24 · 5. Juli 2015 · Sonntags-Zeitung GEMEINDEREPORT Fotos: Karin Weber Seite Heute hat die Thomasgemeinde eine richtige Kirche (oben). Beim ökumenischen Seniorennachmittag erinnern sich noch viele an die Zeit, als die Gemeinde Gottesdienste im Hochhaus feierte (links). I m Gemeindehaus herrscht Trubel. Es gibt Kaffee, Kuchen und Fotos aus fünf Jahrzehnten, und Pfarrerin Dagmar Sydow begrüßt die Gäste zum ökumenischen Seniorennachmittag. »Es gibt noch einige Menschen, die die Gemeinde mitbegründet haben oder im ersten Kirchenvorstand waren«, weiß die Pfarrerin. Einige von ihnen haben sich auf den Weg gemacht, um sich in gemütlicher Runde mit anderen auszutauschen. Friederike Böttcher ermutigt die Anwesenden, »aus der Urgeschichte« zu erzählen. Böttcher, Pfarrerin in Ruhestand, wohnt in einer Wohnung im Hochhaus, in der sich die Gemeinde von November 1966 bis April 1968 versammelte. »In unserem heutigen Wohnzimmer wurde damals Gottesdienst gefeiert«, erzählt sie. Mit der Kirche in ein Hochhaus zu gehen, sei eine moderne Idee der damaligen Zeit gewesen. Denn ein eigener Kirchbau stand der Gemeinde Berliner Siedlung zunächst nicht zur Verfügung. Der Gottesdienstraum direkt neben den Wohnräumen des damaligen Pfarrers habe für mehr Beständigkeit gesorgt, denn zuvor lautete das Motto »Kirche unterwegs«. Noch heute schmunzeln die Senioren bei der Erinnerung an die ersten Gottesdienste in einem Bus vor der Ladenzeile. Doch die Zeit der Predigten im Hochhaus war nicht von langer Dauer. Vor allem die Sache mit dem Aufzug, den Kinder gerne Die Studenten sind nur schwer zu gewinnen Die jungen Familien, die vor einem halben Jahrhundert in der Berliner Siedlung ihre neue Heimat gefunden haben, sind gemeinsam alt geworden. Die Zahl der Gemeindemitglieder hat sich in den letzten Jahren stark vermindert. Waren es in den 80er Jahren etwa 25 Konfirmanden pro Jahrgang, sind es heute durchschnittlich drei. Zwar wohnen inzwischen zahlreiche Stu- denten im Viertel, doch es sei schwierig, diese einzubinden, erzählt Dagmar Sydow. Sie beheimaten sich meist nicht vor Ort, seien entweder in ihren Heimatgemeinden oder in der Evangelischen Studierenden-Gemeinde aktiv. Seit fast zwei Jahren ist Dagmar Sydow Pfarrerin mit einer halben Stelle. »Wir waren die erste Gemeinde, die nur einen halben Pfarrer bekam«, erinnert sich der Vorsitzende des Kirchenvorstands, Jürgen Gebhardt. »Es gab noch keine Erfahrungswerte.« Der Gemeinde sei klar gewesen, dass sie mit Wechseln leben müsse. »Dass wir jetzt keine Kontinuität mehr im Amt haben, ist strukturell programmiert«, bedauert er. Seither wohnen die Amtsinhaber nicht mehr im Gemeindegebiet. Das Büro, ehemals im Pfarrhaus gelegen, befindet sich im Gemeindehaus. »Eine richtige Entscheidung«, ist sich die Pfarrerin sicher. Denn nun ist die wichtige Kommunikationszentrale leichter zu finden, die Wege sind kürzer. Die Neugestaltung der Pfarrstelle habe zu Überlegungen geführt, welche Aufgabengebiete von der Gemeinde in welcher Form noch wahrgenommen werden könnten, sagt Gebhardt. Schnell sei klar geworden, dass die offene Jugendarbeit mit einer halben Pfarrstelle nicht mehr zu leisten sei. Als weiterer Schritt wurde eine Kooperation mit der angrenzenden Luthergemeinde beschlossen. Heute hat die Thomasgemeinde zwei Schwerpunkte. Da ist zum einen die Kirchenmusik, zum anderen die Zusammenarbeit mit der koreanischen Chung-AngGemeinde, die seit 1986 mit regelmäßigen Gottesdiensten, Bibelstunden und eigenen Grup- Wo holen Sie sich Anregungen für Ihre Gemeindearbeit? Aus Gesprächen mit Leuten aus der Gemeinde – ich mache das ja nicht alleine hier. Aber manchmal auch aus Nachbargemeinden mit der Überlegung: »Da gibt's eine tolle Idee, wäre das nicht auch etwas für uns?