Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 1 Ergänzungen zur Bedeutung der Religiosität in Italien von Luca Diotallevi, Universität Roma TRE Einige Merkmale der Untersuchung Die Ergebnisse der jüngsten Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zur Religion sind aus mindestens drei Gründen besonders interessant. Zunächst einmal aufgrund des sehr präzisen Gegenstands der Untersuchung, der Religiosität (Pace, Acquaviva 1992). Die Erhebung konzentriert sich auf das, was in der Fachliteratur auch als die Seite der religiösen Frage bezeichnet wird (Iannaccone 1998) und untersucht einige ihrer Aspekte (Stark, Glock 1968; Cipolla, Mertelli 1996). Der häufige Anspruch, einen zu großen Teil der religiösen Phänomene aufzudecken zu wollen, wird somit vermieden. An zweiter Stelle sind die verwendeten Indikatoren zu nennen, die anschließend zu Indizes zusammengefasst werden konnten, was zu einer größeren Zuverlässigkeit für die untersuchten Phänomene führt. Des Weiteren beweist die Auswahl der Basis-Indikatoren, dass die in der Fachliteratur dokumentierten Forschungserfahrungen und größeren internationalen Untersuchungsprogramme, die sich mit demselben Gegenstand auseinander gesetzt haben (ISSP, EVS, WVS; vgl. Norris, Inglehart 2007) ebenfalls berücksichtigt wurden. Abschließend sei erwähnt, dass das Forschungsprogramm der Bertelsmann Stiftung auch von internationaler Bedeutung ist, was uns ein besseres Verständnis der auszuwertenden Ergebnisse erlaubt, auch wenn es im vorliegenden Fall um nur ein Land geht. Sehen wir uns also gleich einmal die wichtigsten Ergebnisse für Italien an (zum Vgl. Cesareo 1995; Allievi, Diotallevi 2004): Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 2 Die Situation in Italien Mehr als ein Viertel der Befragten erklärt, sehr häufig intensive religiöse Erfahrungen zu machen (TB7). Die Indikatoren, die für die Erstellung dieses Indexes verwendet wurden, bezogen sich auf das Gefühl des Gesprächs mit Gott (oder mit etwas „Göttlichem“). Laut Index erzielen 36% der Befragten eine mittlere und 31% eine niedrige Punktzahl. Ein anderer Index, der zur Bewertung der Intensität der inneren Religiosität entwickelt wurde (und auf Indikatoren zur Häufigkeit und Wichtigkeit des persönlichen Gebets beruht), weist 58% der Befragten eine hohe Punktzahl, 16% eine niedrige und 24% eine mittlere Punktzahl zu. Betrachtet man den „öffentlichen“ Aspekt der individuellen Religiosität, der sich aus den Angaben zur Häufigkeit des Kirchenbesuchs und der Bedeutung ergibt, die ihm beigemessen wird, weist der eigens dazu ausgearbeitete Index 49% der Befragten eine hohe, 24% der Befragten eine niedrige und 25% eine mittlere Punktzahl zu(TB4). Ein zentraler Aspekt der Religiosität besteht im Glauben. Bekanntermaßen unterliegt er gewissen unabhängigen Schwankungen. So lassen sich religiöse (und gleichermaßen intensive) Erfahrungen feststellen, von denen einige glaubensreich und andere glaubensarm sind. Die Bertelsmann Stiftung hat versucht, die Intensität dieses Religiositätsaspekts zu erfassen, indem sie die Teilnehmer nach der Intensität ihres Glaubens an Gott befragt hat sowie – ohne dabei weiter zu unterscheiden – nach Elementen wie „Unsterblichkeit der Seele“, „Auferstehung“ und „Reinkarnation“. Der auf dieser doppelten Grundlage erstellte Index weist 58% der Befragten eine hohe, 12% eine niedrige und 22% eine mittlere Punktzahl zu. Der üblicherweise nur selten untersuchte Aspekt des Wissens in der Religiosität scheint für die befragten Italiener relativ bedeutsam zu sein. Die Häufigkeit, mit der über religiöse Probleme und Themen nachgedacht wird, sowie der Wunsch nach einem größerem Religionswissen sind bei 33% der Befragten hoch, bei 19% niedrig und liegen bei 47% im mittlerem Bereich. Im Einzelnen ist die Hälfte