Götterzorn - Die Chroniken des Olymp I

Iris S. Kriese
Iris S. Kriese
Götterzorn
Die Chroniken des Olymp I
„Wen du für treu hältst, den fliehe,
Dann bist du gedeckt.
Nimm dich vor Brüdern in Acht,
Vor Verwandten und trauten Genossen.
Dies ist die Schar, aus der
Wirkliche Furcht dir erwächst.“
Ovid
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Jegliche Gemeinsamkeiten mit realen Personen sind nicht von der
Autorin beabsichtigt.
Originalcopyright © Iris S. Kriese 2016
Umschlaggestaltung: Iris S. Kriese; alle Rechte vorbehalten
Umschlagillustration: Iris S. Kriese; alle Rechte vorbehalten
Text: Written by Iris S. Kriese; alle Rechte vorbehalten
Druck und Bindung: Holtzbrinck Digital Content Group
Printed in Germany
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Für alle, die mir wegen dieser Widmung
auf die Nerven gegangen sind.
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PROLOG
Familienbande
Der Wind pfiff kalt durch die nächtlichen Straßen Londons. Der
Mann schlang seinen Mantel enger und beschleunigte seine Schritte.
Obwohl es erst November war, fühlte sich die Luft an als würde sie
jeden Augenblick zu Eis gefrieren. Sein Ziel lag auf der rechten Straßenseite. Er überprüfte, ob ein Auto kam, und hatte Glück. Schnell
eilte er über die Straße bis zur Tür des Merchants. Das Merchants
hatte stets geöffnet, selbst zu einer so späten Uhrzeit. Er drückte die
verdunkelte Glastür auf.
Der Innenraum des Merchants war wie gewöhnlich nicht sonderlich
gefüllt. Für die geheime Gesellschaft der Übernatürlichen war dies der
Untergrund des Untergrunds. In einer Ecke saßen drei kleine vermummte Gestalten, die eine schleimige Suppe aßen und dabei laute
Schmatz-Geräusche von sich gaben. Angewidert wandte der Mann
den Blick ab. Zwerge hatten wirklich keinen Sinn für Anstand. Er
schritt hinüber zur Bar, wo eine der Besitzerinnen des Merchants hinter den Tresen stand und ein paar Gläser abtrocknete.
„Hätte nicht gedacht, dass du in diesem Jahrzehnt noch mal in die
Stadt kommst“, bemerkte die Barfrau, als er sich auf einem Barhocker
niederließ. Sie griff nach einer Flasche mit einer goldenen Flüssigkeit
und schenkte großzügig in ein Glas ein, das sie ihm zuschob. „Man
erzählt sich, du wärst gerade auf großer Weltreise.“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe hier was zu erledigen.“
„Hat es was mit dem Mord an diesem Hexenmädchen zu tun?“, hakte sie nach und strich sich eine rote Strähne hinters Ohr.
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Der Mann verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Du kennst mich
langsam wirklich gut, Daphne.“
Daphne fing wieder an Geschirr abzutrocknen. „Wenn man Leute
wie dich kennt, muss man nun mal aufpassen. Schließlich will ich
keinen von euch zum Feind haben. Außerdem bin ich immer gerne auf
dem Laufenden.“
„Was weißt du über den Tod der Hexe?“, fragte er und trank einen
Schluck.
Sie sah sich um, beugte sich vor und flüsterte: „Es ist praktisch das
Thema des Jahres. Jeder erzählt etwas anderes, weil alle Details verschwiegen werden. Es scheint, als würde Jared Ghosthive persönlich
versuchen alles zu vertuschen. Keiner der Beteiligten verrät etwas.
Man weiß, dass der Schuldige gefasst wurde, doch die offizielle Bekanntgabe des Vorfalls ist erst übermorgen. Bis dahin wirst du auf
weitere Informationen warten müssen. Dabei ist das wirklich eine sehr
spannende Angelegenheit: Erst der Autounfall der Castervilles und
jetzt das… die Adligen bekommen allmählich Angst und flüchten alle
ins Ausland.“
Er schnaubte. „Hast du auch was vom Schwarzen Lord gehört?“
„Er ist in St. Petersburg und sucht nach Alesya. Sie hat sich wohl
seit der Nachricht von dem Mord nicht mehr in der Öffentlichkeit
gezeigt, und das bereitet ihm natürlich Sorgen. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie dahinter stecken würde. Der Ruf des schwarzen Lords
wäre ein für alle Mal ruiniert. Ich nehme aber nicht an, dass du nur
hier bist, um dir den neusten Klatsch berichten zu lassen, oder?“ Sie
betrachtete ihn misstrauisch. „Zudem ist heute vielleicht nicht der
beste Tag für deinen Besuch.“
Sie ruckte mit dem Kopf nach rechts.
Er wandte sich um. Am anderen Ende der Bar saß ein junges Paar,
das sich im Flüsterton unterhielt. Der Anblick der jungen Frau ließ
sein Herz höher schlagen, wofür er sich abgrundtief hasste. Der andere
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Mann dagegen brachte ihn zum Kochen. Ihm fiel auf, dass Daphne ihn
neugierig beobachtete und drehte sich betont lässig wieder um.
„Na und?“, meinte er kalt. „Damit bin ich fertig.“
Sie zog die gefärbten Augenbrauen hoch. „Du tauchst nach sechzehn
Jahren wie aus dem Nichts hier auf, wegen dem Mord an einer kleinen
Hexe? Erzähl mir nicht, dass du in Wahrheit nicht wegen etwas anderem zurückgekommen bist. Vor ‘ner Stunde ist schon deine Schwester, die Jüngere und nicht dein Zwilling, hier aufgekreuzt und hat sich
in ein Hinterzimmer verzogen. Was läuft da bei euch Unsterblichen?“
Er stellte sein Glas ab. „Das ist eine Familienangelegenheit. Wir
müssen uns um ein paar Probleme aus der Vergangenheit kümmern.
Keine Sorge, in ungefähr zwei Jahren ist es vorbei. Du wirst nicht mal
die Gelegenheit haben alles darüber herauszufinden.“
Daphne legte das Geschirrtuch beiseite. „Weißt du, für uns Sterbliche sind zwei Jahre gar nicht mal so wenig.“
Der Mann nahm einen weiteren Schluck. „Deswegen solltest du jetzt
auch so freundlich sein und mir sagen, wo genau sich meine Schwester befindet. Heute ist kein guter Tag um eine einfache Werwölfin zu
töten.“
„Gut zu wissen“, erwiderte Daphne trocken. „Erst in vier Tagen ist
wieder Vollmond, also bin ich heute noch wehrlos. Durch die Tür
neben den Toiletten, die Treppe hoch und die zweite Tür von links.
Viel Spaß.“
Er zog einen Geldschein aus seinem Portemonnaie und legte ihn auf
den Tisch. „Danke. Für alles.“
Sie steckte das Geld weg. „Vielleicht solltest du…“
„Schon geschehen.“ Mit einem Mal klang seine Stimme weiblich
und sein Körper war der einer dunkelhäutigen Frau mittleren Alters.
„Auf Wiedersehen, Daphne.“
Die Frau, zu der der Mann geworden war, folgte Daphnes Wegbeschreibung und öffnete kurz darauf eine Tür zu einem Hinterzimmer.
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Der Raum wurde nur von einer Stehlampe erhellt, die neben dem
kleinen Esstisch in der Mitte stand. Auf einem Stuhl saß eine weitere
Frau mit langen blonden Haaren. Sie sah nicht mal auf, als die dunkelhäutige Frau sich hinsetzte. Diese verwandelte sich zurück in den
blonden Mann.
„Es ist wirklich zu schade, dass diese nichtsnutzige Göre nicht mal
gelitten hat, als sie gestorben ist“, meinte die Blondine abweisend.
„Sie hatte nur einen einfachen Auftrag und den hat sie auch noch vermasselt.“
„Du bist dir also sicher?“, fragte der Mann skeptisch. „Ich dachte
wir hätten alle zukünftigen Reinkarnationen verhindert?!“
Seine Schwester schaute ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. „Es
kann kein Licht ohne Finsternis geben. Das Gute ist nur dann gut,
wenn es auch Böses gibt. Alles muss im Gleichgewicht stehen.“
Er seufzte. „Das bedeutet wohl, dass der Krieg von vorne losgeht.“
Auf ihrem Gesicht erschien die Andeutung eines Lächelns. „Ich
wusste du würdest mein Angebot annehmen. Nach all der Zeit ist es
immer noch sie, die dich kontrolliert. Du richtest dein Leben nach ihr,
unabhängig davon, ob sie noch lebt.“
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nicht jeder von uns hat das
Glück innerlich tot zu sein.“
Seine Schwester wandte den Blick ab. „Der Liebende ist nicht der
Narr der Zeit/ Wenn süßer Wangen Reiz auch welken mag/ Er wandelt
sich nicht mit dem Stundenschlag./ Er lebt im Schicksalslicht der
Ewigkeit“, zitierte sie.
Er lachte auf. „Ich dachte, du wärst keine Freundin von Shakespeare
gewesen.“
Sie betrachtete ihre ordentlich weiß lackierten Fingernägel. „Das
stimmt nicht ganz. Allerdings fand ich die Wahl seiner Geliebten etwas gewöhnungsbedürftig. William wusste nicht mal, mit wem er es
zu tun hatte.“
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„Wo wir gerade bei irgendwelchen Williams sind… Hast du gesehen
wer unten an der Bar sitzt?“, fragte der Mann.
Die Frau griff nach einer Weintraube aus einer Schüssel und steckte
sie sich in den Mund. Das Platzen der Frucht knallte in den Ohren
ihres Bruders und wieder einmal verfluchte er sich für sein übermenschliches Gehör.
„Du bist doch nicht hier, um mir zu erzählen, dass du diesem Bastard Will und seiner Frau nachspionierst oder?“, entgegnete sie süßlich. „Es gibt schließlich viel interessantere Personen, die man beobachten kann. Hast du in letzter Zeit meinen Lieblingsdämon getroffen?“
Er nahm sich ebenfalls eine Traube, aß sie aber nicht. „Ayil ist kein
Dämon, sondern irgendwas zwischen Himmel und Hölle und jedes
Mal, wenn ich in ihrer Nähe war, hat sie versucht mich schwer zu
verwunden. Wenn sie könnte, würde sie mich glatt töten.“
Seine Schwester blickte ihn kalt an. „Du bist halt schwach. Niemand
wird jemals deine Macht anerkennen, wenn du immer wieder alles
aufgibst, um einem längst vergangenen Traum nachzujagen. Manchmal reicht es nicht unendlich lang leben zu können. Man muss auch
die Fähigkeit besitzen, so ein langes Leben mit Lebendigkeit zu füllen.“
„Deine ‚Lebendigkeit‘ besteht zur Hälfte daraus, immer und immer
wieder die gleichen Leute umzubringen“, erinnerte er sie.
Sie nickte. „So muss man das machen, wenn der größte Feind, der
im Übrigen unsere Unsterblichkeit beenden könnte, einfach nicht tot
bleiben will.“
„Aber du wirst mit jedem Mal brutaler. Es sterben immer mehr und
das immer früher“, wandte er ein. Er beugte sich vor. „Du verlierst
langsam den Verstand. Die Bedrohung, vor der du solche Furcht hast,
existiert nicht mehr.“
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Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Kennst
du nicht das Sprichwort: ‚Je früher, desto besser‘?“
Sie legte den Kopf schief. „Du bist mein Bruder, einer von meinem
Blut. Aber woher soll ich nur wissen ob ich dir auch vertrauen kann?“
Er seufzte. „Du vertraust nicht mal einer Handvoll Leute, Schwesterchen.“
Sie lachte abfällig. „Und wenn es sein muss, schneide ich mir sogar
den ganzen Arm ab.“
Er erwiderte ihr lächeln. „In Ordnung, jetzt wissen wir, wo wir beide
stehen. Wie sieht dein Plan aus?“
„Ach, nur das übliche“, meinte sie gelassen. „Romantik, Drama, Action, ein bisschen Magie hier und ein Stück Verwirrung da – es wird
der beste Weltuntergang den wir bisher hatten. Danach“, ihr Lächeln
vertiefte sich. „Danach wird neu angefangen. Und diesmal werde ich
die Regeln der neuen Ordnung bestimmen.“
„Klingt gut. Welches Ende hast du dir für, na ja, du weißt schon…
ausgedacht?“, fragte er zögernd.
„Steh auf und komm her“, befahl sie gebieterisch.
Er beschloss, dass es sinnlos war nachzufragen und folgte stumm ihrem Befehl.
„Hand ausstrecken“, sagte sie kühl.
Gehorsam streckte er ihr seine linke Hand hin. Sie ergriff sie mit ihren eigenen Händen. Er schaute ihr ins Gesicht. Ihre sonst blaue Iris
hatte die Farbe von goldenem Honig. Sein Blickfeld verschwamm und
als nächstes sah er ein Schlachtfeld.
Eine junge Kriegerin in schwarzer Rüstung kämpfte gegen eine Armee aus allen möglichen Fabelwesen. An ihrer Seite war Ayil, was
ihm Gewissheit über die blondem Haar auf. Die Augen dieses Kriegers glühten golden, genau wie die der Schwester des Mannes zuvor
auch. Der Krieger schwang sein Schwert und trennte der Kriegerin
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den Kopf ab. Zufrieden bemerkte der Mann, dass Ayil in diesem Augenblick ebenfalls erstochen wurde.
Die Vision verschwand und er stand wieder vor seiner Schwester im
Hinterzimmer des Merchants.
„Ich nehme an, dass er das ist, richtig?“, fragte er amüsiert.
Sie grinste, und zum ersten Mal an diesem Abend war ihr Lächeln
echt. „Die Jagd ist eröffnet.“
Er konnte nicht anders, als in ihr grausames Lachen einzustimmen.
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TEIL I
Glühende Finsternis
Vergebung ist ein Privileg, welches dir alle,
Die dir am Herzen liegen, erst dann gewähren
Wenn sie deine Hilfe benötigen in ihrem Falle
Der sie aus den Lüften des Himmels soll lehren,
Dass Zeit verrinnt wie ein wirbelnder Sandsturm,
Dass wir für die Göttlichen lästig sind wie ein Wurm,
Dass wir so vergänglich sind wie diese,
Die schon verweilen auf der paradiesischen Wiese.
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Glühende Finsternis
KAPITEL I
Die Mörderin & die Männlichkeit von
auf Pferden reitenden Idioten
Falls ich jemals auf denjenigen treffen sollte, der für das Schicksal
verantwortlich war, würde ich ihn umarmen. Um den Hals. Mit einem
Seil. Und dann würde ich den Stuhl unter ihm oder ihr wegtreten. Es
würde mir Spaß machen dabei zuzusehen, wie er oder sie litt. Denn
das, was aus meinem Leben geworden war, war ein einziger Witz.
Mein Name ist Aria Grey. Ariana Grey, um genau zu sein, aber Ariana war viel zu lang um es auszusprechen und dazu kam, dass es sich
anhörte als wäre ich schon uralt. Vierzig Jahre alt oder so. Ich bin
schließlich erst siebzehn und führe ein fast normales Teenager-Leben.
Als ich die Schlange vor der Passkontrolle am Ticketschalter zum
ersten Mal gesehen hatte, hatte ich mir insgeheim gewünscht die letzten zwei Jahre in Europa verbracht zu haben. Die Warteschlange für
die europäischen Reisenden war einfach viel kürzer als unsere und
bewegte sich sogar, was unsere definitiv nicht tat. Leider traf es sich
auch, dass ich kaum Geduld hatte. Davon besaß ich nämlich ungefähr
so viel wie ein Junkie, der jeden Augenblick seinen Stoff bekommen
würde. Mit anderen Worten: Überhaupt keine.
Katherine Parr, meine Aufsicht, die mich nach Hause zu meiner Familie bringen sollte, unterhielt sich die ganze Zeit mit dem chinesischen Seniorenehepaar hinter uns auf Mandarin, während ich mir aus
lauter Langeweile die Durchsagen aus den Lautsprechern anhörte. Das
Londoner Wetter war wie immer im November nicht besonders flug-
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zeugfreundlich und es wurde praktisch durchgehend von Verspätungen berichtet. Die wenigen Geschäftsleute, die mit uns von Los Angeles nach London geflogen waren, hatte man über diese Problematik
nicht informiert. Katherine und ich sind die einzigen gewesen, die
ganz ruhig geblieben waren, als der Pilot eine Extra-Runde über den
Flughafen Heathrow angekündigt hatte. Sogar die etwas fülligere
Stewardess namens Poppy hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch
erlitten. Dabei war es eigentlich ihre Aufgabe uns zu beruhigen, nicht
anders herum.
Langsam bewegten wir uns vorwärts und nach einer gefühlten
Ewigkeit erreichten wir endlich die Passkontrolle. Der Mann in dem
Glaskasten nahm unsere Pässe und ließ sie gemeinsam mit unseren
Tickets über den Scanner laufen. Er gehörte nicht gerade zu den redseligsten Menschen, denn alles was er zu uns sagte war: „Hallo“, „Danke“ und „der Nächste, bitte.“
Katherine verabschiedete sich von ihren neuen Freunden und folgte
mir durch eine Reihe langer Gänge in die riesige Empfangshalle. Ich
fühlte mich wie ein Star auf dem roten Teppich bei einer wichtigen
Preisverleihung, während wir durch den für ankommende Fluggäste
abgesperrten Bereich gingen. Links und rechts am Rand stand eine
Menge von Wartenden, von denen die meisten ein ‚Willkommen‘Schild in den Händen hielten. Alle redeten wild durcheinander in den
verschiedensten Sprachen, sodass die Luft von einem unvergleichlichen Summen erfüllt wurde.
Unser Empfangskomitee bestand aus… Franklin. Dads Arbeitskollegen, der sich in seiner Freizeit wie ein in die Jahre gekommener
Rockstar kleidete.
„Willkommen im Vereinigten Königreich, Aria“, begrüßte er mich
steif und reichte mir seine Hand. Ich musste erstmal meine Reisetasche abstellen, bevor ich sie schütteln konnte.
„Hattest du eine gute Reise?“, fragte er.
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Ich zuckte mit den Schultern und hob mein Gepäck wieder auf. „Wie
man’s nimmt. Ich musste mich jedenfalls nicht übergeben.“
„Aria, bitte“, wies Katherine mich naserümpfend zurecht.
Franklins Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. „Kommt
mit, mein Wagen steht hier in der Nähe.“
Wenn ich uns aus dem weihnachtlich geschmückten Flughafen hätte
lotsen müssen, wären wir garantiert gezwungen gewesen auf der Toilette zu übernachten. Franklins ‚in der Nähe‘ bedeutete nämlich fünfzehn Minuten Fußmarsch durch so gut wie alle Stockwerke. Heathrow
war gigantisch und kaum beschildert, ein richtiger Irrgarten aus Glas
und Stahl. Dank Franklin und einer netten Kleinfamilie, die uns dem
Vortritt bei einem der Fahrstühle gewährte, landeten wir wie geplant
auf dem Parkplatz. Nach ein bisschen Tüftelei schafften wir es sogar
unser gesamtes Gepäck im Kofferraum unterzubringen. Bis auf Katherines Handtasche, denn die hätte unser Meisterwerk des Reinstopfens
gesprengt und musste deshalb mit uns auf die Rückbank.
