INTERVIEW mit NICO SEMSROTT IT MIGHT GET MOODY FOTO©ANDREAS HOPFGARTEN Von Maria Kaule mit großer Unterstützung von Lisa Dammann Wer ist Nico Semsrott eigentlich? Manche sagen Poetryslammer oder Kabarettist. Nico Semsrott war Poetryslammer. Trat ab 2007 auf allerlei Bühnen Deutschlands auf und gewann den einen oder anderen Preis. Aber das ist jetzt vorbei. Seit Jahren steht er mit seiner Rolle alleine auf der Bühne. Bekommt keine Punkte mehr vom Publikum, sondern hat seine eigene Fanbase und erntet dafür großen Applaus. Er tourt von Stadt zu Stadt und zeigt uns anhand einer Power-Point-Präsentation „Freude ist nur ein Mangel an Information“ was er alles so in und von der Welt mitbekommt. Bis es jedoch dazu kam, ist mehr im Leben des Künstlers passiert, als slammen. In der Schulzeit gelangweilt, gründete er eine Schülerzeitung, die verboten wurde. Für Nico Semsrott kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Er setzte sich ein für Zivilcourage. Später verklagt er die Universität, weil er nicht angenommen wird, gewinnt und studiert – bis er das Studium nach ein paar Wochen abbricht. Das alles tut er und merkt dabei etwas – er ist traurig! Mittlerweile verdient er sich seine Brötchen mit dem, was er kann und machen mag. Die Rolle, die er verkörpert, zieht überall Menschen an. Dabei ist das Spektrum an Publikum breit gefächert. Nico Semsrott sorgt auf der Bühne dafür, dass du viel lernst. Dabei achtet er ausgewogen darauf, die Zuschauer nicht zu überanstrengen; bringt Akzente der Entspannung ein, bei dem kein Auge trocken bleibt. So viel Leichtigkeit und so viel Ernsthatigkeit zusammen auf der Bühne – das ist Nico Semsrott. H amburg. Wir trefen Nico Semsrott zum Interview. Die Sonne scheint, es weht eine leichte Brise, nur wenige Wolken durchbrechen hin und wieder die direkten Strahlen der Sonne. Wahrscheinlich nicht so schlimm, der Tag steht eh unter dem Motto „no fun, no fun.“ Gespannt erwarten wir den Mann, der auf der Bühne, umhüllt von seinem Kapuzenpulli und bedrängt vom Scheinwerferlicht, die Gedankenwelt seiner depressiven Figur mit dem Publikum teilt und damit alle zum Lachen bringt. Endlich ist es soweit. Wir werden von Nico Semsrott in einem Cafe begrüßt und zu einem kleinen Vorab-Plausch eingeladen. Zum Interview begeben wir uns im Anschluss auf eine Kirchenbank. Im Hintergrund tragen zwei Hunde mit lautem Gebell eine Meinungsverschiedenheit aus; wohl einfach ein Hundeleben in Norddeutschland. Die Containerschife machen mit ihren imposanten Nebelhörnern auf sich aufmerksam. Ein lebendiges Ambiente, in dem wir uns beinden. Alles um uns herum ist in Bewegung. Und wir in der Mitte. Wir führen ein Interview über eines der größten hemen der heutigen Tage mit jemandem, der so viel Wahrheit so konkret auf den Punkt bringen kann. Dabei vergisst er eines nie – den Humor. Nico, Du bist am 11.März 1989 zum Super GAU Fukushima und Tschernobyl (1989) geboren. Ist Dir das durch Zufall aufgefallen? Naja, am 11.März habe ich ja immer mitbekommen, was passiert ist. Wie an jedem anderen Tag, schaue ich Nachrichten und lese die immer. Und da ist mir aufgefallen: Ah, heute ist mein Geburtstag, heute ist der Amoklauf von Winnenden, heute ist mein Geburtstag, heute sind die Anschläge von Madrid. Und dass in meinem Geburtsjahr Tschernobyl war, das wusste ich auch. Es war relativ naheliegend zu sagen, mein Geburtsdatum ist die Kombination von zwei Super GAUs. Du hast verschiedene Lebensmotti wie „Beginne den Tag mit einem Lächeln, dann hast Du es hinter Dir.“ Was ist Dein Favorit? Was wäre sozusagen Dein Wandtattoo? Vermutlich doch „Die Hofnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.