der Befragten ziemlich oder sogar sehr daran interessiert, „mehr“ über religiöse Themen zu erfahren (TB13). Wenn überhaupt, so besteht für die Italiener Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 3 ein Problem in den Kanälen zur Vermittlung von Religionswissen. Ein kritisches Indiz besteht darin, dass auch von denjenigen, für die die religiöse Erfahrung eine sehr zentrale Rolle spielt (siehe unten), nur 28% angeben, regelmäßig Bücher über religiöse Themen zu lesen (TB10). Eine nicht zu vernachlässigende Information, wenn man die zentrale Rolle bedenkt, die die (in Italien vorherrschende) katholische Tradition ausgerechnet einem Buch einräumt: der Bibel. Was sich abzeichnet, ist also ein schwieriges Verhältnis zwischen dem Wunsch nach mehr Religionswissen, das der öffentlichen Meinung zufolge wohl vorhanden ist, und dem Angebot an typisch katholischem – im Allgemeinen christlichen – Religionswissen, das nicht ohne individuelle Lektüre auskommt. Des Weiteren hat die Bertelsmann Stiftung den schwierigen Versuch unternommen, ein noch synthetischeres Maß für die verschiedenen Aspekte der gesondert untersuchten individuellen Religiosität zu schaffen. Das zu diesem Zweck ausgearbeitete Instrument ist der Index der „Zentralität der religiösen Erfahrung“. Demzufolge erzielen 44% der Befragten eine hohe Punktzahl, nur 7% ein niedrige und 45% eine mittlere Punktzahl. Der geschlechtsspezifische Unterschied Das Geschlecht hat bekanntermaßen nach wie vor eine bedeutende Auswirkung auf die individuelle Religiosität. Frauen zeigen im Hinblick auf die soeben erwähnten Indizes immer noch eine durchgehend höhere Empfänglichkeit und größere Aufmerksamkeit gegenüber der Religion als Männer. Der Alterseffekt Die Daten der Bertelsmann Stiftung bestätigen die bekannten Auswirkungen des Alters (ab 18 Jahren aufwärts) auf die Religiosität, wenn auch nur in einem gewissen Maße. Empfänglichkeit und religiöse Aufmerksamkeit nehmen mit fortschreitendem Alter zu. Dennoch ist zu sagen, dass sich dieser Effekt deutlich weniger auswirkt, als der zuvor erwähnte, was höchstwahrscheinlich ein Hinweis auf zahlreiche und unterschiedlichste innere Dynamiken ist. Insbesondere die Unterschiede Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 4 zwischen den Generationen verschwinden ganz, wenn man den kognitiven Aspekt der Religiosität oder der Intensität des Glaubens, der diese Religiosität begleitet, isoliert. Allein schon anhand dieser Informationen ließe sich feststellen, dass die repräsentative Gruppe von befragten erwachsenen Italienern einen sehr hohen Grad an Religiosität aufweist. Im Allgemeinen sind es nur kleine oder sehr kleine Minderheiten, die über eine geringe oder gar keine religiöse Sensibilität verfügen. Der internationale Vergleich bestätigt diese Auswertung, wie wir gleich sehen werden. Italien im internationalen Vergleich Der Einfachheit halber haben wir uns auf die Ergebnisse desselben Untersuchungsprogramms aus anderen Ländern bezogen, deren sozio-kultereller Hintergrund mit dem Italiens vergleichbar ist: USA, Großbritannien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Polen. Unter religiösen Gesichtspunkten betrachtet, herrscht in diesen Ländern (Abb. 1) die Aussage, christlichen Gemeinschaften anzugehören, deutlich vor. Auch im Vereinigten Königreich und in Frankreich sind es immer noch mehr als 60%. In dieses recht homogene Bild fügen sich jedoch einige Elemente religiöser Differenzierung ein, deren Berücksichtigung die Bedeutung der vorliegenden Daten noch unterstreicht. Italien und Polen stellen zwei nahezu perfekte „katholische Monopole“ dar. Spanien und Frankreich hingegen stehen jeweils für einen „überwiegenden Katholizismus“, der in einem sozialen Kontext lebendig ist, in dem der Anteil an Personen, die von sich