Porträt (Miles!) - Sommer 2015

INTERVIEW
mit NICO SEMSROTT
IT MIGHT GET
MOODY
FOTO©ANDREAS HOPFGARTEN
Von Maria Kaule
mit großer Unterstützung
von Lisa Dammann
Wer ist Nico Semsrott eigentlich? Manche sagen Poetryslammer oder Kabarettist.
Nico Semsrott war Poetryslammer. Trat ab 2007 auf allerlei Bühnen Deutschlands auf und
gewann den einen oder anderen Preis. Aber das ist jetzt vorbei.
Seit Jahren steht er mit seiner Rolle alleine auf der Bühne. Bekommt keine Punkte mehr vom
Publikum, sondern hat seine eigene Fanbase und erntet dafür großen Applaus.
Er tourt von Stadt zu Stadt und zeigt uns anhand einer Power-Point-Präsentation „Freude
ist nur ein Mangel an Information“ was er alles so in und von der Welt mitbekommt.
Bis es jedoch dazu kam, ist mehr im Leben des Künstlers passiert, als slammen. In der
Schulzeit gelangweilt, gründete er eine Schülerzeitung, die verboten wurde. Für Nico
Semsrott kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Er setzte sich ein für Zivilcourage.
Später verklagt er die Universität, weil er nicht angenommen wird, gewinnt und studiert –
bis er das Studium nach ein paar Wochen abbricht. Das alles tut er und merkt dabei etwas –
er ist traurig!
Mittlerweile verdient er sich seine Brötchen mit dem, was er kann und machen mag. Die
Rolle, die er verkörpert, zieht überall Menschen an. Dabei ist das Spektrum an Publikum
breit gefächert. Nico Semsrott sorgt auf der Bühne dafür, dass du viel lernst. Dabei achtet
er ausgewogen darauf, die Zuschauer nicht zu überanstrengen; bringt Akzente der Entspannung ein, bei dem kein Auge trocken bleibt. So viel Leichtigkeit und so viel Ernsthatigkeit
zusammen auf der Bühne – das ist Nico Semsrott.
H
amburg. Wir trefen Nico
Semsrott zum Interview. Die Sonne scheint,
es weht eine leichte Brise, nur wenige Wolken
durchbrechen hin und wieder die direkten Strahlen der Sonne. Wahrscheinlich
nicht so schlimm, der Tag steht eh unter
dem Motto „no fun, no fun.“ Gespannt
erwarten wir den Mann, der auf der Bühne, umhüllt von seinem Kapuzenpulli und bedrängt vom Scheinwerferlicht,
die Gedankenwelt seiner depressiven Figur mit dem Publikum teilt und damit
alle zum Lachen bringt. Endlich ist es soweit. Wir werden von Nico Semsrott in einem Cafe begrüßt und zu einem kleinen
Vorab-Plausch eingeladen. Zum Interview
begeben wir uns im Anschluss auf eine
Kirchenbank. Im Hintergrund tragen
zwei Hunde mit lautem Gebell eine Meinungsverschiedenheit aus; wohl einfach
ein Hundeleben in Norddeutschland. Die
Containerschife machen mit ihren imposanten Nebelhörnern auf sich aufmerksam. Ein lebendiges Ambiente, in dem
wir uns beinden. Alles um uns herum ist
in Bewegung. Und wir in der Mitte. Wir
führen ein Interview über eines der größten hemen der heutigen Tage mit jemandem, der so viel Wahrheit so konkret auf
den Punkt bringen kann. Dabei vergisst
er eines nie – den Humor.
Nico, Du bist am 11.März 1989 zum
Super GAU Fukushima und Tschernobyl
(1989) geboren. Ist Dir das durch Zufall
aufgefallen?
Naja, am 11.März habe ich ja immer mitbekommen, was passiert ist. Wie an jedem
anderen Tag, schaue ich Nachrichten und
lese die immer. Und da ist mir aufgefallen: Ah, heute ist mein Geburtstag, heute ist der Amoklauf von Winnenden, heute ist mein Geburtstag, heute sind die Anschläge von Madrid. Und dass in meinem
Geburtsjahr Tschernobyl war, das wusste ich auch. Es war relativ naheliegend zu
sagen, mein Geburtsdatum ist die Kombination von zwei Super GAUs.
