Danach.
Zuerst ein von seiner Mutter fein zubereiteter Imbiss, dann ein
zärtliches Beisammensein in seinem Zimmer. Mehrfach hatte er Merle
gebeten, bei ihm zu übernachten, doch ihre Mutter erlaubte es nicht. Auf
dem Rückweg von der Tierklinik würde er anhalten und etwas zum
Naschen besorgen, nahm er sich vor, denn es war ihm angenehm, dass
seine Liebste eine Schokoholikerin war. Ja, es gefiel ihm, einen Mund zu
küssen, der zuvor eine Praline genascht hatte.
Dass Merle das Malheur mit der Pille-danach passiert war, war nicht
lobenswert, und er mochte sich nicht vorstellen, wie ihre Mutter reagieren
würde, falls … Ach was, Gedanken daran abgestellt.
Tobias nahm die Zügel auf, nachdem Jacky sich gelöst und einen ordentlichen Haufen in die Sägespäne des Hallenbodens geäppelt hatte. Er ließ
die Stute antraben. Übermütig machte sie einige schnelle Hopser, bog dann
aber willig den Hals, nahm Anlehnung ans Trensengebiss.
Nach einigen Runden im Trab parierte er durch zum Schritt. Entlang
der langen Bande Schenkelweichen links. Aus der Ecke kehrt.
Schenkelweichen rechts. Danach zwei Runden Schulterherein. In der Mitte
der Halle angehalten. Vier Schritte rückwärts. Angetrabt. Zwei Runden auf
dem Zirkel. Durch die ganze Bahn gewechselt. Erneut auf dem Zirkel
geritten. Jacky schnaubte fröhlich und entspannt, machte Tempo, als die
entsprechende Hilfe ihres Reiters sie dazu aufforderte. Pferd und Reiter
bildeten eine harmonische Einheit.
Seit vier Monaten wurde die goldbraune Stute mit den schönen
raumgreifenden Gängen von ihm geritten. Stets zeigte sie sich willig und
konzentriert bei der Arbeit, lernte schnell, war auch beim Springen ein
kleines Talent, das sich durchaus für den großen Sport eignen würde, wenn
sie weiterhin so gut mitarbeitete.
Beim Angaloppieren auf der rechten Hand hatte Jacky keine Probleme,
doch links brauchte sie einige Trabschritte, erst dann hatte sie sich mit
Tobias´ Gewicht auf dem Rücken ausbalanciert.
18
Durch die großen Fenster der zur Reithalle umgebauten Scheune schien
die helle Mittagssonne. Eine kleine Gruppe Spatzen kam zum großen,
offenen Tor herein, flog lärmend eine Begrüßungsrunde mit der Absicht,
Ausscheidungen aus Pferdekörpern aufzufinden. Natürlich entdeckten die
gefiederten Krachmacher Jackys Hinterlassenschaft und ließen sich darauf
nieder.
Eifrig begannen die Piepmätze nach nicht verdauten Getreidekörnern
in den Pferdeäpfeln zu suchen, wurden aber kaum fündig, denn Tobias
walzte seinen Hafer frisch vor dem Füttern, so dass er verdaulicher war.
Abends bekamen die Pferde zusätzlich eine Portion fertig gemischtes
Müsli, da waren allerdings neben geschrotetem Mais auch ungewalzter
Hafer und Gerste dabei.
Es dauerte nicht lange, dann waren die Pferdeäpfel auseinander
gekratzt und gepickt, viel war nicht gefunden worden, und die
Sperlingsbande flatterte lautstark aus der Reithalle hinaus.
Jacky hatten die Vögel nichts ausgemacht, sie war konzentriert und
motiviert bei der Sache. Tobias lenkte die Stute auf ein in der Hallenmitte
stehendes Hindernis zu. Mit 80 Zentimetern war der Oxer nicht hoch. Jacky
lief trabend und mit gespitzten Ohren aufmerksam darauf zu, trat über
eine auf dem Boden liegende weiße Stange, machte zwei Galoppsprünge,
sprang sauber hinüber. Nach dem Aufsetzen konnte sie es sich nicht
verkneifen, lustig zu pupsen und einen kleinen Buckler zu machen.
Noch zweimal lenkte Tobias sie über das Hindernis, danach ließ er sie
auf der linken Hand auf dem Zirkel galoppieren. Dann parierte er zum
Schritt durch, hielt in der Hallenmitte an, schaute zum großen Spiegel an
der Wand. Sanft korrigierte er etwas nach, so dass Jacky gleichmäßig
gerade mit den Beinen nebeneinander stand und den Hals in schöner
Aufrichtung gebogen hatte.
Er lobte das Tier mit der Stimme: „So war das schön, meine Puppe“,
strich ihr über die rechte Halsseite, und ritt wieder an. Jacky durfte noch
einige Runden am langen Zügel auf dem Hufschlag schlendern und sich
entspannen. Obwohl sie nicht geschoren war, war sie kaum feucht, hatte
schon eine gute Kondition.
Die Stute war nicht Tobias´ Pferd, war über den Winter zum Einreiten
bei ihm, wurde auf eine Stutenleistungsprüfung vorbereitet. Außer Jacky
hatte ihr Züchter zwei weitere Dreijährige, ebenfalls Stuten, zum Einreiten
gebracht. Anfang Mai sollten die Pferde auf einer Auktion versteigert
werden. Da sie über eine gute Abstammung, viel Talent und gute
Grundgangarten verfügten, würden sich bestimmt viele Pferdeleute dafür
interessieren und des Züchters Bankkonto mit Euros füllen.
19
In der vergangenen Nacht war es noch frostig kalt gewesen, doch um die
Mittagszeit, hatte die Sonne schon richtig Kraft. Nur an vereinzelten Stellen
lag noch Restschnee. Am Giebel der Reithalle, auf der Nordseite, wo die
Sonnenstrahlen nicht hingelangten, hingen lange graue Eiszapfen. Im Laufe
der letzten Woche waren sie noch tüchtig gewachsen, tropften aber nun
sterbend vor sich hin. Was jetzt geschah, dauerte nur wenige Sekunden.
Lässig im Sattel sitzend, lenkte Tobias die entspannt am langen Zügel
gehende Stute aus der Reithalle. In dem Moment, als das Tier durch das
Tor schritt, löste sich oben an der Giebelkante ein großer Eiszapfen und
sauste in die Tiefe. Die Spitze des Geschosses traf genau über dem dunklen
Schweifansatz des Pferdes auf und rammte sich durchs Fell in die
empfindliche Haut. Vor Schreck, Schmerz und Empörung aufquietschend,
schoss Jacky mit eingekniffenem Schweif vorwärts.
Tobias war völlig überrascht, presste die Schenkel zusammen und griff
hangelnd die Zügel kürzer. Es gelang ihm, Jacky zurückzuhalten, doch dabei
kam er seitlich vom sandgestreuten Weg ab, wo der Schnee längst weggetaut war, und geriet auf rutschigen Untergrund.
Er sah die Gefahr eines Sturzes und gab der Stute eine scharfe Parade.
Mit energischem Schenkeldruck versuchte er, sie zurück auf den Weg zu
bekommen, doch da rutschte sie mit dem rechten Hinterbein seitlich weit
nach hinten weg, ging fast zu Boden. Halt suchend sprang Jacky vorwärts,
geriet dabei näher an den Misthaufen, wo sich am Rand Schmelzwasser
angesammelt hatte und nun aufspritzte.
Weg, nur weg hier, wollte die Dreijährige und wehrte sich heftig gegen
den haltenden Zügel. Sie riss den Kopf hoch, wollte vorwärts preschen.
Tobias ließ nicht zu, dass Jacky sich ihm entzog. Er war kräftig, saß fest
im Sattel und versuchte, mit ruhiger Stimme ihre Angst zu mildern. Da die
Zügel nicht nachgaben, sie nun sogar in eine Wendung zwingen wollten,
machte Jacky einige schnelle Schritte rückwärts, stieg dann empört.
Auch Steigen mit einem Reiter auf dem Rücken will gelernt sein! Die
hektische Stute verlor das Gleichgewicht, rutschte seitlich weg und kippte
um. Neben der anderthalb Meter hohen Mauer, die den Misthaufen einrahmte, fiel sie nieder, und mit ihr der Reiter, der dabei mit dem Kopf oben
auf die Betonkante aufschlug.
Benommen blieb Jacky einige Sekunden, mit Tobias unter sich, liegen.
Dann erhob sie sich mit zittrigen Beinen auf dem rutschigen Untergrund.
Laut schnobernd stand sie neben ihrem unbeweglich und grotesk verrenkt
im Matsch liegenden Reiter. Ihre herabhängenden Zügel streiften über
seinen Körper, als sie den Kopf senkte und nachschaute, warum er dort so
bewegungslos lag.
20
Tobias´ weit aufgerissene Augen starrten ins Leere. Er spürte kalte
Nässe auf der Haut, war unfähig, sich zu bewegen. Dunkelheit stürzte sich
wie eine riesige Flutwelle auf ihn. Seine Lippen bewegten sich, versuchten
einen Namen zu formen. Ein Faden hellrotes Blut begann aus seinem
rechten Mundwinkel zu sickern. Er spürte einen stechenden Schmerz im
Kopf, danach eine Explosion aus Licht. Durchdringender Lärm, wie
ohrenbetäubendes Geschrei, durchbohrte seinen Körper, presste ihm die
Luft aus den Lungen. Mit seinem vorletzten Atemzug hauchte er einen
Namen, hauchte er: „Merle.“ Mit seinem letzten Atemzug entstieg ihm
etwas Unsichtbares – entstieg ihm seine Seele.
Merle setzte ihre Schultasche ab, kramte in der Jackentasche nach dem
Haustürschlüssel. Von oben kam Beppo, der schwarze Mischlingshund
eines Nachbarn, blieb vor der geschlossenen Glastür stehen. Da er ein
Fressgen hatte, war er entsprechend pummelig und nicht sehr flott.
Merle schloss zwar die Tür auf, wartete aber noch einen Moment auf
den alten Herrn Blaswind, doch der kam nicht. Sie öffnete dem Hund die
Tür, denn es war nicht das erste Mal, dass er alleine Gassi ging. In ein paar
Stunden würde er bellend vor der Haustür verkünden, dass er zurück war.
Sie stieg die Treppen in die zweite Etage hinauf. Als sie um den letzten
Treppenabsatz kam, wurden ihre Schritte langsamer, aber nicht, weil sie
vom Treppensteigen erschlaffte. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, der
dann nicht ausgestoßen, sondern heruntergeschluckt wurde, nach innen
versickerte, sich in ein leises „Nein!“ verwandelte. Mit entsetzten Augen
starrte sie neben ihre Wohnungstür, starrte auf ihre Lederreitstiefel, die
teilweise zerbissen und zernagt Opfer eines Stiefelrippers waren. Beppo!
„Verdammt!“, keuchte Merle, während ihre Pupillen hinter einem
steigenden Wasserspiegel verschwanden. Es war ihre Schuld, denn laut
Hausordnung durfte im Treppenhaus nichts abgestellt werden. Sie hatte
die Stiefel neben der Fußmatte stehen lassen, weil sie ziemlich verschmutzt waren, denn nach dem Ausmisten vor zwei Tagen, hatte sie
anschließend keine Lust zum Putzen, es auf später verschoben. Später war
nun aufgehoben, denn die Stiefel waren ruiniert.
Der Duft anhaftender Pferdemistreste an der Sohle hatte den Hund
verführt, sich mit den ledernen Reitutensilien näher zu beschäftigen, nur
schnuppern reichte nicht, als unten die Tür verschlossen war und er nicht
raus konnte. Mal wieder hatte sein Herrchen die Wohnungstür nicht richtig
geschlossen, so dass er sich heimlich hinausgeschlichen hatte. Eine Etage
tiefer war er auf eine interessante Freizeitbeschäftigung gestoßen. Sein
kräftiges Gebiss, täglich trainiert an Kauknochen, nagte erst die duftenden
21
Reste unter den Sohlen ab, dann … Es verging über eine halbe Stunde, bis
Merle unten den Schlüssel ins Haustürschloss schob.
Für die teuren Lederreitstiefel hatte sie lange gespart. Von ihrem
Taschengeld musste sie viel selbst bezahlen: Kleidung, Schulartikel,
Busfahrten, Süßigkeiten. Reiten durfte sie auf dem Lichtenberg-Hof
kostenlos, da sie mit Eva befreundet war und bei Bedarf auch mithalf.
Vor vielen Jahren hatte Merle umzugsbedingt auf die MatthiasClaudius-Schule wechseln müssen. Schon bald verband sie eine innige
Freundschaft mit Eva, die vom ersten Tag an neben ihr saß. Wenn Eva
damals in den Pausen von Zuhause und den Pferden erzählte, hatte sie
stets begeistert zugehört.
Die Einladung zu Evas neuntem Geburtstag veränderte das Leben des
Stadtmädchens, es war begeistert von den Tieren auf dem kleinen
Reiterhof. Eva ermöglichte Merles ersten Ritt auf einem Pony, führte es im
Schritt Runde um Runde erst auf dem Außenreitplatz, dann, als es zu
regnen begann, in der Reithalle herum. Der Muskelkater in Merles Beinen
am nächsten Tag war schmerzhaft, verging wieder, doch der Pferdevirus
hatte sich eingenistet, den würde sie wohl nie wieder loswerden.
Als Merle damals zu Hause den Wunsch vortrug, Reiten zu lernen,
schüttelte ihre Mutter unwillig den Kopf, meinte lapidar: „Wozu denn das?
Reiten ist was für Reiche, dafür haben wir kein Geld.“
Ja, Reiten war nicht billig, aber Eva mochte Merle und lud sie immer
wieder zu sich ein, so dass es sich einspielte, dass ihre Freundin zumindest
an den Wochenenden auf dem Hof erschien und auch mal mithalf, vieles
lernte, auch das Reiten. Es war kein profihaftes Reiten, sondern der
freizeitgemäße Umgang mit Pferden. Eva selbst genügte auch diese Form
des Reitens, während Tobias, ihr sieben Jahre älterer Bruder, sein Talent
weiter entwickelte und, nach seinem Schulabschluss und etlichen Erfolgen
auf kleineren Turnieren, eine Ausbildung zum Bereiter absolvierte.
Oft hatte Merle in der Reithalle hinter der Bande auf einer Tonne
gestanden oder am Rande des Außenreitplatzes auf einer Holzbank
gesessen, wenn Tobias ritt. Bewundernd hatte sie zugeschaut, wie er sich
spielerisch mit einem Pferd zu einem Dressurtanz verband, wusste sie
doch, dass es nicht leicht war, wie angewachsen auf einem Pferderücken zu
thronen.
Das Mädchen Merle wurde älter, der Teenager Tobias wurde ein Mann.
Aus der Bewunderung des Mädchens wurde Schwärmerei, die der immer
fescher werdende Bursche vergnügt, aber mit Abstand zur Kenntnis nahm.
22
Eva bekam Merles Gefühle mit, obwohl sie nicht darüber sprach. Als ihr
Bruder von seiner Freundin wegen eines anderen herzlos abserviert
wurde, sorgte sie dafür, dass Merle eine Chance bekam, die dann auch nicht
zu blöd war, diese zu nutzen.
Heulend vor Wut, knallte Merle ihre Schultasche neben die Garderobe,
ging zurück und hob die zerbissenen Reitstiefel auf, trug sie gleich nach
unten zum Müllcontainer. Er war fast voll, und sie hob zwei Müllbeutel
hoch, stopfte die Stiefel darunter, drapierte die Müllbeutel darüber. Wenn
ihr jetzt noch eines fehlte, so war das Mitleid oder Häme seitens Nachbarn,
Mutter oder Schwester.