behaupten, keiner Religion anzugehören, recht hoch ist. In Deutschland liegt eine Art mittlerer Fall vor. Die Katholiken machen etwas mehr als die Hälfte der Christen aus. Gemeinsam bilden sie die Mehrheit in einem Gesamtzusammenhang, in dem mehr als ein Viertel der Bevölkerung angibt, keiner Religion anzugehören. Im Fall des Vereinigten Königreichs und der USA schließlich bezeichnet sich eine konsistente Minderheit der Christen als „katholisch“, die ihrerseits weiterhin die Mehrheit in Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 5 einer Gesellschaft darstellen, in der sowohl eine mäßige Präsenz anderer Religionen als auch ein konsistenter Grad religiöser Gleichgültigkeit feststellbar sind. Ein weiteres abgrenzendes Element besteht in der Intensität der religiösen Erziehung (TB5). In Italien, den USA, Spanien und Polen geben 90% der Bevölkerung an, eine religiöse Erziehung genossen zu haben. Im Vereinigten Königreich, in Frankreich und Deutschland sind es etwa 70%. Eine letzte Beobachtung: Jüngst hat sich in der Fachliteratur eine Diskussion über die Nützlichkeit der Befragung von Personen zum Aspekt der „Spiritualität“ im Unterschied zu dem der „Religiosität“ entwickelt (Marler, Hadaway 2002; Stark, Hamberg 2005). Auch dazu liefern uns die vorliegenden Daten wichtige Informationen und zeigen uns vor allen Dingen eine komplexe Situation, die sich zumindest bis jetzt jeder Klassifizierung entzieht. Denn einerseits legen die durchschnittlichen Werte zur „Spiritualität“ und „Religiosität“, die von den Befragten in den sieben hier betrachteten Ländern erzielt wurden, eine hohe Korrelation offen (0,723), die als Bezugnahme auf ein- und dieselbe Eigenschaft verstanden werden könnte. Des Weiteren lässt sich im Sinne dieser Argumentationslinie unterstreichen, dass mit ansteigendem Index für „Zentralität der religiösen Erfahrung“ auch ein gewisser Anstieg der Intensität zu verzeichnen ist, mit der die Menschen sich persönlich als „spirituell“ bezeichnen. Andererseits (Abb. 4) jedoch steigt mit abnehmendem Prozentsatz derjenigen, die sich als „religiös“ bezeichnen, der Anteil jener, die sich als „spirituell“ bezeichnen, stärker an als der Anteil derjenigen, die sich als „religiös“ bezeichnen. Dieses Signal kann, anders stattfindende als die vorangegangenen, Veränderung ausgelegt als werden, Hinweis auf eine die der Änderung in vielleicht des Selbstverständnisses der religiösen Frage oder, allgemeiner noch, der religiösen Sensibilität besteht, da sich doch Letztere immer weniger durch das traditionelle religiöse Angebot (in den Ländern, um die es hier geht, vor allem das der christlichen Kirchen) angesprochen fühlt. In Frankreich und Großbritannien ist diese Tendenz noch deutlicher zu erkennen. Sie verdient jedoch in ihrer Gesamtheit vor allen Dingen eine zusätzliche empirische Untersuchung und eine kritische Überlegung. Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 6 Wenn wir jetzt vor dem Hintergrund dieser wenigen aber wesentlichen allgemeinen Elemente die Ergebnisse aus den sieben Ländern hinzunehmen, die wir aus den Indizes gewonnen haben, deren „italienischen“ Werte wir eingangs kommentiert haben, dann entsteht ein Bild, das einerseits konstant aber andererseits schwierig zu deuten ist (Abb. 5–10). Italien, die Vereinigten Staaten und Polen weisen Religiositätswerte auf, die eindeutig höher sind, als die in Großbritannien, Spanien, Frankreich und Deutschland im Allgemeinen erzielten. (Partielle Ausnahmen bestehen negativ im niedrigen Wert des intellektuellen Aspekts der Religiosität in Polen und positiv in den im Allgemeinen etwas höheren Werten in Spanien im Vergleich zum Vereinigten Königreich, zu Frankreich und Deutschland.) Es lässt sich jetzt leicht feststellen, dass keiner der oben erwähnten Makrofaktoren, die zu einem