Du hast verschiedene Lebensmotti wie
„Beginne den Tag mit einem Lächeln,
dann hast Du es hinter Dir.“ Was ist
Dein Favorit? Was wäre sozusagen Dein
Wandtattoo?
Vermutlich doch „Die Hofnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.“ Weil eigentlich ja alles darum geht: Versucht man es nochmal? Gibt es Hofnung? Bin ich motiviert,
das noch auszuprobieren oder ist eh alles
hofnungslos? Ich inde das Leben sinnlos,
aber es muss sich nicht so anfühlen. Ich
glaube, das ist die ganze Ambivalenz, die
ich sehe im Leben. Für mich geht es dar35
um, eine Interpretation zu inden, mit der
ich klar komme. Und das steckt in dem
Satz drin. In „Die Hofnung stirbt zuletzt,
aber sie stirbt“ ist alles drin, was mich am
Leben erhält und über all den Schmerz,
den ich habe und den ich spüre, lachen
lässt.
2006 hast du die Ministiftung
gegründet und den Preis für
Zivilcourage bekommen. War das dafür?
Nein, das war noch für die verbotene
Schülerzeitung, die ich gemacht habe. Ich
habe eine verbotene Schülerzeitung auf
einem katholischen Gymnasium in Hamburg gemacht. Verboten wurde die Schülerzeitung deshalb, weil wir keinen Beratungslehrer als Zensor akzeptieren wollten. Es gab eine Schulleiterin, eine Nonne
vom Sacré-Coeur-Orden. Sie sagte: „Ihr
dürt eine Schülerzeitung gründen, aber
nur wenn ein Lehrer vorher alle Artikel vorher durchguckt. Ich vertraue Euch
nicht.“
Und wir haben gesagt „Nö, das
akzeptieren wir nicht, das ist doch
Quatsch! Es gilt Meinungsfreiheit.“ Was
war die Konsequenz?
Nichts. Sie hat das durchgelesen und
meinte: „Ja, war doch kein Problem. Aber
es geht jetzt ums Prinzip. Ich erlaube das
einfach nicht so.“
Der Streit ging dann immer weiter. Irgendwann hat sie dann gemerkt, dass die
Zeitungen im SV-Büro, also im Büro der
Schülervertretung, lagern. Ich habe dann
nach einer alternativen Lagerstätte gesucht und bin an einem Dixi-Klo vorbeigefahren. Dann ist mir aufgefallen,
das wäre die perfekte Lagerstätte für die
Schülerzeitung. Und dann haben wir die
dritte und letzte Ausgabe vor der Schule verkaut aus dem Dixi-Klo heraus unter
dem Motto: Schülerzeitungsverbot – da
scheißen wir drauf!
Es ist die gleichzeitige Erzählung
von „Du darfst es nicht
vermasseln, denn wenn Du es
vermasselst, steigst Du ab!“, und
die gleichzeitige Erzählung „Du
hast alle Möglichkeiten!“
Das ist ein doppelter Druck!
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FOTO©ANDREAS HOPFGARTEN
Das ist eine Herausforderung
gewesen einfach zu sagen:
„Ich bin auch so okay, ich bin
auch ohne diese Komikerrolle
okay. Ich muss nicht immer
diesen Komiker spielen.“
3sat hat über dich gesagt: „In seinen
sprachlichen Höhenflügen kommt
sein Witz zur vollen Entfaltung. Seine
Sichtweisen sind nie flach, sondern
unterfüttert von tiefer Ironie. So
werden die Krise zur Chance und die
Depression zu einem Wachstumsmarkt.
Es gilt für die Aufrechterhaltung der
Miesepetrigkeit zu kämpfen.“ Was
denkst du darüber?
