Ansehen - Berliner Dom

Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Christian Lehnert, Wissenschaftlicher Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts Leipzig
22. Sonntag nach Trinitatis, 1. November 2015, 18 Uhr
Predigt über Apostelgeschichte 7,51-8,1
„Für den Glauben sterben“
Love Parade, 2010 in Duisburg. Ein Feuerwehrmann wird in den Einsatz gerufen. In dem langen Tunnel,
der zum Veranstaltungsort führt, wird er Zeuge von Unerwartetem, von Toten und schwer Verletzten,
sieht, was er sich nie vorstellen konnte. Und er kann nichts tun, ist hilflos, er kommt zu spät.
Der Mann verwindet die Bilder nicht, sie haben sich eingeätzt in seine Seele. Sie verfolgen ihn in
Träumen und dann auch in seinen Alltag. Sie überlagern die Gegenwart, mischen sich in alles ein, was
er fortan erlebt. Eingedunkelt ist das Leben, eingedunkelt alles Glück, und selbst das Vertrauen in nahe
Menschen wird porös. Der Zeuge, der die Toten gesehen hat, er ist selbst lebensunfähig geworden.
Der Mann klagt vor Gericht. Sinnlos sei er in den Einsatz gerufen worden, wo es nichts mehr zu helfen
gab. Für sein Leiden gibt es eine medizinische Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung. Das
Gericht lehnt die Klage ab: Der Mann sei nicht direkt geschädigt, sondern eben nur indirekt, als Zeuge.
Er habe nicht selbst gelitten – nur fremdes Leid gesehen. Niemand könne dafür haftbar gemacht
werden. Vor einigen Wochen hörte ich davon im Radio, und es hat mich nachdenklich gemacht.
Was ist ein Zeuge? Wie eng ist er verwickelt in das, was er bezeugt? Wie verändert ihn das, was er
unvermittelt sieht und hört? Ist der Zeuge denn nicht auch einem Widerfahrnis ausgesetzt – ähnlich
wie ein Opfer? Weil auch er getroffen wird, verletzt. Niemand ist doch von dem, was er erlebt,
losgelöst, als sei er eine lebende Kamera oder ein Informationsspeicher.
Stephanus aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum Himmel, und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus
stehen zur Rechten Gottes.
Stephanus ist ein Zeuge, griechisch gesprochen ein mártys, ein Märtyrer. Der Zeuge, der Märtyrer
bezeugt, was er erfahren hat, den Christus – und das nun in aller Konsequenz, ohne jeglichen Abstand,
bis in den Tod. Das mag verwundern, denn auch die Christusbegegnung des Stephanus, der Grund
seines Glaubens, ist strenggenommen nur eine indirekte Erfahrung, ein Nebenbeistehen und Schauen.
Stephanus hat von Christus nur gehört, man erzählte ihm von dem gekreuzigten und auferstandenen
Gottessohn – mehr nicht. Grundstürzend aber, traumatisch war diese Begegnung für ihn, und ich frage
mich, was Worte hier bewirkten, ja was Worte hier waren: wirklich nur Träger einer vermittelten
Erzählung?
Stephanus sah sich fortan als Zeuge, als ein mártys, ein Märtyrer, und das beinhaltet etwas
Weitreichendes, Folgenschweres, wie bei dem Feuerwehrmann: Nicht war mehr so, wie es war. Was
Stephanus bezeugt, greift tief in sein seelisches Gefüge: Er kann sich selbst gar nicht herauslösen aus
dem, was er bezeugt. Sein Leben, seine Existenz ist Zeugnis geworden – und so auch sein Sterben.
Er aber, voll heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur
Rechten Gottes /und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten
Gotte stehen. /Sie aber schrien laut und hielten sich die Ohren zu und stürmten auf ihn ein, /stießen
ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn.