Unterschied der religiösen Situation in den sieben hier betrachteten Ländern führen, auch nicht im Entferntesten zur Erklärung der soeben erwähnten Polarisierung geeignet ist, die auf der einen Seite Italien, die USA und Polen und auf der anderen Spanien, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland sieht. Es ist wirklich schwierig, einen einzelnen Faktor zu finden, der in der Lage wäre, zwischen diesen sieben Nationalfällen zu unterscheiden und zur selben Polarisierung zu führen. Offensichtlich verlangt die sozio-religiöse Situation in moderneren Ländern nach einem sehr komplexen und hoch entwickelten Interpretationsmodell, das aus vielfältigen Variablen besteht (Beckford 1991; Diotallevi 2001). Dieser zwar kurze aber sicherlich nicht improvisierte internationale Vergleich bestätigt uns, aus welchem Grund auch immer, einen ersten Eindruck. Die italienische Öffentlichkeit (ähnlich der US-amerikanischen und polnischen Öffentlichkeit) muss als eine wirklich sehr sensible Öffentlichkeit angesehen werden, die stark an religiösen Themen und Angelegenheiten interessiert ist. Dies ist mit Sicherheit ein Grund und sicherlich auch nicht der einzige, der nicht unerheblich zur Erklärung des besonders lebhaften religiösen Markts in Italien beiträgt. Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 7 Drei entscheidende Punkte Die bis jetzt angestellten Überlegungen erlauben, wie immer nur vorläufig, das Festhalten dreier Punkte: (i) Es scheint keine angemessenen Gründe dafür zu geben, Europa als „secular“ und die USA als „religious“ zu bezeichnen (Berger, Davie, Fokas 2008). Oder besser ausgedrückt: Dies wäre nur möglich, wenn man – einhergehend mit anderen wohl eher fragwürdigen Operationen – künstlich ein Stück des Kontinents abschneiden und nur diesen Teil unabhängig von seiner Beschaffenheit und Bedeutung als Europa bezeichnen würde. Zu diesem Schluss führen im Übrigen bereits die Ergebnisse der drei genannten internationalen Forschungsprogramme (ISSP, EVS, WVS), aber auch die jüngste Untersuchung zur Lektüre der Bibel (Diotallevi 2008). Sie wurde im Hinblick auf die Feier der jüngsten Synode der katholischen Kirche zur Heiligen Schrift in verschiedenen Ländern auf vier Kontinenten durchgeführt. (ii) Zur Zeit ist eine Erklärung der religiösen Situation in den heutigen Gesellschaften, auch in denen mit fortgeschrittener Modernisierung, anhand nur eines Faktors undenkbar. Möglicherweise ist genau das der Gesichtpunkt, unter dem die Lehre der drei Klassiker der Religionssoziologie, angefangen bei den Analysen von Karl Marx, als irreversibel „veraltet“ erscheinen. Die Soziologie benötigt zum Verständnis der gegenwärtigen Situation ein Modell, das viele Faktoren berücksichtigt und keine absehbaren Ergebnissen liefert. Ein solches Modell müsste zumindest die Berücksichtigung der religiösen Fragen oder der „Religiosität“ erlauben, aber auch der Frage nach dem religiösen Angebot (Stark, Iannaccone 1994). Letztere wird, isoliert und verabsolutiert, höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein, irgendeine Situation zu erläutern (Chaves, Gorski 2001) oder gar „einen Unterschied zu machen“. Aber sie hat mit Sicherheit ihre Bedeutung, die nicht zu vernachlässigen ist. Bis heute ist sie nur zum Teil verstanden worden, zu einem großen Teil vor allen Dingen von der europäischen Religionssoziologie. Die Seite des religiösen Angebots muss dringend und systematischer untersucht werden, und zwar auch, weil sie Formen angenommen haben könnte, die oft grundsätzlich ausgeschlossen wurde. So, wie es durch die falsche grundsätzliche Verneinung der Möglichkeit geschehen ist, die traditionellen Kirchen könnten nicht nur die Erneuerung und Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 8 religiöse Modernisierung fördern, sondern