“ Weil eigentlich ja alles darum geht: Versucht man es nochmal? Gibt es Hofnung? Bin ich motiviert, das noch auszuprobieren oder ist eh alles hofnungslos? Ich inde das Leben sinnlos, aber es muss sich nicht so anfühlen. Ich glaube, das ist die ganze Ambivalenz, die ich sehe im Leben. Für mich geht es dar35 um, eine Interpretation zu inden, mit der ich klar komme. Und das steckt in dem Satz drin. In „Die Hofnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt“ ist alles drin, was mich am Leben erhält und über all den Schmerz, den ich habe und den ich spüre, lachen lässt. 2006 hast du die Ministiftung gegründet und den Preis für Zivilcourage bekommen. War das dafür? Nein, das war noch für die verbotene Schülerzeitung, die ich gemacht habe. Ich habe eine verbotene Schülerzeitung auf einem katholischen Gymnasium in Hamburg gemacht. Verboten wurde die Schülerzeitung deshalb, weil wir keinen Beratungslehrer als Zensor akzeptieren wollten. Es gab eine Schulleiterin, eine Nonne vom Sacré-Coeur-Orden. Sie sagte: „Ihr dürt eine Schülerzeitung gründen, aber nur wenn ein Lehrer vorher alle Artikel vorher durchguckt. Ich vertraue Euch nicht.“ Und wir haben gesagt „Nö, das akzeptieren wir nicht, das ist doch Quatsch! Es gilt Meinungsfreiheit.“ Was war die Konsequenz? Nichts. Sie hat das durchgelesen und meinte: „Ja, war doch kein Problem. Aber es geht jetzt ums Prinzip. Ich erlaube das einfach nicht so.“ Der Streit ging dann immer weiter. Irgendwann hat sie dann gemerkt, dass die Zeitungen im SV-Büro, also im Büro der Schülervertretung, lagern. Ich habe dann nach einer alternativen Lagerstätte gesucht und bin an einem Dixi-Klo vorbeigefahren. Dann ist mir aufgefallen, das wäre die perfekte Lagerstätte für die Schülerzeitung. Und dann haben wir die dritte und letzte Ausgabe vor der Schule verkaut aus dem Dixi-Klo heraus unter dem Motto: Schülerzeitungsverbot – da scheißen wir drauf! Es ist die gleichzeitige Erzählung von „Du darfst es nicht vermasseln, denn wenn Du es vermasselst, steigst Du ab!“, und die gleichzeitige Erzählung „Du hast alle Möglichkeiten!“ Das ist ein doppelter Druck! 36 FOTO©ANDREAS HOPFGARTEN Das ist eine Herausforderung gewesen einfach zu sagen: „Ich bin auch so okay, ich bin auch ohne diese Komikerrolle okay. Ich muss nicht immer diesen Komiker spielen.“ 3sat hat über dich gesagt: „In seinen sprachlichen Höhenflügen kommt sein Witz zur vollen Entfaltung. Seine Sichtweisen sind nie flach, sondern unterfüttert von tiefer Ironie. So werden die Krise zur Chance und die Depression zu einem Wachstumsmarkt. Es gilt für die Aufrechterhaltung der Miesepetrigkeit zu kämpfen.“ Was denkst du darüber? Ich mache das, was ich tue, dieses Demotivieren und Schlechte-Laune-Verbreiten deshalb, weil ich einen Perspektivwechsel möchte. Mich nervt die Alternativlosigkeit, die ich in dieser neoliberalen Erzählung sehe. Wichtig ist es auf Platz Eins zu kommen, wichtig ist es zu funktionieren, wichtig ist es Leistung zu bringen und jeden einzelnen darüber so unter Druck zu setzen, dass manchmal einfach Traurigkeit die natürliche Folge ist. Da ist es mir ein Anliegen, das ganze zumindest mal umzudrehen, um zu merken, es könnte vielleicht anders gehen. Meine Idee ist es, dass das Leben so viel mehr ausmacht, als im Beruf zu funktionieren und Leistung zu bringen. Es ist mein Anliegen, diese Schiene zu nehmen und quasi aus dem Motivationstrainer einen Demotivationstrainer zu machen, um zu zeigen: Hey Leute, hört mehr darauf, was Ihr eigentlich selbst wollt, wonach Ihr Euch sehnt, was Eure Bedürfnisse sind! Ich möchte quasi über diesen Bruch hin motivieren oder gedanklich Anstöße geben. Wenn man sich ein wenig mit Deiner Rolle oder mit Dir beschäftigt, dann berichten viele von dieser Rolle und dem Niedermachen, der Depression und dem Witz. Und dann gibt es wiederum welche, die dahinter gucken und verstehen, dass das, was Du sagst, nicht nur dafür da ist, Publikum zu belustigen. Das ist etwas, bei dem ich immer interessiert zugucke: „Ah, das sind also die unterschiedlichen Reaktionen, die das hervorrut.