Die Geschichte um den Tod des Stephanus wirft unmittelbare Fragen auf. Sie hängen damit zusammen,
dass für uns heute die Figur des Märtyrers eher zweifelhaft geworden ist. In der Geschichte, wie sie
Lukas berichtet, ist die Frage nach der religiösen Gewalt verborgen: Wie kommt es zu dieser Eruption
von Brutalität? Ohne dass bei den Tätern ein Schuldbewusstsein da wäre, wenigstens ein leises Zögern?
Jedenfalls berichtet die Apostelgeschichte nichts davon. Aber noch etwas beschäftigt mich: die
spiegelbildlich Ergebenheit des Opfers. Warum unternimmt Stephanus nichts, um seine Haut zu retten?
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Warum versucht er nicht zu entkommen? Warum tut er nichts, um die Situation zu entschärfen,
glimpflich die Spannung zu lösen?
Was würde ich denn tun? Alles um meine Haut zu retten. Ich würde wohl keine provozierende Predigt
halten, sondern versuchen, zu zeigen, wie sich das christliche Bekenntnis vielleicht einfügen kann in
ein gemeinsames Weltverständnis auch mit den Verfolgern. Ich würde mich kompromissbereit zeigen,
argumentieren, um Verständnis werben und meine eigene Sicht relativieren, Konsens suchen – um den
Druck aus dem Kessel zu nehmen. Und Gründe dafür, das eigene Leben zu retten gäbe es viele, auch
theologische: Gott will das Leben, nicht den Tod. Schon unter der Kirchenvätern gab es starke kritische
Stimmen gegenüber den Märtyrern, die für ihren Glauben in den Zirkusarenen in den Tod gingen: Es sei
ein sinnloses Sterben. Christus sei ein für alle Mal für uns gestorben, warum sollte er jetzt das Blut der
Märtyrer wollen? Und noch etwas: Wird irgendein Heide überzeugt durch so ein freiwilliges Sterben?
Nein, sie begreifen es dadurch nicht besser. Die Stephanusgeschichte gibt diesem Argument völlig
Recht: Stephanus wird von einem bestimmten Punkt in der Gewaltspirale an gar nicht mehr als Mensch
wahrgenommen. Er wird zum personifizierten Bösen, Fremden, dessen Sterben nur gerecht und gut ist.
Das ist wie mit den Orks in „Herr der Ringe“ oder im „Hobbit“, Unwesen, die zu Tausenden auf den
Schlachtfeldern liegen, wenn alles am Ende gut ausgegangen ist – wer fragt danach, wer sie waren?
Sie aber schrien laut und hielten sich die Ohren zu und stürmten auf ihn ein, / stießen ihn zur Stadt
hinaus und steinigten ihn. Der rief den Herrn an und sprach: Herr, Jesus, nimm meinen Geist auf! Er fiel
auf die Knie und schrie laut: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an! Und als er das gesagt hatte,
verschied er.
Stephanus verhält sich so, als würde er den Tod suchen. Es scheint so, als will er sterben. Warum?
Schauen wir noch einmal genauer hin, was Zeugenschaft, Martyrium, für Stephanus bedeutet, was sich
darin ausspricht. Das griechische Wort mártys leitet sich von einer sprachgeschichtlichen Wurzel her,
die so viel wie „erinnern“ bedeutet. Der Zeuge erinnert sich. Der traumatisierte Feuerwehrmann ist
gezwungen zu erinnern, was er im Tunnel in Duisburg sah und hörte, immer wieder. Das ist seines
Leiden: Deutlicher, klarer, quälender als alles Wirkliche ist die Erinnerung für den Traumatisierten. Oft
haben Traumatisierte ein genauestes, wie fotomechanisches Gedächtnis von dem, was war.
Stephanus erinnert den Christus, dem er in Worten begegnete. Er bezeugt einen Gott, der Mensch
wurde, Jesus von Nazareth, und der am Kreuz starb. Da gilt es nun genau hinzuschauen, um die Figur
des Stephanus zu verstehen. Was ist der Kern dieser Erinnerung?