vielleicht auch übertriebene Formen interner Streuung des religiösen Angebots und somit auch eines internen religiösen Wettbewerbs (Diotallevi 2002, 2003). Die Aufmerksamkeit für etwas Derartiges könnte sich unter anderem als hilfreich für den Erklärungsversuch der Ähnlichkeit zwischen dem italienischen und dem US-amerikanischen Fall erweisen. (iii) Darüber hinaus darf die Berücksichtigung der Kirchenpolitik nicht bedeuten, dass nur die Politik des religiösen Angebots betrachtet wird. Es geht auch darum, die Spannungen und ständig stattfindenden Neuverhandlungen der Beziehungen zu berücksichtigen, die insbesondere in Europa nach 1989 zwischen den religiösen Institutionen und Organisationen einerseits und den nicht-religiösen, andererseits vor allem stattgefunden politischen haben Institutionen (Madeley, Enyedi und 2004). Organisationen Die von der Neudefinierung des öffentlichen Raums tatsächlich eingeschlagene Richtung, die von Land zu Land unterschiedlich ist, und vor allen Dingen die Schwierigkeit, in dem sich das Modell der laïcité befindet, dürfen von den Modellen nicht ausgeschlossen werden, die das sozio-religiöse Szenario in den heutigen fortschrittlich modernen Gesellschaften zu erklären vermögen. Einflussbereiche der Religiosität Die hier vorliegenden Daten erlauben uns aufgrund ihrer Reichhaltigkeit, über die soeben internationalen vorgenommene Szenarios reine Rekonstruktion hinauszugehen und die des sozio-religiösen Komplexität der Anstrengungen zu verstehen, die für sein Verständnis erforderlich sind. Konzentrieren wir uns wieder ausschließlich auf den italienischen Fall und versuchen jetzt, eine sehr allgemeine Darstellung von den – vorrangig semantischen – Beziehungen zu geben, die die Befragten in gewisser Weise zwischen dem Bereich der Religiosität und anderen Erfahrungsgebieten belegt haben. Die Teilnehmer sind gefragt worden, welchen Einfluss die Religiosität auf die verschiedenen Bereiche ihres Lebens habe. Das Ergebnis ist eine recht klare Rangliste. Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 9 Die Religiosität beeinflusst die im Allgemeinen als tief und intim empfundenen Schichten der menschlichen Erfahrung, während ihr Einfluss auf praktische Dinge eher gering zu sein scheint. Im Übrigen muss der Handelnde bei seinen Entscheidungen mehrere Elemente berücksichtigen. Da sich seine Aufmerksamkeit über viele Elemente verteilt, reduziert sich das Gewicht des einzelnen Elements, was auch für die Religiosität gilt. Das zeigt auch, wie sehr die europäische und westliche Kultur wenigstens zur Zeit durch die unerträglichen Simplifizierungen alarmiert ist, die jeder Fundamentalismus mit sich bringt. Es wäre jedoch eine stark verzerrte Darstellung, würde man die Dichotomie privat/öffentlich über die eben angesprochene Unterscheidung legen. Für die Hälfte oder sogar noch mehr der Befragten hat die Religiosität also einen bedeutenden oder noch größeren Einfluss auf das Familienleben (bei wichtigen freudigen oder traurigen Ereignissen), auf die Suche nach dem Sinn des Lebens, die Begegnung mit Schmerz oder Krisen und auf das Verhältnis zur Natur. Geringer hingegen ist der Einfluss der Religiosität in den Bereichen Arbeit und Beschäftigung, Umgang mit der Sexualität, Freizeit und Politik (Abb. 11). Vergleichen wir diese Rangliste mit einer nach Wichtigkeit erstellten Rangliste von Problemen (Abb. 12), dann stellen wir wieder fest, wie komplex das Verhältnis zwischen Religiosität und Leben, wie unsere Zeitgenossen (wenigstens in den Ländern, um die es hier geht) es erleben und verstehen, sein muss. Ein komplexes Verhältnis, das nicht immer frei von Widersprüchen, aber mit Sicherheit alles andere als inexistent, schwach oder oberflächlich ist. Tatsächlich können wir einerseits nicht umhin festzustellen, dass die