In ihrem Zimmer, auf dem Bett das Gesicht ins Kopfkissen gepresst,
weinte sie über ihre eigene Dummheit. Dann, ausgeheult und bereit für den
weiteren Ernst des Lebens, zog sie ihr Handy aus der Schultasche.
Kurzwahl. Warten. Keine Anrufannahme.
Sie ging in die Küche, machte sich ein Butterbrot mit Käse, dazu ein
großes Glas kalte Milch. Während des Essens wieder der Griff zum Handy.
Kurzwahl. Warten. Keine Anrufannahme.
Nachdem Merle ihre Schularbeiten erledigt hatte, wunderte sie sich,
dass kein Rückruf erfolgt war. War etwas nicht in Ordnung? Sie ging in den
Keller, um ihre alten Gummireitstiefel zu holen. Gott sei Dank hatte sie die
Stiefel nicht entsorgt, obwohl am linken ein kleines Loch in der Sohle bei
Nässe für eine feuchte Socke sorgte.
Als sie wieder oben in der Wohnung war, klingelte ihr Handy auf dem
Schreibtisch in ihrem Zimmer, verstummte jedoch, bevor sie es erreichte.
Anhand der Nummer auf dem Display sah sie, dass es Eva sein musste und
rief sofort zurück.
Merle hörte gestammelte leise Worte. Ihre Augen verengten sich zu
Schlitzen, innere Unruhe verdichtete sich zu Angst. Mit jeder Sekunde
steigerte sich das Grauen in ihr. Zuerst wich die Farbe aus ihren Wangen,
dann aus dem ganzen Gesicht. Ein Kältestrom rann durch ihre Brust den
Bauch hinunter in ihre Beine. Krampfartig zog sich ihr Magen zusammen.
Geschockt, verstört und wortlos brach sie das Gespräch ab, ging wie
betäubt zum Fenster, presste ihre weiß gewordene Hand auf die Scheibe
und schaute mit leerem Blick in den Hinterhof. Tränen begannen über ihre
Wangen zu laufen, tropften zu Boden. Tief aufschluchzend wandte sie sich
ab, warf sich aufs Bett und kroch unter die Decke. Dort vergraben schrie sie
seinen Namen, begann innerlich abzusterben.
23
Sich wie in einer langen Spirale drehend, war Tobias´ Seele in den Himmel
hinaufgestiegen. Sekundenlang verharrte sie schwebend über dem
Lichtenberg-Hof, der in einem weitläufigen Tal südöstlich des Odenwalds
lag. Dann stieg sie höher und höher, schraubte sich in die Unendlichkeit
und flog davon, richtete sich nach Norden aus.
In den ersten Minuten schien es, als wolle die Seele nach Skandinavien,
doch über Hamburg verharrte sie suchend, um plötzlich nach Osten abzuschwenken. Schneller, immer schneller wurde sie, schien es eilig zu haben.
Hinter Schwerin begann sie wie verwirrt zu kreisen, schien
orientierungslos, machte einen Bogen und flog erneut gen Norden, wurde
begleitet von einem Schwarm Graugänse, die sich auf Gänsisch laut
unterhaltend auf ihrer jährlichen Anreise nach Schweden befanden.
Über Güstrow verharrte die Seele einige Momente, schien sich abermals
über ihr Ziel nicht klar zu sein, doch dann ging ihre Reise weiter, allerdings
waren die Graugänse schon weitergezogen. Es folgten unter ihr die Stadt
Greifswald und der breite Wasserstreifen des Greifswalder Bodden.
Hinüber ging´s zur Insel Rügen.
Minutenlang kreiste Tobias´ Seele unruhig über einem kleinen Dorf in
der Nähe von Binz, bevor sie gezielt am Rande des Naturschutzgebietes
niederschwebte. Jetzt fand sie sich zurecht, jetzt wusste sie endlich, wo ihr
Ziel war …
24
Sind die Geschehnisse in unserem Leben
Zufall oder Bestimmung? Hat das Leben
sein eigenes verwickeltes Muster
oder gibt es einen großen Plan?
∞∞ 3 ∞∞
Laura Struwe kam von einem Treffen der Landfrauen, trug einen dunkelblauen Hosenanzug, dazu passende schwarze Schuhe, und um den Hals ein
Seidentuch mit Pferdemotiven.
„Was für ein hübsches Fohlen!“, freute sie sich, als sie die Pferdebox
betrat und auf das vor einigen Minuten geborene Fohlen blickte, das von
seiner Mutter, der Rotschimmelstute Ilonka, trocken geleckt wurde.
„Ilonkas Mitbringsel ist ein Junge“, sagte Karsten Struwe. Sein Lächeln
zeigte leicht auseinander stehende Zähne, als er seiner Frau den Arm um
die Schultern legte.
„Wenn der Händler gewusst hätte, dass sie tragend ist, hätte er dir die
Stute bestimmt nicht so günstig verkauft.“ Laura ging zum Fohlen, kniete
sich nieder, strich ihm sanft über den noch etwas feuchten Rücken.
Die Mutterstute schnaubte und trat einen Schritt zurück, scharrte mit
dem rechten Vorderhuf im Stroh, schubste das Neugeborene mit fast
unsanftem Nasenstüber an.
Karsten Struwe und seine Frau betrieben einen kleinen Ferienhof. Als
Ersatz für einen aus seinem Reitbetrieb ausgeschiedenen Wallach hatte er
die Stute Ilonka gekauft. Ganz spontan, auf einem kleinen, polnischen
Pferdemarkt, weil sie ihm so gut gefallen hatte.
Ilonka war einem anderen Interessenten vorgeführt worden, der
danach kein weiteres Interesse an ihr hatte. Der Händler hatte Karsten ein
Probereiten auf der engen Vorführgasse angeboten, doch er hatte darauf
verzichtet. Da der Preis günstig war, er konnte ihn sogar noch etwas
herunterhandeln, kam sich allerdings geizig dabei vor, kaufte er das Pferd.
Es besaß keinen Abstammungsnachweis, nur einen Equidenpass. Dass die
Stute etwas Edleres war, sah man auf den ersten Blick. Sie war neun Jahre
alt, hatte ein Stockmaß von etwa 160 Zentimeter, einen schönen kleinen
Kopf mit breiter Stirn und ausdrucksvolle große Augen.
Später, auf dem Hof, nachdem sich die Stute etwas umgeschaut hatte,
wurde sie gesattelt, kurz longiert, dann von Karsten bestiegen. Ach, was für
ein herrlich zu reitendes Pferdchen. Gehfreudig und nicht guckig. Schnell
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wurde die Rotschimmelstute auch zum Liebling der Feriengäste.
Als Ilonka nach einigen Monaten immer rundlicher wurde, schob man
die überflüssigen Pfunde auf das gute Futter, denn sie mochte auch das
Haferstroh ihrer Einstreu.
Da der Tierarzt kurz vor Weihnachten dann aber wegen eines anderen
Pferdepatienten schon mal da war, warf er auch einen Blick auf die Stute,
machte eine Untersuchung, gab anschließend bekannt: „Trächtig.“
Im Winter waren wenig Feriengäste auf dem Hof. Geritten wurde kaum,
so dass Ilonka nicht gebraucht wurde und in Ruhe ihre Trächtigkeit
ausleben konnte.
Nun lag im März die hübsche graue Überraschung im weichen Stroh,
würde ebenfalls ein Schimmel werden, wie bereits zu erkennen war. Mit
seinen langen Beinen bemühte sich der kleine Hengst aufzustehen, fiel
beim ersten Versuch um, probierte es gleich darauf tapfer ein zweites Mal.
Aber erst der fünfte Aufstehversuch klappte, unterstützt von der
Mutter, die das Fohlen immer wieder ermunternd anstupste. Als es auf
wackeligen Beinen neben ihr stand, drehte sie sich ihm seitlich so zu, dass
es nur noch sein kleines Schnäuzchen ausstrecken musste, um an ihr
pralles Euter zu gelangen.
„Ilonka macht das so geschickt, als hätte sie Erfahrung im Kinderkriegen“, meinte Laura.
„Ein Fohlen soll sie gehabt haben, hat der Händler damals gesagt,
zumindest habe ich das so verstanden, sein Deutsch war nicht besonders“,
sagte Karsten.
„Ob der Kleine mal ganz weiß wird?“
„Vielleicht. Aber einige Jahre wird das dauern.“
„Zukünftig solltest du Spontankäufe unterlassen.“ Laura beugte sich
zum Fohlen vor, das sich nicht für die Milchbar seiner Mutter interessierte,
sondern mit großen Augen und gespitzten Ohren die Boxenwelt um sich
herum betrachtete. Auf seinem grauen Nasenrücken waren kleine
Pigmentflecken, die ähnlich einer Fünf auf einem Würfel angeordnet waren
und wie Perlmutt schimmerten. Mit einer Mittelfingerspitze tippte Laura
auf die neugierige Fohlennase und sagte leise: „Mal schauen, was wir mit
dir anfangen, kleiner Perljunge.“
Abends lag das Hengstfohlen schlafend im weichen Stroh. Wachsam
stand seine Mutter neben ihm, fraß zufrieden ihr duftendes Heu.
Lutz Grolle, der alte Pferdepfleger, war ein kompakter Mann mit grauen
Strubbelhaaren, einem zerfurchten Gesicht und O-Beinen, der einen
kleinen Schmerbauch vor sich her schob. Manchmal schnaufte er beim
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Atmen, so dass man hören konnte, welche Mühe es ihm bereitete. Nachdem
er sich überzeugt hatte, dass vier Pferde, eins mit Nachwuchs, und sieben
Ponys gut versorgt waren, fegte er die Stallgasse.
Seit seiner Pensionierung als Kapitän hatte Grolle den Nebenjob bei
seinem Neffen, da er den kleinen Zusatzverdienst gut gebrauchen konnte.
Zweimal täglich kam er mit dem Fahrrad anderthalb Kilometer herübergefahren, im Winter, wenn Schnee lag, trugen ihn seine Füße. Bevor er an
diesem Abend die Stalltür abschloss, schaute er noch bei der Überraschung
des Tages vorbei. Da nicht bekannt war, wann die Stute gedeckt worden
war, hatte nur über den Zeitpunkt der Geburt spekuliert werden können.
Das Fohlen hob den Kopf, als der Mann die Box betrat, erfreute dessen
Augen. Ilonka fraß gelassen ihr Heu, nahm aber schnell die zugesteckte
Möhre, knackte sie geräuschvoll, kaute genüsslich.
Langsam ging Grolle neben dem Fohlen in die Knie, strich ihm über den
Hals, über den Rücken. Neugierig schnupperte es an seiner Brust, an
seinem Pfefferminzatem.
Früher hatte Grolle nie mit Pferden zu tun, doch die Arbeit gefiel ihm,
wenn er auch mit dem Umgang der Tiere wenig zu tun hatte. Füttern,
Ausmisten, Einstreuen, das war sein Hauptbetätigungsfeld, und ab und zu
mal ein Pferd auf die Weide bringen.
„Was soll aus dir werden, kleiner Mann?“, sagte er zum Fohlen, denn er
wusste, dass das polnische Mitbringsel bei ihnen fehl am Platz war. Für
Fohlen gab es auf dem kleinen Reiterhof, der besonders für seine Strandritte beliebt war, keinen Bedarf. Sicherlich war Pferdenachwuchs niedlich
und etwas für die Augen, doch ebenso eine Belastung, nicht nur finanziell.
Beim Hinausgehen klopfte Lutz Grolle der Stute sanft auf den Rücken,
sorgfältig verschloss er die Boxentür. Nochmals fiel sein Blick auf den
zusätzlichen Hinweis, wo unter den Gitterstäben auf dem Holz mit weißer
Kreide geschrieben stand: ILONKA + Perljunge
Ilonkas Mitbringsel aus Polen war eine gelungene, hübsche
Überraschung, doch gebraucht wurde sie nicht. Nach der Geburt fiel die
Stute vier Wochen für den Reitbetrieb aus. Wurden nach dieser Pause
Mutter und Sohn getrennt, war die Stute unruhig und unkonzentriert, da
sie die ängstlich schrillen Rufe Perljunges hörte, der sein Alleinsein in der
Box beklagte. Oft blieb sie stehen und antwortete wiehernd, was extrem
nervig war, so dass beide ab Mitte Mai tagsüber auf die Weide kamen.
Manchmal ließ Karsten sie zusätzlich abends in der Reithalle laufen, denn
Ilonka wurde wieder fülliger, diesmal aber nicht durch eine Besamung,
sondern durch das nahrhafte frische Gras. Maßhalten war nicht ihr Ding.
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In seiner ersten Lebenszeit braucht ein Fohlen erst in zweiter Linie
menschlichen Kontakt, wichtiger sind soziale Kontakte zu Gleichaltrigen,
das Erlernen von Verhalten in der Herde, und Bewegung. Ausreichende
Bewegung ist für Knochen, Bänder, Sehnen, Lunge und Muskulatur sehr
wichtig. Vor allem müssen junge Hengste miteinander spielen und toben
dürfen, sonst lernen sie nicht, sich unterzuordnen.
Für Perljunge war das Zusammensein mit den anderen Pferden und
Ponys auf der Weide wenig abwechslungsreich, denn während der
sommerlichen Hauptsaison wurden sie täglich geritten. Zum Chillen nach
der Arbeit ebenfalls auf der Weide, hatten die erwachsenen Tiere dann
keine Lust, ein Fohlen zu bespaßen, mit ihm herumzutollen.
Perljunge war frech und übermütig, gedieh prächtig, wollte neugierig
die Welt erkunden, nicht nur Schmetterlinge von Blüten hochscheuchen.
Durch Bisse und den ein oder anderen Huftritt lernte er jedoch schnell und
unbarmherzig, dass seine Mitpferde ihre Ruhe vor ihm haben wollten.
Die stetig wechselnden Feriengäste, besonders die Kinder, waren von
dem kleinen Schimmelchen sehr angetan. Als er auch feste Nahrung zu sich
zu nehmen begann, wurden ihm oft Karotten, Äpfel, Leckerlis zugesteckt,
wenn er in die Nähe des Zaunes kam. Schnell auf den Geschmack
gekommen, war das kleine Pferdekind dann häufig in Abwesenheit seiner
Mutter am Zaun, wartete auf menschliche Zuwendung und deren leckere
Geschenke. Wenn eine Tüte raschelte, wurden seine Augen groß, die Ohren
spitzen sich aufmerksam.
Als Perljunge vier Monate alt war, er sprühte vor Energie und Lebensfreude, wurde er konsequent in die Box gesperrt, während Ilonka wieder
ihren Verpflichtungen nachzukommen hatte und im Reitbetrieb eingesetzt
wurde. Die ersten Male gab es noch lautes Gewieher, auch Perljunges
Stimme war mittlerweile gewachsen, dann fügten sich beide und
erduldeten den stundenweisen Trennungsschmerz.
Während seine Mutter mit anderen Pferden in der Natur unterwegs
war, nahm sich Laura manchmal Perljunges an, legte ihm ein Halfter an,
führte ihn in der Reithalle oder auf dem Reitplatz herum. Der kleine Hengst
lernte das ruhige Gehen am Führstrick, das Stehenbleiben, etwas später die
Hufe anheben. Laura ging stets ruhig und besonnen mit dem Fohlen um, so
dass sich eine gute Vertrauensbasis zwischen Mensch und Tier aufbaute.