Erschöpft sank ich in den weichen Sitz.
„Schlecht geschlafen?“, fragte Katherine mitleidig. Unter ihren asiatisch-mandelförmigen Augen lag nicht mal der Hauch von Müdigkeit.
„Du siehst fertig aus.“
Kunststück, wo ich doch die ganze letzte Woche nie mehr als vier
Stunden am Stück geschlafen hatte, weil ich meine Vorfreude auf
London so groß gewesen war. Allerdings hatte diese nicht dem
Schneeregen gegolten, der von außen gegen die Fenster klatschte und
meine schöne Aussicht ruinierte.
„Im Flieger war so ein Typ neben mir“, erwiderte ich und strich mir
eine Strähne meines dunklen Haares aus dem Gesicht. „Ich habe mich
die ganze Zeit mit ihm unterhalten.“
„Ist das da seine Handynummer?“, sie deutete auf meinen rechten
Handrücken, der mit krakeligen Zahlen bekritzelt worden war.
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Ich nickte. „Er heißt Collin Singer, ist eigentlich Ire und hat ein
schulisches Auslandsjahr in San Francisco gemacht.“ Ich mied absichtlich ihren prüfenden Blick.
„Und er hat dir einfach so seine Nummer gegeben?“, hakte Katherine nach. „Oder hast du ihn darum gebeten?“
„Ich musste ihm zweimal die irische Nationalhymne rückwärts vorsingen“, antwortete ich ironisch.
Franklin auf dem Fahrersitz gluckste leise. Wahrscheinlich wusste er
genauso gut wie Katherine, dass ich die irische Nationalhymne nicht
kannte. Ich kannte ja nicht mal alle Strophen der britischen, obwohl
ich gebürtige Londonerin war.
Katherine seufzte und zupfte eine Fluse von ihrem roten Kaschmirmantel. „Hauptsache es passiert dir nichts, bis ich dich zu deiner Familie gebracht habe. Deine Eltern bringen mich um, wenn dir jetzt
noch etwas passiert.“
Oh Mann, da war ich erst seit knapp zwei Stunden wieder in England, fing sie schon wieder damit an. Es war doch schon schlimm
genug gewesen, mich die letzten zwei Jahre von allen zu trennen, die
ich kannte und mich in die USA zu schicken, da musste sie nicht
schon wieder die alten Geschichten hervorkramen. Ich kannte das
Risiko zurückzukommen besser als jeder andere.
„Wir sind da“, meinte Franklin und hielt vor einem altmodischen
Herrenhaus. Die beiden Tannen im Vorgarten waren mit Lichterketten
geschmückt, genau wie ich es in Erinnerung hatte.
Franklin öffnete mir die Tür, ging um den Wagen rum und machte
anschließend vorsichtig den Kofferraum auf. Ich stieg aus und blieb
stehen, bis Katherine neben mich trat. In meinem Bauch breitete sich
ein mulmiges Gefühl aus. Mein Zuhause nach all der Zeit wiederzusehen fühlte sich seltsam an.
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„Alles ist gut, Aria“, versuchte Katherine mich zu beruhigen. „Dir
kann nichts mehr passieren. Deine Familie wird dich beschützen. Keiner kann dir zu nahe kommen.“
Ich holte tief Luft. „Weiß ich. Es ist nur so…seltsam. Aber ich bin
bereit dafür.“
Nein, das war ich eigentlich nicht, doch das musste sie ja nicht unbedingt wissen.
Katherine zog mich in eine Umarmung. „Ich werde nicht weit weg
sein“, versprach sie. „Du kannst jederzeit zu mir kommen.“
„Aber nur solange du nicht gerade irgendwo anders den Moralapostel spielst“, erinnerte ich sie.
Sie konnte ihre Arbeit nicht jederzeit für mich beenden. Die Leute,
die sie betreute, brauchten ihre Hilfe.
Sie lachte. „Schade, ich dachte, ich könnte dich ab und zu mitnehmen und zeigen was für gute Arbeit ich bei dir geleistet habe.“
Die Tür des Herrenhauses wurde geöffnet und ein Mann im Frack
mit einem hohen Zylinder und Gehstock kam heraus. Es fehlte noch
das Monokel und sein Kostüm wäre perfekt. Ich befürchtete aber, dass
dies überhaupt kein Kostüm sein sollte. Der merkwürdig gekleidete
Mann schritt würdevoll die kurze Steintreppe vor dem Haus runter,
winkte Franklin zu und machte eine kleine Verbeugung vor uns, bei
der er sogar seinen Hut zog.
„Aria Grey, wieder zurück und wohlauf, wie ich sehe.“ Er machte
Anstalten meine Hand zu küssen, doch ich steckte sie schnell in meine
Jackentasche. Ich war nicht die Queen und ich kannte diesen Typen
nicht, also war meine Reaktion nur gerechtfertigt.
Er nahm meine Abweisung mit Fassung und wandte sich an Katherine. „Ach, Katherine Parr, die gute Fee, die schon so viele verlorene
Seelen zurückgeführt hat. Willkommen in England.“
Katherine hob eine Augenbraue. „Mein Ruf eilt mir wohl voraus.
Und Sie sind...?“
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„Wie überaus unhöflich von mir“, sagte der Mann. „Lord Malicious
Balduin Frederic George Albert Blackburn, der Dritte. Doch nennen
Sie mich einfach Lord Blackburn.”
Als könnte ich mir die anderen Namen merken.
Innerlich verdrehte ich die Augen. Der Typ war seltsam, so viel
stand fest. Abgesehen von seiner Kleidung sah er fast gut aus. Dunkles Haar, blasse Haut und ein einprägsames Gesicht mit vielen Kanten. Nur seine Augen waren unheimlich; tiefschwarz und rot umrändert, so als wären sie vor kurzem noch stark entzündet gewesen.
„Sie arbeiten für die Adligen“, stellte Katherine fest.
Der unheimliche Blackburn lächelte bedauernd. „Meine Liebe, ich
arbeite für niemanden. Doch ich komme nicht umhin zuzugeben, dass
die höheren Schichten der Gesellschaft meine Anwesenheit des Öfteren, auf eigenen Wunsch hin, genießen. Dieses Privileg lasse ich heute
Abend aber auch dieser jungen Dame zukommen. Ich hatte geschäftlich mit Mister Grey zu tun und wurde von der reizenden Misses Grey
eingeladen, den heutigen Feierlichkeiten beizuwohnen. Würden Sie
mir die Ehre erweisen mich hinein zu begleiten, Miss Grey?“
Wie ein Gentleman aus früheren Zeiten bot er mir seinen Arm an.
„Ähh…“ Ich wusste nicht so recht was ich tun sollte und war deswegen froh, dass Franklin in diesem Moment fragte: „Aria, kannst du
deinen Rucksack nehmen?“
Ich ließ den unheimlichen Blackburn stehen und half stattdessen
Franklin mit meinem Gepäck. Katherine nahm sich ebenfalls ihre
Sachen und verabschiedete sich von uns. Ich sah ihr nach, wie sie die
immer dunkler werdende Straße runterlief. Der unheimliche Blackburn begleitete Franklin und mich ins Haus. Als große Hilfe stellte er
sich nicht heraus, denn er wartete darauf, dass ich mein Zeug abstellte
um ihm die Tür zwischen dem kleinem Empfangsraum und dem Erdgeschoss des Hauses zu öffnen.
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Blöder Schleimer, dachte ich. Erst den Kavalier geben und sich dann
bedienen lassen.
Der Aufenthaltsraum hinter der Empfangshalle sah noch genauso
aus, wie ich ihn im Gedächtnis hatte. Dunkler Holzboden, kahle weiße
Wände und ein protziger Kronleuchter an der Decke. An der gegenüber liegenden Wand befand sich eine breite Treppe, die in das obere
Stockwerk führte. Die einzige Dekoration neben dem Kronleuchter
war ein riesiges Portrait zwischen zwei Fenstern. Allerdings konnte
man das Bild gar nicht sehen, da es von einem schwarzen Tuch verhangen wurde.
„Dad ist also nach wie vor gegen eine vernünftige Raumgestaltung
allergisch“, stellte ich fest.
„Er mag es halt lieber so“, ächzte Franklin und wuchtete mein Gepäck in eine leere Ecke.
Mitten im Raum stand unser Esstisch, der schon gedeckt worden
war. Ich sah mich suchend um. „Wo sind die denn alle?“
Leider schaffte ich es nicht ganz, die Enttäuschung aus meiner
Stimme zu nehmen.
Die Tür neben der Treppe ging auf. Zuerst kamen meine Eltern heraus, die eine große Torte trugen, dann folgten meine Brüder Henry
und Stephen. Hinter ihnen strömten immer mehr Leute herein; mein
Onkel Carson, meine Großeltern, unsere Nachbarn, Freunde meiner
Eltern wie Franklin und zu guter Letzt: Polly und Meggie, die besten
Freundinnen meiner Großmutter väterlicherseits.
Meine Eltern stellten die Torte ab und kamen dann zu mir herüber
um mich in den Arm zu nehmen.
Es kam zu einem richtigen Durcheinander. Ich wurde umarmt, musste viele Hände schütteln und mindestens dreimal so viele Fragen beantworten. Als Mum uns dann endlich dazu aufforderte uns hinzusetzen, verspürte ich eine richtige Erleichterung. Die Sitzordnung war
gut gewählt. Ich befand mich vor Kopf, sodass alle meine Tischnach-
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barn ums Eck saßen. Links von mir hatten sich die Eltern meiner Mutter niedergelassen, die beide eher zurückhaltend waren, wenn es um
mich ging. Auf der anderen Seite breiteten sich Henry und Stephen
aus, die sich erstmal aufs Essen statt auf mich fixieren würden. Das
hieß, dass ich zumindest vorerst nicht wie bei einer wichtigen Pressekonferenz ausgefragt werden würde.
Die Torte hatte unsere Nachbarin Misses Eddison gebacken, die neben ihrem Mann auch noch ihre Tochter Elise mitgebracht hatte. Früher war ich Elises Babysitter gewesen, doch jetzt war sie sieben und
verkündete laut bei Tisch, dass sie keine Aufsicht mehr bräuchte. Neben mir verkniff sich Henry ein Lachen. Er wurde nächsten März
einundzwanzig, deswegen war sieben Jahre alt sein in seinen Augen
keine große Leistung.
Genoveva, Mums Mutter, wandte sich höflich an mich und fragte:
„Wie bekam dir das Essen da drüben, Aria?“
‚Da drüben‘ war die Bezeichnung von Genoveva und ihrem Mann
Flavius für die Vereinigten Staaten. Sie gehörten zu der Art Engländer, die die Unabhängigkeit der früheren menschlichen Kolonien als
ein Verbrechen sahen und würden das Kürzel ‚USA‘ nicht mal dann
in den Mund nehmen, wenn ihr Leben davon abhing. In meinen Augen waren Flavius und Genoveva viel zu altmodisch. Dass Mum und
Dad mich vor siebzehn Jahren adoptiert hatten, machte ihnen immer
noch zu schaffen.
Henry und Stephen waren die leiblichen Kinder meiner Eltern. Von
Genoveva und Flavius wurden sie deshalb immer bevorzugt, egal wie
sehr Mum und Dad versuchten mich in die Familie zu integrieren. Bei
Dads Eltern, Annie und Hugo Hastings, war das kein Problem. Sie
behandelten uns drei alle gleich. Meistens bekamen wir sogar alle
dasselbe zu Weihnachten, obwohl Henry ja fast drei Jahre älter war als
Stephen und ich. Für uns gab es jedes Jahr von ihnen jeweils einen
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selbstgestrickten Schal, eine große Dose Plätzchen und hundert Pfund,
die wir irgendwo verprassen konnten.
Die Weihnachtsgeschenke der Grey’schen Großeltern waren immer
unterschiedlich. Letztes Jahr hatten sie mir ein Buch über englische
Weihnachtstraditionen geschickt. Vermutlich damit ich nicht vergaß,
dass wir hier keine Plastikschneemänner auf unsere Dächer stellten.
Henry hatte mir am Telefon erzählt, dass sein Geschenk ein Lehrgang
in der Kochschule gewesen war. Stephen hatte eine Armbanduhr bekommen. Zumindest Henry hatte unbedingt mit mir tauschen wollen,
weil er Kochen für pure Zeitverschwendung hielt. Wenn ihm nicht
jemand anderes Essen zubereitete, bestellte er sich einfach etwas beim
Italiener einen Ort weiter. Wir hatten uns darauf einigen können, dass
ich mit dem Kochkurs noch weniger anfangen konnte als er. Nicht
weil ich nicht gerne kochte, sondern weil ich in meinem Internat in
Kalifornien einfach zu weit weg wohnte von hier. Ansonsten hätte ich
das Angebot sicher angenommen. Ich fand die Zubereitung von Essen
ziemlich faszinierend, aber alles, was über das Aufgießen von heißem
Wasser für Nudeln hinausging, überschritt meine Fähigkeiten.
„Das Essen war besser als ich es erwartet hatte“, antwortete ich
wahrheitsgemäß.
Dass ich beim Anblick eines normalgroßen Burgers, der ungefähr
die Größe eines Chihuahuas gehabt hatte, fast in Ohnmacht gefallen
wäre, erzählte ich nicht. Bis heute war es mir ein Rätsel, wie diese
Zahnstocherbreite Cheerleaderin Bethany es geschafft hatte, den zu
essen.
„Janice meinte, du hättest dich gut mit denen verstanden“, bemerkte
Flavius und nippte an seinem Tee.
‚Denen‘ entsprach in diesen Fall wohl den Amerikanern und Janice
war meine Mum.
Ich nickte. „Alle waren total nett. Vor allem die Cheerleader.“ Bis
auf Bethany. Die war noch heute ein arrogantes Miststück. „Ich bin
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dann auch selber Cheerleader geworden. Die Atmosphäre beim Training und bei den Spielen ist einfach großartig.“
Genoveva rümpfte die Nase. „Football“, sagte sie angewidert. „Das
ist kein Sport, sondern ein Wettkampf für Dummschwätzer.“
„Polo, das ist wirklich männlich“, fügte Flavius hinzu.
Ja klar, dachte ich, vor allem der Teil auf den Pferden. Männlicher
geht’s nicht.
Laut erwiderte ich: „Manche der Cheerleader reiten auch.“
Henry kicherte leise. „Ja, aber keine Pferde.“
Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Stephen grinste, während er sich
ein Stück Torte in den Mund schob. Genoveva und Flavius, die übrigens darauf bestanden, dass wie sie mit ihren Vornamen ansprachen,
sahen verwirrt zwischen uns dreien hin und her.
Mum, die weiter vorn am Tisch neben Misses Newsome, der alten
schrulligen Dame von schräg gegenüber, gesessen hatte, stand auf und
kam zu uns rüber. Sie reichte mir eine Dose mit Tabletten, auf deren
Etikett mein Name stand.
„Doktor Pinner hat mir die hier für dich gegeben. Du sollst nach jedem Essen zwei davon nehmen“, erklärte sie.
Ich nahm die Dose und steckte sie in meine Hosentasche. Es musste
ja nicht jeder sehen, dass ich Medikamente brauchte. Und mit meinem
Stück Torte war ich auch noch nicht fertig. Mum strich mir über den
Kopf. „Alles okay bei dir?“
„Nein“, antwortete Genoveva für mich. „Janice, wie konntest du nur
zulassen, dass Aria Cheerleader wird? Das ist eine Schande für die
ganze Familie!“
Mum atmete tief durch. „Mutter, bitte. Aria ist alt genug um für sich
selber entscheiden zu können. Sie wollte Cheerleader werden, also
warum hätte ich es ihr verbieten sollen?“
„Sie hätte dann vielleicht Polo gespielt “, jammerte Flavius. „Oder
Golf.“
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„Selbst Tennis wäre besser gewesen“, bekräftigte Genoveva ihn.
„Mein Gott, reißt euch mal zusammen“, fuhr Mum die beiden an.
„Mit eurer schlechten Laune macht ihr allen die Stimmung kaputt.“
Ich legte Mum eine Hand auf den Arm. „Lass sie doch, ich kann das
ab.“
Mum strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht
und betrachtete ihre Eltern kalt. „Du solltest das gar nicht abkönnen
müssen, Aria. Deine Großeltern müssen sich dir gegenüber anders
benehmen, wenn sie beim nächsten Familientreffen noch dabei sein
wollen.“
Genoveva stand auf. „Hervorragend, ich denke wir gehen lieber. Anscheinend sind wir hier nicht erwünscht. Bis bald, macht’s gut Henry,
Stephen.“
Sie stapfte, ohne Mum oder mich eines Blickes zu würdigen, in
Richtung Eingangshalle. Flavius dackelte ihr hinterher, irgendetwas
davon murmelnd wie gut Kricket mir tun würde.
Mum seufzte, als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel. Sie setzte sich auf den nun freien Platz neben mir. „Was für ein Schlamassel.
Die beiden lernen es wohl nie.“
Ihr jüngerer Bruder Carson rückte auf Flavius‘ Platz auf. „Du solltest dich nicht beschweren, Janice. Sie sind alt und stur, da änderst du
jetzt auch nichts mehr dran.“
Mum nickte. „Wahrscheinlich hast du Recht.“
Ich widmete mich wieder meinem Tortenstück. Mum und Carson
führten diese Gespräche öfters. Im Grunde sogar jedes Mal, wenn wir
auf Genoveva und Flavius trafen. Im Gegensatz zu meinen Großeltern
waren sowohl Mum, wie auch Carson, offen für Neues. Beide beschäftigten sich beruflich mit anderen Leuten. Meine Mum als Anwältin, Onkel Carson als offensiver Berserker.
Berserker. Meine ganze Verwandtschaft bestand aus ihnen. Sie waren übernatürlich schnell, stark und hatten einen Tötungsinstinkt für
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Dämonen. Henry war einer, auch wenn er die meiste Zeit nur zusammen mit Dad die Verletzten wieder zusammenflickte. Mum kümmerte
sich um die Fälle vor Gericht, in denen Dämonen ein Problem für die
menschliche Öffentlichkeit wurden. Carson jagte Dämonen und
brachte sie zur Strecke, und Stephen ging genau wie ich noch zur
Schule. Doch er wollte nach unserem Abschluss im Sommer ebenfalls
wie Carson auf die Jagd gehen. Auch Genoveva, Flavius, Grandma
Annie und Grandpa Hugo waren Berserker, aber inzwischen befanden
sie sich alle im Ruhestand. Ich war die einzige in der Familie, die
keine Berserkerin war, sondern eine Hexe.
Statt zu lernen, bösen Dämonen in den Hintern zu treten, brachte
man mir lateinische Zaubersprüche bei und bläute mir ein, dass ich
das natürliche Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht zerstören
durfte. Dabei passte ich rein vom äußerlichen her gut zu den anderen.
Ich hatte zwar weder das Blondhaar von Mum, noch ihre und Carsons
blaue Augen, doch die hatten Henry und Stephen auch nicht. Sie kamen beide nach Dad: dunkles Haar (das inzwischen schon um einiges
ergraut war), blasse Haut und warme braune Augen, die ein wenig
meinen grün-schlammbraunen-steingrauen Augen ähnelten. Ich fand,
dass meine Augen aussahen wie ein schmutziges Stück Moos, auch
wenn Mum sagte, sie würden charmant aussehen. Meine Haare waren
auch dunkel und genauso wellig wie die meiner Brüder. Selbst Carson
hatte braune Haare, die er von Flavius geerbt hatte. Das konnte man
jetzt leider nicht mehr erkennen, da Flavius seit Jahren eine weiße
Halbglatze zur Schau stellte, doch auf Fotos von früher war es deutlich zu sehen.