Religiosität möglicherweise einen größeren Einfluss auf die existenziellen Bereiche hat, die „ganz oben“ auf der allgemeinen Agenda zwischen Familienleben und Erziehung stehen. Auf der anderen Seite scheint die Religiosität an und für sich und objektiv betrachtet, keine große Anziehungskraft auf die Befragten auszuüben und landet in der Rangliste weiter unten, auf einer Höhe mit der Politik. Dieses Ergebnis stützt ein weiteres Mal die Zweifel an der Gegenüberstellung von privat/öffentlich und beschert der von vielen als rein privat eingeschätzten Religiosität das gleiche Schicksal wie der von vielen als rein öffentlich eingeschätzten Politik. Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 10 Des Weiteren suggerieren eben diese Daten einen sehr kritischen aber nicht krisenhaften Zustand der Religion. Sie findet große Beachtung und übt einen nicht geringen Einfluss aus, wenn sie es versteht, die Herzen zu erreichen und Wahrheiten auszusprechen, die für das Leben von grundlegender Bedeutung sind und zu denen die Politik nichts mehr zu sagen weiß oder sagen will. Jedoch verdient eben diese Religiosität keine Aufmerksamkeit und übt auch keinen großen Einfluss aus, wenn sie sich als Institution oder allgemein als ein soziales Objekt unter vielen präsentiert. Ähnliches lässt sich auch zu den offenbar wenig intensiven Beziehungen zwischen Religion und Politik sagen. Diese kaum zu bestreitende, geringe Intensität berichtet möglicherweise nur über den Niedergang von gewissermaßen „automatischen“ Beziehungen zwischen Religion und Politik, vom Kollateralismus zwischen Religionszugehörigkeit und politischer Haltung. Möglicherweise jedoch ist auf den automatischen Kollateralismus zwischen Politik und Religion nicht das reine Desinteresse gefolgt, sondern eine Form von ernüchterter kritischer Aufmerksamkeit. Es mangelt in der Tat nicht an Daten, die einen solchen Gedanken nahe legen. Die italienischen Befragten zum Beispiel, die hohe Indexwerte zur „Zentralität der religiösen Erfahrung“ verzeichnen, sind auf der einen Seite keine strengeren Verfechter von Recht und Ordnung als ihre Mitbürger mit geringem religiösen Interesse (TB16). Andererseits unterscheiden sich die „Religiöseren“ von den „weniger Religiösen“, weil sie eine kritische Aufmerksamkeit (TB16) und ein aktives Engagement gegen das „Böse“ (TB16) angeben, die fast doppelt so hoch sind. In diesem Zusammenhang erklären 92% derjenigen, die über einen hohen Grad an „Zentralität religiöser Erfahrung“ verfügen, dass sie das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt aufmerksam verfolgen. Denen stehen nur 65% mit einem geringen Wert für die „Zentralität religiöser Erfahrung“ gegenüber. Wenn die Religiosität also in keiner automatischen engen Beziehung zur Politik steht, so unterhält sie eine sehr enge Beziehung zu den Fragen, um die sich die Politik vorrangig kümmern sollte. Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 11 Welche Art von Religiosität? In diesen Zeiten ist Wachsamkeit gegenüber der Rückkehr von Integrismus, religiösem Fanatismus und der Bedrohung durch den Fundamentalismus nicht übertrieben. Vor diesem Hintergrund könnte der hohe Durchschnittswert, den die Italiener bei der Religiosität verzeichnen, Grund zur Sorge sein. Die Daten der Bertelsmann Stiftung decken jedoch eine Lage auf, die in dieser Hinsicht ganz und gar beruhigend ist, teilweise sogar überraschend. Wenn wir uns auf diejenigen konzentrieren, die die höchsten Werte für die „Zentralität religiöser Erfahrung“ (TB16) verzeichnen, sehen wir, dass nur 10% der Befragten der Meinung sind, dass ausschließlich die Angehörigen der eigenen Religionsgemeinschaft gerettet werden. Nur 28% halten die religiösen Überzeugungen der anderen für ganz und gar falsch, und gut 81% sind der Ansicht, dass man auch für andere religiöse Orientierungen offen sein sollte. 