Das Fohlen war von schneller Auffassungsgabe, freute sich über Lob in
Form von sanftem Halsklopfen und den leisen Worten: „Soo ist schööön.“
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Perljunges erster Sommer war nicht sonnenreich, und die Feldlerchen
sangen Ende August schon lange nicht mehr. Karsten sattelte Ilonka für
einen Ausritt, bei dem das Fohlen sie zum ersten Mal begleiten durfte.
Hej, das war etwas Feines für den kleinen Burschen. Mit seinen langen
Beinen hielt er sich frei laufend brav an ihrer Seite, hielt auch mit, als
Karsten die Stute in rasantem Galopp auf einem breiten Sandweg vorwärts
preschen ließ.
Beim Abendbrot sagte er zu seiner Frau: „Unser Nachwuchs hat einen
verdammt schnellen, raumgreifenden Trab, ich würde darauf wetten, dass
er Trabergene hat.“
Mitte September wurde beraten, was mit Perljunge geschehen sollte. Der
kleine Hengst war sechs Monate alt, sein graues Fell war etwas heller
geworden, und es wurde Zeit, dass er abgesetzt wurde. Noch immer
naschte er zusätzlich zum Weidegras an Ilonkas Milchbar, was ihn
wunderbar gedeihen ließ. Gesund, übermütig und voller Lebenslust wuchs
er seinem ersten Winter entgegen, den er jedoch nicht mehr an seiner
Geburtsstätte verbringen sollte.
Der kleine Ferienhof hatte genug Reittiere, alle Boxen waren belegt. Bis
Perljunge so weit war, dass er angeritten werden konnte, dauerte es noch
mindestens zwei Jahre, bis er ausgebildet und für Feriengäste zur
Verfügung stehen konnte, mindestens ein weiteres Jahr. Drei Jahre lang ein
Pferd aufziehen und ausbilden, rentierte sich für den Reiterhof nicht.
Karsten schaute im abonnierten Pferdesportmagazin die Anzeigen durch,
fand ein geeignetes Inserat mit dem Text: Günstiges Hengstfohlen als
Beisteller gesucht. Tel.: …
Da Perljunge ein sogenannter Weideunfall war, erhielt er keinen
Abstammungsnachweis. Ein Tierarzt kam, impfte ihn, begutachtete ihn
sehr genau. Der Mann trug alle Erkennungsmerkmale und Daten auf den
Antrag für einen Pferdepass ein, um ihn anschließend zur Deutschen
Reiterlichen Vereinigung (FN) nach Warendorf zu schicken.
Bei der Schlachtpferdebestimmung kreuzte der Tierarzt in Abstimmung
mit Karsten das Ja an, denn das musste von Anfang an festgelegt werden.
Wenn es mal so weit war, konnte der jeweilige Besitzer des Pferdes dessen
Lebensende noch anders bestimmen – schlachten oder einschläfern.
Wird ein Equide im Pass als Nicht-Schlachtpferd eingetragen, kann das
nicht mehr geändert werden. Zu bedenken ist bei solch einer
Entscheidung, dass ein Pferd, das als Schlachtpferd eingetragen ist, bei
Krankheit viele Arzneimittel nicht erhalten darf, ihm also in Notfällen nicht
geholfen werden kann.
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Perljunge hing noch Ilonka, als er zwei Tage später von ihr getrennt
wurde und am anderen Ende der Stallgasse alleine in eine Box kam.
Georgie, der Haflinger, war nicht erfreut, dass er vorübergehend seine
Box abgeben und mit Brenda, der Norwegerstute, zusammenwohnen
musste, denn die Stute war extrem futterneidisch. Schnell musste er nun
sein Heu auffressen, sonst kam sie nach ihrer verputzten Ration, legte
gruselig giftig die Ohren an, und vertrieb ihn sogar noch von seinen letzten
Halmen.
Die Sonne stand noch über den hohen Kastanienbäumen. Schwer hingen
die orange leuchtenden Blüten der Dahlien an ihren Stängeln.
Der Abschied vom Reiterhof Struwe fiel dem Hengstfohlen schwer.
Übungshalber war er Tage zuvor mit Ilonka einige Male auf einen
Pferdeanhänger verladen worden, ging stets bereitwillig hinauf, ließ sich
neben ihr anbinden. Das angebundene Stehen auf der Stallgasse kannte er
bereits, und auch einen Hufschmied hatte er kennen gelernt, der seine
Hüfchen etwas ausgeschnitten und gefeilt hatte. Zweimal war er mit Ilonka
ins Dorf gefahren, hatte sich auch beim Abladen anständig benommen,
durfte anschließend zurück auf die Weide und die älteren Pferde wieder
beim Grasen stören.
Eine junge, rot getigerte Katze lief in einen Sonnenfleck neben dem
Transporter, ließ sich auf den Rücken fallen und stemmte mit den Pfoten
ein welkes Kastanienblatt in die Höhe.
Perljunge folgte seiner Mutter auf den mit Stroh eingestreuten
Pferdeanhänger. Vertrauensvoll stapfte er hinauf, bekam eine leckere
Möhre zugesteckt, wurde angebunden. Nanu, seine Mutter verließ den
Hänger wieder. Er schaute sich erstaunt um, beobachtete, wie die Klappe
geschlossen, das Kunststoffrollo knarrend heruntergezogen wurde. Als er
hörte, wie sich Ilonkas Schritte entfernten, wieherte er ihr laut hinterher,
bekam eine kurze Antwort.
Langsam setzte sich der Pick-up mit dem Anhänger in Bewegung, fuhr
die lange Auffahrt hinunter, die in diesem Herbst mit zahlreichen
Schlaglöchern übersät war. Der Herbstwind hatte die ersten Kastanien von
den Bäumen geworfen, knackend zersprangen sie unter den Reifen.
Über die Dörfer ging es zur Bundesstraße, darauf weiter nach
Stralsund. Dort schwenkten Fahrzeug und Anhänger nach links und
steuerten auf Berlin zu, machten jedoch weit vor der Hauptstadt einen
großen Bogen gen Westen.
Anfangs wieherte Perljunge schrill und ängstlich. Er spürte die große
Veränderung in seinem Leben, war nicht damit einverstanden. Da keine
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Pferdestimme antwortete, sein ungeduldiges Kratzen mit den Vorderhufen
keine Veränderung der Situation herbeiführte, stand er schließlich still und
abwartend im Hänger. Mit gespitzten Ohren lauschte er aufmerksam in alle
Richtungen, schaute vorne zum Fenster hinauf, wo allerdings nur der
Himmel erkennbar war. Er war noch zu klein, um nach draußen auf den
vorbeihuschenden Verkehr zu schauen. Besser gefallen hätte ihm das
sicherlich auch nicht. Ab und zu hielt sein neuer Besitzer an, öffnete vorne
am Transporter die kleine Tür und warf einen kurzen Blick zu ihm herein,
dann ging es weiter.
Die Fahrt zu Perljunges neuem Zuhause dauerte viele Stunden. Es
dämmerte bereits, als die Klappe des Pferdeanhängers geöffnet wurde.
Neugierig und etwas erschöpft schaute der kleine Hengst in die frische Luft
hinaus, atmete tief ein. Das Ausbalancieren während seiner ersten langen
Reise war ungewohnt und anstrengend gewesen.
Perljunges neuer Besitzer, Arno Eulenburg, war ein untersetzter Mann
mit Zähnen wie Erdnüsse und einer Hasenscharte. Er band ihn los,
während hinter ihm sein fast volljähriger Sohn Helge, der eine Strubbelfrisur hatte, und dessen rechte Gesichtshälfte ein Feuermal zierte, die
Absperrstange entfernte.
Endlich ging es hinunter, dazu ließ sich der kleine Hengst nicht zweimal
vor die Brust fassen und nach hinten drücken, er reagierte sofort. Wie eine
kleine Rakete schoss er rückwärts von der Rampe, glücklicherweise
gerade, so dass er nicht an der Kante abrutschte und sich verletzte, denn
sein Käufer hatte an Transportgamaschen gespart. Dabei entwickelte er
erstaunliche Zugkräfte, riss den Mann am Strick mit sich, dem die
Überraschung am Gesicht abzulesen war.
„Mit dem Rückwärtsgang hat er schon mal kein Problem“, sagte Bauer
Eulenburg und klopfte dem Fohlen auf den Rücken, als es sich neugierig
umschaute, laut prustete, schließlich schrill wieherte.
Aus einer großen Scheune, in der zwei Stuten, ein Fohlen und jede
Menge tellergroße Spinnen lebten, wurde ihm geantwortet. Eine Stute
hatte in diesem Jahr ein schönes Fohlen bekommen, die andere hatte
verfohlt, was bedeutete, dass das noch nicht lebensfähige Fohlen nach
einigen Monaten von ihrem Körper abgestoßen worden war. Somit hatte
das diesjährige Fohlen keinen Kumpel.
Draußen, auf einer weit vom Hof entfernt liegenden Weide, befand sich
die Nachzucht der beiden Stuten vom letzten und vorletzten Jahr. Im
kommenden Winter würden die bald Dreijährigen zum Anreiten in einen
Ausbildungsstall umsiedeln, wo die für sie erhoffte Karriere als
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Sportpferde begann. Ob als Dressur- oder Springpferde musste sich noch
herauskristallisieren, denn Veranlagung war anhand der guten Abstammung für beides vorhanden.
Sportpferde werden produziert, um geritten zu werden, um möglichst
erfolgreich unter einem Reiter präsentiert zu werden. In Pferden steckt
jedoch mehr als ein Sportgerät, was leider von vielen Menschen nicht
erkannt oder beachtet wird. Funktionieren Sportpferde nicht, werden sie
oft ausgetauscht wie Tennisschläger, die nicht gut in der Hand liegen.
Perljunge folgte dem jungen Mann, der seinen Führstrick übernommen
hatte, in die Scheune. Auf dem Boden stolzierten einige Tauben herum,
flogen bei ihrem Erscheinen durch ein offenes Fenster nach draußen.
Durch Gitterstäbe durfte er kurz die beiden Stuten begrüßen, wurde
danach in einen Laufstall geführt, stand einem acht Monate alten
Rapphengstfohlen gegenüber, seinem zukünftigen Spielgefährten für die
nächsten zwei Jahre.
Der kleine Rappe namens Solitär war bereits als Fohlen bestechend
schick. Er hatte vier gleichmäßig weiße Füße und einen schönen Stern auf
der Stirn, der auf dem schwarzen Felluntergrund zu leuchten schien. Als
die beiden Fohlen sich neugierig und aufgeschlossen begrüßten, war
sogleich zu spüren, dass sie viel Spaß miteinander haben würden.
Perljunges Trennungsschmerz war vergessen, seine Freundschaft mit
Solitär schnell geschlossen. Schon wenig später standen sie eng
nebeneinander und zupften am Heu, lagen in der Nacht Rücken an Rücken
im weichen Weizenstroh.
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Wenn der Mensch denkt, dass das Pferd nicht fühlt,
muss das Pferd fühlen, dass der Mensch nicht denkt !
∞∞ 4 ∞∞
Die nächsten knapp zwei Jahre verliefen für Perljunge in ruhigen,
geregelten Bahnen. Sein Fell wurde heller, Mähne und Schweif bildeten
dazu in dunklerem Grau einen schönen Kontrast.
In den ersten Wochen durfte er vormittags mit Solitär auf eine kleine
Weide hinter der Scheune, konnte dort herumtollen und das spärliche Gras
abnagen, das in dieser kalten Jahreszeit noch etwas nachwuchs. Die beiden
Zuchtstuten hatten Ausgang auf einer größeren Weide hinter dem Wohnhaus, gelegentlich wurden wiehernde Grüße ausgetauscht.
Nach dem ersten Frost kamen die beiden Fohlen des Vorjahres, ein
Hengst und eine Stute, ebenfalls in den Stall, bezogen eine Box neben ihren
Müttern. Die beiden Zweijährigen, sehr schicke braune Hengste mit viel
Blutanteil, wurden zu einem Ausbildungsstall Nähe Berlin transportiert.
Solitärs Halbbruder wurde nach drei Monaten kastriert. Der andere Hengst
behielt seine Testikel nur ein halbes Jahr länger, denn bei ihm zeigte sich
ebenfalls, dass er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte. Auch er
würde kein Crack im Pferdesport werden, allenfalls Mittelmaß. Mittlerweile hengstig und im Umgang stressig geworden, war eine Kastration die
beste Lösung, denn für Reithengste gab es kaum einen Markt.
Intensiven Kontakt zu ihren Pferden hatten die Eulenburgs nicht. Die
Tiere wurden nur auf die Weiden oder den Paddock gebracht. War das
Wetter schlecht, blieben sie oft tagelang im Stall, wo sie aus Langeweile die
Holzwände anknabberten. Alle drei Monate kam ein alter Hufschmied,
Rentner, der sich etwas nebenbei verdiente. Er schnitt die Hufe aus, wobei
sich Perljunge anständiger benahm als Solitär, denn das hatte er ja bereits
so gelernt.
Da die beiden Zuchtstuten im letzten Jahr vergeblich künstlich besamt
worden waren, wurden im Frühjahr keine Fohlen erwartet. Ihr Besitzer
erhoffte sich mehr von einem persönlichen Deckakt und brachte die Pferde
im April zum Landgestüt Marbach. Dort sollten sie einige Wochen bleiben,
um während der Rosse mit den ausgesuchten Hengsten ein kleines
Rendezvous einzugehen, aus dem sich hoffentlich, nach einer erfolgreichen
Tragzeit von circa elf Monaten, wieder vielversprechende Produkte ergaben.
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Mit den beiden nun Zweijährigen, einem Hengst und einer Stute, kamen
Perljunge und Solitär im folgenden Jahr auf die große, entlegene Sommerweide. Der Fuchshengst mit der breiten Blesse wurde nach zwei Monaten
verkauft und abgeholt.
Nun waren der schwarze und der weiße Kumpel mit dem braunen
Pferdemädchen allein. Das ein Jahr ältere Stütchen, Silhouette, zeigte ihnen
schnell, dass es an Raufen und Kräftemessen kein Interesse hatte, so dass
die Jungs sie meistens nicht mehr beachteten, sich wie die Monate zuvor
miteinander beschäftigten. Zunehmend wurden ihre Spiele jedoch rauer
und heftiger – Rangkämpfe fanden statt, bei denen einer den anderen zu
unterwerfen versuchte.
Täglich kontrollierte ein Familienmitglied der Eulenburgs den Zustand
der Jungpferde auf der einsam gelegenen Weide, füllte bei Bedarf das
Wasser in der alten Badewanne nach. Mittels Handpumpe und kräftigem
Arm wurde das eisenhaltige Wasser aus der Tiefe der Erde nach oben
gepumpt, wobei die Pferde stets neugierig diesen Vorgang beobachteten.
Viel Aufmerksamkeit wurde den jungen Tieren nicht geschenkt, ein
kleines Geschenk in Form von Möhren, Äpfeln oder einem Leckerli gab es
nie. Nur ihre körperliche Unversehrtheit war interessant, waren sie doch in
gewisser Weise finanzielles Kapital. Perljunge nicht, der bekam nur einen
flüchtigen Blick und die wenigsten Klopfer an den Hals, obwohl er der
Zutraulichste war.