Stephanus erinnert in dem Christus die tiefste denkbare Gottesnähe – wenn Gott selbst Mensch wird
und anderen in die Augen sieht, da ist, leibhaftig, geht und spricht und predigt und heilt, und Hunger
hat und isst und Angst hat und verletzlich ist. Stephanus bezeugt darin aber auch, und in demselben
Atemzug, die tiefste Gottesferne, wenn Christus am Kreuz ruft: „Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?“ Das ist das Besondere dieser christlichen Zeugenschaft: s Stephanus bezeugt einen Gott, der
menschlichen Maßstäben ganz entzogen ist. Die Vorstellungen, was ein „Gott“ sei, was Religion und
Glaube seien, was Opfer und Sühne und Erwählung, überhaupt alle religiösen Lehren und Bilder und
Dogmen, alles menschliche Sprechen und Denken können es nicht fassen. Und in dieser Unfasslichkeit
ist Gott doch nah, wie der eigene Atem – der liebende Gott.
Ich vermute hier den Grund, warum Stephanus nichts unternimmt, um seine Haut zu retten. Er folgt
diesem Gott bis in den Tod. Nicht aus Fanatismus, nicht aus ideologischem Starrsinn wie die
selbsternannten Märtyrer unserer Tage – sondern als ein Zeuge mit traumatischen Erfahrungen, der
gezwungenermaßen jenen Gott erinnert, der alle Ordnungen, alle Lebenskonzepte übersteigt. Stephanus
bezeugt einen Gott, der mehr ist, als alle Grenzen fassen – und so auch die Grenze des Sterbens
relativiert. Stephanus ist im Grunde Zeuge für etwas, was sich gar nicht sagen lässt, also eigentlich
auch gar nicht bezeugen lässt. Sinnlos ist das, sinnlos, wie das Kreuz selbst an dem der Gott stirbt. Und
in dieser Sinnlosigkeit zeigt sich erst aller Sinn und aller Trost, weil sie eben ganz dem Menschen
entzogen sind. Und so ergibt sich Stephanus der Situation, und er predigt:
Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die zuvor verkündeten das
Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid.
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Stephanus zeichnet hier eine eigenwillige Religionsgeschichte. Eine, in der die Zeugen immer wieder
stumm gemacht werden und in der Gott am Ende stirbt. Die Mitte dieser Religionsgeschichte ist das
Kreuz. Man kann sagen, im Sinne des Stephanus: Am Kreuz starb die Religion, geopfert wurde der Gott
selbst. Getötet, gekreuzigt wurde der Gott als vorstellbarer, sagbarer, zu glaubender Gott. Auferstehung
und die Heilung des Menschen im Glauben daran sind danach keine denkbaren Möglichkeiten – sie
geschehen, wenn Gott von sich aus naht. Der Trost und die Freude und die Hoffnung des Christentums
übersteigen allen Trost und alle denkbare Freude und alle Horizonte der Hoffnung.
Und heute? Sind wir als Christen Zeugen? Märtyrer gar? Oder hat sich das alles verflüchtigt in
wohnzimmerwarme Bequemlichkeit und Denkfaulheit und Anpassung?
Ich denke, dass das Martyrium auch heute unablösbar zu einer christlichen Existenz gehört. Auch heute
unter uns sind Christen vielfach Märtyrer, nur sieht man das nicht so schnell. Mir wurde das vor einigen
Tagen deutlich im Gespräch mit einer syrischen Frau, einer maronitischen Christin, die mit ihren zwei
Kindern nach Deutschland geflüchtet ist und nun in Leipzig in einer Turnhalle haust. Sie besuchte
mehrmals den Gottesdienst einer Leipziger Gemeinde – und weniger die fremde, wortreiche und lässige
Art der liturgischen Feier irritierte sie, weniger die konfessionelle oder die Kulturschranke. Sie war vor
allem verunsichert, weil so wenig Leute da waren: „Ich dachte immer, Deutschland sei ein christliches
Land“, sagte sie mir und starrte mich fragend an. Und plötzlich schoss es mir durch den Kopf: Was wird
diese Frau hier für ein inneres Martyrium durchleiden müssen. Weil sie nicht mehr eingebettet ist in
fraglose religiöse Kontexte. Weil die Welt in Deutschland entzaubert ist, und die Nachbarn etwas
anderes oder betont gar nichts glauben. Weil Glaube plötzlich nicht mehr fraglose Geborgenheit ist,
sondern ein subjektives Wagnis.