“ Ich kann nur dieses Angebot machen und merke, dass fast jeder Zuschauer seinen eigenen Schluss zieht. Ich inde das faszinierend, dass diese Figur so viel auslösen kann und dass die Belustigung gleichzeitig Betrofenheit auslösen kann und Leute zu mir kommen und sagen: „Glaubst Du das Publikum hat Dich überhaupt verstanden?“ Ich glaube: Ja! Es trit viel mehr Leute, als es im ersten Moment scheint. Nur weil sie lachen, heißt das nicht, dass sie nur glücklich sind. Und nur weil sie betrofen wirken, heißt das nicht, dass sie sich auch darüber freuen. Ich hab das Gefühl, da ist einfach sehr viel an Reaktionen möglich und ich habe darauf gar keinen so großen Einluss. Eine interessante Erfahrung, die ich gemacht habe, ist, dass es auf mehreren Ebenen funktioniert. Man kann einfach nur Mitgefühl haben mit diesem traurigen Klops da auf der Bühne, und gleichzeitig können auch andere etwas mit den Inhalten anfangen. Tatsächlich funktioniert das auf unterschiedlichen Ebenen, habe ich festgestellt. Gibt es eigentlich auch Leute, die hinterher zu Dir kommen und sagen: „Das ist unter aller Sau, was Du hier machst!“ Menschen, die mit Deiner Herangehensweise an das Thema „Depressionen“ ein Problem haben? Das ist leider noch nie persönlich vorgekommen. Die allermeisten wissen, worauf sie sich einlassen. Ich habe eher Situationen, dass sich Leute bei mir bedanken, sogar zitternd, und sagen: „Ich musste ein paar Mal fast weinen!“ Dann gibt es eine Umarmung und dann sagen wir einander: Danke! Das habe ich viel, viel häuiger. Wie ist es bei Dir mit der Abgrenzung und dem Offen-Dazu-Stehen? Das ist gar kein so bewusster Prozess. Ich weiß, dass ich mit diesem Beruf eine Aufgabe gefunden habe, die mir in meinem Privatleben ein Selbstwertgefühl gegeben hat, das ich sonst so nicht hatte. Dazu Selbstbewusstsein und irgendwie eine Selbstverständlichkeit. Ich habe es mal so ein bisschen als Aufgabe für mich gesehen, mich nicht zu sehr darüber zu deinieren. Das ist, glaube ich, eine Herausforderung gewesen in den ersten Jahren. einfach zu sagen: „Ich bin auch so okay, ich bin auch ohne diese Komikerrolle okay. Ich muss nicht immer diesen Komiker spielen.“ Wie wichtig ist Dir die Rückmeldung der Showperson? Das Feedback ist genau das, wofür ich das mache. Diese Live-Situation, dieses direkte Feedback. Vor einer Kamera zu stehen, in einem leeren Raum, das wäre sinnlos. Es geht für mich tatsächlich um das Gefühl, in diesem Raum genau dieses Publikum jeden Abend kennenzulernen. Das macht für mich den ganzen Reiz aus, diese Spannung. Das bestimmt total mein Gefühl. Und wenn es mal gut läut an einem Abend, dann ist das tatsächlich ein Rausch und ein Kick, auf den ich richtig Lust habe. Relativ schnell waren ja auch die Erfolgserlebnisse da. Schon beim ersten Slam hat ein anderer Slammer gesagt: „Ich habe das total gefeiert, was Du gemacht hast!“ Für mich war das einfach ein Supermoment. Bestätigung, Anerkennung, Lob…das kann ganz viel! Es ist so einfach letztlich, es macht so viel! Es sollte mehr davon geben. Ökonomisch ausgedrückt wird die Ressource „Lob“ zu selten genutzt (lacht). Hast Du manchmal das Gefühl/ Problem, Dich für Dein Programm rechtfertigen zu müssen? Ganz selten schon. In der Regel, wenn sich andere zum Anwalt machen für Depressive. Es sind extrem selten Depressive selbst. Dann habe ich schon das Gefühl, dass ich mich wieder rechtfertigen muss. Mittlerweile sehe ich das aber lockerer, weil