Ich mache das, was ich tue, dieses Demotivieren und Schlechte-Laune-Verbreiten
deshalb, weil ich einen Perspektivwechsel
möchte. Mich nervt die Alternativlosigkeit, die ich in dieser neoliberalen Erzählung sehe. Wichtig ist es auf Platz Eins zu
kommen, wichtig ist es zu funktionieren,
wichtig ist es Leistung zu bringen und jeden einzelnen darüber so unter Druck zu
setzen, dass manchmal einfach Traurigkeit die natürliche Folge ist. Da ist es mir
ein Anliegen, das ganze zumindest mal
umzudrehen, um zu merken, es könnte
vielleicht anders gehen. Meine Idee ist es,
dass das Leben so viel mehr ausmacht, als
im Beruf zu funktionieren und Leistung
zu bringen. Es ist mein Anliegen, diese Schiene zu nehmen und quasi aus dem
Motivationstrainer einen Demotivationstrainer zu machen, um zu zeigen: Hey
Leute, hört mehr darauf, was Ihr eigentlich selbst wollt, wonach Ihr Euch sehnt,
was Eure Bedürfnisse sind! Ich möchte
quasi über diesen Bruch hin motivieren
oder gedanklich Anstöße geben.
Wenn man sich ein wenig mit Deiner
Rolle oder mit Dir beschäftigt, dann
berichten viele von dieser Rolle und
dem Niedermachen, der Depression
und dem Witz. Und dann gibt es
wiederum welche, die dahinter gucken
und verstehen, dass das, was Du sagst,
nicht nur dafür da ist, Publikum zu
belustigen.
Das ist etwas, bei dem ich immer interessiert zugucke: „Ah, das sind also die unterschiedlichen Reaktionen, die das hervorrut.“ Ich kann nur dieses Angebot
machen und merke, dass fast jeder Zuschauer seinen eigenen Schluss zieht. Ich
inde das faszinierend, dass diese Figur
so viel auslösen kann und dass die Belustigung gleichzeitig Betrofenheit auslösen kann und Leute zu mir kommen und
sagen: „Glaubst Du das Publikum hat
Dich überhaupt verstanden?“ Ich glaube: Ja! Es trit viel mehr Leute, als es im
ersten Moment scheint. Nur weil sie lachen, heißt das nicht, dass sie nur glücklich sind. Und nur weil sie betrofen wirken, heißt das nicht, dass sie sich auch
darüber freuen. Ich hab das Gefühl, da
ist einfach sehr viel an Reaktionen möglich und ich habe darauf gar keinen so
großen Einluss. Eine interessante Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass es
auf mehreren Ebenen funktioniert. Man
kann einfach nur Mitgefühl haben mit
diesem traurigen Klops da auf der Bühne, und gleichzeitig können auch andere etwas mit den Inhalten anfangen.
Tatsächlich funktioniert das auf unterschiedlichen Ebenen, habe ich festgestellt.
Gibt es eigentlich auch Leute, die
hinterher zu Dir kommen und sagen:
„Das ist unter aller Sau, was Du hier
machst!“ Menschen, die mit Deiner
Herangehensweise an das Thema
„Depressionen“ ein Problem haben?
Das ist leider noch nie persönlich vorgekommen. Die allermeisten wissen, worauf sie sich einlassen. Ich habe eher Situationen, dass sich Leute bei mir bedanken,
sogar zitternd, und sagen: „Ich musste ein
paar Mal fast weinen!“ Dann gibt es eine
Umarmung und dann sagen wir einander:
Danke! Das habe ich viel, viel häuiger.
Wie ist es bei Dir mit der Abgrenzung
und dem Offen-Dazu-Stehen?
Das ist gar kein so bewusster Prozess. Ich
weiß, dass ich mit diesem Beruf eine Aufgabe gefunden habe, die mir in meinem
Privatleben ein Selbstwertgefühl gegeben hat, das ich sonst so nicht hatte. Dazu
Selbstbewusstsein und irgendwie eine
Selbstverständlichkeit. Ich habe es mal so
ein bisschen als Aufgabe für mich gesehen, mich nicht zu sehr darüber zu deinieren. Das ist, glaube ich, eine Herausforderung gewesen in den ersten Jahren.
einfach zu sagen: „Ich bin auch so okay,
ich bin auch ohne diese Komikerrolle
okay. Ich muss nicht immer diesen Komiker spielen.“
Wie wichtig ist Dir die Rückmeldung
der Showperson?