„Die zwei sind nicht die einzigen Idioten in der Familie“, murmelte
Stephen, so laut, dass selbst ich es hören konnte.
Mum sah ihn warnend an. „Fang jetzt nicht damit an! Wir haben das
Thema heute Morgen gründlich ausdiskutiert!“
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Stephen hob abwehrend die Hände. „Ist ja gut, reg dich ab, Mum.“
Er stand auf. „Ich geh jetzt auf mein Zimmer. Wenn ich nicht ein bisschen was für Englisch mache, wird mein Zeugnis noch schlechter als
es dank Religion sowieso schon ist.“
Mums Gesichtsausdruck wurde bitter ernst. „Du. Bleibst. Hier.“
Knurrte sie.
Stephen tat so als hätte er sie nicht gehört, schob seinen Stuhl ran
und ging zur Treppe. Mum erhob sich, das Gesicht blass vor Wut.
„Stephen Benedict Grey, du setzt dich auf der Stelle wieder hin!“
„Gute Nacht, Mum“, erwiderte mein Bruder gelassen und ging hoch
in den ersten Stock. Stille war eingekehrt, alle starrten entweder uns
an oder Stephen hinterher
Mum wollte ihm nachgehen, doch Dad meinte: „Du kannst nichts
tun, Janice. Er macht sowieso was er will.“
Mum sah sich um als würde ihr erst jetzt auffallen, dass wir noch ein
Dutzend Gäste am Tisch sitzen hatten, die sie alle aufmerksam beobachteten. Sie atmete tief durch und ließ sich wieder auf ihren Stuhl
fallen.
„Daniel, gib mir bitte meinen Teller rüber“, sagte sie zu Dad.
Langsam löste sich die Spannung wieder auf und alle fingen an
munter weiter zu quatschen. Ich nutzte die Gelegenheit, beugte mich
zu Henry und flüsterte: „Was hat Stephen denn für ein Problem mit
Religion? Die Lehrer sind gerade in diesem Fach doch immer absolut
entspannt.“
Henry grinste. „Er hat seiner Lehrerin einen Textmarker ins Gesicht
geworfen. Da ist sie ausgeflippt und hat dem Direktor befohlen ihn
von der Schule zu werfen. Sie meint, er wäre gemeingefährlich.“
Ich hob meine Augenbrauen. „Warum hat er sie mit einem… Textmarker…?“,
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Henry nickte bestätigend, „…Abgeworfen? Weiß nicht, hat er nicht
gesagt“, antwortete er achselzuckend. „Außerdem hat es mich nicht
genug interessiert um nachzufragen.“
Typisch Henry.
Ich nahm mir noch ein zweites Stück Torte. Mum und Carson erkundeten sich nach meinem Leben in Amerika. Sie fragten nach Einzelheiten über meine Freunde, mein Cheerleader-Training und über
das Leben im Internat, die ich ihnen noch nicht am Telefon erzählt
hatte. Ich versuchte ihnen alles mit der nötigen Begeisterung zu erzählen, schließlich hatte ich alles live miterlebt und hatte viel mehr Spaß
gehabt, als es sich vielleicht anhörte. Ab und zu klinkte sich Henry in
unser Gespräch ein und stellte eigene Fragen. Im Gegensatz zu Mum
und Carson wollte er ausschließlich etwas über die Partys wissen, auf
denen ich gewesen war. Zu viele Hollywood-Streifen hatten ihm offenbar gezeigt, dass die Amerikaner ein Fest nach dem anderen feierten, von denen jedes einzelne genug Skandale für einen ganzen Roman enthielt. Zwischendurch kam auch Grandpa Hugo rüber um mir
zu verkünden, wie stolz er und Grandma Annie auf mich waren. Ich
vermutete, er hatte das größtenteils nur gesagt, um einen Grund zu
haben vor Grandma und ihren Freundinnen fliehen zu können, die am
anderen Ende des Tisches die Köpfe zusammengesteckt hatten.
Polly, Meggie und Grandma Annie kannten sich schon seit ihrer
Kindheit und waren seitdem unzertrennlich. Für mich waren Polly und
Meggie so etwas wie Großtanten. Die drei hatten ihr ganzes Leben
gemeinsam verbracht und laut Grandpa Hugo mehr Blödsinn im Kopf
als eine ganze Schulklasse pubertierender Teenager zusammen. Laut
Grandpa würde sein etwas altersschwaches Herz es nicht schnell genug schaffen ihn unter die Erde zu bringen, weil Annie ihn schon genug umbrachte. Grandma war der Ansicht, das Leben konnte nur dann
genossen werden, wenn es auch einen Nervenkitzel gab. Sie liebte es
manchmal in die Berserkerzentrale zu gehen, sich dort nach einem
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besonders schlimmen Dämonenvorfall umzuhören und dann loszumarschieren, um die Höllenbrut zu erledigen. Sie verließ das Haus nie
ohne Waffen. Ich würde schwören, dass sich momentan in der Handtasche unter ihrem Stuhl mindestens ein Messer befand, das so scharf
war, dass es beim Schlachter für das Häuten von Krokodilen benutzt
werden könnte.
Noch schräger war Meggie. Ich hatte ihr Haus nur einmal betreten,
aber das hatte gereicht, um mich für mein Leben zu zeichnen. Meggie
war von Blumen besessen, und zwar richtig. Bei ihr Zuhause sah es
aus wie in einem Urwald. Überall standen Blumentöpfe und Balkonkästen mit jeder Art von Blumen. Sie hatte wahrscheinlich mehr von
den Dingern als der botanische Garten von London. Stephen hatte bei
unserem Besuch vor fünf Jahren versucht, einen ihrer fleischfressenden Lieblinge zu füttern, was ihm eine schöne Narbe an seinem rechten Zeigefinger eingebracht hatte. Selbst Meggies Kleidung zeugte
von ihrer Liebe zu Blumen, denn sie trug nur bedruckte Kleider mit
einfarbigen Strickjacken und im Winter einen moosgrünen Mantel
drüber. Nicht mal ihre Haare blieben verschont, denn die trug sie
schon seit ich sie kannte in einem auffälligen Smaragdton.
Das alles war aber nichts im Vergleich zu Polly.
Polly hatte einen Narren an selbstgemachten Hüten gefressen. Das
wäre ja nicht weiter schlimm, wenn ihre Hüte nicht so absurd gewesen
wären. Ihr heutiges Exemplar glich einem schwarz-roten Cowboyhut
mit einem Flugzeugmodell oben drauf, auf dem das abgeänderte Logo
von Britsh Airways stand: ‚Aria’s homeways‘. Das war aber immer
noch besser als der Taubenkäfig-Hut den sie an der Goldhochzeit
meiner Großeltern angezogen hatte. Irgendwann hatte sie diesen auf
den Tisch gestellt und angefangen die lebendigen Tauben darin zu
füttern. Ein Anblick, den man nicht so schnell vergisst. Zu den anderen Highlights ihrerseits zählten ein Rentierkopf (auf ihrem Kopf, man
konnte ihr Gesicht noch sehen) an Weihnachten, eine Diskokugel-
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Kappe am Geburtstag meiner Mutter und das Tafel Set-Barett, bestehend aus einem Schwamm und Kreidestücken, an meinem ersten
Schultag.
Und trotz all der Macken, die Grandma Annie und ihre Freundinnen
hatten, waren sie die fröhlichsten Leute, die ich kannte. Mit ihnen
wurde es niemals langweilig, egal wann. Ich vermutete das war der
Grund, was Grandpa so an Grandma mochte.
Die Tür zur Eingangshalle wurde aufgerissen und ein Typ in Henrys
Alter kam hereingestürmt
„‘tschuldigung, dass ich zu spät bin.“, setzte er an, dann bemerkte er
die vielen anwesenden Leute. „Scheiße.“
Oh Mann, das konnte glatt von mir sein.
Dad stand auf. „Aria, das ist Ash. Er wohnt seit dem Sommer bei
uns.“
Ash. Komischer Name. Klang irgendwie nach Arsch. Ich nickte ihm
peinlich berührt zu. Was sollte ich jetzt sagen?
Henry nahm mir die Entscheidung ab, in dem er Ash Stephens Platz
anbot. Ash und Dad setzten sich, was die anderen dazu aufforderte
ihre Gespräche von gerade wieder aufzunehmen. Mum reichte Ash
wortlos ein Stück Torte, das er aber nicht anrührte. Stattdessen starrte
er mich an.
Und ich, einfallsreiches Genie, starrte zurück.
Er hatte dieselben dunklen Haare wie meine Brüder und ich, und
auch dieselbe helle Haut. Sein Gesicht war hübsch, ohne dabei weiblich zu wirken und sein Körper… traumhaft. Doch das faszinierendste
an ihm waren seine Augen. Sie hatten die Farbe eines klaren Winterhimmels, was total aus seinem Gesicht hervorstach. Die Iris wechselte
ständig von Silber zu Türkis, so als könnte sie sich nicht entscheiden
wie sie lieber aussehen wollten. Meiner Meinung nach stand ihm beides. Seine Kleidung war eher rebellisch, schwarze Jeans, ein weißes
Shirt und eine Lederjacke. Passend zu seinem leichten Dreitagebart.
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Bei seinem Anblick vergaß ich, dass ich unrasierte Jungs nicht mochte, denn ihm stand es.
Irgendwann schaltete sich mein Gehirn wieder ein und ich schaute
weg. Der Typ war viel zu alt für mich und lebte schließlich mit mir in
einem Haus!
Um also etwas Vernünftiges zu tun, prüfte ich nochmal eingehend
die noch anwesenden Gäste. Von meinen alten Schulfreunden war
leider keiner hier. Mum bemerkte meinen Blick und sagte: „Nick und
seine Eltern kommen gleich noch vorbei, Nicole muss noch arbeiten.
Deine anderen Freunde sehen dich ja sowieso morgen.“
Ja, falls ich noch welche habe, schoss es mir durch den Kopf.
Ich erhob mich. „Sagst du Nick, dass ich oben auf ihn warte?“, bat
ich.
Mum nickte. „Kein Problem. Ich sag’s ihm.“
Ash stand ebenfalls auf. „Ich denke, ich gehe auch lieber.“
„Du hast noch nicht aufgegessen“, entrüstete sich Carson.
Ash zuckte mit den Schultern. „Henry kann mein Stück haben, ich
will es nicht.“
„Ich auch nicht“, murrte Henry. „Friss dein Zeug selbst, ich bin nicht
dein Mülleimer.“
Ich achtete nicht auf ihn und ging um den Tisch herum zur Treppe,
Ash folgte mir auf dem Fuß. Wir gingen nebeneinander hoch und
anschließend in das ‚kleine Wohnzimmer‘, wie Mum es nannte. Früher war es Henrys Zimmer gewesen, doch der war nach seinem
Schulabschluss zusammen mit einem Kumpel in eine kleine Wohnung
gezogen um unabhängiger von uns zu sein.
Niemand von uns sprach. Ich setzte mich in meinen schwarzen Lieblingssessel und Ash ließ sich auf das Sofa fallen. Auch hier hatte sich
so gut wie nichts verändert. Der Raum war immer noch leer bis auf
ein weiteres Sofa, ein Couchtisch, zwei Sesseln und einer hellgrünen
Pflanze (ein Geschenk von Meggie zum 15. Hochzeitstag meiner
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Eltern). Unsere Bücher standen alle in unserer Bibliothek im Keller
und jeder von uns hatte bisher einen eigenen Fernseher in seinem
Zimmer gehabt, sodass einer im Wohnzimmer unnötig war. Wir guckten ohnehin niemals etwas zusammen, das war schon ewig so. Dad
und Henry liebten Krimis, Mum fuhr auf diese langweiligen Liebesschnulzen ab und Stephen mochte was weiß ich was. In solchen Angelegenheiten war er nicht sonderlich gesprächig. Ich hatte zwar immer
einen Fernseher gehabt, ihn aber nur benutzt wenn Freunde da waren.
Ich war mehr der Typ der stundenlang durchs Netz surfte und sich
dort Musik anhörte. Katherine hatte mir vorgeworfen, ich sei vom
Musikhören besessen, da ich das selbst unter der Dusche und beim
Essen tat, wenn ich die Möglichkeit dazu hatte.
„Wie steht’s eigentlich mit der Herrenwelt? Schon irgendein Herz
erobert oder wartest du noch ein bisschen?“, fragte Ash plötzlich.
„Denk dran: man lebt nur einmal und ist auch nicht ewig jung.“
Ich war so geschockt, dass er mich überhaupt ansprach, dass ich eine Sekunde brauchte, um seine Worte zu begreifen.
Mit: „Wieso, bist du interessiert?“, fand ich meine alte Selbstsicherheit wieder.
Einen Augenblick lang sahen wir uns nur an, dann verzog er seine
Lippen zu einem umwerfenden Lächeln. „Du bist ja wirklich so
schlagfertig wie alle sagen. Ich hab schon viel von dir gehört, wusste
aber nicht, wem man glauben kann. Anscheinend hatten viele meiner
Quellen Recht. Und nein, ich bin nicht interessiert. Ist mir zu gefährlich mit dir.“
Ich warf mein Haar über die Schulter und legte den Kopf schief.
„Heißt das, du hast Angst vor mir?“
Ash lachte. „Wohl kaum, die meiste Zeit über bist du harmloser als
eine tote Fliege.“
Ich hob eine Augenbraue. „Die meiste Zeit? Ich bin immer harmlos!“
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„Nein, bist du nicht. Denk mal an Cla-“
„Halt die Klappe!“, unterbrach ich ihn. „Das war nicht meine
Schuld!“
Ash winkte ab. „Wie du meinst, Killer.“
Innerhalb von Sekunden war ich aufgesprungen, meine rechte Hand
in seine Richtung gestreckt, während das Licht im Raum anfing stetig
zu flackern. Ich hatte einen anstrengenden Tag gehabt, kaum geschlafen und dieser Typ meinte auch noch Anspielungen auf meine Vergangenheit machen zu müssen! Das war einfach zu viel für mich. Ich
kanalisierte meine ganze Wut in Magie; meine Haare peitschten um
mein Gesicht, als würde ich mitten in einem Sturm stehen. Eigentlich
hatte ich nur vorgehabt etwas Kleines zu zaubern, vielleicht einen
Lufthauch, der die Fenster aufschlagen ließ, doch irgendwie verlor ich
die Kontrolle und die Magie machte sich eigenständig.
Ash schrie auf und umklammerte seinen Kopf mit seinen Händen. Er
rutschte vom Sofa und fiel auf die Knie, sich windend vor Schmerz.
Ich drehte meine Hand ein wenig, was ihm noch mehr wehtat. Ein
abfälliges Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. Ich fühlte mich mächtig und absolut großartig. Ash schrie erneut, allerdings um einiges
lauter als zuvor. Ich konnte fühlen wie die Magie ihn durchdrang und
die Adern in seinem Gehirn zum Kochen brachte. Das Zimmer war
erfüllt von meiner Wut und meiner Macht. Ash konnte nichts dagegen
tun.
Etwas Heißes, Nasses rann mir aus der Nase. Blut.
Die Magie kostete mich viel Kraft und ich benutzte keine Hilfsmittel, mit denen ich sie lenken konnte. Magie war weder Gut noch Böse,
sondern neutral. Setzte eine Hexe sie aber ein, ohne eine korrekte
Zauberformel und Dinge wie Kerzen zu verwenden, wandte sich die
Magie auch gegen ihren Urheber. In diesem Fall: ich. Meine Kraft
schwand langsam, denn auch meine Wut verrauchte nach und nach.
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Ich ließ Ash noch einen Moment lang leiden, bevor ich damit aufhörte
ihn zu foltern.
Schwer keuchend richtete er sich auf. Sein Blick war finster. Ich fing
mit der Hand das Blut ab, das aus meiner Nase strömte, während ich
mir mit der anderen eine Packung Taschentücher vom Tisch nahm.
Glücklicherweise bestand Dad darauf, dass es die Dinger überall im
Haus gab. So konnte ich mir das Blut abwischen, bevor es auf meiner
Haut trocknete.
„Du…“, knurrte Ash. Er schwankte. „Du wirst das noch bereuen, du
verlogener Killer!“
Obwohl ich definitiv nicht die Energie hatte ihn noch einmal zu attackieren, streckte ich meine Hand erneut in seine Richtung. „Willst du
noch mehr, oder reicht’s fürs erste?“
„Mach doch was du willst“, gab er zurück. „Aber nicht mit mir.“
Er rauschte aus dem Zimmer.
Die Tür war fast zugefallen, als sie von außen wieder geöffnet wurde. Ein Junge in meinem Alter mit braunen Haaren, dunklen Augen
und normaler Alltagskleidung trat ein. Er könnte vom Aussehen her
mit mir verwandt sein, aber das waren wir nicht. Bei meinem Anblick
huschte ein Lächeln über seine Lippen. Er schloss die Tür hinter sich.
„Sieh mal an, das schwarze Schaf ist nach Hause zurückgekehrt.“
„Als wärst du besser“, erwiderte ich. „Wer von uns beiden ist nachts
von der Polizei nach Hause gebracht worden, weil er sich mit einem
anderen geprügelt hat?“
„Der wiederum dich vermöbeln wollte, weil du ihm dein Bier über
den Kopf geschüttet hast“, erinnerte Nick mich.
Ich grinste. „Tom Bartons 16. Geburtstag, deine Sternstunde.“
Er grinste zurück. „Seine Duschstunde.“
Ich stürmte auf ihn zu und umarmte ihn. Er schloss mich fest in die
Arme und ich vergrub den Kopf in seiner Schulter. Was nicht einfach
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war, denn Nick war so groß, dass ich mich dafür auf die Zehenspitzen
stellen musste.
In meinem Kopf spielte sich unser letztes Treffen ab. Das war vor
meiner Abreise gewesen. Wir hatten in meinem Zimmer gesessen und
an seinem Politikprojekt gearbeitet. Er hatte mir damals noch unbedingt etwas sagen wollen, doch dann war seine Mutter Nicole gekommen und hatte ihn abgeholt, um ihn zum Basketballtraining zu
fahren. Am nächsten Morgen hatte ich dann schon im Flieger nach
Kalifornien gesessen. Ohne zu wissen, was er mir hatte erzählen wollen.
Ich wollte ihn jetzt danach fragen, überlegte es mir dann aber anders.
Ich hatte zwei Jahre gewartet, auf ein paar Tage länger kam es jetzt
auch nicht an. Wahrscheinlich war es ohnehin nicht mehr wichtig.
Langsam löste ich mich von Nick.
„Schön, dich wieder hier zu haben“, sagte er leise.
Ich nickte „Ja, es ist großartig“, und setzte eine fröhliche Miene auf,
obwohl ich mich total entkräftet von meiner Attacke auf Ash fühlte.