ich weiß, dass ich es nie allen Recht machen kann. Du hast früher mal gesagt über die Zukunft auf der Bühne, dass du mehr Figuren brauchst. Den ganzen Abend depressiv: Das geht nicht! Geht doch sehr gut! Habe ich mich geirrt. (lacht) Was hat sich denn da verändert? Vermutlich die Mischung zwischen Power-Point-Elementen und den Wortbeiträgen. Das ist jetzt momentan so komponiert, dass es funktioniert. Als wir uns auf das Interview vorbereitet haben, wussten wir gar nicht genau, wer uns jetzt begegnen wird. Bist Du es oder die Kapuze? Wovon machst Du es abhängig, ob Du die Rolle bist oder der Initiator einer Dixi-Klo-Zeitung? Am Anfang waren die Rollen gar nicht so getrennt. Da war es relativ identisch. Das, was ich auf der Bühne mache, war auch ich. Mittlerweile ist die Grenze klarer geworden und ich habe mich, Gott sei Dank, etwas von dem Bühnen-Ich verabschiedet in meinem Privatleben. Abgesehen vom Sarkasmus und der Belustigung fürs Publikum: Ärgert es Dich manchmal, dass über das Thema „Depressionen“ gelacht wird? Nein, das denke ich nie! Ich glaube auch nicht, dass „Lachen“ Nachdenken verhindert, sondern dass es das eher möglich macht. Lachen ist eine Entspannung, Humor ist eine Lockerungsübung. Für viele ist das erstmals eine Möglichkeit, überhaupt etwas zu thematisieren und sich dem hema anzunähern. Ich habe nie den Gedanken: „An dieser Stelle darf man aber nicht lachen!“ Da bin ich nie ein Bedenkenträger. Mir gefällt es nur nicht, wenn Humor bei anderen ziellos oder konzeptlos ist. Das mag ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, bei allen meinen Depressionswitzen weiß ich, woher ich komme und wohin ich will mit der Aussage. Deswegen ist das aus meiner Sichtweise total berechtigter und richtiger Humor. Was hast du für Strategien entwickelt, um glücklich zu bleiben? Wir haben gelesen, dass Du lange nicht gewusst hast, was Du willst und wohin Du willst. Den Eindruck habe ich immer noch. Ich weiß nur, was ich nicht will und das weiß ich ziemlich genau. Ich weiß, was mich Ich glaube nicht, dass „Lachen“ Nachdenken verhindert, sondern dass es das eher möglich macht. Lachen ist eine Entspannung, Humor ist eine Lockerungsübung. unglücklich macht und was ich tun muss, damit es mir gut geht. Ich bin noch dabei mich immer besser kennenzulernen. Ich schaue gern, welche Möglichkeiten es gibt und welche Projekte da noch vor mir liegen. Ich darf aber nicht zu viel machen, ich darf es nicht zu schnell machen. Trotzdem komme ich immer wieder an solche Punkte, wo ich merke: ich habe mir zu viel vorgenommen, damit komme ich nicht klar. Jetzt bin ich erst mal ein bisschen traurig, weil ich mich überschätzt habe. Hast Du Dir Strategien für den Alltag entwickelt? Tatsächlich habe ich so ein paar Basics, die mir wichtig sind. Ich möchte unfassbar viel selbst bestimmen. Ich möchte sehr, sehr viel Freiheit haben und sehr, sehr wenig Autorität durch andere Menschen. Ich möchte selbst bestimmen können. Das fängt schon morgens an, dass ich möglichst nicht vom Wecker geweckt werden will, sondern einfach ausschlafen möchte. Das ist mir total wichtig (lacht)! Das ist sehr wichtig für mein Wohlbeinden. Heute Morgen wurde ich übrigens um 10.30 Uhr geweckt. Es macht mich einfach traurig, wenn ich früh aufstehen muss. Ich habe zum Glück einen Beruf gefunden, eine Nische, in der ich überleben kann. Ot denke ich: „Krass, ich kann mir keine andere Nische mehr vorstellen.