Das Feedback ist genau das, wofür ich das
mache. Diese Live-Situation, dieses direkte Feedback. Vor einer Kamera zu stehen,
in einem leeren Raum, das wäre sinnlos.
Es geht für mich tatsächlich um das Gefühl, in diesem Raum genau dieses Publikum jeden Abend kennenzulernen. Das
macht für mich den ganzen Reiz aus, diese Spannung. Das bestimmt total mein
Gefühl. Und wenn es mal gut läut an einem Abend, dann ist das tatsächlich ein
Rausch und ein Kick, auf den ich richtig
Lust habe. Relativ schnell waren ja auch
die Erfolgserlebnisse da. Schon beim ersten Slam hat ein anderer Slammer gesagt:
„Ich habe das total gefeiert, was Du gemacht hast!“ Für mich war das einfach
ein Supermoment. Bestätigung, Anerkennung, Lob…das kann ganz viel! Es ist so
einfach letztlich, es macht so viel! Es sollte mehr davon geben. Ökonomisch ausgedrückt wird die Ressource „Lob“ zu selten
genutzt (lacht).
Hast Du manchmal das Gefühl/
Problem, Dich für Dein Programm
rechtfertigen zu müssen?
Ganz selten schon. In der Regel, wenn
sich andere zum Anwalt machen für Depressive. Es sind extrem selten Depressive
selbst. Dann habe ich schon das Gefühl,
dass ich mich wieder rechtfertigen muss.
Mittlerweile sehe ich das aber lockerer,
weil ich weiß, dass ich es nie allen Recht
machen kann.
Du hast früher mal gesagt über die
Zukunft auf der Bühne, dass du mehr
Figuren brauchst. Den ganzen Abend
depressiv: Das geht nicht!
Geht doch sehr gut! Habe ich mich geirrt.
(lacht)
Was hat sich denn da verändert?
Vermutlich die Mischung zwischen Power-Point-Elementen und den Wortbeiträgen. Das ist jetzt momentan so komponiert, dass es funktioniert.
Als wir uns auf das Interview vorbereitet
haben, wussten wir gar nicht genau,
wer uns jetzt begegnen wird. Bist Du es
oder die Kapuze? Wovon machst Du es
abhängig, ob Du die Rolle bist oder der
Initiator einer Dixi-Klo-Zeitung?
Am Anfang waren die Rollen gar nicht
so getrennt. Da war es relativ identisch.
Das, was ich auf der Bühne mache, war
auch ich. Mittlerweile ist die Grenze klarer geworden und ich habe mich, Gott sei
Dank, etwas von dem Bühnen-Ich verabschiedet in meinem Privatleben.
Abgesehen vom Sarkasmus und der
Belustigung fürs Publikum: Ärgert es
Dich manchmal, dass über das Thema
„Depressionen“ gelacht wird?
Nein, das denke ich nie! Ich glaube auch
nicht, dass „Lachen“ Nachdenken verhindert, sondern dass es das eher möglich
macht. Lachen ist eine Entspannung, Humor ist eine Lockerungsübung. Für viele ist das erstmals eine Möglichkeit, überhaupt etwas zu thematisieren und sich
dem hema anzunähern. Ich habe nie den
Gedanken: „An dieser Stelle darf man
aber nicht lachen!“ Da bin ich nie ein Bedenkenträger. Mir gefällt es nur nicht,
wenn Humor bei anderen ziellos oder
konzeptlos ist. Das mag ich nicht. Aber
ich habe das Gefühl, bei allen meinen Depressionswitzen weiß ich, woher ich komme und wohin ich will mit der Aussage.
Deswegen ist das aus meiner Sichtweise
total berechtigter und richtiger Humor.