82% behaupten, dass das Thema Religion von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet werden muss, und 79% teilen die Meinung, dass in jeder religiösen Tradition ein Stück Wahrheit steckt. Nur auf den ersten Blick überraschend ist, dass 53% der „religiöseren“ Personen nicht selten einzelnen Aspekten der Lehre ihrer eigenen Religion kritisch gegenüber stehen, während nur 10% an Astrologie glauben. Innerhalb dieser mehr als 40% „sehr religiösen“ Italiener ist der Prozentsatz derer, die glauben, dass „das Ende der Welt nah ist“, fast so hoch wie der des Rests der Befragtengruppe. Mehr als 60% der „religiöseren“ Italiener sind zu bemerkenswerten Opfern für ihren Glauben bereit, aber nur 29% fühlen sich verpflichtet, so viele Personen wie nur möglich zu ihrem Glauben zu bekehren. Zusammengefasst heißt das, dass die Religiosität der Italiener trotz ihrer Intensität im Durchschnitt ganz eindeutig weder Züge von Fundamentalismus (oder „Bigotterie“) Ereignissen zeugt. aufweist noch von Desinteresse an den historischen Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 12 „Gott“ oder aber... Wie wir gesehen haben, ist die Religiosität der Italiener sowohl absolut als auch im Vergleich betrachtet, im Durchschnitt hoch und weist ausgeprägte inhaltliche und formale Züge der christlich-katholischen Tradition auf. Herzstück dieser Religiosität ist „Gott“, wie wir mehrfach sehen konnten. 54% der Befragten (TB17) sind der Ansicht, dass das Leben eine Bedeutung hat, weil es Gott gibt. Dieser Prozentsatz liegt sogar über dem derjenigen, die an ein Leben nach dem Tod glauben (44%). (Das schließt nicht aus, dass die „religiöseren“ Personen der Ansicht sind, dass – ebenso wie bei „weniger“ Religiösen – gezielte Handlungen und Entscheidungen erforderlich sind, um dem eigenen Leben Bedeutung zu verleihen.) Für 68% der Befragten hat dieser Gott oder das Göttliche einen ewigen und keinen momentanen Wert (TB18). 74% glauben, dass man zu diesem Gott wie zu einer Person sprechen kann. Er stellt für 76% der Befragten den größtmöglichen Wert überhaupt dar. Dem stehen 22% der Befragten gegenüber, die unabhängig von Alter und Geschlecht die Ansicht vertreten, dass Gott nur ein Produkt der menschlichen Einbildung ist. Welche Ausdrücke assoziieren die Italiener am spontansten und intensivsten mit dem Begriff „Gott“? In der Untersuchung wurden die Befragten gebeten, sich zur Intensität einer bestimmten Anzahl von Assoziationen zu äußern. Das Ergebnis ist recht eindeutig (Abb. 12). Mehr als 80% der Italiener verbinden mit der Vorstellung von Gott eine ehrfurchtsvolle Bewunderung. Eine Ehrfurcht vor etwas, das größer ist als wir. Zwischen 60% und 80% der Befragten verbinden mit der Vorstellung von Gott Hoffnung, Liebe, Dankbarkeit, Freude, Hilfe, Schutz und Kraft. Etwa die Hälfte assoziiert den Gedanken der Gerechtigkeit mit Gott. Und zwischen 30% und 40% verbinden mit Gott die Vorstellung von Schuld und Befreiung von Schuld oder einer bösen Macht. 20% bis 30% denken an Angst, Verzweiflung und gewaltsamen Hass. Bertelsmann Stiftung, Religion Monitor, Italy 13 Literaturnachweise Acquaviva S., Pace E., Sociologia delle religioni, Roma 1992 Allievi S., Diotallevi L., Le religioni degli italiani, in: AA.VV., Gli anni in salita, Mailand 2005 Beckford J.A., Religione e società industriale avanzata, Roma 1991 Berger P., Davie G., Fokas E., Religious America, Secular Europe?, Aldershot 2008 Cesareo V. et al., La religiosità in Italia, Mailand 1995 Chaves M., Gorski Ph.S., Religious pluralism and religious participation, in: The Annual Review of Sociology 27 (2001), S. 261-281 Cipolla C., Martelli S., Verso una teoria multidimensionale della religiosità? 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