“ Ich musste wirklich meine Umwelt so an mich anpassen, weil ich gemerkt habe, dass ich es nicht schafe, mich an die Umwelt anzupassen. Ich habe extrem viel Glück dabei gehabt. Ich bin einfach extrem ehrgeizig und extrem faul. Das ist das Spannungsfeld, in dem ich lebe und habe dafür einen sehr guten Beruf gefunden, um damit klar zu kommen. Ich inde mich im Schafungsprozess unerträglich langsam. Aber ich habe mir jetzt einen Rahmen geschafen mit diesem 2.0, 2.5, 3.0, bei dem ich hofe, dass ich damit klar komme. Ich muss in diesem Sommer noch 20 Minuten neues Programm machen und ich weiß nicht, ob ich das hinbekomme. In dem Satz „Die Hofnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt“ ist alles drin, was mich am Leben erhält. 37 Leider gibt es immer weniger Freiräume, in denen man anders sein darf, in denen man sich ausprobieren darf. Du redest in Deinem Programm viel darüber, dass man so viele Entscheidungen hat, bei denen man sich gar nicht entscheiden kann. Ein Beispiel: Was trinke ich für einen Kaffee? Eigentlich wachsen wir komplett konditioniert auf und das immer mehr. Unsere Generation kann sich trotz der starken Konditionierung nicht entscheiden was sie will. Das Verhältnis ist total ambivalent. Es ist die gleichzeitige Erzählung von „Du darfst es nicht vermasseln, denn wenn Du es vermasselst, steigst Du ab!“, und die gleichzeitige Erzählung „Du hast alle Möglichkeiten!“ Das ist ein doppelter Druck! Es ist eine positive und negative Motivation. Man steht tatsächlich in Konkurrenz mit 7 Milliarden anderen Menschen, nicht nur mit den Klassenkameraden oder Arbeitskollegen. Ich glaube, wenn man sich das klar macht, dann ist das einfach nicht mehr machbar! Man soll ja glücklich sein und trotzdem noch individuell sein. Es gibt ganz viele Botschaften, die widersprüchlich sind. Man müsste sich erst einmal vorher entscheiden, welche Botschat ist überhaupt die für mich, die ich gut inde. 38 Du hast mal gesagt: „Ich frage mich oft, warum ich so traurig bin und ich glaube es liegt daran, dass ich so oft Fehler mache!“ War das Sarkasmus oder war das ernst? Was ist mit den Fehlern gemeint? Fehler, die die Gesellschaft als solche bezeichnet? Das ist eine gute Frage! Die zielt ja darauf hin: Wo liegt die Ursache? Liegt die Ursache in mir oder liegt sie in der Gesellschat? Wer deiniert, was der Fehler ist? Wer ist der entscheidende Richter? Ich selbst oder die Anderen? Ich glaube, dass der Mensch ein viel größeres Gruppentier ist, als er sich selbst eingestehen will. Wir leben noch in dieser Erzählung, dass wir alle Individuen sind, die rational entscheiden. Wenn man sich die Wissenschat anguckt, dann wissen wir, dass das kompletter Quatsch ist. Wir sind weder rational, noch sind wir krasse Individuen, die unabhängig sind vom Feedback der Anderen. Und ich glaube, dass wir als Gruppe, als Gesellschat, erzählen, dass eben die Geschichte, dass Fehlermachen, wie auch immer das interpretiert wird, scheiße und peinlich ist. Schwäche zeigen, Absteigen, traurig sein – das ist alles „ih!“. Wir deinieren jetzt, Norm ist alles, was klappt, und alles, was nicht klappt oder nicht so funktioniert, das ist abnormal und wird an den anderen Ort gepackt, beziehungsweise darf noch nicht mal leben. Wenn man sich z.B. Down-Syndrom-Diagnosen anguckt: Die Abtreibungsrate liegt bei weit über 90%. Das ist einfach eine ziemlich krasse Gesellschat, in der wir leben. Ich inde, es wirkt auf den ersten Blick immer gar nicht so. Es ist eigentlich alles ganz cool hier, wenn man sich so umblickt! Aber wenn man sich so Zahlen anguckt, beispielsweise wie man mit HartzIV-Empfängern umgeht in diesem Land, dann ist das schon eine ziemlich unbarmherzige Leistungsgesellschat. Was denkst Du woher das kommt? Durch Fehler machen! Der Fehler kann ja auch ein Schicksalsschlag sein. Der Fehler darf nicht sein. Das ist nicht verständlich – also weg damit! Ich glaube, das hat damit zu tun, dass diese neoliberale Geschichte mit einer globalisierten Welt, die von Unternehmensberatern diktiert wird, einfach den Druck erhöht. In einer Gesellschat, die unter Druck ist, kann man nicht mehr so gucken „Hm, was sind die Ausnahmen? Wir kümmern uns mal auch um die, die anders sind und nehmen uns Zeit!