Seit meiner Kindheit sind für mich Raben und Krähen untrennbar mit dem Herbst verbunden und ich kenne viele Menschen, denen es ähnlich geht. Im Frühjahr oder Sommer sieht man vielleicht mal eine einzelne Krähe über die Dächer flattern oder auf einem Baum sitzen. Doch wenn die Tage kürzer werden und morgens die Sonne matt durch den Nebel scheint, wenn die tote klare Luft in die Nase sticht und wir abends unter einem trüben wolkenverhangenen Himmel nach Hause gehen, dann sammeln sie sich in großen Gruppen auf den abgeernteten Feldern, schwarzglänzende flatternde krächzende Gesellen - bei uns sind es heutzutage meist Krähen oder Dohlen, da die Kolkraben in den dichter besiedelten Gebieten Mitteleuropas so gut wie verschwunden sind. Jedes Kind aber erkennt diese Vögel als "Raben", denn die individuelle Gestalt, das nachtschwarze Gefieder und die heisere Stimme, die den meisten Vögeln dieser Familie zu eigen ist, ist uns als klares Bild von Kindheit an vertraut, wenn nicht aus eigener alltäglicher Anschauung, dann aus Märchen, Geschichten, Bildern. Das ist schon seit uralten Zeiten so, denn die Raben und ihre kleineren Verwandten, die Krähen, beschäftigten immer schon die Fantasie der Menschen und das rund um den Globus in allen möglichen Kulturen. Ähnlich wie Wölfe sind Raben zum einem sehr anpassungsfähige Tiere, die sich in fast jedem ökologischen Umfeld ihre Nische erkämpft haben und zum anderen sind sie seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte auch nahe Nachbarn von uns. Als Aasfresser folgten sie wohl schon den ersten menschlichen Jägern und diese wiederum erlangten durch eine genaue und intensive Beobachtung der Tiere in ihrer Umgebung ein Vertrautheits- oder Verwandtheitsgefühl mit jenen Arten, die sich durch ein besonders interessantes und intelligentes Verhalten hervortaten - und dazu gehören die Rabenvögel zweifellos. So ist es kein Wunder, dass sie eine wichtige Rolle in verschiedenen Mythologien spielen und sich bestimmte Motive und Vorstellungen, die mit dem Raben verbunden wurden, über Zeiten und Kulturen hinweg erstaunlich ähneln. Auf den ersten Blick ganz gegensätzliche Aspekte wie Weisheit, Schöpfungskraft, Tod und Unheil kommen in den Rabenmythen der Welt zum Ausdruck. Selbst die modernen Mythen unserer urbanen Welt spiegeln weiterhin diese archaischen Motive, sei es in Filmfiguren wie "The Crow" oder dem Raben Abraxas im Kinderbuch "Die kleine Hexe". So möchte ich euch einladen auf einen kleinen Streifzug, einen Flug mit den Raben, der uns zu vielen Orten und vielen Geschichten führen wird. "Zu Beginn war nichts. Nur Wasser, Dunkelheit und der Rabe. Er flog durch die Dunkelheit, mit einem Beutel, der um seinen Hals hing. Er flog schon sehr lange so herum und er wurde langsam müde. Also holte er einen Stein aus seinem Beutel und warf ihn in das Wasser. Dies wurde das erste Stück Land. Er setze sich darauf um auszuruhen und warf weitere Steine aus seinem Beutel ins Wasser. So erschuf der Rabe das Land. Nachdem er sich ausgeruht hatte, nahm er seinen Beutel und flog weiter. Nach einer Weile wurde er müde, setzte sich wieder auf einen Stein und holte weitere Dinge aus seinem Beutel. Er holte die Kiefer und die Tanne und die Fichte und den Redwood-Baum und alle Bäume der Welt. Er holte auch die Himbeerbüsche und die Heidelbeerbüsche, das Gras und alle Pflanzen der Welt, auch die Wasserpflanzen. Er verstreute sie über das Land und ins Wasser, damit sie wachsen. Wieder hängte er sich den Beutel um den Hals und flog durch die Dunkelheit. Und wieder wurde er müde und ließ sich auf einem Felsen nieder. Diesmal ließ er alle Tiere der Welt aus seinem Beutel. Den Wolf, den Adler, den Lachs, den Bären, die Hirsche und Rehe und alle Tiere des Landes und des Meeres. Der Rabe schaute sich um und betrachtete die Welt, die er erschaffen hatte. Es war eine schöne Welt und alle waren zufrieden und glücklich. Aber bevor er wegflog, schaute er noch einmal in seinen Beutel und sah, dass noch etwas übrig war. Er