Nick sollte nichts merken. Er war ein gewöhnlicher Mensch und hatte keine Ahnung, dass ich eine Hexe war. Für ihn war ich nur Aria,
das Mädchen, dass zwei Jahre freiwillig in die USA gegangen war,
und nicht Aria Grey, die man für zwei Jahre nach Kalifornien verbannt hatte. Ich war alles andere als froh darüber, ihn ständig anlügen
zu müssen, aber es ging nicht anders. Die Menschen durften nichts
über uns erfahren, egal wie schwer es uns fiel ihnen nichts zu sagen.
Dämonen fraßen zwei Arten von Sterblichen: die Unvorsichtigen,
die sich nachts an Orten aufhielten, wo sie niemand sehen und hören
konnte; und diejenigen, die freiwillig auf die Suche nach dem Übernatürlichen gingen. Die Berserker retteten meistens keinen von uns vor
der Höllenbrut, sondern Menschen. Die Übernatürlichen kannten
schließlich die Gefahr und waren deswegen um einiges vorsichtiger.
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Ich wollte nicht wissen, was passierte, falls Nick jemals von uns erfuhr.
Würde er es mir glauben, und wenn ja, wie würde er reagieren?
Würde er schreiend davon rennen und die Polizei rufen?
Oder würde er einfach gehen und niemals wieder ein Wort mit mir
wechseln?
Da gab es so viele Möglichkeiten wie er handeln könnte, wenn ich
es ihm sagte, aber jede von ihnen würde ihn in unglaubliche Gefahr
bringen. Es war uns gesetzlich verboten Aufsehen zu erregen. Wer
dagegen verstieß, hatte mit Schlimmerem zu rechnen, als einem kurzen Exil-Aufenthalt in Amerika. Bei uns Übernatürlichen gab es
schließlich noch die Todesstrafe.
Wir hatten unseren eigenen Gesetze, unsere eigene Regierung, unsere eigene Polizei. Das Leben unter den Menschen führten wir nur zum
Schein. Ein Krieg zwischen uns und den Menschen würde uns viel
kosten, aber sie würde es vollkommen vernichten. Atombomben waren bei uns nutzlos. Hexen konnten die radioaktive Energie in Magie
transformieren und es gab welche von uns, die sogar die Schwerkraft
beherrschten. Jeder Berserker war so stark wie zehn sterbliche Männer, ein Vampir war doppelt so mächtig. Werwölfe konnten alles fressen, auch einen bewaffneten Soldaten. Für die Dämonen standen die
Menschen ja jetzt schon auf der Beuteliste ganz oben. Es gab so viele
Arten von Übernatürlichen, aber jede davon war der Menschheit überlegen. Man könnte sagen, sie existierten nur, weil wir es so wollten.
„Was ist los?“, fragte Nick. „Du guckst so komisch, alles in Ordnung? Hast du einen Jetlag vom langen Flug?“
Ich schüttelte den Kopf und versuchte glaubwürdig zu wirken, als
ich antwortete: „Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen,
mir geht es großartig. Ich bin Zuhause und kann euch alle wiedersehen. Alles ist gut.“
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Nach jahrelanger Übung hatte ich den Dreh raus, wie ich ihn davon
überzeugen konnte, keine weiteren Fragen zu stellen. Ich wusste, ich
war eine miese Freundin, aber das war der einzige Weg, ihn aus allem
herauszuhalten. Und wenn ich ihm dafür Tag für Tag die Wahrheit
verschweigen musste, dann war das halt so. Jetzt konnte ich nichts
mehr daran ändern, wir kannten uns schon zu lange, als dass ich ohne
weiteres den Kontakt abbrechen konnte. Dann würde er erst recht
versuchen herauszufinden, was mit mir los war.
„Okay, wenn du das sagst. Bestimmt hattest du die beste Zeit deines
Lebens da drüben.“ Er ließ sich aufs Sofa fallen. „Deine Mum hat
erzählt du warst Cheerleader und uns die Fotos gezeigt. Ich dachte
immer Internate wären furchtbar öde, aber deins sah ganz nett aus, so
normal.“
„Es war schön da.“
„Das glaub ich dir gerne“, seufzte er.
Innerlich schrie alles in mir ihm zu erzählen, wie schlimm es gewesen war. Was für Albträume ich die ersten Monate gehabt hatte. Wie
oft ich mitten am Tag Panikattacken erlitten hatte. Wie viele Tabletten
man mich hatte schlucken lassen, damit ich keine plötzlichen Heulkrämpfe bekommen konnte. Aber das durfte ich weder ihm, noch einem anderen Menschen sagen, da sie den Grund nicht erfahren sollten. Meine Welt bestand daraus, dass ich anderen etwas vormachte.
Ich hob den Kopf, sah ihn an, und lächelte.
Als alle Gäste gegangen waren, ging ich erschöpft den Flur des ersten Stocks lang, bis zu meinem Zimmer. Ich öffnete die Tür und trat
ein. Zuerst dachte ich, ich hätte mich mit dem Zimmer vertan. Nach
zwei Jahren war das schließlich durchaus möglich.
Nichts sah mehr aus wie vor meiner Abreise. Nicht, dass ich meine
kindischen Poster und den knallrosa Plüschteppich vermisst hätte,
doch alles wirkte so fremd. Als gehörte es nicht mir. Es gab nicht
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einmal ein Bett, sondern nur altmodische Holzschränke, Kommoden
und eine schwarze Couch. In der Mitte des Raums stand ein Schreibtisch auf dem sich reihenweise hohe Schuhe in verschiedenen Ausführungen befanden.
Im kleinen, angrenzenden Badezimmer hörte ich Geräusche. Die
Klinke wurde heruntergedrückt und eine Frau, barfuß und nur in ein
schwarzes Handtusch gewickelt, kam heraus. Sie blieb erschrocken
stehen, als sie mich sah.
Ich starrte sie an und versuchte herauszufinden, was hier eigentlich
gerade passierte. Was machte diese Frau in meinem Zimmer? Sie
schien die Situation jedenfalls schneller zu begreifen als ich.
„Du bist Aria“, sagte sie.
„Ja“, antwortete ich, obwohl es keine Frage gewesen war. „Und wer
sind Sie?“
Die Frau schlang ihr Handtuch enger. „Du kannst mich ruhig duzen.
Ich bin Avery.“
Sie war im Grunde ganz hübsch, auch wenn ihre Haare trotz ihrer
Jugend (sie musste ungefähr so alt sein wie ich) schneeweiß waren
und in ihren blauen Augen noch der Schock über meine Anwesenheit
stand.
„Das ist mein Zimmer“, meinte ich vorsichtig. „Was tust du hier?“
Avery lachte kalt. „Glaub mir, mein Honigplätzchen, ich wäre nicht
hier, wenn ich nicht müsste. Deine Eltern sollen auf mich achtgeben
und sie haben gesagt, dass ich hier sein darf. Dein Zimmer ist jetzt
woanders.“
Erst jetzt bemerkte ich das schwarze Armband an ihrem linken
Handgelenk. Es war ein schmaler Metallreif, in den silberne Wörter
eingraviert waren. Ich konnte sie zwar von meinem Standort aus nicht
erkennen, aber ich wusste von meinen Eltern, was dort stand: ‚Extra
ecclesiam nulla salus‘, was auf Englisch hieß: ‚Außerhalb der Kirche
findet man kein Heil‘.
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„Du bist ein Dämon“, stellte ich fest.
„Nicht ganz“, erwiderte sie. „Aber ich gehöre zumindest offiziell zu
den Dämonen der Hölle.“
Ich hob eine Augenbraue. „Und inoffiziell bist du was?“
Sie schenkte mir ein liebenswürdiges Lächeln. „Inoffiziell kannst du
mich mal, du verschrumpelnder Sellerie! Dieses Zimmer gehört mir
und ich will dich hier nicht, also verschwinde!“
Ich gab keine Widerworte. Diese Avery war ein Dämon, den man in
die Obhut meiner Berserker-Eltern gegeben hatte, damit sie nicht weiter draußen auf den Straßen irgendwelche Menschen umbrachte. Sie
musste wichtige Verbindungen zu höheren Dämonen haben, die die
Berserker nutzen wollten, denn ansonsten hätte man längst kurzen
Prozess mit ihr gemacht. Es war besser auf sie zu hören und hinaus
auf den Flur zu gehen, als ihren Zorn auf mich zu ziehen.
Vor der Tür stieß ich fast mit Henry zusammen, der sich wohl verabschieden wollte, bevor er ebenfalls nach Hause fuhr. „Was zum…
Henry!“, stieß ich hervor.
Er sah mich besorgt an. „Was ist denn mit dir los, du siehst blasser
aus als ein Geist.“
Sein blick fiel auf die Tür hinter mir. Er nickte. „Ach, du hast den
reizenden Gast des Hauses bereits kennengelernt. Sie ist amüsant,
oder?“
„Amüsant ist nicht gerade das erste Wort, das mir zu ihr einfällt“,
erwiderte ich. „Du weißt nicht zufällig, wo mein Zimmer ist? Mein
altes werde ich niemals wieder betreten, solange dieses Miststück da
drin wohnt.“
„Sei vorsichtig, wen du hier als Miststück bezeichnest“, meinte Stephen, der gerade den Korridor betreten hatte. „Du wohnst unten im
Keller, die zweite Tür. Neben dir ist jetzt der Arsch.“
„Er meint Ash“, klärte Henry mich auf. „Der ohne Frage ein Arsch
ist.“
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Ich war also nicht die einzige, die Ash für einen Idioten hielt.
Stephen zuckte mit den Schultern. „Mir doch egal. Ich mag ihn nicht
und es ist mir gleich, was sie von mir denkt.“ Er deutete auf mich.
Ich überspielte, wie sehr mich das verletzte, und entgegnete: „Das
beruht auf Gegenseitigkeit. Danke, für deine Hilfe, Bruderherz.“
Er erwiderte meinen gehässigen Tonfall. „Kein Problem, Aria.“
Nicht Ash war der größte Idiot im Haus, sondern Stephen. So viel
stand fest.
„Ich geh dann mal“, verabschiedete ich mich. „Gute Nacht.“
„Bis bald. Viel Spaß in der Schule“, sagte Henry.
Stephen schwieg und starrte mich böse an. Ich beachtete ihn nicht
weiter, machte kehrt und ging runter in mein Zimmer.
Kaum hatte ich den Raum betreten, wusste ich, dass ich richtig war.
Nicht zuletzt, weil über dem Schreibtisch in der Ecke meine Fotowand
hing, die Bilder von meiner Familie, meinen früheren Freunden und
meinen Erlebnissen in Kalifornien zeigten (Mum hatte darauf bestanden, dass ich ihr Fotos schickte). Glücklicherweise war der pinke
Plüschteppich nicht hier, genau wie die peinlichen Poster. Über diesen
Kitsch-Kram war ich längst hinweg. Es gab ein riesiges neues Bett mit
einfacher, grauer Bettwäsche; einen großen Kleiderschrank; einen
kleinen Schrank, in dem ich überlebenswichtige Lebensmittel (wie
Chips) lagern konnte, und einen Mini-Kühlschrank, der schon mit
Getränken gefüllt worden war. Ich nahm mir eine Flasche Wasser,
trank und sah mich dabei um.
Letzteres war ein Wunsch von mir an meine Eltern gewesen. In
Amerika hatte es auf jedem Zimmer im Internat einen kleinen Kühlschrank gegeben, was mir gezeigt hatte, wie nützlich so ein Ding sein
konnte.
Mein Blick fiel auf den Kleiderschrank. Meine Koffer waren im
Laufe des Abends irgendwie verschwunden und ich hatte eigentlich
nicht vorgehabt solange in Schuluniform rumzurennen, bis ich entwe-
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der den Koffer gefunden hatte, oder einkaufen gegangen war. Ich
machte den Schrank auf und ein Lächeln breitete sich auf meinem
Gesicht aus.
Ein Teil war allein mit der Schuluniform meiner neuen Schule, der
Winterstone-Academy, befüllt, doch der Rest war voller Klamotten,
die alle neu sein mussten. Anhand der Auswahl erkannte ich deutlich
Mums Handschrift. Sie hatte schon immer die Angewohnheit gehabt,
sich von vorne bis hinten von den Verkäufern beraten zu lassen. So
passte jede Jeans zu jedem Oberteil, jede Jacke zu jedem T-Shirt und
so weiter.
Ich zog mich um und warf die Sachen von heute auf den Boden vor
meinem Bett. Dabei dachte ich an Ash und daran, wie die Magie sich
plötzlich eigenständig gemacht hatte. Das war kein gutes Zeichen und
es beunruhigte mich zutiefst.
Es gab zwei Arten von Hexen. Die einen könnte man als ‚Gute‘ Hexen bezeichnen und die anderen als die ‚Dunklen‘ oder ‚Bösen‘. An
unserem achtzehnten Geburtstag wurden wir praktisch vom Schicksal
auserwählt, welche Art von Hexe wir in Zukunft werden würden. Die
Entscheidung hing natürlich davon ab, was für eine Persönlichkeit wir
hatten. Hexen, die sich von Anfang an mehr zur schwarzen Magie
hingezogen fühlten, wurden meistens dann auch ‚Dunkle Hexen‘, die
wir Übernatürlichen ‚Sidhe‘ nannten. Umgekehrt wurden die anderen
zu ‚Guten Hexen‘, den sogenannten ‚Wicca‘. Man versuchte natürlich
immer, uns auf den Pfad den Wicca zu bringen, da die Sidhe eher ein
Problem für die Gesellschaft darstellten. Die Wicca versuchten absolut gewaltfrei zu leben und arbeiteten mit den Berserkern zusammen,
damit diese sich um die Dämonen kümmerten. Die Sidhe jedoch standen auf der Seite der Hölle, weswegen die Dämonen ihre Verbündeten
waren. Manche von ihnen waren so mächtig mit ihrer schwarzen Magie, dass sie sogar Nekromantie beherrschten.
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Das war die Kunst, Tote ins Leben zurückzuholen. Allerdings nicht
so, wie man es sich gerne vorstellen möchte. Diese ‚Wiedergänger‘
waren kalte, gefühlslose Gestalten ohne Augen, die nur den Befehlen
ihres Beschwörers folgten. Sie sahen aus wie Zombies, mit eingefallener Haut und ausdruckslosen Gesichtern. Jede Art von Gnade und
Zuneigung war ihnen fremd.
Mein Leben lang war ich davon ausgegangen, dass ich wie der
Großteil der Hexen eine Wicca werden würde, aber inzwischen war
ich mir da nicht mehr so sicher. Es gab eine Statistik die besagte, dass
eine von eintausend Hexen eine Sidhe wurde. So wie ich mich kannte,
gehörte ich mit Sicherheit zu der bösartigen Minderheit. Das Szenario
von heute Abend zeigte schließlich, dass ich auch als Sidhe enden
könnte. Dann würde ich meine Familie verlassen und mich alleine
durchschlagen müssen, da die Berserker nichts mit den Sidhe zu tun
haben durften, außer um sie umzubringen.
Ich wäre vollkommen allein und könnte mir höchstens ein paar Wiedergänger beschaffen, die mir Gesellschaft leisteten. Und so wollte ich
nicht leben. Ich hatte mir geschworen gut zu sein, um eine Wicca zu
werden. Der schlimmste Teil meines Lebens sollte endlich hinter mir
liegen. Okay, es stellte sich ja später heraus, wie sehr ich mich damit
noch irren sollte.
Eine plötzliche Welle von Müdigkeit hatte von mir Besitz ergriffen
und ich beeilte mich, mit allem fertig zu werden. Kaum hatte ich mich
hingelegt und die Augen geschlossen, war ich auch schon eingeschlafen.
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Glühende Finsternis
KAPITEL II
Die Mörderin & das tödliche Kopfkissen-Attentat auf einen Reibekuchen
Beim Anblick der Winterstone-Academy war mein erster Gedanke:
Wie komme ich hier auf der Stelle wieder weg?
Gefolgt von einem: Gibt es an diesem Ort überhaupt Strom und fließendes Wasser?
Allein die schwarzen Uniformen mit den weißen Hemden und den
schwarzen Krawatten, waren ein Grund um sofort ein One-WayTicket ans andere Ende der Welt zu buchen. Denn in diesen Kleidern
würde sogar Avery, die heute das Outfit einer Edelstripperin trug, wie
ein harmloser Streber aussehen. Nur musste sie als Dämon natürlich
nicht zur Schule gehen. Es stellte sich heraus, dass Ash als Mentor an
der Winterstone arbeitete. Er unterrichtete übernatürliche Schüler im
Kämpfen, sofern diese Schüler männlich und Berserker waren. Weibliche Übernatürliche (auch Berserkerinnen) hatten dafür Hauswirtschaft, was verdammt unfair war. Die menschlichen Schüler der Winterstone wurden entweder mit uns Mädchen in einen Kurs gesteckt
oder hatten getrennt von Stephen und den anderen Sportunterricht bei
einem menschlichen Lehrer. Mentoren waren aber gleichzeitig auch
eine Art Sicherheitsdienst der Schule, die sich mit Dingen wie Prügeleien im Flur rumschlagen mussten.
Ash durfte wegen seiner hohen Position ein blaues Jackett mit dem
Schulwappen darauf tragen, um sich von unserem Schwarz abzuheben. Er musste sich auch keine hässliche Krawatte um den Hals kno-
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ten, und weil er ein Junge war, hatte er eine schwarze Hose an, statt
einem kurzen Rock mit blickdichter Strumpfhose darunter. In meinen
Gedanken freute ich mich über seinen Anblick, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass es besonders großartig war, nach dem Abschluss
weiterhin in einer Uniform rumlaufen zu müssen.
Stephen war direkt nach unserer Ankunft auf dem Schulparkplatz
verschwunden, genau wie Ash, der meinte, es sei unter seiner Würde
für mich den Babysitter zu spielen. Weil Mum schon direkt nach dem
mehr oder weniger hektischen Frühstück in ihre Anwaltskanzlei gefahren war und Henry Frühdienst auf der Krankenstation der Berserkerzentrale schob, stand ich jetzt nur in Begleitung von Dad und einer
zu Tode gelangweilten Avery im Sekretariat. Die nette Blondine in
dem grauen Tweed Kostüm hinter den Tresen, gab mir meinen Stundenplan und stellte mir meine Ansprechpartner für das letzte Schuljahr
vor. Wie ich es schon vermutet hatte, waren die beiden auch die
Schulsprecher.
Das Mädchen könnte man sicherlich als südländische Schönheit bezeichnen, wenn ihre herablassende Haltung nicht gewesen wäre. Ihr
erstes Wort an mich war der Hinweis, dass ich meine Krawatte richten
sollte. Ihr zweites war ihr Name, durch den sie mir fast wieder Leid
tat. Wenn ich Iphigenia heißen würde, wäre ich vielleicht auch zu
einem nervtötenden Kontrollfreak mutiert.
Der Junge war ein Freund von Nick namens Chuck Castille. Ich erinnerte mich daran, dass er ebenfalls übernatürlich war. Ein Hexer aus
einer gewöhnlichen Wicca-Familie oder so. Viel besser als seine Gattung lagen mir seine feuerroten Haare in Erinnerung.
Die beiden redeten die ganze Zeit auf mich ein, während sie mich zu
meiner ersten Stunde Geschichte brachten. Dad und Avery waren bei
Direktor Harper geblieben, um mit ihm noch ein wenig zu quatschen,
aber Avery hatte es sich nicht nehmen lassen, mich mit ‚mein Sahnehäubchen‘ zu verabschieden.
