REPORTAGE GOTTES-SEHNSUCHT WECKEN In einer ostdeutschen Großstadt wie Leipzig sind die Christen in der Minderheit. Mit der Kontaktstelle „Orientierung“ versuchen Ordensleute, mit Religions- und Konfessionslosen ins Gespräch zu kommen. Eine Herausforderung und Chance für alle Beteiligten. TEXT: EVA-MARIA WERNER FOTOS: KATHRIN HARMS Oben: Die im Mai eingeweihte Kirche St. Trinitatis ist ein Blickfang. Von der jungen PropsteiGemeinde geht viel Schwung aus. Links: Kay und Tabea besuchen Meditationskurse in der Kontaktstelle „Orientierung“. „Ein tolles Angebot“, finden sie. D er Ton breitet sich im ganzen Körper aus. Es ist unmöglich, ihn zu ignorieren. Er kommt von einem großen Gong, der aus einer Kupferplatte gehämmert wurde. Tief und vibrierend nimmt der Klang jeden Winkel ein, reicht bis in die Magenhöhle und in die Zehenspitzen. Nur langsam wird er leiser, schließlich verstummt er ganz. Mit dem Nachlauschen des Gongs beginnt die Meditation. Zwölf Frauen und acht Männer zwischen 23 und 78 Jahren nehmen auf dem Boden ihre Meditationshaltung ein – mit geradem Rücken und dem Gesicht zur Wand. 30 Minuten absolute Stille. Die Flut der Gedanken soll zur Ruhe kommen, der gegenwärtige Moment aufmerksam wahrgenommen werden, ohne Gefühle und Stimmungen zu beurteilen. Das ist nicht leicht, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht so aussieht. Aber das „Zazen“, die Sitzmeditation aus dem Zen-Buddhismus, „ermöglicht tiefe spirituelle Erfahrungen, ohne ein religiöses Bekenntnis vorauszusetzen“, sagt Pater Bernd Knüfer. Der Jesuit arbeitet in der „Orientierung“, der Kontaktstelle der katholischen Kirche in Leipzig, mitten in der Fußgängerzone. Sein Angebot, Hatha-Yoga und Zen-Meditation, hat großen Zulauf. „Hier schaffe ich es, in eine Ruhe zu kommen, die ich zu Hause nicht finde“, sagt die 28-jährige Kay. Seit drei bis vier Jahren kommt sie immer wieder in die „Orientierung“. „Ich mag das Unverbindliche, man kann regelmäßig teilnehmen oder auch nicht. Die Yoga-Übungen geben mir ein gutes Körperbewusstsein und die Mediation beruhigt meinen Geist“, erklärt sie ihre Motivation. Und die 23-jährige Tabea fügt hinzu: „Ich finde es toll, dass das ein Angebot der katholischen Kirche ist, aber ohne enge Grenzen. Dass man hier auch mit fernöstlichen Praktiken wie Yoga und Zen arbeitet, die sehr hilfreich sind.“ Die MathematikStudentin ist katholisch sozialisiert, aber nicht kirchlich aktiv. Sie ist zum ersten Mal dabei. Ein Schild in der Fußgängerzone hat sie neugierig gemacht. „Ich habe hier was gefun5-2015 kontinente • 13 REPORTAGE den, das spannend und gleichzeitig beruhigend ist. Sicher komme ich wieder“, meint sie. „Sag mir, was Du tun willst mit Deinem wilden, kostbaren Leben? Danke für den Raum und die Stille, die so viel Geborgenheit geben“, steht im Gästebuch, das im „Raum der Stille“, dem Herzstück der „Orientierung“, ausgelegt ist. Der Raum, in dem Yoga- und ZenMeditation, Qi Gong, Gottesdienste, Segensfeiern und vieles mehr stattfinden, ist ganztägig geöffnet. „Manche kommen und schlafen ein wenig, andere meditieren, stillen ihr Baby oder genießen für einige Momente die Ruhe“, sagt Albrecht Buhl, der als Ehrenamtlicher jede Woche einige Stunden als Ansprechpartner in der „Orientierung“ zur Verfügung steht und den Raum der Stille „bewacht“. Er leitet Anfragen weiter, begrüßt Pilger, ist einfach präsent. Unterwegs: Schwester Susanne Schneider fährt mit dem Dreirad von ihrer Wohnung im Plattenbau zu ihrer Arbeitsstelle in die Innenstadt. „Es gibt keine Seelenruhe, ohne durch das Gestrüpp meines eigenen Chaos durchzugehen!