Barmherzigkeit als gebärender Vorgang Papst Franziskus kündigte das Jahr der Barmherzigkeit als eine Gnadenzeit für alle Menschen an. Menschen auf allen Kontinenten sollen die Barmherzigkeit Gottes dadurch erfahren, dass sie selbst barmherzig miteinander und mit der Natur umgehen. Wir könnten uns in dieser Fastenzeit auf das Wesen und die Konsequenzen der Barmherzigkeit besinnen. „Die österliche Bußzeit soll in diesem Jubiläumsjahr noch stärker gelebt werden als eine besondere Zeit, in der es gilt, die Barmherzigkeit Gottes zu feiern und zu erfahren“, schrieb Papst Franziskus in seinem Ankündigungsschreiben. Barmherzigkeit ist nicht etwas, das wir erzeugen, sondern etwas, das wir empfangen. Es geht nicht um eine Leistung, die wir erbringen, sondern um eine Gnade, die wir in uns und um uns zulassen dürfen. Das deutsche Wort Barmherzigkeit weist auf eine Herzensqualität hin. Das lateinische Wort misericordia bezieht sich auf das Herz, cor. Das Sanskrit-Wort daya beinhaltet ebenfalls einen Bezug auf das Herz, da. Das Herz ist de sakrale Kernbereich des Menschen, der göttliche Raum, in dem wir unser wahres Selbst erkennen und die innewohnende göttliche Gegenwart erfahren. Barmherzigkeit ist ein Liebesstrom, der aus der göttlichen Quelle strömt und durch unser Herz fließt. „Die Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5) Wenn wir die göttliche Zuwendung im Herzensraum wahrnehmen und uns aus dieser Wahrnehmung dem Leidenden zuwenden, dann fließt eine göttliche Liebesenergie durch uns, die heilend wirkt. Wenn etwa ein aus der Heimat vertriebener Mensch freundlich aufgenommen wird, erfährt er eine Geborgenheit im Göttlichen. Wenn eine Krankenschwester barmherzig mit einem Patienten umgeht, erfährt er spürbar die heilende Nähe Gottes. So gebiert sie Gott in seinem Leben. Durch Barmherzigkeit „gebären wir Gottes Gegenwart im Leben des anderen“, wie beispielsweise die Kirchenväter Origenes, Gregor von Nyssa und Augustinus betonen. Als Reben am göttlichen Weinstock sind wir gleichzeitig von Gott Geborene und Gott Gebärende. Durch Barmherzigkeit erkennen wir, dass wir nicht bloß Kinder Gottes sind, sondern auch Mütter Gottes. „Ich gebäre den, von dem ich geboren bin“, sagte der Mystiker Meister Eckhart. Barmherzigkeit ist ein gebärender Vorgang. Das hebräische Wort für Barmherzigkeit ist rahamim, das bedeutet: die zärtliche Liebe, die vom Mutterschoß zum Kind fließt. Gottes Bundestreue, hesed, haben die Israeliten als mütterliche Zuwendung erfahren. Gottes Barmherzigkeit gebiert alles zum Neuen, und durch unsere Barmherzigkeit werden wir Kanäle des gebärenden, gestaltenden, göttlichen Stroms. Durch die Barmherzigkeit lassen wir dem Geist in uns und um uns Raum. Im Herzensraum bleiben wir ständig achtsam für die Bewegungen des Geistes, die uns aus der vom Gesetz geprägten Religiosität befreien und die Türen des Herzens weit öffnen. Sebastian Painadath Quelle Christ in der Gegenwart, 14.02.2016
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