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Chucks unterdrücktes Lachen und Iphigenias gerunzelte Stirn waren
beinahe zu viel für mich gewesen. Hätte ich heute Morgen keine Beruhigungsmittel eingeworfen, wäre der Tag nicht ganz so großartig für
den Dämon verlaufen.
Winterstone selbst sah von innen genauso prunkvoll und herrschaftlich aus, wie von außen. Ganz anders als das moderne Internat in Kalifornien. An den Wänden hingen Bilder von verschiedenen berühmten
Persönlichkeiten der Vergangenheit, von denen die Hälfte bestimmt
nur hier hing, weil sie übernatürlich gewesen waren und Winterstone
in unserer Welt als Schule für Übernatürliche galt. Es gab nur wenige
Menschen, die hier überhaupt angenommen wurden, damit die Übernatürlichen sich nicht auf alle weiterführenden Schulen der Stadt verteilen mussten.
Iphigenia versuchte mir die Geschichte jedes Bildes und jeder Statue
zu erzählen, aber Chuck fiel ihr ständig mit irgendwelchen Kommentaren ins Wort, die zum Beispiel von den miesesten Lehrern handelten. Es wunderte mich ein wenig, dass er Ash nicht erwähnte. Ich
hätte einiges darauf verwettet, dass er im Beruflichen ein genauso
großer Idiot war wie privat.
Die anderen Schüler saßen schon längst an ihren Plätzen, als die beiden mich endlich im Geschichtsunterricht absetzten. Misses Dreafer,
unsere etwas rundliche, dunkelhäutige Lehrerin mit einer interessanten Dauerwelle, empfing mich höflich, wie es sich gehörte. Allerdings
sah sie mir dabei nicht ins Gesicht und ihre Stimme blieb die ganze
Zeit über kühl.
„Stell dich doch bitte kurz vor und setz dich dann auf einen freien
Platz“, befahl sie.
Ich hatte mit so etwas gerechnet. In Kalifornien hatten die Lehrer
das anfangs auch immer verlangt.
„Ich bin Aria Grey“, fing ich an.
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Die Temperatur im Raum fiel um gefühlte zehn Grad. Die Blicke
meiner Mitschüler trieften vor Feindseligkeit.
„Ich bin seit gestern wieder in London und war vorher zwei Jahre in
den Vereinigten Staaten.“
Es war so still, dass man den Regen hören konnte, der im regelmäßigen Rhythmus gegen die Fenster klopfte. Da ich nicht wusste, was ich
sonst tun sollte, ließ ich mich vorsichtig auf einem Stuhl in der letzten
Reihe nieder. Keiner sagte etwas, als ich den Raum durchquerte, um
mich hinzusetzen. Nach ein paar Sekunden tiefen Schweigens, räusperte Misses Dreafer sich und begann einen Vortrag über das British
Empire. Britische Geschichte, oder eher jede Art von Geschichte,
langweilte mich, weshalb ich schon bald nur noch aus dem Fenster
schaute und den verregneten Innenhof beobachtete.
Ich dachte an den merkwürdigen Traum, den ich diese Nacht gehabt
hatte. Ich war durch eine karge, trostlose Landschaft gewandert, die
nur aus Stein und Asche bestanden hatte. Der Himmel über mir hatte
die Farbe von Blut besessen und war teilweise von rauchig-schwarzen
Wolken bedeckt worden. Der Mond hatte silbern auf mich herabgestrahlt, doch das düsterte Gestein am Boden hatte sein Licht verschluckt. Es hatte kein Wind geweht, obwohl meine Haare um mein
Gesicht gepeitscht waren, als hätte ich mitten in einem Orkan gestanden. Außerdem war es kalt gewesen, sehr kalt. Meine Lungen waren
zu einem kleinem Etwas gefroren und meine Zunge hatte sich angefühlt, als hätte ich an einem Eiswürfel gelutscht. Selbst der warme
Pullover, den ich als Schlafanzug benutzte und aus irgendeinem
Grund auch in meinem Traum aufgetaucht war, hatte nichts gegen die
Kälte ausrichten können.
Ich war um einen großen Felsen gebogen, der mir noch mehr dahinterliegendes Ödland offenbart hatte. Aber nicht weit entfernt hatte
etwas gestanden, das so gar nicht dorthin passen wollte: ein Torbogen
aus schwarzem Marmor, ähnlich den antiken Triumphbögen, hatte
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sich wie eine mystische Wahnvorstellung, die mein gefrostetes Gehirn
vor lauter Eisigkeit erstellt hatte, aus dem Boden erhoben. Warum es
ein Torbogen und kein gemütlicher Starbucks gewesen war, konnte
ich mir immer noch nicht erklären.
Zitternd war ich darauf zugegangen, stetig mit den Zähnen klappernd. Erst kurz bevor ich unter dem Bogen gestanden hatte, war mir
aufgefallen, dass ein Schild in den Bogen eingelassen worden war, auf
dem Etwas auf Englisch gestanden hatte. Stirnrunzelnd hatte ich die
Inschrift gelesen, und ich war stolz darauf, sie immer noch auswendig
zu können:
Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer,
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze,
Durch mich geht man zu dem verlor ‘nen Volke.
Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer,
Geschaffen hat mich die Allmacht Gottes,
Die höchste Weisheit und erste Liebe.
Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen,
Nur ewiges, und ich muss ewig dauern.
Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten.
Das klang genauso einladend wie gestern Nacht, als ich es zum ersten Mal gesehen hatte. Ich hatte mich genervt auf die Suche nach dem
Sinn dieser Erscheinung gemacht, hatte aber, wie erwartet, nichts gefunden. Also hatte ich mich wieder dem seltsamen Torbogen gewidmet. Es war für mich mehr als eindeutig gewesen, dass es dahinter
nichts weiter gab als noch mehr Stein und Asche. Dennoch war da das
Gefühl gewesen, da wäre noch etwas anderes, das ich nicht hatte sehen können. Langsam hatte ich meine Hand ausgestreckt. Mir war es
so vorgekommen, als hätte die Luft vor Anspannung geprickelt. In
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dem Moment, in dem meine Finger die Mitte des Torbogens erreicht
hatten, war es passiert.
Ein stechender Schmerz war durch meinen Körper geschossen. Ich
war aus dem Schlaf gerissen worden, so real hatte es sich angefühlt.
„Ich finde man hätte mehr in die Suche nach Jack the Ripper investieren sollen“, meinte Stephen laut und holte mich zurück in die Realität. Er saß zwei Reihen vor mir und sah Misses Dreafer herausfordernd an. „Unschuldige zu töten ist grausam und unmenschlich.“
Die Hälfte der Anwesenden drehte sich zu mir um und bedachte
mich mit finsteren Blicken. Darunter waren auch menschliche Schüler, die von meiner Vergangenheit nichts wussten und wohl irgendwelchen Gerüchten Glauben schenkten. Misses Dreafer setzte zum
Sprechen an, aber in diesem Moment klingelte die Schulglocke zum
Stundenende. Ich verließ als eine der ersten den Raum, ohne meinen
Bruder auch nur einmal anzusehen.
Auch die nächsten Stunden begrüßten meine Lehrer und meine Mitschüler mich mit Abneigung, und ohne Carter wäre ich nach einer
katastrophalen Englischstunde schon nach Hause gefahren. Kaum
hatte die lebhafte Blondine mich in der Menge auf dem Gang mit den
Spinden entdeckt, stürmte sie auf mich zu und schloss mich in eine
Umarmung, die mir sämtliche Luft aus dem Körper presste.
Carter Levinson war vor meinem Exil meine beste Freundin gewesen und war es anscheinend immer noch. Sie hatte ebenfalls eine Zeit
lang in Amerika verbracht, damit ich nicht so alleine war. Doch sie
war schon zu Beginn des Schuljahres nach London zurückgekehrt, um
nicht mitten im Jahr die Schule wechseln zu müssen. Carter war
schließlich freiwillig gegangen, während man mich offiziell verbannt
hatte. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie mit mir das Internat besucht
hatte. Niemand von meinen anderen Freunde von damals hätte das für
mich getan.
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Wir hatten uns immer näher gestanden als Nick und ich, da sie mich
besser verstand als jeder andere. Sie behandelte mich den ganzen Tag
so, als wäre ich nie fort gewesen, worüber ich mehr als dankbar war.
Pausenlos redete sie von Klamotten, die sie sich noch kaufen wollte,
ihrem harten Balletttraining und welche Paare in letzter Zeit zusammengekommen waren oder sich getrennt hatten. Ich täuschte die ganze
Zeit echte Begeisterung vor, obwohl ich in Gedanken ganz woanders
war. Meine Schläfen pochten schon seit etwa einer halben Stunde und
ich hatte das Gefühl irgendwer würde in meinem Gehirn mit Handgranaten um sich werfen. Ab und zu verschwamm mein Blickfeld und
wurde dann wieder klarer. Ich stützte mich ein wenig an der Wand ab,
während Carter mich zum Speisesaal brachte.
„Hallo? Beste Freundin an Aria!“, sagte sie laut.
Ich blinzelte. „Äh… was hast du gesagt?“
Schnaubend stemmte Carter eine Hand in ihre schmale Taille. „Ich
weiß, du bist im Augenblick total durch den Wind, aber das was geschehen ist, ist keine Entschuldigung dafür, dass du andauernd wie ein
Zombie durch die Gegend torkelst und Löcher in die Luft starrst! Was
passiert ist, ist passiert. Also hör auf vor dich hin zu leiden und lass
die ganze Sache endlich hinter dir! Du machst ein Gesicht wie meine
Großtante Polly, wenn sie über eine ihrer toten Katzen redet!“
Oh Mann. Carter war echt sauer. Normalerweise hatte sie das liebenswürdigste Gesicht unter der Sonne, doch jetzt sah es so aus, als
würden Blitze aus ihren blauen Augen schießen. Da sie eine Hexe
war, konnte sie durchaus ein Gewitter heraufbeschwören. Ihre Großtante Polly, die Freundin von Grandma Annie (die mit dem Hut-Tick),
soll angeblich mal ihre ganze Küche zerlegt haben, als sie ausversehen
ein Unwetter gezaubert hatte.
„Okay, ich versuch’s“, erwiderte ich kleinlaut. „Aber ich kann nicht
versprechen, dass es klappen wird. Wenn man überall als Mörderin
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beschimpft wird, ist es nicht gerade einfach ein normales Leben zu
führen.“
Carter lächelte ihr typisches Carter-Lächeln. „Das ist besser als die
Alternative, das garantiere ich dir. Außerdem wirst du dich schnell
wieder einfinden. Chuck Castilles Eltern sind ab morgen für eine Woche in Monaco, weshalb er am Wochenende eine Hausparty schmeißen wird. Wir schwänzen morgen einfach die letzten beiden Stunden
Erdkunde und gehen shoppen. Die diesjährige Winterkollektion ist
traumhaft. Du-“
„Okay, Car“, beruhigte ich sie. „Wir gehen einkaufen und du kannst
mich in jeden Laden schleppen, der dir gefällt.“
Sie strahlte. Ich grinste. Beim Gedanken an unsere früheren Einkaufsbummel, machte sich eine Fröhlichkeit in mir breit, die mir half
das leise Geflüster, das mir gerade eben den ganzen Hauswirtschaftsunterricht ruiniert hatte, zumindest kurzzeitig zu vergessen. Aus dem
Augenwinkel sah ich, wie sich in einen halboffenen Klassenraum
etwas bewegte. Ich wandte den Kopf um zu prüfen, was da vor sich
ging. Carter bemerkte die Veränderung in mir und sah ebenfalls hin.
Entsetzen leuchtete in ihren Augen auf.
Stephen stand dort neben einem Tisch, zusammen mit Ash und einem weiteren Jungen in Ashs Alter. Der andere, ein blonder Typ, trug
dieselbe Uniform wie Ash, unter der sich ein durchtrainierter Körper
abzeichnete. Bevor ich allerdings in eine teeniehafte Schwärmerei
verfallen konnte, schlug der Blonde meinem Bruder ins Gesicht. In
meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Carter hielt meinen Arm
fest, doch ich riss mich los und marschierte geradewegs in den Raum
hinein.
Ich packte Stephen an der Schulter und schob mich vor ihn. „Sagt
mal, habt ihr den Verstand verloren?! Lasst ihn in Ruhe!“, blaffte ich
die beiden Mentoren an. „Er hat euch nichts getan!“
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Ash lachte abfällig. „Was soll das, Aria? Hast du nichts Besseres zu
tun, als deinen Bruder zu bemuttern?“
„Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als meinen Bruder zu verprügeln?“, gab ich zurück.
Der Blonde sah von mir zu Ash und zurück. „Ich wollte ihm nur ein
bisschen Respekt beibringen. Wir haben mitbekommen, wie er einen
jüngeren Schüler bedroht hat und als wir mit ihm reden wollten, hat er
uns beleidigt“, sagte er ruhig.
„Und dafür wird er jetzt büßen“, fügte Ash hinzu.
Ich stellte mich aufrechter hin. „Wenn ihr es auch nur wagt, ihn noch
einmal anzurühren, reiße ich euch mit meinen eigenen Händen die
Herzen aus und schiebe sie euch durch eure Hintern hoch, bis ihr daran erstickt, kapiert?“
Beide blieben angesichts meiner Drohung ungerührt, aber der Blonde nickte. „Bitte, bleib ruhig. Wir wollen schließlich nicht, dass das
hier in einen richtigen Streit ausartet“, meinte er. „Ich habe keine Lust
eine Disziplinarbeschwerde gegen euch beide einzureichen. Wir werden jetzt gehen und die ganze Angelegenheit vorläufig vergessen.“
„Okay, danke“, antwortete ich. Der Blonde war nett.
Er würde uns nicht bei Direktor Harper wegen Androhungen von
Gewalt und dem, was Stephen getan hatte, verpfeifen.
„Stephen, du solltest dich bei deiner Schwester bedanken. Sie
scheint dich wirklich gern zu haben, da sie sich für dich mit uns anlegt“, maßregelte der Blonde meinen Bruder.
Dieser tat so, als hätte er ihn nicht gehört.
Der Blonde seufzte. „In Ordnung, schönen Tag noch.“
Er machte kehrt und ging aus dem Raum. Ash folgte ihm schweigend, aber mit einer Miene, die Bände sprach.
Ich wandte mich zu Stephen um. „Seit wann lässt du es zu, dass man
dich schlägt und wieso beleidigst du die Mentoren? Du hättest ihn
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doch einfach erklären können, dass du den Kleinen gar nicht bedroht
hast!“
„Hab ich aber“, erwiderte er ruhig. „Und das geht dich nichts an.
Nicht mehr.“
Er rempelte mich absichtlich im Gehen an. Ich sah ihm traurig nach.
Carter kam vorsichtig herein. „Du kannst ihm nicht vorhalten, dass er
dir nicht vertraut“, sagte sie sanft. „Schließlich hast du seine Freundin
sterben lassen.“
Irritiert schaute ich sie an. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“
„Auf deiner“, entgegnete sie prompt. „Solange es dabei keine weiteren Toten gibt.“
Da war es wieder.
Diese eine Sache, die ich stets ausblendete. Ich hatte Stephens
Freundin Clary ausversehen an Halloween vor zwei Jahren umgebracht. Seitdem hatten fast alle eine wirklich große Abneigung gegen
mich und ich rechnete es Carter hoch an, das sie noch weiterhin mit
mir redete. Nick wusste von all dem nichts, denn natürlich hatte ihm
keiner etwas gesagt. Kein Mensch wusste davon.
Im Matheunterricht bei Mister Heronstate gab es eine Überraschung
für mich. Der äußerst einschläfernde Lehrer teilte mir mit, dass ich
heute keinen normalen Unterricht nach der Mittagspause haben würde, sondern Privatstunden in der Turnhalle bei einem der Mentoren.
Ich betete inständig, dass es nicht Ash war.
Ich wurde aufgefordert mein Zeug zu packen und sofort dorthin zu
gehen. Nick bot an, mich zu begleiten, aber Mister Heronstate verkündete ich sei als Abschlussklässlerin durchaus in der Lage, allein in
die Turnhalle zu finden. Irgendwie hatte er Recht, denn so viele konnte es ja hier von den Dingern nicht geben.
Als ich ankam, war die Sporthalle menschenleer. Ich ging in eine
Kabine um mich kurz umzuziehen und kehrte dann zurück in die Hal-
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le. Noch immer war keiner hier. Weil ich nicht wusste, was ich tun
sollte, dehnte ich mich ein bisschen und lief ein paar Runden. Dabei
versuchte ich den Kopf frei zu bekommen von allen Gedanken, was
nicht gerade einfach war.
Die Tür ging auf und der blonde Mentor, der Stephen geschlagen
hatte, trat ein. Er trug wie ich Sportsachen, die ihm genauso gut standen wie die Mentoren-Uniform.
„Du bist schon da“, stellte er fest. „Entschuldige, dass es so lange
gedauert hat, doch ich musste noch etwas klären.“
„Wen haben sie diesmal verprügelt?“, rutschte es mir heraus.
Er hob eine Augenbraue. „Niemanden. Es ging darum eine Glühbirne im Lehrerzimmer auszuwechseln. Unser Hausmeister, Mister
Snuggles, ist nicht mehr der Jüngste, und deswegen habe ich das gemacht.“ Er streckte die Hand aus. „Ich habe mich bisher noch nicht
vorgestellt, nicht wahr? Mein Name ist Jason Thales.“
Ich schüttelte seine Hand. „ Aria Grey.“
Mentor Thales runzelte die Stirn. „Die Aria Grey?“
„Nein, die andere. Die nette, die heute ihren Bruder vor ein paar gemeingefährlichen Idioten gerettet hat.“
Natürlich hatte er schon von mir gehört, schließlich war er Teil der
übernatürlichen Gesellschaft. Wahrscheinlich hatte Ash ihm auch von
meinem kleinen Wutausbruch von gestern Abend erzählt.
Meine Antwort schien ihn zu amüsieren. „Ash hatte Recht. Du bist
wirklich äußerst direkt.“
Ich legte den Kopf schief. „Fänden sie es besser, wenn ich nie den
Mund aufmachen würde? Warum? Weil ich ein Mädchen bin?“
Er lachte. „Nein, das nun wirklich nicht. Ich habe schon Frauen erlebt, die mit gefährlichen Dämonen fertig geworden sind. Ich bin definitiv nicht so altmodisch , dass ich dir verbieten werde zu reden. Das
hier ist kein normaler Unterricht, also sag, wenn dich etwas stört. Und
fang an dich einzulaufen.“
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„Ich bin schon warm“, protestierte ich.
„Dann lauf trotzdem. Wir machen heute Konditionstraining. Ich
möchte wissen, wie fit du bist“, antwortete er prompt.
Also joggte ich, schon wieder, los und fing an meine Runden zu drehen. „Wieso ‚heute‘?“, hakte ich, leicht keuchend, nach.
„Nach dem… Zwischenfall vor zwei Jahren, halten es alle für das
Beste, wenn du regelmäßig Sport machst. Jeden Tag, um genau zu
sein.“ Sein Tonfall klang bitter ernst.
„Lassen sie mich raten“, erwiderte ich. „Ich soll so ausgepowert sein
wie möglich sein, damit ich auf keine dummen Ideen kommen kann.“
Er schüttelte den Kopf, was ich nur aus den Augenwinkeln sehen
konnte. „Du musst trainiert sein. Kampferprobt, könnte man sagen.