“ Bernd Knüfer, Jesuit, praktiziert Yoga und Zen-Meditation Offen für Suchende und Zweifler Auch wenn das Schild in der Fußgängerzone auf die „Orientierung“ hinweist, sie ist nicht ganz leicht zu finden: Etwas versteckt liegt sie hinter einem Café in einem Seitengässchen der Hainstraße, die den Markt mit dem Einkaufszentrum in der Brühl verbindet. Von der Künstlerin Doreen Jahny schlicht und unaufdringlich gestaltet, ist der Raum der Stille eine Oase in der Großstadt und eine offene Begegnungsstätte. In die künstlerische Darstellung an der Stirnseite des Raumes kann man die Zweiteilung Himmel und Erde, Gott und Mensch oder Geist und Materie hinein interpretieren. Man muss aber nicht. Schließlich soll hier niemand etwas aufgedrückt be- kommen, erklärt Bernd Knüfer. Die „Orientierung“ sei offen für Suchende, Zweifler, Nachdenkliche, Kontaktfreudige – egal welcher Konfession, Religion oder Weltanschauung. „Die Zielgruppe unserer Arbeit sind Konfessions- oder Religionslose“, sagt der Jesuit. Von den 530 000 Einwohnern Leipzigs sind 15 Prozent Christen, darunter vier Prozent Katholiken. Die Bindung der Menschen an die Kirche ist also alles andere als selbstverständlich. Ostdeutsche Diaspora-Situation. „Wir dachten, dass viele nach der Wende zu uns kommen, wegen der großen Rolle, die die Kirchen in der friedlichen Revolution spielten. Etwa durch die Friedensgebete und Montagsdemonstrationen, die von der Nikolaikirche ausgingen“, sagt Schwester Susanne Schneider, die zum Team der „Orientierung“ gehört. „Aber dem war einfach nicht so“, stellt die Missionarin Christi nüchtern fest. Auch Knüfer, der 1991 als Studentenpfarrer mit einer kleinen Kommunität nach Leipzig kam, machte diese Erfahrung. „Die jüngeren Mitbrüder wollten sich zunehmend um soziale Randgruppen kümmern“, erinnert er sich. „Doch schon bald merkten sie, dass sie sich anders orientieren müssen.“ Die sozialen Angebote der Stadt, etwa für Obdachlose, seien gut. „Wir wurden dort nicht gebraucht, erkannten aber, dass die eigentliche Not dieser Stadt die Religionslosigkeit ist“, sagt Knüfer. „Auch wenn der mangelnde religiöse Sinn von den meisten Menschen nicht mal als Defizit wahrgenommen wird.“ Die Idee für die Kontakt- Links: Pater Bernd Knüfer erklärt Tabea, was sie in der folgenden Meditationsstunde erwartet. Mitte: Teambesprechung: Bernd Knüfer, Susanne Schneider und Hermann Kügler beraten das Herbstprogramm. Rechts: Sowohl für Jüngere als auch Ältere ist die chinesische Meditations- und Bewegungsform Qi Gong interessant. Gästebuch: Besucher bedanken sich. stelle „Orientierung“ war geboren. Von 1997 bis vor kurzem war sie die einzige Anlaufstelle der katholischen Kirche innerhalb des Zentrums. Denn als einzige deutsche Großstadt verfügte Leipzig nicht über eine katholische Kirche im Innenstadtbereich. Junge Gemeinde mit viel Schwung Schwester Susanne Schneider fährt auf ihrem Dreirad quer durch die Stadt zur Arbeit. Weit ist der Weg von ihrer Wohnung im Plattenbau zur „Orientierung“ nicht. Sie kommt vorbei am Bundesverwaltungsgericht und der im Mai eingeweihten Pfarrkirche der Propsteigemeinde St. Trinitatis. Der markante Bau auf dreieckigem Grundriss mit seinem 50 Meter hohen Glockenturm steht an einer viel befahrenen Straße. Früher war hier Brachland, jetzt ist es unmöglich, beim Halt an der roten Ampel oder aus der Straßenbahn heraus den Bau zu übersehen. Die moderne Architektur hat nicht nur Zustimmung hervorgerufen, ein Blickfang aber ist die Kirche allemal. Und als größter Kirchenneubau im Osten Deutschlands nach der Wende hat die Propsteikirche nicht nur eine große Bedeutung für Leipzigs Katholiken sondern weit darüber hinaus. Susanne Schneider ist Mitglied im Pfarrgemeinderat und bekommt hautnah den Schwung der jungen PropsteiGemeinde mit. Das Durchschnittsalter liegt unter 37 Jahren… Fast alle Ehrenamtlichen, die Dienst in der Kontaktstelle leisten, kommen aus St. Trinitatis. Und nicht wenige, die die Glaubenskurse in der Orientierung besuchen und sich auf die unterschiedlichen Sakramente wie Taufe, Firmung oder Ehe vorbereiten, möchten später einmal zur Propsteigemeinde gehören. 