Der September war ziemlich verregnet. Zur Herbstmitte präsentierte sich
der Oktober in schönen Farben. Morgentau hing in seidigen Spinnennetzen, verflüchtigte sich mit dem Anstieg der Temperaturen. Golden zu
späterer Stunde die Sonne am Himmel, golden das Laub der Bäume in der
Natur, daher dieses Jahr passend der Name Goldener Oktober.
Perljunge und Solitär hatten getobt, waren über die Weide geprescht,
fanden sich wie abgesprochen neben der Stute ein, die dabei war, das
verbliebene Gras hinter dem Elektrozaun abzuzupfen. Geschickt beugte sie
sich weit vor und streckte den Kopf unter den Draht, zupfte hier und da,
fand noch so manches schmackhafte Hälmchen. Die leckersten Halme
wachsen nun mal oft außerhalb einer Weide hinter dem Zaun.
Unbemerkt schlich sich Perljunge näher an Silhouette heran, zwickte
sie in ihre feiste Hinterbacke. Empört quiekend schreckte das Pferdemädchen seitlich zurück, berührte mit der linken Ohrspitze den
Stromdraht, und bekam eine gewischt – ist am Ohr besonders schön.
Auch Pferde haben emotionale Gefühle. Die Stute fuhr herum, schoss
auf den ihr am nächsten stehenden Jährling zu - Solitär, und biss ihm in den
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Hals, schlug blitzschnell mit beiden Vorderhufen nach ihm, traf ihn am
rechten Vorderbein.
Der schwarze Jährling nahm der Stute die unberechtigte Attacke nicht
so krumm wie sein Besitzer, der allerdings dem anderen Junghengst die
Schuld am etwas lahmenden Rappen gab. Abends tätigte Herr Eulenburg
einen Anruf beim Tierarzt, der drei Tage später vormittags die Zeit fand,
den nun neunzehn Monate alten Perljunge zu kastrieren.
Der kleine Schimmelhengst wunderte sich, dass er von Bauer Eulenburg
ein Halfter umgelegt bekam, etwas beiseite geführt wurde, während Helge
mit einer langen Gerte Solitär und die Jungstute vertrieb und auf Abstand
hielt. Ein Mann, der sich nach dem Aussteigen aus seinem Geländewagen
einen grauen Kittel übergezogen hatte, kam mit einem Metallkoffer auf die
Weide. Nun wurde Perljunge, der artig und vertrauensvoll neben seinem
Besitzer stand, doch etwas unruhig, und er wich zur Seite aus, als der
unbekannte Mann sich ihm mit einem Stethoskop näherte.
Ein scharfer Ruck am Führstrick und das Kommando: „Steh!“ Eulenburg
fand keine beruhigenden Worte, der Tierarzt wohl. Er strich dem jungen
Pferd sanft über Hals und Rücken, sagte leise, denn Pferde sind nicht
schwerhörig: „Alles gut, mein Junge, so schlimm wird das nicht.“
Perljunge war es dennoch mulmig. Er wieherte zu seinen vierbeinigen
Weidefreunden hinüber, wollte zu ihnen, stand dann aber doch für einen
langen Moment still, so dass der Tierarzt das Stethoskop anlegen und
feststellen konnte, dass sein Herzschlag wegen der momentanen Aufregung zwar schnell, aber völlig in Ordnung war. Danach erfolgte schnell die
Sedierung, und es dauerte nur wenige Sekunden, dann sank Perljunge mit
dösigem Blick langsam zu Boden.
Unaufhaltsam ging das Jahr seinem Ende entgegen. Weil Mitte November
die Tage noch schön waren, blieben die Pferde weiterhin draußen. Zwar
wuchs das Gras nur noch spärlich nach, doch Bauer Eulenburg hatte einen
großen Rundballen Heu mittels Traktor auf der Weide abgeladen.
Das Wetter schlug um, kaum dass der Ballen verzehrt war. Helge kam
mit dem Pferdeanhänger und holte Solitär und Perljunge nach Hause. In
der großen Scheune ging es nun nicht mehr in den Laufstall, jeder bekam
eine Box.
Unterdessen wartete Silhouette mit Eulenburg auf den frei gewordenen
Anhänger, wurde mit Mühe verladen. Sie durfte nicht mehr mit nach Hause,
sondern wurde zum Anreiten in den Ausbildungsstall Nähe Berlin transportiert. Dort zeigte sie bereits nach wenigen Tagen ihr großes Talent im
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Freispringen. In Übereinstimmung mit dem Bereiter entschied Eulenburg,
dass sie für eine Auktion vorbereitet werden sollte.
Silhouette erhielt eine solide Grundausbildung, die nicht günstig war,
zählte anschließend zu den teuersten Pferden auf der Auktion. Nach
intensivem Bietgefecht wurde sie einer Dame aus Belgien zugeschlagen,
verließ Deutschland auf Nimmerwiedersehen. In den großen Sport kam die
Stute allerdings nicht. Sie gewann einige A und L-Springen, verletzte sich
dann im Training so schwer, dass überlegt wurde, sie einzuschläfern.
Dank ihrer Besitzerin, Tochter eines reichen Unternehmers, die selbst
nicht ritt, sondern als Sponsorin ihre Pferde verschiedenen Reitern, gerne
denjenigen, die zeitweise das Doppelbett mit ihr teilten, zur Verfügung
stellte, durfte/musste Perljunges ehemalige Weidegefährtin weiterleben.
Weil Silhouette eine vorzügliche Abstammung hatte, wurde sie in drei
aufeinanderfolgenden Jahren mit dem Sperma eines passenden Springpferdevererbers besamt, jeweils ohne Ergebnis, worauf die Zuchtversuche
eingestellt wurden.
Danach humpelte die Stute auf einem Gnadenbrothof zwischen
weiteren Pferden, ein paar Ponys, Ziegen, zwei Eseln und einer alten
schwarzbunten Kuh herum. Auch dort fraß sie gerne Gras auf der anderen
Seite des Zauns, doch war es leider auch nötig.
Die Betreiber des Hofes, selbsternannte Tierschützer, waren seit
Langem mit ihrer Tätigkeit überfordert, ihre Anlage überbelegt. Zeitweise
konnten die Tiere nicht vernünftig betreut werden, es fand keine
tiergerechte Haltung statt. Auf kotverdreckten Paddocks standen etliche
Pferde so eng zusammen, dass sie sich bei Frust nicht aus dem Weg gehen
konnten, ihr Fell war voller verschorfter Wunden.
Bald war die einst schöne Stute so abgemagert, dass ihre Rippen
hervorstanden, ungepflegt wurden ihre Hufe immer länger. Zum Klepper
verkommen, wurde sie nur noch verwahrt auf dem abgelegenen Hof, dem
seitens kontrollierender Veterinäre keine Aufmerksamkeit geschenkt
wurde. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt Silhouette auch noch
heute und hungert mehr oder weniger vor sich hin …
Perljunge gefiel es nicht, allein in der Box zu stehen. Zwar war sein
Freund Solitär gleich nebenan, doch schöner wäre es gewesen, wenn sie
wie früher einander bei Bedarf hätten beknabbern und schubbern können.
Das war nur noch möglich, wenn sie bei schönem Wetter zusammen in den
Auslauf oder auf die kleine Weide hinter der Scheune durften. Als das neue
Frühjahr und mit ihm die Wärme kam, kamen die beiden Anfang Mai
abermals hinaus in die Abgeschiedenheit auf der großen Weide.
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Nur eine Zuchtstute hatte ein Fohlen bekommen, die andere zum
zweiten Mal nicht aufgenommen. Der Verkauf des unproduktiven Tieres
stand bevor, doch niemand meldete sich auf Eulenburgs wiederholtes
Inserat. Mit 16 Jahren war die Stute schon etwas alt, ihre bisherigen
Nachkommen trotz guter Hengstauswahl auch keine Highlights. Bauer
Eulenburg überlegte, was der Pferdeschlachter rausrückte, ließ das Tier
vorerst mit der anderen Stute und ihrem Fohlen auf die Hausweide, denn
das gut sprießende Gras war nahrhaft, jedes zusätzliche Kilo brachte beim
Schlachter mehr Geld.
Löwenzahnblüten waren am Arsch der Welt zu Pusteblumen geworden.
Noch einmal ließ Bauer Eulenburg Perljunges Hufe ausschneiden, kaufte
auch für ihn eine Paste zum Entwurmen, obwohl er diese Kosten gerne
gespart hätte. Seine letzte Investition in den Beisteller, der nun überflüssig
war, war ein knappes Inserat im Landwirtschaftlichen Wochenblatt mit
dem Text: Schimmelwallach, 3 J. roh, 158 cm, nur Pass, VB, Tel.: …
Die sparsame Anzeige im Bauernblatt brachte wenig Resonanz, es
meldeten sich zwei Anzeigenleser. Ein Pferdehändler rief an und zeigte,
nach weiterer kurzer Beschreibung des Pferdes von Helge, Interesse. Er
bot den aktuellen Schlachtpreis, dafür sollte ihm der Wallach auch noch
angeliefert werden – 200 Kilometer entfernt! Helge sagte nichts zum
Angebot, legte einfach auf.
Der zweite Anruf kam spät abends von einer jungen Frau. Eulenburgs
lagen um viertel nach zehn fast schon in ihren Betten. Knurrig gab diesmal
der Bauer Auskunft, denn er wollte das Pferd loswerden. Was weg war, war
weg, kostete nichts mehr, und Pferde gab´s schließlich genügend in der
Republik, da musste man froh sein, wenn sich ein Interessent auf den Weg
zu ihnen in die Walachei machte.
Auf die Frage der jungen Frau, ob der Schimmel schick sei, machte
Eulenburg nur: „Häh?“, fand dann aber doch glücklicherweise schnell die
Worte: „Jau, elegant isser, eher so´n Damenreitpferd. Aber Gewichtsträger
wohl mal nich. Könn tuter nix, aber das steht ja inna Anzeige. Wachsen
tuter auch noch. Pferde wachsen bisse sieben sind. Meistens.“ Er lachte
rasselnd.
In Anbetracht des zuvor nur einen Anrufs auf das Inserat, und weil er
nicht nochmals Geld in eine Anzeige investieren wollte, war doch nicht
sichergestellt, dass dabei mehr herumkam, nannte Eulenburg einen sehr
günstigen Preis, so dass die Frau einen Besichtigungstermin vereinbarte.
Zwecks dieses Zusammentreffens nahm Helge dann erstmals für
Perljunge eine Bürste zur Hand, um ihm Fellpflege angedeihen zu lassen.
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Boah, was verlor der Schimmel Haare! Nun ja, es war Frühling, da ist das
immer so. Und wenn ein Pferd nie gepflegt wird, dann ist das eben etwas
oder auch viel mehr.
Der junge Wallach stand angebunden neben dem Scheunentor in der
warmen Sonne. Er genoss das wohltuend kräftige Bürsten, lauschte den
leisen Flüchen Helges, der anschließend die grauweiße Haarfülle auf der
Erde zusammenfegte, auf die Schubkarre warf und zum Misthaufen
brachte.
Aus dem Süden war ein Bachstelzenpaar eingeflogen, um hier
gemeinsam ein Nest zu bauen und eine Familie zu gründen. Der Schimmel
beobachtete interessiert, dass die kleinen Vögel seine Haare für ihren
Nestbau gebrauchen konnten.
Jasmin Schultheiß war eine junge, zierliche Studentin, die zurzeit in
Göttingen schlauer gemacht wurde. Ihr langes, braunes Haar war oft zu
dünnen Zöpfen geflochten, die sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz
zusammenband. Erst beim näheren Hinsehen bemerkte man, dass ihr
rechtes Auge blaugrau, das andere grün war.
Mehr oder weniger ritt Jasmin schon ihr ganzes Leben, jedoch nie
eigene Pferde, und wegen ihres Studiums in den letzten beiden Jahren
seltener. Mit Geld zuvor nicht gesegnet, sollte nun die ausgezahlte
Lebensversicherung der Großeltern, beide waren zusammen bei einem
tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, ein eigenes Pferd
ermöglichen.
Nach Auszahlung des Geldes an den Sohn, der es auf seine beiden
Töchter verteilte, konnte sich Jasmin den lange gehegten Wunsch erfüllen.
Früher hatte sie beim Einreiten und Ausbilden junger Pferde geholfen,
traute sich ein rohes Jungpferd durchaus zu. Turnierabsichten hatte sie
nicht, und auch der Abstammungsnachweis eines Pferdes war unwichtig.
Aber schick musste das Tier sein, dann war schon irgendwie alles
entschieden.
Schick war Perljunge, außerordentlich schick, sozusagen ein kleiner
Blickfang. Und bewegen konnte er sich auch sehr ins Auge stechend. Helge
ließ ihn im Paddock frei laufen, hatte aus irgendeiner Ecke in der Scheune
die lange Peitsche gekramt, ließ sie laut knallen. Schnobernd präsentierte
sich der Schimmelwallach mit hoch geworfenem Kopf und weit
ausgestrecktem Schweif, wallend flatterte seine lange Mähne im schnellen
Galopp.
Als die Studentin wenig später nacheinander seine ordentlich ausgeschnittenen Hufe anhob, stand Perljunge artig still. Ganz überrascht war er,
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als sie ihm ein Leckerli auf der Hand reichte, das er erst nach etlichen
schnuppernden Sekunden vorsichtig annahm. Seine dunklen Augen
strahlten Intelligenz aus, Jasmin hatte sie schon auf den ersten Blick
beeindruckend gefunden. Nun schauten diese schönen Augen sie
aufmerksam abschätzend an und schienen zu fragen: Hättest du Geduld
mit mir?
Jasmin hatte den geforderten Preis, doppelter Schlachtpreis, ohne
Handeln akzeptiert mit der Zusage, dass der Schimmelwallach am
nächsten Wochenende zu ihr nach Göttingen gebracht wurde, denn sie
besaß weder PKW noch Pferdeanhänger. Ihre Freundin Valerie hatte sie
zur Pferdebesichtigung chauffiert. Valeries Vater, ein Zahnorthopäde mit
gutgehender Praxis, lieh seiner Tochter hin und wieder sein Fahrzeug, fand
es bewundernswert, dass sie bisher nicht den Wunsch nach einem eigenen
Auto geäußert hatte, obwohl sie seit vier Jahren einen Führerschein besaß.
Nur einmal wieherte der Schimmel beim Abtransport, bekam Antwort
von Solitärs Mutter. Ruhig stand er während der Fahrt auf dem Hänger,
balancierte sich geschickt in den Kurven aus, schaute aus dem Fenster,
denn nun war er groß genug, um hinaussehen zu können. Abwechslungsreiche Landschaften, Dörfer, Städte glitten vorüber. Manchmal zuckte
er zusammen, wenn ein vorbeirauschender, großer LKW für Momente das
linke Fenster verdunkelte.
Nach dem Abladen stand Perljunge hinter dem Pferdeanhänger und
betrachtete seine neue Umgebung, sog die unbekannten Gerüche ein, stieß
einen lauten Ruf aus. Unzählige Pferdestimmen aus den Boxen in der
großen Reitanlage und von den angrenzenden Weiden antworteten zur
Begrüßung.
Jasmin tätschelte ihn am Hals, als er nervös zu tänzeln begann, sagte:
„Schön artig sein.“
Bauer Eulenburg schloss die Rampe vom Pferdeanhänger, erhielt sein
Geld, holte aus seinem Fahrzeug Perljunges Equidenpass und eine
Quittung. Noch ein knapper Gruß mit einem Lächeln, das seine Augen nicht
erreichte, dann stieg er in seinen Pick-up und fuhr mit klappernder
Seitentür am Hänger davon, hatte er doch in der Eile vergessen, sie richtig
zu schließen.