Ich werde dir verschiedene Varianten zeigen, wie du dich verteidigen
kannst, falls dir etwas … zustoßen sollte.“
Mein Gehirn sendete ein Fragezeichen nach dem anderen. „Wer
will, dass ich kämpfen kann?“
Diese Frage schien Jason Unbehagen zu bereiten, denn er zögerte
einen Moment, bevor er antwortete. „Deine Eltern verlangen das,
selbstverständlich. Direktor Harper auch und deine Ärztin, Doktor
Pinner, hält das ebenfalls für eine gute Idee. Außerdem ist da noch
deine Betreuerin, Caitlin…“
„Katherine“, korrigierte ich ihn. „Katherine Parr. Wieso wollen die
das alle?“
„Du hast Feinde“, erklärte er. „Dir ist bestimmt aufgefallen, wie die
Leute hier in der Schule auf dich reagiert haben. Dabei sind das nur
Unbeteiligte, die von dem Vorfall bloß gehört haben. Andere dagegen
sind dadurch direkt betroffen worden und es ist möglich, dass sie auf
Rache sinnen. Dazu kommen die Dämonen. Jetzt, wo du bewiesen
hast, dass du, nun ja, zu manchen Taten fähig bist, könnten sie versuchen, dir deine Seele abzukaufen. Du musst dich schützen können,
falls es zu dergleichen kommen sollte.“
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Ich lachte, nach Luft schnappend und dennoch ironisch. „Und warum machen sie das? Und wieso kriege ich Sie als Kampf-Guru?“
Jason begann auf und ab zu gehen. „Ich habe mich freiwillig gemeldet, als gefragt wurde, wer sich mit einem Sonderfall befassen könnte.
Erst gerade habe ich erfahren wer du bist, als du dich vorgestellt hast.
Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dich gut ausbilden. Du bist
nicht die erste, die ein Problem mit ihrer Vergangenheit hat.“
Ich machte meine letzte Runde zu Ende und hielt dann vor ihm an.
Einen Augenblick lang, rang ich nach Atem. Ich strich mir mein zerzaustes Haar aus dem Gesicht. Bestimmt sah ich absolut bescheuert
aus, so verschwitzt. Jason dagegen hatte dieselbe zeitlose Eleganz in
seinen Trainingsklamotten, wie in seiner Uniform.
Reiß dich zusammen, Aria, ermahnte ich mich selbst. Er ist viel zu
alt für dich. Außerdem bist du für ihn nur eine Schülerin.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und musterte mich besorgt.
Großartig, jetzt hält er mich für eine verträumte Idiotin.
„Alles bestens“, sagte ich schnell. „Also, was machen wir als nächstes?“
Er stellte sich aufrecht hin. „Du greifst mich an und versuchst mich
für sieben Sekunden auf den Boden zu drücken. Du hast zehn Minuten
Zeit.“
Ich sah auf den Boden, der ziemlich hart auf mich wirkte. Jason
folgte meinem Blick und meinte: „Keine Sorge, wir gehen dafür dort
rüber, zu den Matten.“
Er führte mich ans andere Ende der Halle, stellte sich ganz lässig in
die Mitte der mit Matten ausgelegten Zone und schaute mich erwartungsvoll an. „Worauf wartest du?“
Ich zögerte. „Ich soll sie einfach so angreifen?“
Er nickte. „Ja. Keine Sorge, du würdest es wahrscheinlich nicht mal
dann schaffen mich zu verletzten, wenn du es ernsthaft darauf anlegen
würdest.“
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Das würden wir ja sehen. Was er nicht wusste war, dass ich in Amerika sehr wohl trainiert hatte. Ich konnte ein wenig kämpfen, auch
wenn so ein Ringkampf nicht gerade meine Stärke war. Im Weglaufen
war ich eigentlich besser, aber das brachte mir momentan leider gar
nichts.
Ich stürmte auf ihn zu und versuchte ihm meine Faust ins Gesicht zu
rammen. Jason blockte sie ab, packte mein anderes Handgelenk und
wirbelte mich herum. Ich hatte meine Schwierigkeiten mein Gleichgewicht zu finden, aber sobald ich mich wieder halbwegs orientieren
konnte, streckte ich mein Bein mit einer Drehung in seine Richtung.
Mühelos wich er mir aus. Langsam wurde ich wütend. Ich stürzte
mich auf ihn und versuchte ihn mit irgendwas zu treffen, sei es Hand
oder Fuß. Leider schien er jede meiner Bewegung voraus zu ahnen,
sodass ich keinen einzigen Treffer landete.
„Was sind Sie?“, schnaufte ich. „Superman? Batman? Der verdammte Hulk?“
Er lachte amüsiert. „Thor wäre näher. Ich bin ein Halbgott.“
Oh Mann. Ein Halbgott. Okay, das war eine Überraschung.
„Cool“, brachte ich heraus. Zu mehr Worten war ich irgendwie nicht
in der Lage.
Halbgötter waren die Nachkommen zwischen den Unsterblichen, die
man vor ein paar Jahrtausenden als Götter verehrt hatte, wie zum Beispiel Zeus, Anubis und auch Thor, und einem normalen Menschen.
Sie waren stark, schnell und besaßen angeblich einen Teil der Magie
ihrer unsterblichen Eltern. Fast alle von ihnen lebten auf einer versteckten Insel im Mittelmeer, die Attica hieß. Ich hatte noch niemals
einen Halbgott zu Gesicht bekommen.
Ohne Vorwarnung trat Jason vor und griff nach meinem Arm. Er
drehte mich und hob mich irgendwie hoch. Als nächstes lag ich mit
dem Rücken auf dem Boden, während er immer noch stand.
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„Du bist unaufmerksam und lässt dich leicht ablenken. Konzentrier
dich auf das Wesentliche. Was ist, wenn du deinen Angreifer persönlich kennst? Wenn er oder sie mal mit dir befreundet gewesen ist? Du
darfst so nicht so viel denken!“
Ich richtete mich auf. „Ich bin stärker, als sie glauben.“
„Dann beweis es!“, forderte er.
Ich erhob mich und ging in eine Angriffsstellung über, aber anscheinend hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Denn sofort riss er mich wieder
von den Füßen, bevor ich ihn überhaupt angegriffen hatte. Er verlagerte sein gesamtes Gewicht so gut es ging weg von mir und umfasste
mit seinen Händen meine Kehle.
„Verteidige dich!“, befahl er.
Ich bäumte mich mit aller Kraft auf, bis ich mich aus seinem Griff
befreit hatte. Das brachte mir nicht gerade viel, da ich einen Wimpernschlag später schon wieder unter ihm lag. So ging es weiter, bis er
sich von mir löste und aufstand. Er reichte mir seine Hand und zog
mich hoch.
„Du warst am Ende ganz passabel“, kommentierte er meine Versuche, nicht andauernd zu verlieren. „Wenn das allerdings ein echter
Kampf gewesen wäre, wärst du jetzt tot.“
„Sie sind ein Lehrer. Sollte ich nicht eigentlich besser dastehen,
wenn ich Ihnen nichts antue?“, erwiderte ich ironisch.
Jason fuhr sich mit einer Hand durch sein, durch unseren Kampf
leicht zerzaustes, Blondhaar. „Bitte hör auf mich zu siezen, Ariana.
Das hier ist kein gewöhnlicher Unterricht. Du kannst ruhig Jason zu
mir sagen.“
„Das ist ein cooler Name. Hat er irgendeine Bedeutung?“, wollte ich
wissen.
Über irgendetwas mussten wir ja reden. Hauptsache, er forderte
mich nicht zu einem weiteren Kampf heraus. Ich hatte keine Lust darauf , schon wieder zu verlieren.
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„Es heißt ‚Heilbringender‘ und kommt aus dem altgriechischem“,
erklärte er.
Ich runzelte die Stirn. „Der eine Typ im alten Griechenland hieß
auch so, oder? Der, der mit ein paar Astronauten eine magische Ziege
gejagt hat?“
Jason sah mich fragend an. „Du meinst Jason, der zusammen mit
den Argonauten das Fell des goldenen Widders gesucht hat?“
„Genau der“, fiel es mir ein.
Jason lachte. „Der goldene Widder war ein Schafsbock und keine
Ziege und die Argonauten gehörten zu Jasons Seeflotte. Sie sind nie
im Weltall gewesen, wie die Astronauten, die du meinst“, er wurde
wieder ernst. „Wir müssen weitermachen.“
Innerlich stöhnte ich bei seinen Worten auf. Mir tat jetzt schon alles
weh. Ab wie vielen blauen Flecken bekam man eigentlich schulfrei?
Die nächste Übung bestand aus Boxen. Das war etwas, was ich immerhin glaubte zu können. Aber nachdem ich mich eine gefühlte
Ewigkeit von Jason hatte fertig machen lassen, war es die reinste Höllenqual. Allerdings litt er viel mehr als ich. Ich trieb ihn damit in den
Wahnsinn, dass ich alles anders machte, als er es wollte. Er gab einen
Befehl nach dem anderen, bemängelte meine Fußstellung, korrigierte
meine Körperhaltung und erinnerte mich ständig daran meine Hände
oben zu halten, um einen Schutzschild vor meinen Körper zu bilden.
Als er mich endlich anwies, damit aufzuhören und verkündete wir
seien für heute fertig, durchflutete mich Erleichterung. Zumindest bis
ich erfuhr, dass er morgen Krafttraining machen wollte.
„Carter und ich wollten einkaufen gehen“, beschwerte ich mich.
„Wenn ich dafür keine Energie mehr habe, muss ich nackt zu Chucks
Party! Dabei brauche ich wirklich keinen weiteren Skandal!“
Ungerührt packte Jason seine Boxhandschuhe in seine große Sporttasche. „Du bist schwach. Wenn du unbedingt einkaufen gehen möchtest, dann mach das wann anders. Es ist ja noch genug Zeit bis zu die-
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ser Party, oder? Außerdem halte ich sowieso nicht viel davon, dass du
dahin gehst.“
Ich hob eine Augenbraue. „Wieso?“
„Da werden jede Menge alkoholisierte Jugendliche sein. Falls etwas
passiert, kann dir niemand helfen“, antwortete er. „Das wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, dir etwas anzutun, da es für dich keine
Chance auf Hilfe gibt.“
„Und genau weil du solche Antworten gibst, würde ich dich niemals
um Erlaubnis fragen. Ich kann halbwegs auf mich aufpassen und kann
auch anderen helfen, wenn sie Probleme bekommen. Auch dir“, provozierte ich ihn. Ich beschloss sogar noch einen drauf zu setzen. „Wie
hält deine Freundin das nur mit dir aus?“
Er sah verwirrt drein. „Ich habe keine Freundin.“
„Okay, vergiss, was ich über Problemlösungen gesagt habe. In dieser
Sache kann ich dir nicht helfen“, entgegnete ich achselzuckend.
Innerlich dachte ich nur: Wieso hat dieser niedliche Typ keine
Freundin? Das ist doch physikalisch unmöglich!
Jason tat so, als hätte er mich nicht gehört und verließ die Turnhalle.
Kurz bevor er durch die Tür getreten war, drehte er sich noch einmal
um. „Soll ich dich nach Hause fahren?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nö, ist nicht nötig. Ich nehm den Bus.“
„Bist du dir sicher?“
„Natürlich.“ Ich grinste zuversichtlich. „Ich muss mich doch wieder
daran gewöhnen, dass hier alle links fahren. Wo kann ich das besser
als mit einer Busverbindung, bei der ich zweimal umsteigen muss?“
Er erwiderte mein Lächeln „Verlauf dich nicht, Ariana“ sagte er und
ging.
Mein Grinsen wurde breiter. Ariana. Niemand nannte mich so und
wenn doch, klang es wie ein Schimpfwort, das man sich nur für mich
ausgedacht hatte. Bei Jason nicht, er sprach es sanft aus, wie manche
Menschen, die über ihr neugeborenes Baby redeten. Und aus irgend-
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einem dummen, hormongesteuerten Grund, fand ich das auch noch
absolut cool.
Ich beschloss mich noch kurz umzuziehen, da ich nicht in meinen
verschwitzten Sportklamotten im Bus sitzen wollte. Es dauerte ein
wenig, bis ich mich zurechtfand, aber nach fast einer Stunde war ich
soweit in die Nähe meines Zuhauses gekommen, dass ich den Rest des
Weges zu Fuß zurücklegen konnte.
Während ich durch die vertrauten Straßen Hampsteads ging, glaubte
ich verfolgt zu werden. Eine dunkel gekleidete Gestalt, ein Mann mit
langen Gewändern, lief schon seit ich aus dem Bus gestiegen war
hinter mir her. Ein mulmiges Gefühl hatte sich in mir ausgebreitet. Ich
bog in die nächste Straße. Unser Haus war keine hundert Meter mehr
entfernt. Worauf war er aus? Möglicherweise war es ja zu riskant ihn
bis zum Haus meiner Familie zu führen. Vielleicht sollte ich woanders
hingehen und versuchen ihn abzuschütteln, oder zumindest herausfinden wer er war und warum er mich so offensichtlich verfolgte.
‚Du hast Feinde‘, hatte Jason gesagt. Jetzt blieb nur noch die Frage,
ob dieser Typ ein Dämon oder einfach nur ein Anhänger des AntiAria-Grey-Clubs war (Stephen war bei letzterem bestimmt das freiwillige Vorstandsmitglied).
Die Entscheidung, ob ich möglicherweise nicht nach Hause gehen
sollte, wurde mir abgenommen, als gerade in diesem Augenblick ein
Auto neben mir am Straßenrand hielt.
„Sollen wir dich das letzte Stück mitnehmen, mein Reibeküchlein?“,
fragte Avery mich. Neben ihr auf dem Fahrersitz saß niemand anderes
als der unheimliche Blackburn, der sogar im Auto einen Zylinder trug.
Es waren nur noch gute fünfzig Meter bis nach Hause, aber ich
nahm das Angebot trotzdem an. Hier im Wagen fühlte ich mich sicher. Ich sah aus dem Fenster um zu prüfen, was mein Verfolger jetzt
machte, doch er war spurlos verschwunden.
War das der Angreifer gewesen, vor dem Jason mich gewarnt hatte?
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Hatten ausgerechnet Avery und der unheimliche Blackburn mich gerade davor gerettet, von einem unbekannten Bösewicht entführt und
möglicherweise auch umgebracht zu werden?
Wenn das nicht mal eine Ironie des Schicksals war.
Wieder wanderte ich in meinem Traum durch die öde Steinwüste
und wieder war es so kalt wie in einem Gefrierschrank. Nach einer
kleinen Suche fand ich den Torbogen. Er sah noch genauso aus wie
vorige Nacht und dieselbe geheimnisvolle Macht ging von ihm aus.
Ich wollte auf ihn zugehen und nachsehen, ob ich diesmal durch ihn
hindurch gehen konnte. Möglicherweise gab es eine bestimmte Technik, um nicht aus dem Schlaf gerissen zu werden. Als ich schon fast
unter ihm stand, hatte ich plötzlich das Gefühl etwas Großes, Weiches
würde sich auf mein Gesicht legen.
Anfangs fühlte es sich angenehm an, aber dann bemerkte ich, dass
ich nicht mehr atmen konnte. Das weiche Etwas verschlang meine
kostbare, dringend benötigte Atemluft. Ich schrie gegen meine Verzweiflung an, bis ich schließlich davon aufwachte. Leider brachte das
keine Besserung für mich, denn die Dunkelheit meines Zimmers erstickte mich weiterhin. Nach einigen Momenten der Panik begriff ich,
dass es nicht die Finsternis war, die sich auf mein Gesicht presste,
sondern ein Kissen, das mir jemand mit aller Kraft aufdrückte.
Kreischend strampelte ich mich in die Freiheit, wobei ich meinen
Angreifer von mir wegschleuderte. Ich schnappte nach Luft. Mein
Herz schlug mir bis zum Hals. Adrenalin durchströmte meine Adern.
Ganz tief in meinem Inneren, am Grunde meiner Seele, regte sich
etwas. Eine uralte Macht, die lange in mir geschlummert hatte. Statt
ängstlich wegzulaufen, sprang ich auf meinen Feind zu und versuchte
ihn zu erwischen. Wegen des fehlenden Lichtes konnte ich ihn nur
schemenhaft erkennen. Ein Knurren, wie das einer wilden Bestie,
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drang aus meiner Kehle, als ich die Verfolgung meines fliehenden
Gegners aufnahm.
Bevor er im Erdgeschoss angekommen war, kriegte ich ihn noch zu
fassen. Aus einem Reflex heraus, wahrscheinlich wegen der vielen
Aufregung, schoss etwas Magie aus meiner Hand in seine Schulter. Es
sah aus wie Feuer, allerdings war ich mir nicht ganz sicher. Er schrie
jedenfalls auf vor Schmerz und beim Klang seiner Stimme glaubte ich
ihn zu kennen.
Aber woher?
Wer würde versuchen, mich mit meinem eigenen Kopfkissen zu ersticken?
Durch mein Nachdenken war ich abgelenkt worden. Genau wie
Jason es mir prophezeit hatte. Der Typ befreite sich aus meiner Umklammerung und verschwand blitzschnell in den Schatten. Er hatte
sich einfach in Luft aufgelöst. Statt mir darüber den Kopf zu zerbrechen, hielt ich mir eine Hand an das Gesicht. Meine Nase blutete,
wahrscheinlich, da ich schon wieder ohne ein anständiges Ritual gezaubert hatte. Die Magie war stark gewesen, das hatte ich gespürt, und
sie hatte mich als ihren weltlichen Anker benutzt. Es tat nicht sehr
weh, aber wirklich großartig fühlte es sich nun auch nicht an.
Das Licht ging an und Mum stand vor der Tür, die zu ihrem und
Dads gemeinsamen Schlafzimmer führte. Als sie mich erkannte, wandelte sich die Verwirrung in ihrem Gesicht in blankes Entsetzen, und
ich ahnte schon warum. Meine Haare hatten die Verfolgungsjagd mit
Sicherheit nicht gut überstanden und ich hielt mir momentan mit beiden Händen meine blutende Nase fest.
„Aria, was ist hier los?“, wollte sie wissen.
Ihr Ton war um einiges härter als üblich.
Im Bruchteil einer Sekunde entschied ich mich die Wahrheit zu sagen. Ich versuchte ihr zu erklären, wie ich dadurch aufgewacht war,
dass man mich fast erstickt hätte und wie ich mit den Typen gerungen
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und trotzdem verloren hatte. Zu sprechen war mit dem Nasenbluten
schwieriger als man denken mochte. Nur, dass die Stimme des Angreifers mir bekannt vorgekommen war, verschwieg ich. Was das
anging, war ich mir nicht sicher genug und ohne sie jemandem zuordnen zu können, war diese Information ohnehin nutzlos.
Mum reagierte, wie ich es erwartet hatte. Sie wollte unbedingt alle
im Haus aufwecken und danach mit der Londoner Berserkerzentrale
telefonieren, damit die sich auf die Suche nach dem Täter machten.
Glücklicherweise konnte ich sie soweit beschwichtigen, dass sie mit
all dem bis nach dem Frühstück warten würde. Trotzdem verlangte sie
mich auf mein Zimmer zu begleiten, um dort zu warten, bis ich eingeschlafen war.