holte die Menschen aus dem Beutel und setzte sie in die Welt, damit sie seine Schöpfung pflegen und achten." Märchen der Haida im Nordwesten der heutigen USA In den Märchen und Mythen der indianischen Stämme an der amerikanischen Westküste, bis hinauf nach Alaska, erscheint der Rabe oft als Schöpfer der Welt. Manchmal formt er die Menschen und Tiere aus Lehm oder anderen Materialien, manchmal sind sie schon vorhanden, jedoch schenkt er ihnen die zum Leben notwendigen Dinge oder lehrt sie bestimmte Verhaltensweisen oder Tätigkeiten. Dafür wurde und wird er geachtet und verehrt, und dies bezieht sich nicht nur auf den Raben als Geistwesen, sondern auch auf seine Manifestation in allen Rabenvögeln, denen man in der Alltagswirklichkeit begegnet. So gilt es bei den Inuit als tabu, einen Raben zu töten und zu essen. Bei den Tlingit, einem der Stämme der kanadischen Westküste zeigt sich, wie die Vorstellung von Geistwesen, Tiergeistern und einfachen Tieren in für uns ungewohnter Weise verschwimmen: der Rabe als Tier heißt Yetl, und der Schöpfer der Welt wird Nascakiyetl genannt, "Rabe, der an der Quelle des Flusses Nas sitzt". Dieser erscheint aber auch in menschlicher Gestalt, und kann damit auch zum Ahnen des Stammes werden. Wenn die Jäger vom Stamm der Athapaskan keine Beute finde, rufen sie zum Himmel hinauf "Großvater Rabe, wirf mir Beute herab". Die Bewohner der fruchtbaren atemberaubenden Küstenlandschaften Nordwestamerikas zwischen den nebligen Nadelwäldern und dem stürmischen Meer empfinden ihre gesamte Umwelt als belebt und beseelt, und schöpferische übermenschliche Kräfte sowie auch die Geister der Vorfahren konnten sich in verschiedenen Naturerscheinungen oder eben Tieren manifestieren. Dabei beruhen die Zuschreibungen bestimmter geistiger und magischer Aspekte oder Charaktereigenschaften oft auf einer Vertrautheit und einem Verständnis tierischer Verhaltensweisen, welches auf genaue Beobachtungen zurückgeht, so z.B. wenn in einer Version der Schöpfungsgeschichte der Rabe auf der Suche nach Nahrung kleine Menschen in Muschelschalen entdeckt und diese mit dem Schnabel aufbricht, um die Wesen daraus zu befreien. Die Funktion des Raben als schöpferischer Geist, als weiser Ahn der Menschen und als Magier und Gestaltwandler zieht sich als beständige Spur durch die Mythen der nordwestlichen Indianerstämme, der Inuit in Kanada und Alaska, bis zu den Kulturen Sibiriens und wie wir später sehen werden, in abgewandelten Formen weiter westlich bis ins alte Europa. Die Koryaken auf der ostsibirischen Halbinsel Kamtschatka erzählen, dass Quikinna'qu, der Große Rabe, die Welt erschuf. Er war auch selbst der erste Mensch und der erste Schamane. Zur Zeit des Großen Raben war es normal, dass Wesen ihre Gestalt wechseln konnten. Wenn ein Mensch das Fell oder die Hülle eines Tieres überzog, wurde er zu diesem Tier. Einmal hatte der Große Rabe einen Wal gefangen und es gelang ihm nicht, ihn wieder ins Meer zu schaffen. Er fragte das Große Lebendige um Hilfe, und es antwortete ihm: "Geh zu einer Ebene am Meer. Dort findest du weiße Stengel mit gefleckten Hüten. Das sind wa'paq-Geister. Iss ein bisschen davon, das wird helfen." Der Rabe fand die Pilze, und nachdem er davon gegessen hatte, fühlte er, wie es ihm leicht ums Herz wurde. Er begann zu tanzen. Der Fliegenpilz fragte ihn: "Wie kommt es, dass du so stark bist und dann nicht den Wal wieder ins Meer bewegen kannst?" "Das stimmt", sagte der Rabe, "ich bin ein starker Mann. Ich schaffe das." Er ging und brachte den Wal wieder zum Meer. Dann zeigte ihm der Fliegenpilz, wie der Wal tief im Meer schwamm, und zu seiner Familie und seinen Freunden zurückkehrte. Da sagte der Große Rabe: "Fliegenpilz, bleib auf der Erde und lass meine Kinder sehen, was du ihnen zeigen magst. Odin, oder Wodan, der einsame einäugige umherwandernde Gott der germanischen Mythologie (der wohl nie der "Göttervater" und "Herrscher" war, zu dem ihn die spätere Literatur und verschiedene neuzeitliche Ideologien gern