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Wer Frauen ohne Fehler sucht und Pferde ohne Mängel,
hat nie ein gutes Pferd im Stall und nie im Bett ´nen Engel.
∞∞ 5 ∞∞
Perljunge bekam eine Innenbox auf der langen Stallgasse, die am Ende
direkt in die große Reithalle führte. Gerne hätte Jasmin für ihn eine Box mit
Fenster nach draußen gehabt, denn dann hätte er bei Bedarf einiges mehr
zu sehen bekommen. Die Pferdeboxen an der Außenseite des Stalles waren
begehrt und belegt, obwohl sie etwas teurer waren. Jasmin ließ Perljunge
auf eine Liste eintragen und wartete an achter Stelle auf ein Freiwerden.
Die Reitanlage beherbergte fast vierzig Pferde, kameradschaftlich
werde hier geduzt, bekam Jasmin mitgeteilt. Außer sonntags kam morgens
ein Rentner zum Reinigen der Boxen. Wer sich sonntags an Pferdeäpfeln
und feuchten Stellen im Stroh störte, durfte sie selbst entfernen.
Schubkarren, Schaufeln und Mistgabeln standen mehrfach griffbereit
herum, nur wenige Pferdebesitzer nutzten dieses Angebot.
Perljunge bekam als Nachbarn die Scheckstute Ariane und den fleißig
an seiner Tränke koppenden Fuchswallach Limerick. Das Koppen des
Wallachs, und seine damit verbundenen Geräusche, störten den Schimmel
nicht. Jasmin fand es jedoch so ätzend, dass sie ihr Pferd meistens draußen
putzte und vorbereitete.
Koppen ist eine der gefürchtetsten Untugenden des Pferdes, eine
Verhaltensstörung. Beim Koppen setzt das Pferd die oberen Schneidezähne
auf einen festen Untergrund und spannt die Halsmuskeln an, worauf Luft
in die Speiseröhre strömt, was sich wie ein Rülpsen anhört. Die Unart kann
aus Langeweile entstehen, bei zu wenig Fütterung von Raufutter, es soll
auch eine genetische Veranlagung geben.
Nun etwas über drei Jahre alt, begann für Perljunge der Ernst des
Lebens. Mit viel Eifer war er bei der Sache, lernte schnell, was Jasmin ihm
mit Geduld und Einfühlungsvermögen beibrachte. Er akzeptierte und
respektierte sie als Leittier, immer mehr Vertrauen baute sich auf.
Der Anfang wurde mit Bodenarbeit gemacht. Zuerst lernte er die
Kommandos Schritt, Trab, Galopp, Halt. Das ruhige Stehenbleiben fiel ihm
anfangs nicht leicht, besonders, wenn andere Reiter mit ihren Pferden in
der Nähe waren. Rückwärtsgehen klappte leichter als erwartet. Oft ahnte
er schon im Voraus, dass Jasmin gleich: „Zurück“, sagen würde, kam dem
Befehl zuvor. Wenn er während des Longierens das Kommando Galopp
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bekam, zeigte er voller Eifer, wie gut er das auch schon konnte, und
preschte beim Angaloppieren quiekend vorwärts.
Die Studentin kam oft erst spät abends zum Pferd. Längst hatten die
meisten Reiter ihre Pferde bewegt, so dass sie mit Perljunge alleine in der
Reithalle war, was ihr nicht unangenehm war. Ein Sattler fuhr an einem
Wochenende vor und ein passender Sattel wurde aus verschiedenen
Modellen ausgesucht – ein Vielseitigkeitssattel, Schwerpunkt Springen.
Nach zwei Monaten intensiver Bodenarbeit, auch mit Doppellonge, war
Perljunge an Trense, Longiergurt, Ausbinder und Sattel gewöhnt. Nun
wurde er zum ersten Mal bestiegen. Nach dem Kommando zum Anhalten
stand er beim Longieren artig still und registrierte aufmerksam, dass
Jasmin zu ihm kam. Sie löste Longe und Ausbinder vom Trensenring, nahm
die Zügel auf, die lose über seinem Hals lagen.
Auch an diesem Tag hatten die Steigbügel heruntergezogen an seinen
Seiten geschlackert. Er hatte nicht gebuckelt, wie er das anfangs gemacht
hatte, weil er es komisch fand, was da an seinen Seiten baumelte und ihn
ab und zu berührte. Buckeln, auch aus Spaß, konnte Jasmin nicht leiden
und war während der Arbeit verboten. Zuwiderhandlungen wurden
bestraft, indem sie fest an der Longe ruckte und laut schimpfte.
Nochmals bekam der Schimmel den Befehl zum Stehen, spürte danach
ein Gewicht, das den Sattel auf seinem Rücken etwas nach links zur Seite
zog. Zufrieden kaute er auf dem Trensengebiss, schaute sich dann aber
doch um, als Jasmin aus seinem seitlichen Blickfeld verschwand,
gleichzeitig der Druck auf seinem Rücken größer wurde. Nanu, wo war sie?
Er machte einen Schritt zur Seite, schaute sich verwundert um, bekam
sofort den Befehl zum Stehen, wusste damit auch, wo seine Freundin
abgeblieben war.
Perljunge wurde nicht ängstlich, denn er hatte bisher in seinem Leben
erfahren, dass ihm nichts Unangenehmes geschah, wenn er gehorsam war
und Vertrauen hatte. Das Tätscheln an seinem Hals und das Lob: „Soo ist
schöön, mein Perli!“, bestätigte ihm, dass er alles richtig machte. Als er das
Wort: „Scheeritt!“ hörte, dazu an beiden Seiten Jasmins leicht angelegte
Unterschenkel spürte, trat er an und ging vorwärts.
Es war merkwürdig für den Schimmel mit dem ungewohnten Gewicht
auf sich, doch nach einigen Runden im Schritt entlang der Bande, ging es
immer besser. Dann zog Jasmin leicht die Zügel an, gab das Kommando:
„Halt“.
Perljunge blieb stehen, registrierte, wie sie aus dem Sattel glitt. Er
bekam ein großes Lob und wurde getätschelt, das Leckerli gab´s jetzt
schon, nein, es gab sogar zwei. Danach wurde der Sattelgurt gelockert und
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er wusste, dass die Arbeit beendet war. Von ihm aus hätte es ruhig noch
weitergehen können.
Bevor Jasmin sich für diesen Tag von ihrem Perli verabschiedete,
reichte sie ihm zwei Äpfel. Sabbernd und schmatzend kaute er genussvoll
das Obst, etwas Saft tropfte aus seinen Maulwinkeln. Sie ging nie fort, ohne
ihm etwas Leckeres zuzustecken. Manchmal hatte sie sogar zwei Bananen
dabei, eine für sich, die andere für ihn.
In der Erziehung ist Konsequenz die Regel Nr. 1. Der Schimmelwallach
war stets lernwillig und aufmerksam bei der Sache. Mit dem Besitzer des
Reitstalls war vereinbart, dass er vormittags mit drei weiteren Wallachen
auf eine kleine Weide durfte, darunter leider auch Limerick. Kein
Pferdebesitzer sah es gerne, wenn sein Pferd neben einem Kopper stand,
obwohl behauptet wurde, dass Pferde sich das Koppen nicht abschauten.
Auf der Weide koppte Limerick nicht.
Es gab noch ein weiteres Pferd mit einer psychischen Verhaltensstörung: die webende, braune Holsteiner Stute namens Leilyta, deren
schmale Blesse wie ein Blitz gezackt war. Beim Weben, eine Stereotypie,
die ebenfalls meistens aus Langeweile entsteht, pendelt das Pferd mit
seinem Kopf hin und her.
Leilyta hatte ihre Box neben dem Eingang zur Reithalle. Gerne
unterbrach sie ihr Weben hinter dem Trenngitter, um vorbeigehende Pferd
mit angelegten Ohren anzugiften. War sie rossig und weitere Pferde mit ihr
in der Reithalle oder auf dem Außenreitplatz, konnte oft beobachtet
werden, dass sie ihrem Reiter den restlichen Tag vergällte. Während des
Reitens trug sie oben am Schweif eine kleine rote Schleife – ein Warnsignal,
dass sie ausschlagen könnte.
Hätte Leilyta nicht regelmäßig eine große Schleife vom Springturnier
mit nach Hause gebracht, oft eine goldene, wäre ihr Reiter sicherlich längst
auf ein anderes Pferd umgestiegen.
Nur einmal ärgerte sich Jasmin richtig über ihr Schimmelchen, und teilte
ihm das auch umgehend mit.
Mühsam putzte sie hellbraune Schlammreste aus Fell, Mähne und
Schweif heraus, die sich seit dem morgendlichen genüsslichen Wälzen im
Auslauf festpappend daran angeschmiegten. Perljunge stand ruhig, war auf
der Stallgasse an den Gitterstäben seiner Box angebunden. Limerick war
mit seiner Reiterin in der Reithalle, so dass Jasmins Ohren nicht von
Koppgeräuschen belästigt wurden.
Der lange Strick machte es möglich, dass der Schimmel seinen Kopf
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nach hinten zu Jasmin wenden konnte, die ihm den rechten Vorderhuf
auskratzte. Er schnupperte kurz am Hosenboden ihrer Jeans, stellte fest,
dass Bodenarbeit angesagt war, denn sonst wäre ihr Hinterteil unter dem
Kunststoffledereinsatz ihrer Reithose verborgen. Freundschaftlich kniff er
ihr in den Oberschenkel, während sie gerade seinen Huf absetzte.
Dass diese nette Geste nicht ankam, bekam der junge Wallach sofort zu
spüren. Empört und mit vor Schmerz verzogenem Gesicht fuhr Jasmin
herum und schlug ihm mit der flachen Hand kräftig auf die Nase. Und weil
doppelt gemoppelt manchmal noch besser wirkt, bekam er einen zweiten
Klaps an die Ohren, obwohl er den Kopf bereits erschreckt hochgerissen
hatte, doch Jasmin war fix und kannte solche Reaktionen.
Perljunges Biss war im Vergleich zu den Schlägen schmerzhafter, doch
was zählte, waren die umgehende Strafe und der Schreck. Zusätzlich gab es
noch lautes Schimpfen und weitere Sanktionen, denn er musste zurück in
seine Box, bekam das abgenommene Halfter mit den Worten: „Das machst
du nicht noch mal!“, auf den Rücken geklatscht, worauf er sich verschreckt
an die hintere Boxenwand drängte. Laut schnobernd und mit großen
Augen sah der Wallach, wie die Tür zugeknallt wurde, wie Jasmin das
Putzzeug einsammelte und davonmarschierte.
War Jasmins Erziehungsmaßnahme überzogen? Perljunge stand
minutenlang nachdenklich da, schüttelte dann heftig den Kopf. Er begann
im Stroh zu scharren, äppelte in die Boxenmitte, obwohl er das sonst nur in
der linken hinteren Ecke tat. Anschließend legte er sich in seinen frischen
warmen Schiss, saute sein geputztes Fell auf der rechten Hinterbacke ein.
Er stand auf, drehte sich, legte sich mit der linken Halsseite auf die platten
Äppel, und sie gaben noch genug braune Feuchtigkeit her, um auch dort
unansehnliche Flecken zu hinterlassen. Schließlich stand er an der Tür und
lugte durchs Gitter auf die Stallgasse hinaus.
Nein, Jasmin kam an diesem Abend nicht mehr zu ihm, und Obst gab es
somit auch nicht, so dass er sich leise seufzend seinem restlichen Heu von
der Abendmahlzeit widmete.
Zuhause schaute sich Jasmin vor dem Schlafengehen den kleinen
blauen Fleck am Oberschenkel an und dachte: Hoffentlich gewöhnt er sich
so etwas nicht an. Hätte sie auch ein Fell, wäre der Fleck gar nicht zu sehen
gewesen.
Einmal wöchentlich, mittwochs, wurden kurz vor 20 Uhr in der Reithalle
Hindernisse für das Freispringen aufgebaut. Um mit Perljunge daran
teilnehmen zu können, musste sich Jasmin in eine Liste eintragen. Bei der
Bodenarbeit ließ sie ihn regelmäßig über Cavalettis laufen, was er
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geschickt und vorsichtig machte, war kaum überrascht, als er sich auch
beim Freispringen gut präsentierte.
Weibliche Wesen sind oft von Pferden fasziniert, manchmal auch von
ihren Reitern. Der auf der Reitanlage angestellte Reitlehrer, Heiko
Herzschuh, oft kurz HH genannt, war ein attraktiver Mann mit schlankem,
muskulösen Körper und reichlich Hirn. Gelegentlich trug der 34-Jährige
einen Dreitagemachobart, stets seinen Ehering.
Dass Heiko verheiratet war, schien kein Hindernis für Avancen zu sein,
er wurde oft angebaggert. Da am Fremdgehen nicht uninteressiert, er war
auch nicht sehr wählerisch, kam er mit der ein oder anderen Gespielin
öfters körperlich zusammen. Nicht immer interessierte es seine Gattin,
welche zweibeinige Stute er nebenbei ritt. Hätte sie ihn gefragt, hätte er
ehrlich geantwortet, sie hatten keine Geheimnisse voreinander.
Heiko bestätigte Jasmin nach dem Freispringen, dass der Schimmel ein
kleines Springtalent zu sein schien, doch wie er sich weiter unter dem
Sattel entwickelte, sei vorerst noch Spekulation.
Ab und zu traf Jasmin in den späten Abendstunden auf eine andere
Studentin und ihren Traber Mebec. Sabine besaß den 17jährigen Wallach
seit acht Jahren, hatte ihn aus der westfälischen Heimat mitgebracht, ritt
nur ins Gelände, notgedrungen im Winter und bei unbeständigem Wetter
auch in der Halle. Die jungen Frauen freundeten sich an, und nach dem
konzentrierten Reiten schlenderten ihre Pferde entspannt nebeneinander
entlang der Bande, während sie miteinander schwatzten.
Ab April, über den Äckern kehrten die ersten Zugvögel zurück,
begleiteten Jasmin und Perljunge die beiden auf einem Ausritt. Die nähere
Umgebung kannte der Schimmel bereits, da war er mit Jasmin sonntags
gelegentlich am Halfter spazieren gegangen. Nun ging es weiter hinaus,
was ihm gefiel, so dass er immer wieder fröhlich schnaubte, dabei flott
voranschritt und Sabine mit ihrem Mebec hinter sich ließ.
Der Traber hatte das leidige Problem, im Schritt über Bodenunebenheiten zu stolpern, wahrscheinlich die Folge von Nervenschnitten an
seinen Vorderbeinen. Vor vielen Jahren, im Laufe seiner Rennbahnkarriere,
war diese Maßnahme in einer Tierklinik erfolgt. Als Sabine Mebec auf
einem langen Sandweg nicht galoppieren ließ, sondern schnell und sehr
raumgreifend trabte, konnte Jasmin mit Perljunge lange mithalten, bevor
der Schimmel die Balance verlor und in Galopp fiel.
Für den Springunterricht, den Heiko Herzschuh freitags in den Abendstunden getrennt für Anfänger und Fortgeschrittene gab, musste Jasmin
etwas bezahlen. Eigentlich waren für jede Gruppe nur sechs Teilnehmer
angedacht, doch oftmals waren es mehr. Gute Reitlehrer machen Laune
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und können talentierten Zwei- und Vierbeinern zu echten Fortschritten
verhelfen. Heikos Unterricht war lehrreich und gut, brachte die meisten
Reiter und ihre Pferde weiter.