„Ich bin bei dir. Alles wird gut“, meinte sie.
Letzteres sagte sie mehr zu sich selbst, als zu mir.
Obwohl man versucht hatte mich zu töten, war ich von einer seltsamen Ruhe erfüllt. Ich verspürte weder Angst, noch war ich geschockt
von den Ereignissen. Eine seltsame Atmosphäre umhüllte mich von
allen Seiten, als säße ich mitten in einer Seifenblase, die mich unempfänglich für die Außenwelt machte. Es war nicht Mum, die mich tröstete, sondern ich war es, die ihr Beistand leistete. Im Gegensatz zu mir
zitterte sie am ganzen Körper; die Angst um mich stand ihr deutlich
ins Gesicht geschrieben. Wäre sie eine Hexe, wäre draußen angesichts
ihres Gefühlszustandes ein Sturm ausgebrochen.
„Es ist vorbei, Mum“, flüsterte ich ihr leise zu, damit sie sich wieder
einkriegte.
Das schien sie wachzurütteln. Sie setzte sich aufrecht auf die Kante
meines Bettes und drückte meine Hand. „Nein, Aria“, sagte sie mit
düsterer Miene. „Das hier ist erst der Anfang.“
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Glühende Finsternis
KAPITEL III
Die Mörderin & die Verkündung des
neuen, halluzinierenden Delfins
Mum hielt ihr Versprechen. Beim Frühstück diskutierte sie mit Dad
über einen neuen Fall in ihrer Kanzlei. Wie ich es verstanden hatte,
ging es um einen Dämonenvorfall in einer U-Bahn in Islington, bei
dem zwei Menschen tödlich verletzt worden waren. Mum war der
Ansicht der Vorfall sei die Schuld der Berserker, die den Dämon erst
zu spät bemerkt hatten, während Dad meinte der Dämon wäre gar
nicht erst auf den Radaren der Zentrale erschienen.
Das machte mir Bedenken. Wenn die Dämonen nicht mehr auffindbar waren, wie sollten die Berserker uns dann vor ihnen beschützen?
Ich lebte in einer Welt, in der die Höllenbrut die Todesursache Nummer Eins war. Falls die Dämonen einen Weg gefunden hatten, die
Berserker zu umgehen, dann hatten wir ein verdammt großes Problem.
Oder auch nicht. Vielleicht ging die Welt auch sofort unter. Dann
mussten wir uns wenigstens nicht um eine Problemlösung kümmern.
Bei diesem Gedanken zuckte ich nur leicht mit den Schultern und
biss ein weiteres Stück Toast ab. Es war schließlich nicht meine Aufgabe die Welt zu retten. Alles, was man von mir verlangte, war eines
Tages eine liebe, brave Wicca-Hexe zu werden, die nichts weiter tat
als lauter nervigen Hexenkindern Toast zum Frühstück zu servieren.
Das klang doch wesentlicher anspruchsvoller, als irgendwelche Dämonen davon abzuhalten, die ganze Erdzivilisation aufzufressen.
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Außer Mum hatte niemand etwas von den Ereignissen der letzten
Nacht mitbekommen. Stephen verkündete zwar, dass meine Anwesenheit im Haus ihn immer wieder hatte aufwachen lassen (angeblich
hatte er ständig kalte Schwingungen gespürt, die von meiner abgrundtiefen Bösartigkeit zeugten) und Avery erzählte uns von ihrem Traum
(der von dem Einkauf neuer Schuhe gehandelt hatte), aber über weitere seltsame Vorkommnisse unterhielt sich niemand. Dabei war ich mir
sicher gewesen, dass selbst unsere Nachbarn drei Häuser weiter alles
von meiner Auseinandersetzung mit den Kissentypen gehört hatten.
Ganz friedlich verlief der Morgen deswegen trotzdem nicht. Im Kellergeschoss des Hauses gab es nur ein Badezimmer, das ich mir mit
Ash teilen musste. Ich bürstete gerade meine Haare, als er seine Zahnbürste weglegte, sich zu mir rüber beugte und mir in mein Ohr hauchte: „An deiner Stelle würde ich die Mentoren von jetzt an in Frieden
lassen.“
Ich sah ihn böse an. „An deiner Stelle würde ich aufhören andere zu
terrorisieren, die schwächer sind als du selbst. Das ist falsch und unehrenhaft.“
Er lachte abfällig. „Ich hab ja ganz vergessen, dass ich mit der Ehrenhaftigkeit in Person rede. Unschuldige umzubringen ist sicherlich
total akzeptabel.“
So verschwand sie, meine gute Laune, und sie kehrte erst wieder im
Zaubereiunterricht zurück. Unsere Lehrerin, eine ältere Dame mit dem
Namen Misses Frostchild, nahm mich freundlich in ihrem Kurs auf,
obwohl sie als Hexe eigentlich von der Sache mit Clary wissen müsste. Ich hatte das Gefühl, dass sie ein wenig verrückt war, aber solange
sie nicht das Maß an Verrücktheit hatte, das Grandma Annie und ihre
Freundinnen besaßen, war das für mich okay. Sie übte mit uns
Schutzkreise zu ziehen, mit denen man mehrere Personen vor Dämonen schützen konnte. Die eigenen Kinder, die wir später haben sollten
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(oder eher haben mussten, um keinen gesellschaftlichen Tod zu erleiden) waren wohl die Schützlinge, die wir lernten abzusichern.
Ich hasste es, wenn man versuchte uns Mädchen einzutrichtern, dass
unser Leben nur aus den drei Ks bestehen durfte (wie Mum sie immer
nannte): Kirche, Kinder, Kochen. Das war kein Schicksal, mit dem ich
klar kommen konnte. Meine Mum ging schließlich auch arbeiten und
ich fand nicht, dass meine Brüder und ich großartige Schäden davon
getragen hätten, von Annie und Hugo großgezogen worden zu sein.
Bis auf Stephen, dem schien das gar nicht gut getan zu haben.
Schutzkreise zu errichten war im Grunde ganz einfach und mit Sicherheit auch dann nützlich, wenn man keine eigene Familie hatte.
Man zeichnete einen fünfzackigen Stern, ein Pentagramm, in den Boden und machte einen Kreis darum. Effektiver bei beispielsweise Fliesenboden war es allerdings den Kreis mit Salz oder ähnlichem zu
streuen. Die Hexe musste sich in die Mitte des Pentagramms stellen
und die Beschwörung aufsagen, die einfacher war als gedacht. Mir fiel
die Sache mit dem Schutzkreis ziehen leicht, weswegen Misses Frostchild mich dazu aufforderte das Ritual vor der ganzen Klasse zu demonstrieren.
Gehorsam nahm ich meinen Platz im Pentagramm ein, das Momentan gerade mal eineinhalb Meter breit war. Auf ein Zeichen von Misses Frostchild hin, hob ich meine Stimme und sagte: „Lege vindice: in
hoc salus. Ego sum in salvo.“
Das war Latein und bedeutete so viel wie ‚Unter dem Schutz des Gesetzes: In diesem ist das Heil. Ich bin in Sicherheit‘. Zauberformeln
klangen meistens nur im Lateinischen eindrucksvoll.
Das Salz fing an zu schweben, genau in der Form, in der es zuvor zu
meinen Füßen gelegen hatte. Ich grinste zufrieden, denn es war ein
hartes Stück Arbeit gewesen, bis ich den einfachen Schutzzauber für
nur eine Person geschafft hatte. Es mochte nach nur ein bisschen fliegendem Salz aussehen, doch es war in Wahrheit um einiges an-
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spruchsvoller. Den Schutzkreis zu ziehen war nichts gegen die Anstrengung, die das praktizieren von Magie für das Ritual verlangte.
Ich wiederholte den ersten Teil der Beschwörung, änderte aber den
Schluss in: „Nos sumus in salvo“ (‚Wir sind in Sicherheit‘). Dadurch
fand der eigentliche Schutzprozess statt.
Das Pentagramm mit dem wenigen Salz, von dem nur noch ein winziger Bruchteil auf dem Boden lag, dehnte sich aus, bis es jeden im
Raum mit einbezog. Das Salz aus den Pentagrammen meiner Mitschüler fügte sich wie von selbst in mein Ritual ein. Es sah aus als ständen
wir alle im ruhigen Auge eines Schneesturms, die Linien aus Salz
ragten nun wie Wände bis zur Decke. Magie durchströmte meine
Adern, was sich für mich wie pure Glücksseligkeit anfühlte. Ich war
erfüllt von Vertrauen in mich selbst und in meine Fähigkeiten. Ich war
unbesiegbar.
Misses Frostchild applaudierte begeistert und die anderen sechs
Schüler stimmten widerwillig in den Beifall ein. Bis auf Carter starrte
mich jeder von ihnen mit einer Mischung aus Abneigung und Neid an.
Einer von ihnen, ein großer Junge mit kurzen, dunklen Haaren sagte
leise und voller Boshaftigkeit: „Wetten dieses Grey-Mädchen hat nur
deshalb so starke Kräfte, weil sie es heimlich mit einem Dämon
treibt? Das wäre doch typisch für so eine Sidhe.“
Carter schnappte entsetzt nach Luft. „Tyler, spinnst du?“
Meine Konzentration ging ins Wanken. Misses Frostchild sah auf
ihre Armbanduhr, anscheinend hatte sie Tylers Kommentar nicht gehört. „Halte den Kreis noch eine Minute, Aria. Du solltest solange
durchhalten können.“
Der Typ namens Tyler kicherte gehässig. „Ich wette ihr Höllenlover
verlangt mehr Durchhaltevermögen von ihr.“
Knall!
Ich hatte keine Ahnung was passiert ist. Alles was ich wusste war,
dass Tyler plötzlich auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen wand.
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Seine Haut war rot und schwielig, und seine Kleider sahen irgendwie
verbrannt aus. Ein paar, darunter auch Carter, hatten vor Angst geschrien, als mit einem Mal das ganze Ritual zusammengebrochen war.
Misses Frostchild ging sofort in die Knie um Tyler zu helfen, während
Carter sich mit bleichem Gesicht zu mir umdrehte.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie, so leise, dass nur ich sie hören konnte.
Ich schüttelte ahnungslos den Kopf. In meinem Schädel hämmerte es
und mein Blickfeld verschwamm immer wieder. Carter packte mich
am Arm und zog mich aus dem Raum, ohne auf die anderen zu achten. Sie schleifte mich aufs Mädchenklo, wo sie mich losließ und die
Arme vor der Brust verschränkte. Hilfesuchend stützte ich mich am
Waschbecken ab, wobei ich ihr den Rücken zuwandte.
Nach einem Augenblick der Stille meinte sie: „Da war Feuer, Aria.
Feuer. Und du hast es erzeugt.“
Ich krallte mich fester an den Beckenrand. „Unmöglich“, presste ich
hervor. „Hexen können kein Feuer herzaubern. Niemand kann das.“
„Das weiß ich“, erwiderte sie ruhig. „Deswegen will ich ja wissen,
wie du das geschafft hast.“
Ich hob den Kopf und sah in den Spiegel. Carter mochte bleich sein
von dem Schreck, aber mein Gesicht war kreideweiß. Mein Spiegelbild war eine Fremde. Sie hatte tiefliegende, dunkle Augen, die kalt
und tot aussahen. Dieser Anblick jagte mir Schauer über den Rücken.
Das da war nicht ich, sondern jemand anderes.
„Ich weiß nicht…“, setzte ich an, brach dann aber ab.
Was sollte ich sagen? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung was mit
Tyler passiert war.
Carter legte mir von hinten einen Arm um die Schulter. „Vermutlich
hattest du bloß einen Adrenalinstoß. Mach dir keine Sorgen. Ich bin
mir sicher es gibt dafür eine ganz logische Erklärung.“
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Sie versuchte sich ihre eigenen Worte glaubhaft zu machen. Ich
wusste, dass sie in Wahrheit genauso viel Angst hatte wie alle anderen. Angst vor mir. Aber sie log, weil sie mir helfen wollte. Carter war
die selbstloseste Person, die ich kannte. Unter gar keinen Umständen
würde sie es sich anmerken lassen, dass sie ein Problem mit mir hatte.
Sie würde lächeln. Lächeln auf dieselbe Weise, mit der ich Nick bedachte. Und das Schlimmste war, dass ich ihr für diese Lügen auch
noch dankbar war.
Ich sah auf meine Hände. Es gab sicherlich eine Erklärung dafür wie
ich Tyler verletzen konnte, ohne es absichtlich zu wollen. Vielleicht
hatte sich ein Teil der Magie ruckartig entladen und ihn getroffen. Das
war eigentlich unmöglich, denn selbst wenn die Magie gegen alle
Wahrscheinlichkeit einen Weg gefunden hätte sich nicht in dem Ritual
zu verankern, hätte sie nur mich als die praktizierende Hexe erreichen
können. Jetzt hatte ich jemanden verletzt, wie eine bösartige Sidhe.
Das war gar kein gutes Zeichen für meinen achtzehnten Geburtstag,
der schon bald sein würde.
Carter klopfte mir auf die Schulter. „Na komm, Aria, das wird schon
wieder.“
Ich schnaubte. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Jetzt wird das
Gerede erst richtig losgehen. Alle werden mich anstarren und hinter
meinem Rücken lästern.“
Das war mehr als nur wahrscheinlich. Ich wollte Stephens Gesicht
gar nicht erst sehen, wenn er erfuhr, dass ich einen Mitschüler verletzt
hatte. Es war ihm zuzutrauen, dass er in nächster Zeit Werbe-Flyer für
den Anti-Aria-Grey- Club verteilte.
Allerdings konnte sie das nicht verstehen. Sie war seit ihrem achtzehnten Geburtstag im September eine offizielle Wicca. Nachdem das
Ritual vollzogen worden war, hatte sie auf der Stelle ihr Schicksal als
Wicca angenommen. Ansonsten wäre sie bei dem zweiten Ritual, der
‚Himmlischen Taufe‘, gestorben. Die neu-anerkannten Sidhe erhielten
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die ‚Höllische Taufe‘, insofern sie nicht rein zufällig verstarben. Viele
Sidhe erlitten tragische Unfälle, wenn sie ihr neues Leben annahmen.
Aber tat eine Hexe das nicht und verweigerte die nächste Taufe, verstarb sie am Ende ihres achtzehnten Geburtstages. Mit anderen Worten: Eine Sidhe zu sein entspricht fast dem Zustand tot zu sein. Und
irgendwie war ich gerade dabei eine von den bösen Hexen zu werden.
Blödes Schicksal.
Carter fuhr sich durch ihre blonde Lockenmähne. „Ich muss jetzt eigentlich los. Schaffst du es alleine in die Cafeteria, ohne jemandem an
die Gurgel zu springen?“
„Witzig, Car. Zum Totlachen“, entgegnete ich ironisch, aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Es ging mir besser als vorher.
Sie machte einen Luftkuss in meine Richtung, stemmte eine Hand in
ihre Hüfte und verschwand wie ein Topmodel auf dem Laufsteg aus
der Mädchentoilette.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Meine Gesichtsfarbe war
halbwegs wieder normal und nach ein paar Handgriffen sahen auch
meine Haare wie absichtlich verwuschelt aus (was ich eigentlich nicht
gewollt hatte, aber egal - es gab schlimmeres).
„Also Aria“, redete ich mir selbst zu. „Versuch den Rest des Tages
niemandem den Kopf abzureißen.“
Das war bestimmt einfacher gesagt, als getan, bei meinen…furchtbar
netten Mitschülern.
Ach, vergesst das ‚nett‘; die waren nur furchtbar.
In der letzten Stunde hatten wir (Carter, Chuck, Stephen, ein paar
andere und ich) Mythologie, während Nick zu seinem Physikkurs
musste. Das war für Nick aber gar nicht schlimm, mal abgesehen davon dass er dachte, wir hätten Zoologie, mochte er nämlich Physik. Er
wollte es sogar später studieren. Das ist wirklich unheimlich, ich weiß.
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Miss Altrova war noch ziemlich jung und die wohl coolste Lehrerin
von Winterstone. Sie hatte denselben freizügigen Kleidungsstil wie
Avery, trug ähnlich schwindelerregend hohe Schuhe und hatte dieselben promi-verdächtigen Locken wie die Dämonin, nur in dunkelbraun. Außerdem waren auch ihre Augen braun, nicht blau. Sie sah
einfach viel mehr nach einer reichen Schauspielerin aus, als nach einer
gewöhnlich-übernatürlichen Lehrerin, die Mythologie unterrichtete.
„Hört alle her“, als sie sprach, verstummte die ganze Klasse. Nicht
viele Lehrer brachten das fertig. „Ich habe noch ganz kurz etwas zu
erledigen, weiß aber nicht wie lange das dauert. Lest euch Seite 97 im
Buch durch und bearbeitet die Aufgaben. Falls ich bis zum Stundenende nicht zurück bin: Was ihr heute nicht schafft, ist Hausaufgabe.“
Ich wollte gerade mein Zeug auspacken, da sagte sie: „Aria Grey, du
kommst mit mir mit.“
Sie nahm ihre schwarze Handtasche und ging zur Tür. Verwirrt
steckte ich meine Bücher zurück in meinen Rucksack. Carters Blick
war so irritiert wie meiner. Einer von den Typen, die mit diesem Tyler
befreundet waren, der sich nach dem Zauberei-Unterricht hatte abholen lassen, rief: „Und, wer ist jetzt gestorben?“
„Vielleicht schmeißt man sie raus“, mutmaßte Stephen laut.
Es soll ja Familien geben, in der alle zusammen hielten. So wie
Romeo und Julia, bis in den Tod. Stephen und ich waren eher so wie
die Griechen und die Trojaner; es war nur eine Frage der Zeit bis der
eine den anderen mit einer tückischen List umbrachte.
„Oder sie hat jemanden getötet und wird jetzt rausgeschmissen“,
sagte Tylers Freund.
Ausgerechnet Miss-Iphigenia-ich-weiß-und-kann-alles-besser-alsder-Rest-der-Welt schleuderte ihm entgegen: „Halt die Klappe, Logan. Allmählich ist das echt nicht mehr lustig, und das gilt auch für
dich, Stephen! Lasst Aria in Frieden und kümmert euch um eure eigenen Probleme!“
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Miss Altrova wartete schon ganz ungeduldig, also hielt ich nicht vor
Iphigenia an, um mich zu bedanken. Stattdessen nickte ich ihr dankbar
zu und lächelte. Ich vermutete, sie verstand mein Lächeln falsch, denn
sie runzelte die Stirn und wandte sich dann ihren Aufgaben zu. Dann
halt nicht, du eingebildetes Miststück, dachte ich.
Miss Altrova führte mich zu Direktor Harpers Büro. Kurz bevor wir
dort ankamen, bemerkte sie beiläufig: „Du erinnerst mich an eine
frühere Bekannte. Auch sie hat sich nicht auf ihrem Weg beirren lassen. Regeln waren für sie bloß Herausforderungen, die sie bewältigen
wollte. Aber..“ Sie verstummte.