5-2015 kontinente • 15 REPORTAGE „Ich war lange auf der Suche, in der Gemeinde St. Trinitatis fühle ich mich zuhause!” INFO: Das Angebot der Kontaktstelle „Orientierung“ in Leipzig, das sich vor allem an Religions- und Konfessionslose richtet, ist in dieser Form einmalig. Weitere Informationen unter: www.orientierung-leipzig.de. In vielen Städten aber gibt es Citypastoral-Projekte, mit denen Passanten, Touristen und der Kirche eher fern stehende Menschen angesprochen werden sollen. Die Ansätze sind sehr unterschiedlich. Einen Überblick bietet die Seite www.citykirchenprojekte.de. Sven Scholz, 48, Taufanwärter, besucht den Glaubenskurs Sven Scholz ist einer von ihnen. Der 48-Jährige kommt etwas gestresst direkt vom Büro zum Glaubenskurs, den Schwester Susanne Schneider anbietet. Heute geht es ums Beten. Wie und wo beten? Und warum überhaupt? Die Stimmung ist gelöst. Mit einem Comic, einem nachdenklichen Text von Bernhard von Clairvaux und einer einfachen TagesrückblickAnleitung öffnet die Ordensfrau verschiedene Zugänge zum Thema. Jeder kann mitreden. „Mir gefällt die Frische, ich lerne den Glauben ganz neu kennen“, sagt Sven Scholz. „Lange habe ich mich auf der Suche gefühlt. Ich bin ein kritischer Mensch, zu Hause war Religion eher negativ besetzt. Jetzt möchte ich mich taufen lassen und zur Gemeinde St. Trinitatis gehören. Die offene Art des Gottesdienstes ohne Druck zieht mich an.“ Seit er sich begeistern ließ, seien auch seine Tochter und Ehefrau für das Thema Glauben offener geworden. Im Arbeitsumfeld allerdings spreche er nicht darüber. „Nicht, weil ich nicht dazu stehe, sondern weil ich es niemandem aufdrücken möchte. Das ist schon eine sehr private Sache“, sagt Scholz, schnappt sich sein Fahrrad und radelt in den Feierabend. Susanne Schneider und ihr Kollege Hermann Kügler, der Pastoralpsychologe und Linktipp: Eine Bildergalerie zur Reportage finden Sie unter: www.kontinente.org Sven Scholz: In der Kirche ein Zuhause gefunden. Lockerer Austausch: Im Glaubenskurs sprechen die Teilnehmer über das Beten. „Kirchisch“ wird nicht mehr verstanden in einer Stadt wie Leipzig wichtig? Weil viele Menschen in der säkularen Stadt keinen religiösen Sinn mehr haben und sie auch nichts vermissen. Ich glaube aber, dass in jedem Menschen ein solcher Sinn angelegt ist, ähnlich wie bei der Musikalität. Die Fähigkeit ist angelegt, braucht aber einen Anstoß, um sich entwickeln zu können. Es gibt auch viele, die suchend unterwegs sind. Und wer auf der Suche ist, ist irgendwie unterwegs zu Gott. Wir möchten diese Menschen begleiten. Bernd Knüfer: Der Jesuit gibt Kurse in Yoga und Zen-Meditation. Warum bieten sie Yoga- und Zen-Kurse an? Gibt es in der christlichen Tradition keine vergleichbaren Meditationspraktiken? Bei der christlichen Meditation wird immer zuerst vom Bekenntnis ausgegangen. Das können viele, die zu uns kommen, so nicht mitgehen. Die östlichen Praktiken werden dagegen eher als absichtslos empfunden. Warum ist die Kontaktstelle „Orientierung“ 16 • kontinente 5-2015 Wie kommen Sie in Kontakt mit Religionsund Konfessionslosen? Die Menschen kommen suchend und neugierig zu uns. Entweder direkt in die „Orientierung“ oder über Kurse, die wir zum Beispiel über die Volkshochschule anbieten. Wenn sie merken, dass wir ihnen mit Offenheit und großem Respekt begegnen, nicht dogmatisch und moralisch sind, dann kommen wir miteinander ins Gespräch. Worüber? Über die Grundfragen des Lebens: über Liebe, Tod, Freundschaft, Krankheit, Trauer, Freude, über Einsamkeit und die Herausforderung, die richtigen