“ Leider gibt es immer weniger Freiräume, in denen man anders sein darf, in denen man sich ausprobieren darf. Ich glaube tatsächlich, dass es diesen globalisierenden, allgemeinen Druck gibt und dass es sehr, sehr schwer ist für Einzelne und kleine Gruppen zu sagen: „Nö, Ich glaube, der Kapitalismus ist nicht verantwortlich für Depressionen, aber er hilt dabei. wir beugen uns diesem Druck nicht und schauen jetzt einfach mal diesen Moment an…diesen Menschen!“ Das ist so absurd, weil es so eine heorie ist von ein paar Wirtschatswissenschatlern, und die wird einfach umgesetzt und hat dann so krasse Auswirkungen auf alle Ebenen der Gesellschat. Das ist einfach Entfremdung, weil das nicht konkret in so einem 20-Leute-Dorf entschieden wird, sondern an irgendwelchen Universitäten und dann unhinterfragt in Unternehmensvorständen an den Rest der Gesellschat durchgegeben wird. Das ist komisch! (lacht) Ich hätte „Bilderberg“ noch sagen können. Ich glaube tatsächlich auch wenig, dass einige Menschen so viel Macht haben. Wie geil wäre das, wenn man mit so wenig Menschen so viel erreichen könnte! (lacht) Das ist meine positive Botschat: Wir sind viel ohnmächtiger, als wir glauben! (lacht) Aber das nimmt auch den Druck! Das ist das ganze ambivalente in der Geschichte. Man kann das auch positiv sehen. Denkst Du, Depressionen sind eine logische Folge von einem gesunden Realismus? Und was glaubst Du, wäre die ideale Gesellschaft, in der man nicht mehr an Depressionen erkrankt? Meine Vermutung wäre tatsächlich, dass es Depressive immer gibt. Dass es zumindest ein Teil der Ursachen tatsächlich auch genetisch bedingt ist. Manche haben eine chronische Krankheit, manche haben eine psychische Krankheit. Das gibt es nun mal einfach auch. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie viele Faktoren reinspielen, um eine Depression zu bekommen. Ich glaube, es gibt unfassbar viele Entstehungsmuster. Ich glaube, je krasser der Druck ist, desto schwieriger ist es sich rauszunehmen, mit der eigenen Traurigkeit und den Schmerzen umzugehen. Da hilt so ein Turbo-Kapitalismus auf jeden Fall. Wie könnte eine Gesellschaft aussehen? Ich glaube sehr hilfreich ist es tatsächlich, das Stammhirn wieder in eine Umgebung zu packen, die auf das Steinzeithirn eingestellt ist. Das Steinzeithirn ist programmiert auf „Hey, ich lebe in einer Gruppe von 20-100 Menschen. Das ist so die Welt, die ich überblicken kann. Da kenne ich auch noch jeden mit Namen.“ Das wäre eine Umwelt, auf die der Mensch eingestellt ist. Meine Idee wäre es, es kleiner zu machen. Den ganzen Handlungsraum künstlich zu verkleinern. Den Horizont auf etwas zu lenken, das dich nicht überfordert. In einem Magazin wurde über Dich gesagt, dass Du auf der Bühne stehen musst, um ein erfülltes Leben zu haben. Stimmt das? Vielleicht stimmt das! Auf jeden Fall hat mir das sehr viel Gutes getan, die Bühne. Es hat mir ein Ventil gegeben, um Druck rauszunehmen aus meinem eigenen Leben. Ich denke ot, wo muss man im Leben so wenig tun, um so viel Anerkennung zu bekommen? Insofern ist die Bühne schon ein guter Ort. Wie hast Du gelernt frei zu sein? Vermutlich bin ich es viel weniger, als ich es mir einrede. Meine Idee ist, einen Witz zu machen, um die Situation zu entspannen. Das merke ich auch ganz ot in Gesprächen, wenn es mir irgendwann zu ernst wird, dann muss ich diesen Witz machen, um Lut raus zulassen. So geht es mir auch, wenn ich mich selbst unter Druck setze. Irgendwann brauche ich diesen Witzmoment. Darin erkenne ich dann schon immer mein Scheitern. Ich bekomme das nicht hin, also benenne ich mein Scheitern. Das ist an sich schon eher lustig, in der Regel. Wie hoch sind unsere Ansprüche an uns selbst und wie ot müssen wir sie unterlaufen, weil sie völlig absurd hoch sind und wie kommt man damit klar? Es gibt da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder bin ich traurig, dass ich diesem Anspruch nicht genüge, oder ich versuche darüber einen Witz zu machen und darüber zu lachen. So „Ach was bin ich für ein Quatschkopf, dass ich dieses Ziel verfolgt habe?