Und ich dachte, vor dieser Frau, plötzlich daran, wie oft ich selbst in meinem Glauben verunsichert
bin. Von außen, aber auch tief aus dem Innern. Im Gottesdienst oder daheim, wenn ich bete, und dann
habe ich die Hände gefaltet und bin in innere Ruhe gekommen, und mit einem Mal bleibt die erwartete
Weitung des Gemüts, das Gefühl von Gottesgegenwart aus. Leer ist es in mir, völlig leer. Ich kniete zum
Gebet – und eine innere Stimme fragte: Glaubst Du dir das selbst? Sind das nicht alles Projektionen?
Alles nur deine Wünsche? Eine Sehnsucht, die du in fragwürdige religiöse Vorstellungen gießt, und
nichts davon hat Bestand?
Ich betete dann trotzdem – auch wenn ich den Bildern und Vorstellung nicht mehr trauen kann. Bete
durch sie hindurch, über sie hinaus, in einen dunklen, offenen Raum. Schweige vielleicht nur, in eine
„dunkle Nacht“ hinein, wie es der Mystiker Juan de la Cruz einmal nannte. Hinaus in die Nacht, wo
nichts mehr gewiss ist, wo mir keine Glaubensvorstellungen mehr helfen und ich nichts mehr tun kann
– nur die Hoffnung ist da, dass mir Gott dort entgegen kommt.
Die Märtyrer, die Zeugen unserer „postreligiösen“ Tage, das sind die vielen Gläubigen, die gezwungen
sind, auf alle Gewissheit zu verzichten. Darin nun ähneln wir heute Stephanus. Glaube ist mehr als je
ein Wagnis geworden, ein fragiles Gut, abgesichert durch wenig – kaum mehr durch stabile religiöse
Milieus, wo man einfach tut, was alle tun. Kaum mehr durch glaubwürdige Kirchen oder religiöse
Autoritäten. Kaum mehr durch ungebrochene kulturelle Muster. Der Einzelne glaubt vielfach auf eigene
Faust, wie ein Partisan im Hinterland einer bis auf die Knochen aufgeklärten Gesellschaft, geworfen
allein auf sein eigene Gefühl und seine eigenen Erkundungen. Das ist ganz wenig, das ist ganz brüchig,
das zerfällt sooft – und zurück bleibt dann Leere. Aber was hilft’s? Es ist eine Leere, in die Gott
einströmen kann.
Glaube ist ein Wagnis, in aller existentiellen Schärfe. Das Martyrium der Glaubens – das endet heute
nicht mehr, jedenfalls derzeit und in Deutschland nicht mehr, in Steinigungen. Wohl aber in dem
schmerzlichen Verlust von Sicherheiten und von festen Überzeugungen. Glaube ist ein Sprung ins
Offene, radikale Öffnung in der Liebe und im Vertrauen auf einen Gott zu, „den es nicht gibt“ im
menschlichen Horizont. Stephanus ist uns vorangegangen – als Zeuge des Gottes, der sich allem Zugriff
entzieht. Das ist übrigens auch der Unterschied zu all jenen Verblendeten, die sich anmaßend Märtyrern
nennen, und doch nur ihre eigenen Überzeugungen verbissen in die Wirklichkeit sprengen. Sie aber
schrien laut und hielten sich die Ohren zu und stürmten auf ihn ein, / stießen ihn zur Stadt hinaus und
steinigten ihn.
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Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus
Jesus. Amen.
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