Jasmin war begeistert von Perljunges Talent und seiner Bereitwilligkeit
zur Mitarbeit. Sie gestaltete seine Ausbildung abwechslungsreich, ritt im
Sommer in den Abendstunden, nach der Dressurarbeit, noch alleine mit
ihm aus, kam oft erst bei einsetzender Dämmerung zurück. Ihr Perli war
nicht sehr groß, hatte jedoch ein großes Herz und ein mutiges Wesen,
scheute nicht vor unbekannten Dingen oder Geräuschen. Auf Heiko
Herzschlags Vorschlag, ihn doch mal in einer Reitpferdeprüfung zu starten,
meinte sie: „Ich habe keine Transportmöglichkeiten.“
„Das lässt sich arrangieren“, antwortete der Reitlehrer.
In ihrer Jugend war Jasmin mehrfach auf kleinen, ländlichen Turnieren
gestartet, hatte auch einige Schleifen gewonnen, allerdings nur grüne, die,
wenn ihre Mutter sie nicht mittlerweile entsorgt hatte, noch zu Hause
zerknittert in einer Schublade lagen. Sie war stolz auf ihren schicken
Schimmel, der sich so wunderbar entwickelte und durch entsprechenden
Muskelaufbau immer ansehnlicher, zu einem kleinen Hingucker wurde.
Ehrgeiz stellte sich ein, als der Reitlehrer ihr nach einem halben Jahr
empfahl, in die Gruppe der Fortgeschrittenen zu wechseln.
In den ersten Minuten wurde sie mit ihrem kleinen, polnischen Pferdchen
von den anderen Teilnehmern belächelt. Als der Schimmel jedoch zeigte,
dass er mit den oft riesigen Holsteinern und Hannoveranern durchaus
mithalten konnte, ließ das verstohlene Grinsen nach. Heiko Herzschuhs
Kommentar, nachdem Perljunge vor einem Oxer zu früh abgesprungen war
und sich gerade noch krumm über den Sprung rettete, was Jasmin fast aus
dem Sattel warf: „Der kann springen wie ´ne Katze, du musst nur oben
bleiben, dann klappt das!“
Es war Jasmin, die anfangs überfordert war, nicht ihr Pferd, wenn sie
einen ganzen Parcours reiten sollte. Da Perljunge kleiner als die anderen
Pferde war, passten die Abstände zwischen den Hindernissen für seine
kürzeren Schritte nicht richtig. Seine Reiterin hatte nicht immer das
Können, ihm Hilfestellung zu leisten, so dass er in weiser Voraussicht auf
einen Crash manchmal verweigerte, dabei den Hals steif machte, und am
Hindernis vorbeilief.
Vorbeilaufen ist für Reiter genauso beschissen wie vor einem Hindernis
parken. Und wie so viele Reiter wurde auch Jasmin irgendwann sauer und
unumwunden grob. Mit der Reitgerte gab sie Perljunge ...
Zuerst kniff der Schimmel ängstlich den Schweif ein, keilte dann aber
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verärgert aus und traf den Ständer eines Steilsprungs. Der Ständer kippte
um, die Stangen fielen herunter, so dass der Reitlehrer herbeilief und den
Sprung wieder aufbaute.
Heiko Herzschuh sah ungern Verweigerungen als auch Prügelstrafen,
obwohl er aus eigener Erfahrung wusste, dass Parken, aus welchem Grund
auch immer, die Freundschaft zum Pferd nicht unbedingt vertiefte.
„Wenn du möchtest, reite ich ihn mal eine Runde“, bot er Jasmin an,
denn ihm gefiel brutales Reiten nicht.
Jasmin, die sich wegen ihrer Entgleisung vor den anderen Reitern und
einigen Zuschauern auf der Tribüne etwas schämte, hielt neben ihm an und
stieg ab. Sie überließ ihm den Wallach in dem Glauben, dass ihr Perli sich
dem fremden Mann wohl kaum so anvertrauen würde wie ihr.
Der Reitlehrer war Perljunge nicht fremd, denn er stand oft mittig in
der Reithalle und gab Kommandos, wenn er geritten wurde. Er war es, der
ihm gelegentlich eine größere Portion Kraftfutter zukommen ließ, wenn
der Reitstallbesitzer sich beim Füttern von ihm vertreten ließ, und auch
seine Heuration war dann großzügiger.
Wenn ein guter Reiter und ein talentiertes Pferd zusammengefügt
werden, dann kann sich etwas ergeben. Heiko Herzschuh teilte dem Pferd
zwischen seinen Beinen gewaltfrei aber deutlich mit, wer jetzt der
Ranghöhere in ihrer minutenlangen Zweisamkeit war. Danach führte er
dem stillen Publikum vor, dass das kleine Pferdchen durchaus in der Lage
war, in anständiger Manier den Parcours fehlerfrei zu absolvieren. Es
sprang athletisch und geschmeidig, mit viel Luft zwischen Hufen und
Hindernissen.
Jedes Jahr fand am ersten Septemberwochenende auf dem großen
Reiterhof ein Turnier statt. Samstags wurden die kleinen Prüfungen
abgehalten, sonntags Prüfungen der Klasse L und M. Jasmin traute sich und
ihrem Perli ein Springen der Kasse E – Einsteiger zu, und wollte es
probieren. Ein Tierarzt sorgte für den benötigten Transponder (Mikrochip)
an seiner linken Halsseite, damit sie ihn bei der FN in Warendorf als
Turnierpferd eintragen lassen konnte. Das ist auch für Pferde ohne
Abstammungsnachweis möglich.
Die rege Betriebsamkeit auf der Anlage, das Kommen und Gehen
fremder Artgenossen, war für viele Pferde in ihren Boxen aufregend.
Fröhlich grüßte auch Perljunge ankommende vierbeinige Teilnehmer.
Zweibeiner, die einander kannten, riefen sich manchmal auch etwas zu,
wobei die Worte: „Viel Glück!“, nicht immer so gemeint waren. Als
Perljunge für seine erste Prüfungsaufgabe fertig gemacht wurde, konnte er
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kaum still stehen, denn er spürte, dass an diesem Tag etwas Besonderes
von ihm erwartet wurde.
Hindernisse der Klasse E sind 80 – 90 Zentimeter hoch. Jasmin war mit
Perli im Springunterricht schon höher gesprungen, war aber ebenfalls
aufgeregt. Die Schwierigkeit lag für sie darin, den Wallach fehlerfrei über
die Hindernisse zu lenken, denn im Übereifer neigte er dazu, sie zu schnell
anzurennen. Manchmal entzog er sich dabei ihrem Einfluss, und es konnte
passieren, dass sie die Reihenfolge der Hindernisse nicht einhielten.
Jasmin war etwas mulmig zumute, aber alles ging gut. Perljunge
wunderte sich, dass so viele Leute auf der Tribüne saßen, dass Blumen und
Grünzeug die Reithalle schmückten. Aufmerksam guckte er sich mit großen
Augen um, blieb ruckartig stehen, äppelte einen kleinen Haufen vor einen
Oxer. Seine Hinterlassenschaft wurde von einem Turnierhelfer mit einer
Schaufel entfernt, dann ertönte die Startglocke.
Trotz intensiven Abreitens auf dem Außenreitplatz war Perljunge frisch
und fegte mit seiner Reiterin über die Hindernisse. Jasmin hatte seine
lange Mähne nicht eingeflochten, hielt sich mehrfach daran fest, wenn
seine Sprünge viel höher als gefordert ausfielen.
Es sah nicht ästhetisch aus, was die beiden den Zuschaueraugen boten,
doch es war kein Stilspringen, musste nur schnell und fehlerfrei sein, und
das schafften sie. Eine sonore Herrenstimme verkündete über den Lautsprecher das Ergebnis: Fehlerfrei und momentan die Schnellsten, somit auf
dem 1. Platz, was sich aber noch ändern konnte, denn es würden noch
achtzehn Teilnehmerpaare auf ihre Starts warten.
Kurz vor dem Ende der Prüfung starteten zwei Reiterinnen, routinierte
Mädels, die sich mit ihren Pferden vor Jasmin und Perli schoben, so dass
deren Leistung nur noch für den 3. Platz reichte. Jasmins stürmisches
Loben und die zugesteckten Leckerlis, direkt nach ihrem Ritt, hatten
Perljunge aber bereits gezeigt, dass er seine Sache gut gemacht hatte.
Später traf Jasmin den Reitlehrer auf der Stallgasse. Er schob die Karre
mit dem Kraftfutter vor sich her und sagte: „Ich habe euch beobachtet, ihr
habt das prima gemacht. Du solltest in A starten, und wenn du ihn dressurmäßig intensiver arbeitest, müsste er durchlässiger werden.“
„Warum sollen wir schon A gehen?“, fragte Jasmin verwundert.
„Die beiden Reiterinnen, auf den Plätzen vor euch, sind alte Hasen. Seit
Jahren starten sie überall in E, pflastern zu Hause ihre Wände mit goldenen
und silbernen Schleifen. Perljunge hat viel Vermögen, das muss herausgearbeitet, auf die richtige Schiene gelenkt werden.“
„Was kostet es, wenn du ihn etwas reiten würdest?“
„Ich habe dafür leider keine Zeit“, winkte HH ab und wollte weiter47
gehen, blieb aber wieder stehen, als er Jasmins enttäuschtes Gesicht
registrierte, bot an: „Du machst in den nächsten Wochen im Unterricht nur
Einzelsprünge, ich übernehme ihn dann zum Schluss für eine große Runde,
einverstanden?“
Natürlich war Jasmin einverstanden. Sie war nicht beratungsresistent,
hielt sich an Heikos Anweisungen und verfolgte mit Stolz, wie ihr Pferd im
Anschluss an den Springunterricht mit ihm ästhetisch den Parcours
absolvierte.
Beherzt nahm der kleine Schimmel die Herausforderungen an, sprang
nach wenigen Wochen mühelos über Hindernisse von L-Niveau.
Gegen Herbstende passierte der Studentin ein Missgeschick. Im
November war das Wetter außerordentlich gut und sie wollte die noch
schöne Natur genießen, so dass sie sich oft mit Sabine und ihrem Mebec
zum Ausreiten verabredete.
Der Reiterhof veranstaltete, weil die Wetterprognose einen tollen
Samstag voraussagte, einen Ganztagesausritt mit Stelldichein in einer
Landgaststätte. Vierzehn Teilnehmer, darunter nur drei männliche,
machten sich einen schönen Tag.
Kurz bevor sie wieder Zuhause waren, bemerkte Jasmin Perljunges
immer zögerlicher werdendes Auftreten. Seine Hufe wurden von ihr
kontrolliert, doch sie fand keine Erklärung.
Es sei ganz simpel, teilte Heiko ihr mit, den sie um Rat fragte. Ihr Pferd
hatte sich die Hufe abgelaufen, war fühlig. Übermorgen käme aber schon
der Schmied, und wenn sie wollte, dass ihr Pferd Hufeisen bekam, musste
sie es auf die Liste eintragen.
Bisher war Perljunge als Barhufer durchs Leben gelaufen, denn er hatte
gute Hufe, die sich korrekt abnutzten. Beim Ausreiten wurde er oft auf
Randstreifen gelenkt. Wenn er jedoch viel über harten Untergrund,
Schotter, Steine, Asphalt laufen musste, wurde der Abrieb zu stark, so dass
er Hufeisen brauchte.
Jasmin stimmte einem Beschlag zu und Perljunge bekam seine ersten
Hufeisen. Ganz geheuer waren ihm der Gestank und der Qualm beim
kurzzeitigen Anpassen des glühenden Eisens an das Hufhorn nicht, doch
tapfer und artig stand er die Prozedur durch.
Jasmins Ehrgeiz war erwacht. Nach der wöchentlichen Springstunde saß
sie anschließend gerne mit anderen im Reiterstübchen, gelegentlich bis
kurz vor Mitternacht, wobei sich die Gespräche meistens um den
Pferdesport drehten. Nicht selten wurde dabei Alkoholisches konsumiert.
Da sie dadurch oft den Bus verpasste, die anderen wegen der Promille ihre
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Fahrzeuge klugerweise stehen ließen, wurden Taxis bestellt, die Fahrtkosten geteilt.
Manchmal wurde eine Reitkameradin, Dolores Tovar, von ihrem Vater,
einem renommierten Architekten mit spanischer Abstammung, abgeholt.
Jasmin durfte mitfahren, denn ihr Zuhause lag fast auf deren Strecke. Das
Angebot war allerdings beim ersten Mal nicht von Dolores ausgesprochen
worden, sondern von ihrem Vater, der einfach beim Abholen in die
fröhliche Runde gerufen hatte: „Muss jemand Richtung Innenstadt?“ Nur
Jasmin hatte gemusst.
Eigentlich waren die beiden Frauen sich nicht sympathisch, und ihre
Pferde mochten sich ebenfalls nicht. Begegneten sich Perljunge und
Laredo, ebenfalls ein Schimmel, der schon vierzehn war, so gifteten sie sich
mit flach angelegten Ohren an. Ursache? Nur die Pferde hätten Auskunft
geben können.
Dolores, 23-jährige Wuchtbrumme und oft in eine Parfümwolke gehüllt,
war ziemlich hochnäsig und grüßte nicht jeden. Sie hatte kein großes
reiterliches Talent, jedoch viel Ehrgeiz. Bisher war sie mit Laredo nicht
sehr erfolgreich in A-Springen gestartet. Zunehmend ließ sich der Wallach
schlechter verladen. Hatte er miese Laune oder einen Furz quer sitzen,
verweigerte er bereits am ersten Hindernis. In früheren Zeiten war Laredo
mit seinem Besitzer erfolgreich in L und M-Springen gestartet.
Heiko hatte den Wallach in Beritt, gab Dolores mit ihm auch
Einzelunterricht. Mit HH sprang der Wallach Häuser, allerdings nur im
heimatlichen Stall. Zuletzt hatte er auch Heiko auf einem L-Turnier dumm
aussehen lassen. Der Bursche wusste genau, dass er nur parken musste,
wenn er sich nicht mehr anstrengen wollte, denn Vergeltungsmaßnahmen
durften vor Publikum nicht stattfinden.
Da er zunehmend immer weniger mit Dolores über bunte Stangen
springen wollte, führte das dazu, dass sich die junge Frau mal wieder für
einen Pferdewechsel entschied. Ein letztes Mal wurde Laredo von ihr und
Heiko verladen, kam zurück zum Pferdehändler und wurde, wie bereits
andere Pferde vor ihm, in Zahlung gegeben.
Dolores studierte Medieninformatik, konnte sich dank großzügiger
finanzieller Mittel der Eltern teure, gut ausgebildete Pferde aussuchen, war
jedoch mit ihnen nicht oft auf siegreichen Hufen unterwegs. In diesem
Frühjahr hätte sie sich fast für einen prächtigen Reithengst mit reichlich
Siegen in M-Springen entschieden.
Heiko war wie stets zum Probereiten mit dabei. Als der Fuchshengst
nach dem Vorreiten auf der Stallgasse stand, wurde ein anderes Pferd, das
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einem weiteren Kunden gezeigt werden sollte, an ihnen vorbeigeführt. Der
Hengst trippelte auf der Stelle, fuhr seine ansehnliche Männlichkeit aus
und wieherte röhrend. Als er heftig über den Betonboden scharrte, sprangen kleine Funken unter dem Hufeisen zur Seite.