“ Letztlich ist Humor mein Hofnungsanker oder meine Möglichkeit, doch damit einigermaßen frei umzugehen und eine Alternative zu haben zum Traurigsein. Ich habe die Wahl zwischen traurig sein und einen Witz darüber machen. Das ist die Freiheit, die ich habe. (lacht) Es wurde mal der Optimierungswahn als Problem bezeichnet. Aber ist das nicht zu unserem Streben nach Selbstaktualisierung konträr? Das Entscheidende ist, glaube ich, von welchem Ort das kommt. Was ist die eigentliche Motivation sich zu motivieren? Wenn das intrinsisch motiviert ist, ohne Druck von außen, dann ist da ja gar nichts gegen einzuwenden. Leben heißt ja eigentlich, neugierig zu sein, zu gucken, kann ich mich in irgendeiner Weise zum Besseren verändern? Das inde ich überhaupt nicht schlimm. Ich inde es dann, in meinem Leben jedenfalls, immer scheiße, wenn ich das Gefühl habe, keine Wahl zu haben. Wie hast Du die Leere, die Du gespürt hast, gefüllt? Indem ich über die Leere rede. Indem ich das benenne. Hey Leute, hört mehr darauf, was Ihr eigentlich selbst wollt, wonach Ihr Euch sehnt, was Eure Bedürfnisse sind! Glaubst Du, es gibt irgendwann diesen Moment, in dem man sagt: Sie ist gefüllt, es reicht jetzt? Ich glaube, das ist ein Ziel, das nie erreicht werden kann. Vielleicht ist es so wie in einer Sanduhr: Man steht oben im oberen Stockwerk und man schüttet immer mehr Sand rein von oben, damit es nicht irgendwann leer ist - im Prinzip. Es passt auch sehr gut mit dem Zeit ablaufen – dem Bild. Was brauchst Du für einen richtig guten Tag? Menschen, auf jeden Fall! Auf keinen Fall kann ich das alleine hinkriegen. Es kann auch ein guter Tag alleine sein, aber kein richtig geiler. Das ist auf jeden Fall mit Menschen verbunden, die ich mag, die intelligent sind, die Humor haben, mit denen ich ziemlich viel teile. Das kann es in allen möglichen Formen geben. L ange bevor wir uns zum Interview trafen, besuchte ich seine Show. Der Abend war gut besucht. Wir haben alle gelacht. Aber wir haben auch gegrübelt. Saßen aufmerksam in unseren Kinosesseln und lauschten den Aussagen. Gegen Ende wollte gar keiner aufstehen. Der Abend sollte so schnell nicht enden. Da gab es noch mehr. Anscheinend gibt es auch immer noch mehr, sonst würde die Idee der kontinuierlichen Programmänderung nicht funktionieren. Für jeden, der die Chance noch nicht hatte Nico Semsrott auf der Bühne zu sehen, dem würde ich an Herz legen, dies zu ändern. Geh entspannt zu seinem Autritt und lass den Abend auf Dich wirken. Du wirst es nicht bereuen! Bei der Unterhaltung mit Nico Semsrott musste ich an mein Freiwilligenjahr denken. Dort war einer der Kollegen ein Koreaner und hieß Shin. Wenn man ihn traf, fragte er Dich: „How is life?“ Die Antwort darauf konnte mal ganz kurz sein, mal den ganzen Abend füllen. Wenn Nico Semsrott mein Nachbar wäre, würde ich abends klingeln mit zwei Flaschen Bier in der Hand, mich neben ihn auf die Couch setzen und sagen: „Nico, erzähl, worüber denkst Du nach?“ Ich würde jeden Abend Neues lernen, lachen, grübeln und diskutieren. Dann würde ich mich an Shin erinnern und ihn fragen: „Nico, how is life?“ 39
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