Was hast du für Strategien entwickelt,
um glücklich zu bleiben? Wir haben
gelesen, dass Du lange nicht gewusst
hast, was Du willst und wohin Du willst.
Den Eindruck habe ich immer noch. Ich
weiß nur, was ich nicht will und das weiß
ich ziemlich genau. Ich weiß, was mich
Ich glaube nicht, dass
„Lachen“ Nachdenken
verhindert, sondern dass es das
eher möglich macht. Lachen ist
eine Entspannung, Humor ist
eine Lockerungsübung.
unglücklich macht und was ich tun muss,
damit es mir gut geht. Ich bin noch dabei
mich immer besser kennenzulernen. Ich
schaue gern, welche Möglichkeiten es gibt
und welche Projekte da noch vor mir liegen. Ich darf aber nicht zu viel machen, ich
darf es nicht zu schnell machen. Trotzdem
komme ich immer wieder an solche Punkte, wo ich merke: ich habe mir zu viel vorgenommen, damit komme ich nicht klar.
Jetzt bin ich erst mal ein bisschen traurig,
weil ich mich überschätzt habe.
Hast Du Dir Strategien für den Alltag
entwickelt?
Tatsächlich habe ich so ein paar Basics,
die mir wichtig sind. Ich möchte unfassbar viel selbst bestimmen. Ich möchte sehr, sehr viel Freiheit haben und sehr,
sehr wenig Autorität durch andere Menschen. Ich möchte selbst bestimmen können. Das fängt schon morgens an, dass
ich möglichst nicht vom Wecker geweckt
werden will, sondern einfach ausschlafen
möchte. Das ist mir total wichtig (lacht)!
Das ist sehr wichtig für mein Wohlbeinden. Heute Morgen wurde ich übrigens
um 10.30 Uhr geweckt. Es macht mich
einfach traurig, wenn ich früh aufstehen
muss. Ich habe zum Glück einen Beruf gefunden, eine Nische, in der ich überleben kann. Ot denke ich: „Krass, ich kann
mir keine andere Nische mehr vorstellen.“ Ich musste wirklich meine Umwelt
so an mich anpassen, weil ich gemerkt
habe, dass ich es nicht schafe, mich an
die Umwelt anzupassen. Ich habe extrem
viel Glück dabei gehabt. Ich bin einfach
extrem ehrgeizig und extrem faul. Das ist
das Spannungsfeld, in dem ich lebe und
habe dafür einen sehr guten Beruf gefunden, um damit klar zu kommen. Ich inde mich im Schafungsprozess unerträglich langsam. Aber ich habe mir jetzt einen Rahmen geschafen mit diesem 2.0,
2.5, 3.0, bei dem ich hofe, dass ich damit
klar komme. Ich muss in diesem Sommer
noch 20 Minuten neues Programm machen und ich weiß nicht, ob ich das hinbekomme.
In dem Satz „Die Hofnung stirbt
zuletzt, aber sie stirbt“ ist alles
drin, was mich am Leben erhält.
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Leider gibt es immer weniger
Freiräume, in denen man
anders sein darf, in denen man
sich ausprobieren darf.
Du redest in Deinem Programm
viel darüber, dass man so viele
Entscheidungen hat, bei denen man
sich gar nicht entscheiden kann. Ein
Beispiel: Was trinke ich für einen
Kaffee? Eigentlich wachsen wir
komplett konditioniert auf und das
immer mehr. Unsere Generation kann
sich trotz der starken Konditionierung
nicht entscheiden was sie will.
Das Verhältnis ist total ambivalent. Es
ist die gleichzeitige Erzählung von „Du
darfst es nicht vermasseln, denn wenn
Du es vermasselst, steigst Du ab!“, und
die gleichzeitige Erzählung „Du hast alle
Möglichkeiten!“ Das ist ein doppelter
Druck! Es ist eine positive und negative
Motivation. Man steht tatsächlich in Konkurrenz mit 7 Milliarden anderen Menschen, nicht nur mit den Klassenkameraden oder Arbeitskollegen. Ich glaube,
wenn man sich das klar macht, dann ist
das einfach nicht mehr machbar! Man soll
ja glücklich sein und trotzdem noch individuell sein. Es gibt ganz viele Botschaften, die widersprüchlich sind. Man müsste sich erst einmal vorher entscheiden,
welche Botschat ist überhaupt die für
mich, die ich gut inde.