« Die Mainzer Thomasgemeinde ist genau 50 Jahre alt • Von Karin Weber zum Spielen nutzten, führte zu Ärgernissen. Zudem gab es Proteste, da sonntags so laut gesungen wurde, dass man es im Haus gehört habe. Das habe dazu geführt, eine eigene Kirche in Fertigbauweise zu errichten, in der im April 1968 der erste Gottesdienst stattfand. Der erste Seelsorger, Hans-Jürgen Fischer, ist vielen noch gegenwärtig. Dessen guter Kontakt zu den Heranwachsenden sei die Grundlage einer erfolgreichen Jugendarbeit gewesen. Es gab reichlich Kinder im Neubaugebiet. Viele erinnern sich noch an Konfirmationen, an denen die Gruppe wegen der vielen Konfirmanden geteilt werden musste. Mit der Bauabnahme eines provisorischen Gemeindehauses im September 1969 verfügte die Thomasgemeinde über Räume für Gemeindearbeit. Viele Veranstaltungen in der »Baracke«, wie die Senioren den Bau titulieren, füllten das Haus mit Leben. Eine Disco im Keller wurde zum Treff der Jugend, die offene Jugendarbeit fand ihren Anfang. Doch ein Brand zerstörte den Behelfsbau. Eigentlich ein Glücksfall, stellen die Senioren heute fest. Denn daraufhin wurde das heutige Gemeindehaus erbaut. ... Pfarrerin Dagmar Sydow: ? Das Hochhaus rocken Die Thomasgemeinde in der Berliner Siedlung der Mainzer Oberstadt schaut auf fünf Jahrzehnte zurück. Pfarrerin Dagmar Sydow und Kirchenvorstand Jürgen Gebhardt haben die Zukunft im Blick. DREI FRAGEN AN ... THOMASGEMEINDE MAINZ ■ Thomaskirchengemeinde Pfarrerin Dagmar Sydow Berliner Straße 37B 55131 Mainz Telefon: 0 61 31 / 5 15 21 pen gern gesehener Gast im Gebäudeensemble ist und Wachstum aus dem gesamten RheinMain-Gebiet verzeichnet. Gemeinsamer Gemeindebrief mit der Luthergemeinde Stabil ist die Seniorenarbeit, auch wenn der thematische Gemeindetreff, organisiert durch den Diakoniekreis, nicht mehr regelmäßig stattfindet. Auch hier schlägt sich die Demografie nieder. Zum Seniorennachmittag treffen sich die Mitglieder ein Mal im Monat, den ökumenischen Seniorennachmittag will man beibehalten und hofft, hierfür jüngere Senioren zu gewinnen. Seit einigen Monaten hat Dagmar Sydow eine zweite halbe Pfarrstelle in der benachbarten Luthergemeinde inne, kann die angestrebte Kooperation somit unterstützen. Ein erster gemeinsamer Gemeindebrief unterstützt die gegenseitige Annäherung. »Die Gemeinden sollen näher zusammenwachsen, aber dennoch ihre Eigenständigkeiten behalten – das ist die künftige Aufgabe vom Kirchenvorstand und mir«, blickt die Pfarrerin in die Zukunft. Und schiebt lächelnd hinterher: »Ich denke, das könnte gelingen.« ? Zu wem hätten Sie gerne mehr Kontakt als bisher? Ich würde gerne viel mehr Besuche machen bei Leuten, die nicht mehr präsent in der Gemeinde sind, die nicht mehr so rauskönnen. Auch mehr Kontakt zu den wenigen jüngeren Leuten in der Gemeinde zu haben, das fände ich schon gut. Was ich dabei auch sehe, ist die Entwicklung im Stadtteil: Es gibt viele Menschen, die hier leben, die aber weder evangelisch noch katholisch sind. Was würden Sie spontan mit einer 20 000-Euro-Spende anfangen? ? Ich würde die Küche im Gemeindezentrum renovieren, damit sie von uns und von der koreanischen Gemeinde besser genutzt werden kann. Und auf jeden Fall einen Teil des Geldes spenden. Und zwar mit regionalem Bezug, so wie bei der Weihnachtsspende zum Beispiel an die Tafel oder an Organisationen, die sich um obdachlose Frauen, um alleinerziehende Frauen oder um Flüchtlinge kümmern. Es ist immer ein großes Anliegen der Gemeinde, diakonische Projekte zu unterstützen – wenn nicht durch Tatkraft, dann durch Spendengelder. ■ Das Gemeindejubiläum beginnt am 5. Juli um 10 Uhr mit einem Gottesdienst mit Posaunenchor, der Gruppe »Heaven 97« und koreanischer Kammermusik.
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