Boah nee, der Bursche war hengstig, das war nichts für Dolores.
Verschreckt wich sie zurück.
Heiko hätte den roten Macho gerne in Beritt genommen, hatte keine
Bedenken ihn zu händeln, doch er sagte: „Er ist schick und er kann was,
aber er müsste draußen in einer Einzelbox stehen, weil er auf der Stallgasse nerven würde. Nimm die Stute.“
„Er sieht so toll aus! Ich kann ihn kastrieren lassen.“ Dolores war von
der Optik des Hengstes sehr angetan.
„Er ist nicht mehr der Jüngste, schon elf. Die Kastration von älteren
Hengsten ist riskant. Je älter sie sind, umso problematischer ist die
Hormonumstellung. Es gab Hengste, die haben danach ihren Lebenswillen
verloren und sind gestorben. Manche Tierärzte kastrieren ältere Pferdemänner nicht, unser Tierarzt tut es nicht, das weiß ich ganz sicher.“
„Ich hatte vor ein paar Jahren eine Stute, da hast du noch nicht in
unserem Stall gearbeitet. Die war oft schlecht drauf. Manchmal hat sie sich
in die Seite gebissen, einfach so.“
„Mit Sicherheit nicht einfach so. Pferdemädchen haben einen regelmäßigen Eisprung, einen Zyklus. Manchen von ihnen geht es dann nicht
gut. Sie wissen nicht, was ihnen da im Bauch Schmerzen macht und beißen
schon mal danach. Hast du nie Probleme mit deiner Menstruation?“
„Manchmal. Trotzdem reite ich nicht gern auf Stuten.“
„Ich schon.“ Heiko zog sie an sich, kniff ihr in den Po, denn er war seit
einigen Monaten nicht mehr nur der Bereiter ihres jeweiligen Pferdes.
Leiden konnte er Dolores nicht, vögelte sie aber trotzdem.
Sie wartete, bis das Klugscheißergrinsen von seinem Gesicht verschwunden war, fragte dann: „Fahren wir nachher zum Italiener?“
„Erst wenn ich gefüttert und abgeschlossen habe. Der Chef ist bis
morgen Abend nicht da.“ Er zog sie zur Seite, denn der Pferdehändler kam
mit einem weiteren Pferd, das er ihnen vorstellen wollte, führte es Richtung Reithalle, wo es zuerst freilaufend präsentiert werden sollte.
„Ich habe heute noch nichts bestiegen“, flüsterte Dolores.
„Das solltest du nachholen“, raunte Heiko ihr ins Ohr und betrachtete
dabei die Beine des vor ihnen gehenden Wallachs, der mit einem
freundschaftlichen Klaps auf die Kruppe in die große Halle entlassen
wurde. Nochmals kniff er ihr in den Po und freute sich, dass er an diesem
Abend fürs Füttern zuständig war.
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Das seiner Ehefrau Ramona gegebene Versprechen - nie im Ehebett,
hielt HH stets ein. Sie war Flugbegleiterin bei der Lufthansa und oft
tagelang unterwegs. Um Aufdringlichkeit seitens seiner Affären vorzubeugen, schwindelte er manchmal: „Meine Frau ist eifersüchtig, wir
müssen vorsichtig sein.“
Der Reitlehrer machte es möglich, dass Jasmin mit Perljunge auf einem
etwas entlegeneren Turnier in einem A-Springen starten konnte. Er hatte
eine junge Trakehnerstute in einer Reitpferdeprüfung am Start und Jasmin
den zweiten Platz auf seinem Pferdeanhänger angeboten.
Mit der braunen My Maroon, deren Besitzerin eine kleine Hobbypferdezucht betrieb, gewann Heiko die Prüfung, während Jasmin im
Springen sechste wurde. Sie freute sich riesig, denn ihr Perli hatte den
Parcours fehlerfrei absolviert.
Jasmin war ihrem Lehrer und Transporteur dankbar, dass er sich nach
seinem Ritt, da noch genügend Zeit vorhanden war, ihrem Pferd gewidmet
hatte. Profimäßig ritt er auf dem Abreiteplatz die Aufregung aus Perljunge
heraus, machte einige Sprünge, die die Höhe der bevorstehenden
Anforderung deutlich überstiegen.
Als Jasmin den Schimmel übernahm, sagte er: „Ihr seid nicht auf der
Flucht. Konzentriere dich darauf, dein Pferd der Reihenfolge nach über die
Hindernisse zu reiten.“
Ja, sie turnten etwas ungelenk durch den Parcours, blieben aber
fehlerfrei. Mit einer goldenen und einer grünen Schleife am Innenspiegel
von Heikos Fahrzeug verließen sie nach der Siegerehrung des A-Springens
das Turniergeschehen, wobei Jasmin wiederholt registrierte, dass Perljunges Freund von vielen Leuten gegrüßt wurde.
Kurz nach der Auffahrt auf die Autobahn, Heiko spürte verstohlene
Seitenblicke seines Fahrgastes auf sich, unterbrach der Radiomoderator
die Musik für die Durchsage, dass sich der Verkehr auf ihrer Strecke wegen
eines Unfalls vier Kilometer staute.
„Ich fahre wieder runter, und wir machen einen kleinen Umweg übers
schöne Land“, bemerkte Heiko dazu.
„Besser als in der Sonne stehen.“ Jasmin lächelte ihn an.
Aus den Lautsprechern schwappte ein Oldie von Engelbert: Red roses
for my lady, danach folgte Jürgen Drews mit Ein Bett im Kornfeld.
Heiko Herzschuh war sich fast sicher, dass ein Anbaggern erfolgreich
verlaufen würde. Er hatte eine starke Libido, doch er konnte seinen
Schwanz auch im Zaum halten.
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Die Stallgasse wurde noch schwach von Sparlampen beleuchtet. Nur
gelegentliches Schnauben, leises Rascheln im Stroh.
Perljunge stand vor seinem Heuberg. An diesem Abend war die
Kraftfutterration größer ausgefallen, auch mehr Heu war ihm zuerkannt
worden. Und nicht wie meistens als gepresste Scheiben einfach vor die
Füße geworfen, sondern die Rippen aufgeschüttelt und nach hinten neben
seine Tränke geschoben. Ja, griffbereit neben seinen automatischen
Wasserspender, denn der Reitlehrer wusste, dass Perljunge gerne stippte –
eintunkte – sein Raufutter nass machte.
Heiko machte sich gerne die Mühe und schüttelte das Heu auf, weil ein
Berg duftendes Heu für seine Augen ansprechender aussah. Gleichzeitig
schaute er nach Fremdkörpern, doch die waren selten. Seit Jahren ließ sich
der Reitstallbesitzer von einem Futtermittelhändler beliefern, der eine
vorzügliche Qualität bot und trotz seiner weiten Anfahrt noch moderate
Preise verlangte.
Während des Fressens lauschte Perljunge dem Türenschlagen, dem
Abfahren von Fahrzeugen draußen. Als er leise Stimmen auf der Stallgasse
vernahm, trat er nach vorne, schaute neugierig mit gespitzten Ohren durch
die Gitterstäbe. Er erkannte Heiko, der sich mit einer Frau im rechten Arm
näherte, unter dem linken trug er eine blaue Pferdedecke.
Die beiden blieben stehen, küssten sich. Der Wallach beobachtete, wie
sie in die ihm gegenüberliegende Pferdebox schlüpften und die Tür hinter
sich zuschoben. Seit einigen Tagen stand kein Pferd mehr in der Box,
stapelten sich nur einige große Pakete Sägespäne darin.
„Du hast doch die Türen abgeschlossen?“ Dolores kicherte.
„Natürlich.“
„Was hast du vor?“
„Warts ab.“
Perljunge stellte sich näher ans Gitter und pillerte mit großen Augen
hinüber ins Halbdunkel der zweckentfremdeten Box, lauschte mit
gespitzten Ohren aufmerksam auf jedes Wort, jedes Geräusch. Er vergaß
seine langen Heuhalme weiterzukauen, die ihm seitlich aus dem Maul
hingen.
„Die Decke müffelt doch wohl nicht?“
„Nein, riech doch, die ist frisch gewaschen.“
Heiko wickelte Dolores mit dem Oberkörper in die Pferdedecke ein, das
konnte der vierbeinige Voyeur auf der anderen Seite erkennen. Das
Darunter verbarg die hölzerne Boxenwand.
„Der Reißverschluss klemmt“, flüsterte er.
„Mach ihn nicht kaputt, die Hose ist neu.“
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„Du hast doch genug … So, dreh dich um … Beug dich vor … „
„Das Plastik ist kalt, du hättest noch eine Decke mitnehmen sollen“,
beschwerte sich Dolores.
„Hab ich extra weggelassen, damit du mir nicht zu heiß wirst“, redete
sich Heiko heraus, fragte amüsiert: „Ist es dir so recht, Madam?“
„Ja, das gefällt mir, mach weiter so.“
Perljunge konnte nicht erkennen, was der Frau gefiel, denn sie war
nicht mehr zu sehen, nur des Reitlehrers Oberkörper wurde ihm noch
präsentiert. Ein merkwürdiges, leises Stöhnen der Frau ließen ihn den
Kopf schief legen.
Heiko: „Gut so?“
Dolores: „Super.“
In den Boxen neben den beiden agierenden Zweibeinern war deren
Treiben nur kurz registriert worden, dann hatte sich das eine Pferd wieder
seinem Futter zugewandt, das andere sich nach einem kräftigen Furz
niedergelegt. Nur Perljunge schien nach wie vor an den menschlichen
Vorgängen interessiert zu sein. Er schrak zusammen, als die Frau aufstöhnte und bat: „Ja, das ist toll … oh ja, … ja, mach weiter so … Nein, nicht
aufhören … Bitte! ...“
„Rutsch weiter nach vorne“, verlangte Heiko .
„Das geht nicht, dann falle ich rüber.“
„Ich halt dich fest … Mach die Beine weiter auseinander.“
„Ich kann nicht, du musst mir die Hose richtig ausziehen“, kicherte sie.
Heikos Oberkörper tauchte nach unten ab, unverständliche Worte
waren zu hören, dann wieder das Kichern der Frau und ihre Beschwerde:
„Jetzt krieg ich kalte Füße, zieh mir die Schuhe wieder an.“
„Nein, ich steh auf Frauen mit kalten Füßen.“ Heikos Oberkörper
tauchte hinter den Gitterstäben wieder auf.
Ein lautes Schnauben Perljunges ließ HH zum Pferd schauen, und es
kam dem Mann so vor, als hätte ihm der Schimmel mit seinem rechten
Auge zugezwinkert. Als er noch einmal schnaubte und den Blick nicht
abwendete, grinste Heiko und widmete sich seinem weiteren Vergnügen.
Wenig später konstatierte Perljunge, dass sich des Reitlehrers
Oberkörper mehr bewegte, rhythmisch irgendwie, schneller werdend. Er
vergaß fast zu blinzeln, damit er nichts verpasste.
„Darf es für die Dame noch ein Stückchen mehr sein?“
„Ja, komm tiefer.“ Und nach einigen Sekunden: „Noch tiefer.“
Während der Herr mit fortschreitender Zeit nur leise Schnaufer von sich
gab, begann die unsichtbare Dame mit steigender Frequenz zu stöhnen.
Plötzlich schrie sie kurz auf – verstummte. Sekunden später drang aus
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Heikos Kehle ein leiser gutturaler Laut. Er warf den Kopf in den Nacken,
schien etwas in die Höhe zu wachsen. Zitternd stand er da, sackte dann aus
Perljunges Sichtfeld nach unten weg.
Es dauerte einige Momente, dann war der halbe Mann wieder zu sehen
und – nanu! – auch die Frau war wieder da.
„Die Durchblutung hat sogar für meine Füße ausgereicht, sie sind gar
nicht kalt“, sagte Dolores, als sie sich wieder herrichtete. Sie schwatzte
noch Belangloses vor sich hin, bekam von Heiko aber keine Aufmerksamkeit mehr. Er war zufrieden und satt, wollte nach Hause.
Als sie die Pferdebox verließen, blieb die Tür offen stehen. HH kehrte
nach einigen Schritten wieder um, denn er hatte die blaue Pferdedecke
vergessen. Noch immer stand Perljunge vorne am Gitter, kaute die vergessenen Heuhalme zu Ende.
Dolores war schon einige Schritte entfernt, hörte nicht, dass Heiko zum
Schimmel raunte: „Gleich kann ich Zuhause wunderbar einschlafen.“
Nicht nur der Duft seines Rasierwassers, es verströmte einen Hauch von
Sandelholz, verriet allen Pferden an einem Samstagmorgen gegen halb
sechs, dass das Frühstück größer ausfallen würde.
Fröhlich vor sich hin pfeifend, schob HH den Futterwagen vor sich her,
verteilte mit der Schaufel rechts und links großzügig Walzhafer und Pellets.
Die Maßangaben der Futterrationen, mit Kreide auf den Boxentüren von
den Pferdebesitzern festgelegt, ignorierte er mehrmals.
Einige Pferde klopften in freudiger Erwartungshaltung mit den Hufen
gegen die Holzwände. Limerick biss in einen Gitterstab, rüttelte an der
Trennwand zum Nachbarn. Perljunge fand das wie immer nervig und
giftete den Wallach mit angelegten Ohren an. Doch dann, guck, da war sie
schon, die Schaufel, und ließ ihre leckere Ladung durch die Gitteröffnung in
den Trog fallen.
Mit Appetit machte sich auch Perljunge über sein Frühstück her. Er
kaute genüsslich und beobachtete dabei, wie der Reitlehrer zwei Boxen
weiter dem Wallach Sterntaler nicht nur Kraftfutter, sondern noch etwas
Zusätzliches aus einer kleinen Dose über die Morgenmahlzeit streute.
Anschließend verschwand die Dose wieder in seiner Jackentasche.
Sterntaler hatte seit gestern Abend eine eingeflochtene Mähne. Noch zu
später Stunde war seine Besitzerin im Stall erschienen, um das zu erledigen, da sie heute in einem L-Springen starten würde. Sterntaler verputzte
die Zugabe, ein gelbes Granulat, unbeeindruckt samt Hafer und Pellets.
Das kleine Granulat, von Insidern Mäusezähnchen genannt, war das
Sedativum Vetranquil, das bei Tierärzten gekauft werden kann. Es wird
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mehr oder weniger zur Beruhigung vor Stresssituationen eingesetzt. Seine
Wirkung beginnt nach etwa einer Stunde, hält einige Stunden an. Bei hoher
Gabe kommt das (Doping) Mittel einer Sedierung gleich. Vereinzelte
Pferdehändler manipulieren damit gerne mal „feurige“ Rösser, und eine
perfekt berechnete Dosis kann einem Turnierpferd zum Sieg verhelfen. Auf
kleineren Turnieren sind Dopingkontrollen seltener als auf großen, so dass
die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung gering ist.
Mancher Pferdebesitzer lässt seinem Tier keine vernünftige Erziehung
zukommen, was beim Hufschmied oder beim Verladen auffällig werden
kann. Dann wird gelegentlich mit entsprechender Futtermittelzugabe
nachgeholfen.
Heikos Manipulation war in den folgenden Stunden nicht sehr auffällig,
aber effektiv.
Maja Ritter wunderte sich, weil Sterntaler auf der Fahrt zum Turnier
kaum ungeduldig mit den Hufen auf den Boden des Transporters klopfte.
