Kritische Gedanken von Karl-August Hansen zum Buch „Der freie Wille – Die Evolution einer Illusion“ – Franz M. Wuketits Der freie Wille, eine Einbildung? Dem Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits zufolge („Der freie Wille – Die Evolution einer Ilusion“, Hirzel Verlag, Stuttgart) besitzt der Mensch keinen freien Willen. Sein Handeln habe zum einen seinen Ursprung in Fähigkeiten, die ihm die Evolution vermittelt, zum anderen in individuellen Erfahrungen und Prägungen. Wir sind also wieder beim Determinismus angelangt, der eigentlich seit Sokrates und Platon, spätestens aber seit Hobbes und Locke als überwunden gelten sollte. Was steckt dahinter, wenn heute jemand die Vorherbestimmtheit menschlicher Entscheidungen wieder aus der Mottenkiste kramt? Es könnte sein, daß hier ein Geisteswissenschaftler sein Metier zu den Naturwissenschaften anheben möchte, die ja alle Vorgänge in ihrem Bereich zu berechnen imstande sind (sieht man von Chaos-Phänomenen ab). Zum anderen lockt die lauernde Potenz der Computer, den menschlichen Geist zu überflügeln. Seit die Rechenmaschinen ihren Einzug in die Chefetagen gehalten haben, wird nach objektiven Entscheidungen verlangt, wird den spontanen Einfällen der Bosse der Kampf angesagt. Wenn nun Herr Wuketits Recht hat, dann müßte in der Tat vorauszuvollziehen (zu berechnen) sein, was ein bestimmter Mensch in einer betimmten Situation unternimmt. Es sei erlaubt, diese Frage anhand eines Beispiels aus der Kriegsgeschichte zu beleuchten – nicht etwa, weil im Krieg wichtigere Entscheidungen zu treffen wären als in der Wirtschaft, sondern lediglich, weil er anschauliche Beispiele liefert. Im Siebenjährigen Krieg treffen bei Zorndorf die Preußen auf die Russen. Der linke Flügel der Preußen wankt. Der König (Friedrich II.) schickt einen Meldereiter zu dem weiter links mit der Kavallerie bereitstehenden General von Seydlitz, er solle sofort angreifen. Dieser ignoriert den Befehl. Jetzt geht die preußische Infanterie zurück. Der König ergreift höchstselbst die Fahne eines fliehenden Infanterieregiments und treibt seine Soldaten erneut nach vorn. Seydlitz läßt er ausrichten, er hafte mit seinem Kopf für die Bataille. Dieser bleibt ungerührt. Erst mehr als eine Stunde später greift er an, nunmehr nicht in die Flanke, sondern in den Rücken des Feindes, wodurch es ihm gelingt, den rechten Flügel der russischen Armee aufzureiben. Das, wofür der junge (er war 37 Jahre alt), preußisch zum Gehorsam erzogene Offizier Ehre und Kopf aufs Spiel setzte, war nicht ohne besonderes Risiko, wie ihm bewußt gewesen sein dürfte. Denn die Russen verfügten noch über starke, bis dahin nicht eingesetzte Kräfte, darunter die gesamte Reiterei. Mit jedem Zögern wuchs die Gefahr, daß Graf Fermor, der russische Befehlshaber, Seydlitzens Absicht erkannte und dagegen Maßnahmen ergriff. Sein Eigenwille also hätte auch eine verhängnisvolle Folge haben können. Fortune gehabt. Wessen Wille geschah hier, der einer Evolution oder Prädetermination? Und was hätte der Computer über den Ausgang der Schlacht errechnet? Wie verhält es sich heute mit Amerikas Kampf gegen den Terrorismus? Hatte Osama bin Laden eine reelle Chance, der amerikanischen Militärmaschine zu entkommen, von der bekannt ist, daß sie jeden Meter der Erdoberfläche fortgesetzt beobachten und jeden Punkt zielgenau und mit durchschlagender Wucht treffen kann und die obendrein eine Summe, die selbst Starke schwach werden lassen kann, für den Verrat auslobt? Und was beflügelt diesen Herrn und seine Mitstreiter? Sind es stammes- und individualgeschichtliche Antriebe? Wenn das so wäre, warum verhalten sich dann Menschen, die den gleichen Hintergrund haben, unterschiedlich? Die Deterministen bringen noch Gene und Charakter ins Spiel. Aber die schlagen auch nicht in jeder Situation bei jedermann auf die gleiche Weise durch. Jeder Mensch, vor eine neue Situation gestellt, hat zumeist mehrere Alternativen des Handelns. Welche Möglichkeit er wählt, ist in Wahrheit weder vorherbestimmt noch vorhersehbar. Wissenschaftler ergreifen gern das Mittel origineller Definition, um ihre Thesen zu belegen. Auch Wuketits begründet ein eigenes Verständnis von der Freiheit und vom Willen. Und, schwuppdiwupp, paßt, was er sagen will. Dennoch, wir Menschen wollen und dürfen bei allen für uns bedeutsamen Begebenheiten uns entscheiden, wie es uns gefällt, nach wohlerwogenem Rat oder fakultativ. Es ist keine Illusion, daß wir eine echte Wahl haben. Wir unterliegen keiner Einbildung, wenn wir meinen, daß uns nicht in jedem Fall das Unterbewußtsein zwingt, dieses zu tun und jenes zu lassen. Wir haben durchaus die Chance, uns zu vervollkommnen, über uns selbst hinauszuwachsen. Wir sind nicht Sklave der Evolution, unserer Erfahrungen und Prägungen. Wir dürfen neue Erfahrungen machen, bleiben lernfähig bis zum Ende unserer Tage und überraschen uns selbst nicht selten mit neuen Erkenntnissen und veränderten Verhaltensweisen. Es gibt somit keine Entschuldigung, wenn ein Mensch ein Verhalten, das bewußt andere Menschen schädigt, nicht ändert oder sich gehen läßt, weder seine Antriebskraft noch seinen Verstand gebraucht. So bleibt auch schuldig, wer unterläßt, was Lage und Vernunft gebieten. Wuketits verleiht dem verbreiteten Fatalismus eine fadenscheinige und daher ungerechtfertigte „Legitimation“. Ignoranz und Verdrängung aber sind wesentliche Ursachen der Verhängnisse und Gefahren, denen wir ausgesetzt sind. Grundlage aller Ordnung ist, daß jeder Mensch verantworten muß, was er unternimmt und unterläßt. Wuketits beruft sich auf die Freiheit der Lehre und die Unschuld des Willens. Zu hoffen ist, daß seine Mitbürger ihn so nicht davonkommen lassen. Karl-August Hansen (November 2007)
© Copyright 2024 ExpyDoc