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Du hast mal gesagt: „Ich frage mich oft,
warum ich so traurig bin und ich glaube
es liegt daran, dass ich so oft Fehler
mache!“ War das Sarkasmus oder war
das ernst? Was ist mit den Fehlern
gemeint? Fehler, die die Gesellschaft als
solche bezeichnet?
Das ist eine gute Frage! Die zielt ja darauf
hin: Wo liegt die Ursache? Liegt die Ursache in mir oder liegt sie in der Gesellschat? Wer deiniert, was der Fehler ist?
Wer ist der entscheidende Richter? Ich
selbst oder die Anderen? Ich glaube, dass
der Mensch ein viel größeres Gruppentier
ist, als er sich selbst eingestehen will. Wir
leben noch in dieser Erzählung, dass wir
alle Individuen sind, die rational entscheiden. Wenn man sich die Wissenschat anguckt, dann wissen wir, dass das kompletter Quatsch ist. Wir sind weder rational,
noch sind wir krasse Individuen, die unabhängig sind vom Feedback der Anderen. Und ich glaube, dass wir als Gruppe,
als Gesellschat, erzählen, dass eben die
Geschichte, dass Fehlermachen, wie auch
immer das interpretiert wird, scheiße und
peinlich ist. Schwäche zeigen, Absteigen,
traurig sein – das ist alles „ih!“. Wir deinieren jetzt, Norm ist alles, was klappt,
und alles, was nicht klappt oder nicht so
funktioniert, das ist abnormal und wird
an den anderen Ort gepackt, beziehungsweise darf noch nicht mal leben. Wenn
man sich z.B. Down-Syndrom-Diagnosen anguckt: Die Abtreibungsrate liegt bei
weit über 90%. Das ist einfach eine ziemlich krasse Gesellschat, in der wir leben.
Ich inde, es wirkt auf den ersten Blick
immer gar nicht so. Es ist eigentlich alles ganz cool hier, wenn man sich so umblickt! Aber wenn man sich so Zahlen anguckt, beispielsweise wie man mit HartzIV-Empfängern umgeht in diesem Land,
dann ist das schon eine ziemlich unbarmherzige Leistungsgesellschat.
Was denkst Du woher das kommt?
Durch Fehler machen! Der Fehler kann ja
auch ein Schicksalsschlag sein. Der Fehler darf nicht sein. Das ist nicht verständlich – also weg damit! Ich glaube, das hat
damit zu tun, dass diese neoliberale Geschichte mit einer globalisierten Welt, die
von Unternehmensberatern diktiert wird,
einfach den Druck erhöht. In einer Gesellschat, die unter Druck ist, kann man
nicht mehr so gucken „Hm, was sind die
Ausnahmen? Wir kümmern uns mal
auch um die, die anders sind und nehmen uns Zeit!“ Leider gibt es immer weniger Freiräume, in denen man anders
sein darf, in denen man sich ausprobieren
darf. Ich glaube tatsächlich, dass es diesen
globalisierenden, allgemeinen Druck gibt
und dass es sehr, sehr schwer ist für Einzelne und kleine Gruppen zu sagen: „Nö,
Ich glaube, der Kapitalismus
ist nicht verantwortlich für
Depressionen, aber er hilt dabei.
wir beugen uns diesem Druck nicht und
schauen jetzt einfach mal diesen Moment an…diesen Menschen!“ Das ist so
absurd, weil es so eine heorie ist von
ein paar Wirtschatswissenschatlern,
und die wird einfach umgesetzt und hat
dann so krasse Auswirkungen auf alle
Ebenen der Gesellschat. Das ist einfach
Entfremdung, weil das nicht konkret
in so einem 20-Leute-Dorf entschieden
wird, sondern an irgendwelchen Universitäten und dann unhinterfragt in Unternehmensvorständen an den Rest der
Gesellschat durchgegeben wird. Das ist
komisch! (lacht) Ich hätte „Bilderberg“
noch sagen können.