Als sie nach Dolores, dieser hochnäsigen Zicke, und ihrer neuen Stute
Alpenvenus startete, wunderte sie sich, dass Sterntaler gleich beim ersten
Sprung die oberste Stange mitnahm. Sie brachte mit ihm den Parcours
ohne weitere Fehler zu Ende, wenn auch ziemlich verhalten, was so gar
nicht des Wallachs Manier war. Normalerweise war es so, als wolle er die
Prüfungen schnell hinter sich bringen, um in den Genuss von Leckerlis zu
kommen, sowie die Heimreise antreten zu können.
An diesem Vormittag konnten sie schnell wieder abreisen, denn eine
Platzierung gab es nicht. Zu ihrem Vater, der sie stets zu den Turnieren
chauffierte, sagte die 17-jährige Maja: „Vielleicht wäre ich gestern besser
nicht ausgeritten.“
„Wenn das Wetter schön ist, reitet ihr doch immer am Tag vor einem
Turnier aus.“ Herr Ritter gab Sterntaler vor dem Aufladen noch eine Möhre
aus der schon fast leeren Tüte.
Unterwegs tröstete der Papa beim Anblick des schleifenlosen Innenspiegels sein Kind mit: „Nächstes Mal klappt es bestimmt wieder besser.“
„Hoffentlich! Ich ärgere mich nur, weil die fette Kuh so gut war. Die war
noch nie besser als ich!“
„Fette Kuh? Dolores? Aber die ist doch nicht fett.“
„Nee, für Männer ist die nicht fett, nur gut genährt. Wenn der Herzschuh, dieser Schmalspurcasanova, nicht ihre Pferde trainieren würde,
hätte die mit Sicherheit keinen Erfolg, nicht mal in E.“
„Neid macht hässlich. Du kannst stolz darauf sein, dass deine Erfolge
selbst erarbeitet sind.“
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Maja sonnte sich gerne in der oft mit Neid gespickten Bewunderung
weiblicher Reitkolleginnen. „Ob die sich rasiert?“, sinnierte sie.
„Wie bitte?“
„Die hat auf dem Kopf so viele Haare, da wird die doch unten auch
ziemlich buschig sein.“
„Solche Themen sollten nicht zwischen Vater und Tochter erörtert
werden.“
„Warum nicht? Frauen sollten mit Männern über alles reden können.
Du hättest mal sehen sollen, wie sie neulich an der Bande stand und
geglotzt hat, als ich Zweiergaloppwechsel geübt habe. Die ist nur neidisch,
weil ich mit meinem Billigpferd, dem ausrangierten Traber, erfolgreicher
auf Turnieren bin als sie mit ihren teuren Gäulen. Ich kann besser reiten als
sie und mir sogar mein Pferd selbst ausbilden.“
Maja schaute ihren Vater von der Seite an. „Mir hängen die dummen
Sprüche zum Hals raus: Kann der überhaupt galoppieren? Der kann doch
bestimmt nur im Kreis laufen. Kannst du den halten, wenn er losrennt?“
Sie schnaufte abfällig. „Weißt du, Papa, die miesesten Reiter sind oft die,
die ständig andere kritisieren!“
Herr Ritter schwieg und konzentrierte sich auf den wenigen Verkehr.
„Warst du schon mal in einem Puff?“
„Also wirklich! Maja!“
„Statistisch gesehen soll jeder zehnte Mann regelmäßig ins Bordell
gehen, habe ich in der Zeitung gele…“
„Seit wann liest du Zeitungen?“, unterbrach er seine Tochter.
„In letzter Zeit häufiger, ich werde älter.“
Schweigen.
„Also? Warst du? Dabei fällt mir ein, dass in der Bibel steht: Du sollst
nicht lügen.“
„Kürzlich wurde das vor Jahrhunderten gestrichene 11. Gebot wieder
hinzugefügt.“
„Welches?“
„Du sollst nicht neugierig sein.“
„Frauen mögen es, wenn sie mit Männern über alles reden können.“
„Männer mögen es, wenn sie mit Frauen nicht über alles reden müssen.“
„Würdest du eine Hure verteidigen, die einen Freier umgebracht hat?“
„In den meisten Fällen ist es umgekehrt, aber in einem solchen Fall
würde ich das vielleicht tun, obwohl ich, wie dir bekannt ist, auf Wirtschaftsrecht spezialisiert bin.“
„Was ist krimineller – eine Bank zu eröffnen oder eine zu überfallen?“
„Maja, bitte!“ Er warf ihr einen kurzen, durchdringenden Seitenblick zu,
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fragte: „Wollen wir heute Abend mit Mama zur Geburtstagsfeier von
Martin? Sebastian ist da, hat sie mir gesagt.“
„Sebastian ist wieder da?“ Majas Gesicht hellte sich bei dieser
Mitteilung auf, denn den Sohn vom Sozietätspartner ihres Vaters konnte
sie schon seit Jahren gut leiden. Außerdem war sie in einem Alter, wo
gewisse Hormone einen immer größeren Einfluss auf ihr Verhalten
nahmen.
„Ich habe nichts anzuziehen“, tat sie kund.
Mit einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett sprach der liebende
Vater: „Die Läden haben noch ein paar Stunden auf.“
„Ich habe neulich ein tolles Kleid bei Monami gesehen.“
„Monami?“
„Die neue Boutique gegenüber vom Optiker. Aber ich hätte dazu keine
Schuhe.“
Natürlich nicht, dachte Herr Ritter und grinste, schlug mit sparsamen
Hintergedanken vor: „Meine Frau – deine Mutter, könnte dir bestimmt
welche leihen.“
„Ich hätte gerne eigene.“
Es begann zu regnen. Große Tropfen prasselten nieder, trommelten auf
die Straße und das Fahrzeug. Der Scheibenwischer wurde eingeschaltet,
zog mit einem Wick ... Wack ... Wick … über die feuchte Frontscheibe.
Schweigend fuhren sie weiter Richtung Heimatstall. Kurz vor der
Ankunft bekamen sie zu hören, wie Sterntaler im Pferdeanhänger
ungeduldig mit dem Huf auf den Boden klopfte. Die Mäusezähnchen hatten
an Wirkung verloren.
Einige Tage nach Dolores´ etwas erfolgreicherer Turnierteilnahme. Für sie
waren Pferde nur Sportgeräte. Mit Alpenvenus hatte sie den dritten Platz
belegt, eine weiße Schleife und etwas Preisgeld erhalten.
Das Geld war für die verwöhnte Tochter unwichtig, aber eine weiße
Schleife ging zur Not noch. Dass ein gutes Pferd einen guten Reiter, bzw.
eine gute Reiterin braucht, war ihr bewusst.
Nach ihrer Dressureinzelstunde bei HH schlenderte sie neben ihm über
die nur noch schwach beleuchtete Stallgasse, interessierte sich nicht für
die Pferde, auf die der Reitlehrer jeweils noch einen Blick warf um
festzustellen, dass alle Tiere für die Nacht gut versorgt waren.
„Du musst dressurmäßig mehr tun, musst gefühlvoller reiten, sonst
wird das auch mit Alpenvenus nichts“, hörte Perljunge den Reitlehrer
sprechen, verstand jedoch den Sinn der Worte nicht.
„Alpi legt sich so aufs Gebiss, da tun mir die Arme weh“, klagte Dolores.
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„Wir können mal ein anderes Gebiss ausprobieren, vielleicht ein
Pelham.“
„Damals hatten wir für Lovejoy doch auch ein Pelham. Der hat oft so
abartig den Kopf hochgerissen.“
„Bei mir nicht. Du hast eine harte Hand, und das nicht nur, wenn du
Zügel darin hast.“
„Was soll das denn heißen?“
Das Paar stand gegenüber Perljunge vor der offenen Pferdebox, in der
noch immer einige Pakete mit Sägespänen lagerten. HH forderte: „Los, geh
rein und setz dich, du brauchst Nachhilfe.“
Perljunge trat, wie beim Stelldichein der beiden einige Wochen zuvor,
nah an die Gitterstäbe, beobachtete gespannt die weiteren Vorgänge.
Nach nochmaligem aufforderndem Nicken Heikos zu den Spänepaketen, kam Dolores mit etwas grimmigem Gesichtsausdruck dem nach.
Perljunge konnte nicht viel erkennen, obwohl die Schiebetür nicht
zugezogen wurde. Allerdings verschwand die Frau fast vor dem Mann, der
sich vor sie stellte und aufforderte: „Fang an – und bitte mit Gefühl, ich
mach es bei dir doch auch mit Gefühl, oder etwa nicht?“
„Bist du so scharf? Willst du nicht erst bei mir?“
„Ich möchte heute gar nichts bei dir, heute bist nur du dran.“
„Warum?“
„Weil du die Wette verloren hast und ich nun darauf bestehe, dass du
sie einlöst. Ich habe gesagt, dass du mit Alpenvenus platziert wirst, und so
war´s. Fang an, ich möchte nach Hause.“ Es folgte ein ungeduldiges Fingerschnippen.
Perljunge schaute zu, wie die Frau ihre Hände hob, dem Mann vor sich
über die Hüften strich, über seinen unter einer Jeans verborgenen Hintern
glitt. Der Reitlehrer stellte sich etwas breitbeiniger in Position, wartete mit
dem neugierigen Schimmel hinter seinem Rücken ebenfalls ab, was nun
geschah.
Schnell schnappte sich Perljunge einige Heuhalme, beobachtete
während des Kauens die weiteren menschlichen Vorgänge, obwohl wenig
zu sehen war, mehr zu hören, aber Worte, die er nicht verstand.
„Er riecht nach Seife.“
„Ich wasche mich auch da immer mit Seife.“
Ein Pferd am Ende der Stallgasse wälzte sich, kam dabei polternd mit
den Hufen an die Boxenwand.
„Langsamer und nicht so fest! … Leck ihn … Nicht nur oben … Ja, so ist
gut … Jetzt in den Mund … Richtig so … Tiefer.“
„Er ist nicht klein, mein Mund ist nicht so groß. Ich kann´s nicht besser.“
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„Du kannst deine Klappe sonst auch ziemlich weit aufmachen, streng
dich mal an. Übung macht auch darin den Meister … äh, die Meisterin.“
„Ich mag so was eigentlich nicht.“
„Tu es trotzdem ... Nimm ihn mehr auf, so wird das nichts ... Du bist
doch keine Vegetarierin, nimmst sonst auch gerne Fleisch in den Mund.
Meins lebt Gott sei Dank noch.“
Kurzes Schweigen beider Zweibeiner. HH verschränkte die Hände
hinter dem Kopf, schaute nach unten, wie Perljunge erkennen konnte.
„Tut deine Frau so was gerne?“
„Wir machen hier kein Frage- und Antwortspiel!“
Traber Mebec schnaubte, schickte einen kräftigen Furz auf die Reise,
dem Limerick mit einem ähnlichen Pupser antwortete. Perljunge
schnappte sich einen Happen Heu, kaute wie gedankenverloren, jedoch mit
gespitzten Ohren das spätabendliche Schauspiel weiterhin verfolgend.
„Nimm ihn tiefer in den Mund ... Deine Zähne will ich nicht spüren! … Ja,
so ist besser ... Saug stärker ... Lass ihn nicht rausflutschen … Ja, so ist schön
… Und den Einsatz der Zunge nicht vergessen …“
Nach einigen Minuten nahm HH seine Hände herunter, legte sie
vermutlich um Dolores´ Kopf, das ließ sich für Perljunge nicht erkennen. Er
konnte jedoch beobachten, dass seine Hüften leicht vor und zurück zu
schwingen begannen.
„Halt jetzt still … Doch, du hältst still, sonst kannst du dir ab sofort
einen neuen Bereiter für dich und dein Pferd suchen!“, kam es leise
drohend mit erregter Stimme vom Pferdeausbilder.
Die Hände der Frau legten sich auf seine Hüften, schienen ihn wegdrängen zu wollen. Ein verhaltener Laut war zu vernehmen. Plötzlich hielt
er inne, keuchte langanhaltend tief auf.
Das Licht ging aus.
„Scheiße, was ist das denn jetzt!“, fluchte er.
„Ein Kurzschluss?“
„Hatten wir gestern zweimal, so dass ich dachte, ich muss den Hafer mit
der Hand mahlen.“
„Hast du eine Taschenlampe?“
„Der hast du gerade die Batterien leer gesaugt.“
Die Pferde wurden durch die plötzliche Dunkelheit nicht gestört, sie
fanden auch ohne Licht ihr Heu, lauschten aber den Schritten der Zweibeiner, die sich zum Ausgang vortasteten.
„Lass mich vorgehen, da steht irgendwo der Futterwa…“
„Aua! Hättest du das nicht vorher sagen können?!“
Der Reitlehrer lachte auf, sprach belehrend: „Du musst noch viel lernen,
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vor allem, dass es manchmal besser ist, sich nicht vorzudrängeln.“
„Gehen wir Mittwochabend zusammen ins Kino?“
„Nein, meine Frau hat ein paar freie Tage.“
Es war der Eigentümer des Reitstalls, der das Licht von draußen
gelöscht hatte. Im Zuge allgemeiner Kostenerhöhungen waren nun auch
bei ihm Sparmaßnahmen angesagt, und ab 23 Uhr wurde die gesamte
Beleuchtung ausgeschaltet.
Daheim stieg HH unter die Dusche, drehte die Hähne auf und ließ sich das
warme Wasser über den Kopf laufen, leerte ihn langsam von Gefühlen und
Emotionen des Tages.
Mit dem Elektrorasierer entfernte er anschließend die Abendschatten
aus seinem Gesicht, putzte sich die Zähne, kämmte das Haar. Er war
erfrischt, als er vorsichtig ins Bett kroch, seine Frau wurde davon nicht
wach.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, fragte Ramona: „Und?“
„Hm?“
„Gestern Abend?“
„Wie ich schon mal sagte – genauso untalentiert wie auf´m Pferd. Nur
ihr Stöhnen beim Vögeln könnte sie vielleicht als Klingelton verkaufen.“
Heiko Herzschuhs Ehe fand auf einer ungewöhnlichen Ebene statt. Nur
gelegentlich interessierte sich Ramona für seine Affären, aber es erregte
sie zu wissen, dass andere Frauen scharf auf ihn waren, sie jedoch die
Flamme in seinem Herzen war, sozusagen sein ewiges Licht.
Etwas später widmete er sich ihr ausgiebig, machte schönen Sex, nein,
er machte richtig schön Liebe mit ihr. Ramonas Blicke, aus der wirkliche
Hingabe leuchtete, sagten ihm mehr als tausend Worte.
Bevor er zur Arbeit fuhr, sie blieb noch im Bett, bestäubte er den
Küchentisch mit Puderzucker und schrieb mit der Zeigefingerspitze hinein:
Ich liebe dich !
Ein zweites Mal verhalf HH Dolores durch Manipulation eines Pferdes
nicht zu einem eventuell besseren Turnierergebnis. Als ihr einige Wochen
später der Führerschein entzogen wurde – wegen zu vieler Punkte in
Flensburg, lehnte er es stets ab, sie nach Hause zu bringen, auch wenn sie
aufgesetzt freundlich darum bat. Ihm ging es nur um gelegentlichen Spaß
und Entspannung.
Ramona war nicht eifersüchtig, das war mit ein Grund, warum er sie
liebte. Er brauchte eine lange Leine, und sie brauchte das Wissen, dass der
Pflock am Ende der Leine bei ihr verankert war.
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Ende der Leseprobe von:
Perljunge, Pferde, Menschen
Katharina Sperberg
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