machen wollten), wird von zwei Wölfen und zwei Raben begleitet. Interessanterweise verkörpert Odin als Gott der Weisheit, der Magie und Hellsichtigkeit, der Fürsorge für die Menschen wie auch des Versteckspiels sowie der dunklen Aspekte von Krieg und Tod genau die Lebensbereiche, mit denen weltweit seit jeher die Raben in Beziehung gebracht wurden. Auch in dem Bild der Raben und Wölfe, die ihn begleiten, sehen wir, wie sehr die Mythologie oft Abbild sensibler Naturbeobachtung ist, denn hier werden Tieren, die nicht selten regelrecht "zusammenarbeiten", ähnliche Charaktereigenschaften und mythische Funktionen zugesprochen. Die Raben Odins heißen mit Namen Hugin und Munin. Jeden Morgen werden sie von Odin ausgesandt, fliegen durch die Welt und flüstern ihm nach ihrer Rückkehr alle wichtigen Neuigkeiten in die Ohren. Daher hat Odin seine Weisheit und Allwissenheit. Die Namen der Vögel werden meist oberflächlich als "Gedanke" und "Erinnerung" übersetzt. Es handelt sich jedoch um Eigenschaftswörter - es war also nicht "der Gedanke", der herumflog, sondern "der Nachdenkliche" oder auch "der Mutige", im Sinne von "überlegt und klug handelnd", und "der Besorgte", im Sinne von "sich an Verantwortung erinnernd" oder "fürsorglich". Von manchen werden die Raben als Seelenteile Odins gedeutet, die seine Fähigkeit der Gestaltwandlung und schamanischen Reise symbolisierten. Eine interessante Parallele zu Odins geflügelten Boten sehe ich übrigens darin, dass bei den Saami die Raben mit den gleichen Wörtern genannt werden wie die Himmelsrichtungen Süden und Norden (Gaarenasse / Garangjas), wohl auch als Hinweis auf ihre Allgegenwart und ihre Fähigkeit, die ganze Welt zu erkunden. Bei den Kelten galten Vögel allgemein als Boten der Anderwelt, als Seelen- und Orakeltiere, aus deren Flug oder Erscheinen im Traum Weissagungen getroffen wurden. Während Säugetiere oft und gern mit menschlichen Eigenschaften assoziiert und als nahe Verwandte angesehen wurden und werden, regt das "fremdere" Erscheinungsbild und Verhalten der gefiederten Mitgeschöpfe, z.B. die Wanderungen der Zugvögel mit den Jahreszeiten, dazu an, sie als besonders geheimnisvolle Wesen zu betrachten. Zudem fliegen Vögel, und diese für uns ungewöhnliche und für unsere Vorfahren, die ohne Düsenjets und Hubschrauber lebten, auch praktisch unvorstellbare Art der Fortbewegung im dreidimensionalen Raum dient seit jeher als Gleichung für die Geistreisen und TranceErlebnisse von Schamanen und Hexen. Was wunder, dass man meinte, die Vögel, die sich so frei und ohne Grenzen über Meere, Gebirge und Moore bewegten, könnten sicher auch ohne Schwierigkeiten zwischen der sichtbaren und den unsichtbaren Ebenen der Wirklichkeit hin- und herwechseln, hätten Einsicht in Geheimnisse und trügen Botschaften hin und her. Im keltischen Kulturraum nahm der Gott Lugh eine Stellung ein, die annähernd mit der Odin's vergleichbar ist. Er galt als Verkörperung von Klugheit und Wissen, und wurde mit den Handwerkskünsten, der Magie und auch dem Kriegshandwerk, der Kampfkunst, in Verbindung gebracht. Mehrere Städte im ehemals keltischsprachigen Bereich Westeuropas sind offensichtlich nach ihm benannt, unter anderem London und Lyon, die in der römischen Besatzungszeit beide "Lugdunum" genannt wurden. Lugh genoss vermutlich große Verehrung, es gibt viele Inschriften und Darstellungen, die ihm gewidmet sind, und öfters wird er mit einem oder mehreren Raben über seinem Kopf dargestellt. Er erscheint jedoch auch in Begleitung anderer Vögel, z.B. mit Gänsen, die in der keltischen Gedankenwelt ebenfalls einen starken Bezug zur Anderwelt hatten (Frau Holle und ähnliche weibliche Mythengestalten werden mit Gänsen assoziiert, in der englischen Folklore gibt es immer noch eine "Mother Goose", die viele der Eigenschaften von Holle / Hel behalten hat). Lugh kann also nicht wirklich als ein "Rabengott" bezeichnet werden, wie manche esoterischen Veröffentlichungen es gern kurz und knapp tun. Es mag tatsächlich sein, dass der