Entscheidungen im Leben zu treffen. Sprechen Sie auch über Gott? Erst muss man das Leben miteinander teilen, bevor man über den Glauben sprechen kann. Wir versuchen, einen Raum zu öffnen, indem wir gemeinsam spirituelle Erfahrungen machen können. Die Menschen im Osten haben kein Interesse daran, dass jemand kommt und ihnen sagt, was sie zu tun und zu glauben haben. Die Erfahrung haben sie jahrelang in der DDR machen müssen. Gruppen oder Bewegungen wie Hare Krishna, die nach der Wende in Ostdeutschland einfielen, scheiterten aus diesem Grund. Die Menschen möchten eigene Entscheidungen treffen. Das ist auch die Voraussetzung dafür, sich religiös verorten zu können. Was machen Sie anders? Wir orientieren uns an der Arbeit der Weißen Väter mit Muslimen oder der sensiblen Art, mit der etwa der italienische Jesuit Matteo Ricci im 16. Jahrhundert in China auf die Menschen zuging. Nicht vereinnahmend, sondern mit großem Respekt vor ihnen und ihren Überzeugungen. Diese Missionare sind Lernende. Ich kann auch zugeben, dass ich selbst ein großer Zweifler bin, immer schon gewesen bin. Mal ehrlich: So fromm und christlich, wie wir häufig tun, sind wir doch gar nicht. Wenn wir das endlich zugeben können, dass wir immer auch Suchende sind, schmilzt das Trennende zwischen Christen und Nicht-Christen. Was könnten Kirche und Pfarrgemeinden von Ihren Erfahrungen in einer säkularen Stadt lernen? Es fängt schon bei der Sprache an. Himmel, Erlösung, Dreifaltigkeit, Gnade, Jenseits: Wer kann mit diesen Begriffen noch etwas anfangen? „Kirchisch“ wird vielerorts einfach nicht mehr verstanden. Mich ärgert die Sorglosigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der wir viele Begriffe gedankenlos verwenden. Es wäre gut, viel mehr zu hinterfragen. emw Leiter der „Orientierung“ ist, stärken sich in einem modernen Bio-Schnellrestaurant um die Ecke. Die beiden beraten das neue Herbstprogramm, als ihr Blick plötzlich auf die Werbetafel des Restaurants fällt: „Unsere Mission sind knackig-frische Salate.“ Die beiden müssen schmunzeln. „So selbstverständlich können wir das Wort Mission nicht in den Mund nehmen“, sagt Schneider. „Taucht es im kirchlichen Kontext auf, ist es für die meisten verdächtig.“ Dabei haben Jesuiten und Missionarinnen Christi mit der Kontaktstelle natürlich eine „Mission“: Zuhören, Ansprechpartner sein für Menschen mit spirituellen Fragen, sozialen oder psychischen Nöten, über den Glauben informieren, mit den Suchenden gemeinsam ein Stück Weg gehen, eine (Gottes-)Sehnsucht wecken. Es ist übrigens kein Zufall, dass Jesuiten und Missionarinnen Christi in der Kontaktstelle zusammen arbeiten. „Uns verbindet eine ähnliche Spiritualität“, sagt Schneider. „Wir möchten das Leben teilen mit den Menschen in der Welt, Christus verkünden durch unser ganzes Sein. Wir haben keine festen Häuser oder Gebetszeiten. Jede Gemeinschaft gibt sich ihre Struktur selbst, passend zu den Aufgaben, die sie im Alltag zu erledigen hat.“ Zu diesem Selbstverständnis passt die Schlicht- Im Gebt: Die Missionarinnen Christi am Abend. heit der Lebensumstände: Die Ordensleute wohnen in einfachen Mietwohnungen. Gemeinsam mit drei Mitschwestern lebt Susanne Schneider im 12. Stock eines Plattenbaus. Ihr Gebetsraum ist durch helle Vorhänge von der Waschküche getrennt. Beim Blick aus dem Fenster schweifen die Augen über die Dächer von Leipzig. Die Missionarinnen Christi lassen sich zum stillen Gebet auf dem Boden nieder. Jede ist am Tag ihrer Arbeit nachgegangen: als Gesprächspartnerin in der „Orientierung“, als Erzieherin, als Kirchenmusikerin. Sie haben Präsenz gezeigt, mitten in der säkularen Stadt. Sie waren einfach für die Menschen da. Das zählt. 5-2015 kontinente • 17
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