Ich glaube tatsächlich auch wenig, dass
einige Menschen so viel Macht haben.
Wie geil wäre das, wenn man mit so wenig Menschen so viel erreichen könnte! (lacht) Das ist meine positive Botschat: Wir sind viel ohnmächtiger, als
wir glauben! (lacht) Aber das nimmt
auch den Druck! Das ist das ganze ambivalente in der Geschichte. Man kann
das auch positiv sehen.
Denkst Du, Depressionen sind eine
logische Folge von einem gesunden
Realismus? Und was glaubst Du, wäre
die ideale Gesellschaft, in der man
nicht mehr an Depressionen erkrankt?
Meine Vermutung wäre tatsächlich, dass
es Depressive immer gibt. Dass es zumindest ein Teil der Ursachen tatsächlich auch genetisch bedingt ist. Manche haben eine chronische Krankheit,
manche haben eine psychische Krankheit. Das gibt es nun mal einfach auch.
Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie
viele Faktoren reinspielen, um eine Depression zu bekommen. Ich glaube, es
gibt unfassbar viele Entstehungsmuster.
Ich glaube, je krasser der Druck ist, desto schwieriger ist es sich rauszunehmen,
mit der eigenen Traurigkeit und den
Schmerzen umzugehen. Da hilt so ein
Turbo-Kapitalismus auf jeden Fall.
Wie könnte eine Gesellschaft
aussehen?
Ich glaube sehr hilfreich ist es tatsächlich, das Stammhirn wieder in eine
Umgebung zu packen, die auf das
Steinzeithirn eingestellt ist. Das Steinzeithirn ist programmiert auf „Hey, ich
lebe in einer Gruppe von 20-100 Menschen. Das ist so die Welt, die ich überblicken kann. Da kenne ich auch noch
jeden mit Namen.“ Das wäre eine Umwelt, auf die der Mensch eingestellt ist.
Meine Idee wäre es, es kleiner zu machen. Den ganzen Handlungsraum
künstlich zu verkleinern. Den Horizont auf etwas zu lenken, das dich nicht
überfordert.
In einem Magazin wurde über Dich
gesagt, dass Du auf der Bühne stehen
musst, um ein erfülltes Leben zu
haben. Stimmt das?
Vielleicht stimmt das! Auf jeden Fall hat
mir das sehr viel Gutes getan, die Bühne.
Es hat mir ein Ventil gegeben, um Druck
rauszunehmen aus meinem eigenen Leben. Ich denke ot, wo muss man im Leben so wenig tun, um so viel Anerkennung zu bekommen? Insofern ist die Bühne schon ein guter Ort.
Wie hast Du gelernt frei zu sein?
Vermutlich bin ich es viel weniger, als ich
es mir einrede. Meine Idee ist, einen Witz
zu machen, um die Situation zu entspannen. Das merke ich auch ganz ot in Gesprächen, wenn es mir irgendwann zu
ernst wird, dann muss ich diesen Witz
machen, um Lut raus zulassen. So geht
es mir auch, wenn ich mich selbst unter Druck setze. Irgendwann brauche ich
diesen Witzmoment. Darin erkenne ich
dann schon immer mein Scheitern. Ich
bekomme das nicht hin, also benenne ich
mein Scheitern. Das ist an sich schon eher
lustig, in der Regel. Wie hoch sind unsere
Ansprüche an uns selbst und wie ot müssen wir sie unterlaufen, weil sie völlig absurd hoch sind und wie kommt man damit klar? Es gibt da eigentlich nur zwei
Möglichkeiten: Entweder bin ich traurig,
dass ich diesem Anspruch nicht genüge,
oder ich versuche darüber einen Witz zu
machen und darüber zu lachen. So „Ach
was bin ich für ein Quatschkopf, dass ich
dieses Ziel verfolgt habe?“ Letztlich ist
Humor mein Hofnungsanker oder meine Möglichkeit, doch damit einigermaßen frei umzugehen und eine Alternative zu haben zum Traurigsein. Ich habe
die Wahl zwischen traurig sein und einen
Witz darüber machen. Das ist die Freiheit, die ich habe. (lacht)
Es wurde mal der Optimierungswahn
als Problem bezeichnet. Aber ist
das nicht zu unserem Streben nach
Selbstaktualisierung konträr?