englische Volksglauben um die Raben im Tower von London auf ihn als mythischen Stadtgründer zurückgeht, jedoch bietet sich hierzu beim Blick in die walisische Mythologie noch eine Alternative: Das Mabinogion als Hauptwerk der im Frühmittelalter aufgezeichneten dichterischen Überlieferung bietet einen Einblick in die farbenprächtige und vielschichtige walisische Mythologie, die viele Parallelen, aber auch viele Eigenheiten im Vergleich zur irischen, schottischen oder festlandkeltischen Gedankenwelt aufweist. Der Meeresgott Llyr hatte drei Kinder, Bran, Branwen und Manawydan, wobei Bran (männlich) "Krähe" bedeutet und "Branwen" (weiblich) "weiße Krähe". Teilweise werden die Namen auch mit "Rabe" übersetzt, und wie wir bei der Untersuchung der irischen Mórrigan noch sehen werden, ist im keltischen Raum die Unterscheidung zwischen Krähe und Rabe tatsächlich nicht so wichtig wie die Betonung der Ähnlichkeiten beider Vögel. dies wirkt sich in Mitteleuropa bis in den neuzeitlichen Volksglauben aus, in dem Rabe und Krähe zumeist mit ähnlichen Vorstellungen belegt und grundsätzlich austauschbar sind. Zumindest gibt es keine so klare Trennung wie in den indianischen Tiermythen. Branwen wurde mit dem irischen Matholwch verheiratet und dort erniedrigend behandelt, was ihren Bruder Bran veranlasste, mit einem Heer nach Irland zu ziehen, wo er tödlich verwundet wurde. Sein Kopf jedoch behielt die Fähigkeit zu sprechen, und gab seinen Freunden Hinweise, wohin sie ihn tragen sollten, um ihn zu vergraben. Eine Version lautet, dass der Kopf schließlich bei Dinas Bran Castle ("Brans Festung") beerdigt wurde, welches mit den mittelalterlichen Gralsmythen in Verbindung steht und von Mallory im 15. Jahrhundert als "Chateau Corbin" bezeichnet wurde, und auch als "Crow Castle". Alternativ wird vermutet, dass mit dem "White Hill" als Ruhestätte von Brans Kopf in den walisischen Märchen der Londoner Tower Hill gemeint ist. Immerhin glaubte man, solange der Kopf begraben bliebe, sei England sicher gegen Invasionen und von den Raben im Tower sagt man bis heute, dass das englische Königreich bestehen werde, solange sie dort wohnen (deshalb werden sie auch gut behütet und bekommen regelmäßig die Flügel gestutzt) Die Hermeneutik des Mittelalters verdammt den Raben zu seiner alleinigen Rolle als Unglücks- wenn nicht gar Teufelsboten. „Hier beginne ich eine Rede über die Tiere, was sie geistlich bedeuten“ ist der Anfang eines Buches, das neben der Bibel das meistverbreitete Werk des Mittelalters ist. Es handelt sich um den Physiologus, der in seiner Entstehung bis ins 2. nachchristliche Jahrhundert zurückreicht. Merkwürdigkeiten der Tierwelt werden hier theologisch gedeutet. Dabei braucht es sich nicht um eigen Beobachtungen zu handeln, sondern man liest bei den „Alten“. Farben und Formen stellen nur eine Frage: Was will Gott uns damit mitteilen? Zum Unglück für unseren Vogel wollte ER mit der schwarzen Farbe vor dem Bösen warnen, zumindest Trauer andeuten. Pest und Tod, die Geisseln des jungen Christentums, waren mit dieser Farbe verknüpft. So macht die apokalyptische Grundstimmung der Zeit den Raben endlich zum Begleiter des Antichristen und seiner Boten. Zauberer, Hexen und Wahrsager, persönliches Begleitpersonal des Antichristen werden in Begleitung grosser schwarzer Vögel gesehen, die zu allem Überfluss auch noch sprechen können. Natürlich gab es da den Untergrund, Menschen des Schattens und des Zwielichts. Hier hatte der Rabe ein durchaus gutes Ansehen. Die Goetia, die verwerflichste Art der Beschwörung für die damalige Zeit, die sich mit Toten und Dämonen befasst, kennt den Raben als Dämon der 3. Dekade des Tierkreiszeichens Fische. Der englische Magier Aleister Crowley ordnet ihn Anfang unseres Jahrhunderts in diesem Zusammenhang dem Hexen- und Drogenmond zu , dem Sinnbild der dunklen Seite der Seele. Illusion, Traum, Zaubersprüche und Hexenkunst sind eng mit ihm verknüpft. Copyright by Vincent Raven www.vincentraven.ch
© Copyright 2024 ExpyDoc