Das Entscheidende ist, glaube ich, von welchem Ort das kommt. Was ist die eigentliche Motivation sich zu motivieren? Wenn
das intrinsisch motiviert ist, ohne Druck
von außen, dann ist da ja gar nichts gegen einzuwenden. Leben heißt ja eigentlich, neugierig zu sein, zu gucken, kann ich
mich in irgendeiner Weise zum Besseren
verändern? Das inde ich überhaupt nicht
schlimm. Ich inde es dann, in meinem Leben jedenfalls, immer scheiße, wenn ich
das Gefühl habe, keine Wahl zu haben.
Wie hast Du die Leere, die Du gespürt
hast, gefüllt?
Indem ich über die Leere rede. Indem ich
das benenne.
Hey Leute, hört mehr darauf,
was Ihr eigentlich selbst wollt,
wonach Ihr Euch sehnt, was
Eure Bedürfnisse sind!
Glaubst Du, es gibt irgendwann diesen
Moment, in dem man sagt: Sie ist
gefüllt, es reicht jetzt?
Ich glaube, das ist ein Ziel, das nie erreicht werden kann. Vielleicht ist es so
wie in einer Sanduhr: Man steht oben im
oberen Stockwerk und man schüttet immer mehr Sand rein von oben, damit es
nicht irgendwann leer ist - im Prinzip. Es
passt auch sehr gut mit dem Zeit ablaufen
– dem Bild.
Was brauchst Du für einen richtig guten
Tag?
Menschen, auf jeden Fall! Auf keinen Fall
kann ich das alleine hinkriegen. Es kann
auch ein guter Tag alleine sein, aber kein
richtig geiler. Das ist auf jeden Fall mit
Menschen verbunden, die ich mag, die intelligent sind, die Humor haben, mit denen ich ziemlich viel teile. Das kann es in
allen möglichen Formen geben.
L
ange bevor wir uns zum Interview trafen, besuchte ich
seine Show. Der Abend war
gut besucht. Wir haben alle
gelacht. Aber wir haben auch
gegrübelt. Saßen aufmerksam in unseren Kinosesseln und lauschten den Aussagen. Gegen Ende wollte gar keiner aufstehen. Der Abend sollte so schnell nicht enden. Da gab es noch mehr. Anscheinend
gibt es auch immer noch mehr, sonst würde die Idee der kontinuierlichen Programmänderung nicht funktionieren. Für jeden, der die Chance noch nicht hatte Nico
Semsrott auf der Bühne zu sehen, dem
würde ich an Herz legen, dies zu ändern.
Geh entspannt zu seinem Autritt und
lass den Abend auf Dich wirken. Du wirst
es nicht bereuen!
Bei der Unterhaltung mit Nico Semsrott
musste ich an mein Freiwilligenjahr denken. Dort war einer der Kollegen ein Koreaner und hieß Shin. Wenn man ihn traf,
fragte er Dich: „How is life?“ Die Antwort darauf konnte mal ganz kurz sein,
mal den ganzen Abend füllen. Wenn Nico
Semsrott mein Nachbar wäre, würde ich
abends klingeln mit zwei Flaschen Bier in
der Hand, mich neben ihn auf die Couch
setzen und sagen: „Nico, erzähl, worüber
denkst Du nach?“ Ich würde jeden Abend
Neues lernen, lachen, grübeln und diskutieren. Dann würde ich mich an Shin erinnern und ihn fragen: „Nico, how is life?“
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