„Aber was?“, hakte ich nach. „Was ist mit ihr passiert?“
„Sie ist gestorben.“ Miss Altrova klang unglaublich traurig. „Ihr
Hang gegen alles und jeden zu protestieren, der ihr etwas vorschreiben
wollte, und ihre Neugierde was Gefahren angeht, hat ihr das Leben
gekostet.“
Ich wusste nicht, ob es angebracht war, aber ich tätschelte meiner
Lehrerin den Arm. „Das tut mir leid.“
Miss Altrova schüttelte den Kopf. „Das muss es nicht. Pass einfach
nur auf dich auf. Es gibt weitaus schrecklicheres da draußen als bösartige Mitschüler.“
„Meinen sie Dämonen?“, fragte ich.
Ihre Mundwinkel zuckten. „Nicht nur. Natürlich sind Dämonen gefährlich. Mein Vater war ein mächtiger Wicca-Hexenmeister und er
wurde von ihnen getötet, also weiß ich das. Aber es gibt Dinge, die
weitaus gefährlicher sind. Und ich fürchte, du wirst ihnen gleich begegnen.“
Das klang gar nicht gut. Was konnte schlimmer sein, als eine Ausgeburt der Hölle? Außer zwei Ausgeburten, natürlich. Die waren dann
doppelt so schlimm wie eine von ihnen, logischerweise.
Wir standen vor Direktor Harpers Tür. Ich klopfte und jemand
machte von Innen auf. Es war der unheimliche Blackburn, der Avery
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und mich gestern nach Hause gebracht hatte, und er trug einen Zylinder.
„Schön Sie wiederzusehen, Miss Grey“, begrüßte er mich und machte eine lächerliche Verbeugung. Er schaute Miss Altrova an. „Das
wäre dann alles, Alena. Sie können zurück in ihren Unterricht.“
Miss Altrova sah aus als wollte sie ihm widersprechen, und ich hoffte sogar sie würde versuchen bei mir zu bleiben (schließlich hatte sie
gesagt ich würde schlimmeres als Dämonen treffen), doch sie tat
nichts. Sie machte einfach auf dem Absatz kehrt und ging davon. Der
unheimliche Blackburn schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln.
„Komm doch rein“, sagte er zuckersüß.
Das Büro war voller Leute. Neben Direktor Harper, der auf seinem
gewohnten Platz hinter dem riesigen Schreibtisch saß, stand eine ältere Dame in einem mittelalterlichen Kleid mit eleganten Gesichtszügen
und einer tadellosen Haltung. Daneben stützte sich Misses Frostchild
auf einen Stock. Sie sah gebrechlich und um hundert Jahre gealtert
aus, seit ich sie zum letzten Mal (heute Morgen) gesehen hatte. Mum
und Dad befanden sich auf der anderen Seite des Direktors. Sie waren
in ein Gespräch mit Ash vertieft. Am Kamin zu meiner linken lehnte
Jason, der das Geschehen von seiner Position aus genau beobachtete.
Der letzte Gast im Raum, mit dem ich am wenigsten gerechnet hatte,
war Avery. Sie saß auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin und es sah
danach aus, dass sie alleine eine Flasche Rotwein leerte. Ich konnte
mir nur einen Grund vorstellen, warum sie alle hier waren: Stephen
hatte damit Recht gehabt und Direktor Harper würde mich wegen der
Sache mit Tyler der Schule verweisen.
Direktor Harper ergriff das Wort. „Nun, ich denke wir können jetzt
anfangen. Der Rest scheint es nicht rechtzeitig zu schaffen.“
Was für ein Rest? Es saßen doch fast alle hier, die ich kannte.
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In diesem Moment ging die Tür erneut auf und noch mehr Leute betraten den Raum. Es waren allesamt Fremde in teuer aussehenden
Kleidern und mit grimmigen Mienen.
„Was hat das zu bedeuten?“, polterte einer von ihnen, ein korpulenter Mann mit gegelter Frisur und einem feinen schwarzen Bart. Ein
leicht schottischer Akzent färbte seine dröhnende Stimme. „Wieso
rufen sie mich ausgerechnet an diese… Schule?“
Er sprach das Wort ‚Schule‘ wie ein Schimpfwort aus. Ich, als Schülerin, konnte seine Abneigung gegenüber dem Lernen und den strengen Regeln natürlich nachvollziehen, doch die meisten Erwachsenen,
vor allem Direktor Harper, runzelten bei seinem Tonfall die Stirn.
Die eindrucksvolle Frau in dem schwarzen Mittelalterkleid neben
dem Direktor, richtete sich noch ein wenig mehr auf, dabei sah sie
ohnehin schon so aus als hätte sie einen Stock verschluckt. „Es ist
etwas geschehen, was sich nicht aufschieben lässt. Wir mussten auf
der Stelle handeln, denn ansonsten wären die Folgen vermutlich katastrophal.“
Der Mann schien mehr von ihrer Antwort verstanden zu haben als
ich. Er gewann langsam an Fassung zurück und stellte sich neben den
unheimlichen Blackburn, der wiederum mir nicht von der Seite gewichen war.
Die Frau wandte sich jetzt an uns alle. „Willkommen allerseits.“ Ihr
Lächeln war breit, doch kein bisschen freundlich. Unwillkürlich bekam ich es bei ihr mit der Angst zu tun. „Sicherlich fragt ihr euch, was
denn so dringend sei, dass ich euch so plötzlich und ohne ersichtlichen
Grund habe herkommen lassen“, fuhr sie fort. Vielleicht war sie ja mit
Tyler verwandt und verlangte jetzt, dass man mich auf dem Scheiterhaufen verbrannte oder in der Themse ertränkte. „Aber bevor ich anfange dieses Treffen in all seinen Einzelheiten zu erläutern, sollten wir
eine kleine Vorstellungsrunde geben. Mister Harper, wären sie so gut
dies für mich zu übernehmen?“
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„Selbstverständlich.“ Der Schulleiter erhob sich und richtete seine
Krawatte, obwohl sie bereits richtig saß. „Nun, die meisten von Ihnen
kennen einander ja schon, also stelle ich ihnen zuerst die unbekannteste Person im Raum vor“ – er deutete auf mich –„Aria Grey, die Tochter von den anwesenden Berserkern Daniel und Janice Grey, die ihnen
wohl ebenfalls nicht geläufig sein dürften.“
„Adoptivtochter“, merkte Ash an.
Der dicke Mann mit dem Bart schnaubte abfällig. „Adoptiert? Sie ist
also ein gewöhnlicher Mensch? Das ist doch nichts Besonderes und
kein Grund mich hierher zu zitieren.“
Ich wollte mich verteidigen, aber der unheimliche Blackburn zischte
leise: „Sag nichts, solange du nicht gefragt wirst.“
Jason warf mir zusätzlich noch einen warnenden Blick zu, als wüsste
er, dass ich nicht unbedingt auf den unheimlichen Blackburn hören
würde. Er wandte sich an den unhöflichen Fremden. „Ich bitte sie,
Lord Wolfram, Ariana Grey ist keine normale Sterbliche, sondern eine
der Unsrigen. Außerdem gab es heute in Ellens Zaubereiunterricht
eine Art Unfall, der auch sie und ihre Leute maßgeblich betrifft.“
Ellen musste Misses Frostchilds Vornamen sein, doch das war nicht
der Teil von Jasons Rede, der mich beschäftigte. Dieser fette Typ
sollte ein Lord sein? Und mit dem Namen ‚Wolfram‘ musste er auch
noch ein Mitglied der Adelsfamilie Wolfram sein, die als Regenten
die Übernatürlichen in Schottland regierten. Ich hatte mir die großen
und mächtigen Wolfram-Wicca immer äußerst stark und furchteinflößend mit Millionen von Muskeln und einem Bodybuilder-Körper vorgestellt. Typisch schottisch halt. Möglicherweise war er ja auch nur
adoptiert, überlegte ich.
„Und was genau ist nun passiert?“, wollte ein hünenhafter Typ mit
Millitärfrisur wissen. „Warum sind wir hier?“
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„Mister, Misses und Miss Grey, dies ist Riccardo di Valpecca, ein
Berserker, der heute als Botschafter dienen wird“, teilte Direktor Harper meinen Eltern und mir mit.
Wofür brauchte man einen Botschafter, wenn es doch um einen
harmlosen Schulunfall ging?
„Der Herr in der Kutte ist Hüter Bartholomir, der Prior der Hüter
von England, Schottland, Irland und Wales“, sagte der Schulleiter und
zeigte auf einen Typen, dessen bleiches Gesicht fast vollständig von
einer grauen Kapuze verdeckt wurde. Wir hatten in Mythologie gelernt, dass Hüter Berserker waren, die ihren Dämonen-Tötungstrieb
dazu verwendeten, geistige Fähigkeiten wie Telekinese zu erlernen.
Sie lebten in klosterartigen Tempeln, wo sie den ganzen Tag damit
verbrachten die Höllenbrut mit ihren Gedanken verpuffen zu lassen.
Wie die menschlichen Mönche waren alle Hüter männlich und vermieden näheren Kontakt zu Frauen. Sie legten ein Gelübde ab, das
ihnen das Verlangen nach Frauen nahm, sodass sie sich einzig und
allein auf ihre Arbeit konzentrieren konnten. Ein Prior musste irgendein Amt bei den Hütern sein.
Eine Zeit lang hatte ich geglaubt, Stephen würde ein Hüter werden,
aber dann war er mit Clary zusammengekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher gewesen, ob mein Bruder überhaupt
wusste, dass es Mädchen gab. Bei Henry war es von Anfang an abwegig geblieben, dass er das Gelübde ablegen würde. Laut Mum brachte
er ständig irgendwen mit in seine Wohnung, wenn er mit seinen
Freunden auf Partys gewesen war.
„Heben wir uns das Beste für den Schluss auf, Simon?“, fragte die
letzte der Nachzügler, eine schlanke junge Frau mit feuerroten Haaren. Aus einem Gefühl heraus wusste ich, dass sie eine Hexe war. Da
blitzte etwas in ihren Augen, das mir sagte, sie wäre genau wie ich.
Ihre Haltung glich der der Frau neben Misses Frostchild und sie hatte
dieselbe kühle, ausdruckslose Miene.
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„Lord Blackburn ist auch noch nicht vorgestellt worden“, erinnerte
Ash die Frau. Zu meinen Eltern und mir sagte er: „Das ist Countess
Isabelle Renouard, eine entfernte Verwandte der französischen, übernatürlichen Königsfamilie Renouard und die baldige Anführerin des
Londoner Hexenclans, der momentan noch von der ehrenwerten
Marquess Ellen Frostchild geleitet wird.“
Misses Frostchild winkte ab. „Lass gut sein, Ashallyn. Isabelle
kümmert sich jetzt schon um alles und die Zeit geht schnell rum. Zu
Beginn des neuen Jahres ist sie die neue Anführerin.“
Wir hatten erst den 25. November, bis zum Jahresende dauerte es
noch ein wenig, aber wenn man so alt war wie Misses Frostchild,
dann waren die verbleibenden sechsunddreißig Tage wohl kaum nennenswert. Ganz im Gegensatz zu ihrem Adelstitel. Ash hatte sie als
Marquess bezeichnet, was hieß, dass Misses Frostchild eine wirklich
ranghohe Hexe war.
In der übernatürlichen Gesellschaft gab es noch immer eine Monarchie, die sich auch nicht so schnell absetzen würde. Berserker gehörten allerdings niemals zu den Adeligen, da sie keine Magie praktizieren konnten und deswegen als unwürdig galten. Die meisten Hexen
interessierten sich auch nicht dafür, sondern kümmerten sich jeweils
nur um ihren eigenen Clan. Soweit ich es wusste, gab es außerhalb der
königlichen Familie nur noch vier Gruppierungen von Adelsmitgliedern, die einen hochadligen Titel hatten: Die Marquis’, die Earls, die
Viscounts und die Baronen. Der Titel Marquess war das weibliche
Gegenstück zu einem Marquis, den mächtigsten Adligen dieser vier
Gruppen. Eine Countess entsprach einem Earl, also war auch Isabelle
Renouard eine hohe Adlige. Im Weiteren waren Viscountess die weiblichen Viscounts und die Baroness die Frau eines Barons.
Da meine Familie im Grunde nur aus Berserkern bestand, die ihre
eigene komplizierte Regierungsform hatten und nur zwangsweise der
Hexen-Monarchie unterstanden, war keiner in meiner Familie adelig.
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Bei Carter war das schon anders. Ihr Großonkel Zacharias war ein
Baron, doch Carters Familie hatte sich schon vor langer Zeit mit ihm
zerstritten. Es hatte irgendetwas damit zu tun, dass Carters Mutter
Rebecca einen unbedeutenden, kleinbürgerlichen Wicca-Hexer mit
dem Namen Dylan Finnley geheiratet hatte.
Ich stemmte eine Hand in die Hüfte, genau wie Carter es immer
machte. „Was soll das alles? Von mir aus geh ich gleich nach der
Schule zu Tyler nach Hause und entschuldige mich bei ihm.“
Alle Anwesenden sahen erwartungsvoll die Fremde neben Direktor
Harper an, die das Vorgehen sorgsam beobachtete hatte. Sie stand da
wie eine Statue, das Gesicht wie aus Stein gemeißelt. In meinem Kopf
bildete sich ein Gedanke. Gerade Haltung, korrekte Sprache, mittelalterliche Kleidung wie die einer Königin… nein, das war viel zu abwegig. Ich schüttelte den Kopf. Was sollte die Königin des übernatürlichen Englands denn bitte mit mir zu schaffen haben? Ihr konnte es
doch egal sein, ob ich Tyler verletzt hatte oder nicht. Oder sie war
wegen Clary hier, was noch unwahrscheinlicher war. Der Unfall war
vor zwei Jahren gewesen, daher ergab es keinen Sinn, wenn man mich
erst jetzt bestrafen würde.
Es sei denn, sie wollen dich hinrichten, flüsterte eine hinterhältige
Stimme in meinen Gedanken. Dafür müsstest du volljährig sein und
das bist du in nicht mal fünf Wochen.
Ganz so Unrecht hatte die Stimme nicht. Für eine Hinrichtung müsste der Angeklagte achtzehn sein, und das war ich ab dem 21. Dezember. Ich könnte da noch so viel protestieren wie ich wollte. Dass der
Unfall schon etwas weiter zurücklag, würde den Richter nicht interessieren. Mord verjährte schließlich nicht, hatte meine Mutter mir beigebracht.
Ich konnte aber schlecht gegen alle kämpfen und mir einen Fluchtweg freischlagen. Magie war nicht zum Angreifen da und meine körperlichen Kampfkünste würden gegen die Berserker nicht ankommen.
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Spätestens Jason würde mich aufhalten, wenn ich jetzt versuchen
würde wegzulaufen. Dazu kam, dass ich nirgendwo hinkonnte. Mir
fielen nur Grandma Annies und Carters Haus ein, in dem ich unterkommen könnte, aber da würde man mich finden. Ich musste mich
wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden, dass meine Tage gezählt waren.
„Verzeihung“, sagte Direktor Harper plötzlich. „Ich vergaß ganz die
wichtigste Person im Raum zu nennen: ihre hochwohlgeborene Majestät Lucinda Adeline Elizabeth Theodora Casterville, Königin der
Übernatürlichen in England, Wales, Schottland, Irland, den Kolonien
in Asien, Afrika, Australien und Amerika, und Oberhaupt des Casterville- Clans.“
Ich hatte also tatsächlich Recht gehabt. Diese Frau war Königin Lucinda. Das bedeutete, ich steckte in sehr, sehr großen Schwierigkeiten.
Isabelle ergriff das Wort. „Was ist mit Ashallyn Tullaryn und Jason
Thales, dem…“
„Wir kennen uns bereits“, unterbrach Jason sie. „Ich denke wir sind
fertig mit der Vorstellungsrunde und können zum Hauptteil übergehen.“
Seine Reaktion war hastig gewesen, so als hätte er gewollt, dass ich
nicht noch mehr über ihn von Isabelle erfahren konnte. Das machte
mich nachdenklich. Er war ein Halbgott, lebte aber nicht wie die restlichen Halbgötter auf Attica, der geheimen Insel im Mittelmeer, auf
der sich die Halbgötter üblicherweise befanden. Ich hatte nicht die
leiseste Ahnung welches seiner Elternteile ein Unsterblicher war, obwohl das doch das Wichtigste am Halbgott-Sein sein musste.
„Aria Grey wird meine Nachfolgerin auf dem Thron“, verkündete
Lucinda.
Es wurde totenstill. Die anderen sahen abwechselnd von der Königin
zu mir und wieder zurück, während ich fast umgekippt wäre. Vor
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Erleichterung (weil ich doch nicht hingerichtet wurde) und vor Verwirrung.
„Wie bitte?!“, beschwerte sich Lord Wolfram. „Wieso denn das?
Seit wann dürfen gewöhnliche Hexen einfach so Königin werden? Die
schottischen Übernatürlichen werden sie unter gar keinen Umständen
akzeptieren!“
„Sie besitzt als einzige die Voraussetzungen dafür“, antwortete Lucinda ruhig. „Da sie eine Casterville ist.“
Isabelle Renouard schnappte deutlich hörbar nach Luft. „Aber von
wem? Wer sind ihre Eltern? Ich meine“, sie sah kurz zu Mum und
Dad hinüber, die sich aneinander festhielten als hinge ihr Leben davon
ab, „Wer sind ihre leiblichen Eltern?“
In mir war alles erstarrt. Ich wollte antworten, dass ich unmöglich
eine Casterville sein konnte. Meine Mutter hatte mich damals anonym
zur Adoption freigegeben, ohne den Namen meines Vaters zu verraten. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie eine von den Hexen
war, die unten am Hafen als Prostituierte oder Straßenhändlerin arbeiteten, wo sie Touristen nutzlose Tarot-Karten legte und ihnen mit
falschen Kristallkugeln die Zukunft vorhersagte. Daran war nichts
Besonderes, nichts Königliches, wie die Castervilles es waren. Sie
regierten die britischen Hexen schon seit rund 1500 Jahren, seit dem
Untergang des Römischen Reiches. Vorher hatten die römischen
Halbgötter über uns geherrscht, doch mit dem Ende der Antike war
uns Eigenverantwortung zugesprochen worden.
„Das weiß keiner“, meinte Mum mit zittriger Stimme. „Ihre Eltern
sind anonym bei der Adoption vorgegangen.“
„Woher weiß man dann, dass sie eine Casterville ist?“, fragte Riccardo di Dings da.
Misses Frostchild räusperte sich. „Sie hat heute in meinem Unterricht einen Schüler verletzt, indem sie ihn mit Feuer verbrannt hat.“
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Anscheinend war ich die Einzige, die dabei den Zusammenhang mit
meiner Herkunft nicht verstanden hatte. Alle anderen sahen so aus, als
wäre ihnen ein Licht aufgegangen und nickten, wenn auch in Lord
Wolframs und Isabelles Fall, eher widerwillig. Der unheimliche
Blackburn, der meine Unwissenheit bemerkt hatte, beugte sich vor
und flüsterte mir zu: „Die Castervilles sind wie alle übernatürlichen
Königsfamilien, die einzigen Hexen, die Feuer erschaffen können. Sie
sind von Gott dem Allmächtigen dazu auserwählt worden, die übrigen
Übernatürlichen zu führen. Ihre außergewöhnliche Gabe kennzeichnet
sie als die unumstrittenen Herrscher, die seit jeher auf dem Thron
sitzen.“
So unsinnig es auch klingen mochte, die übernatürliche Gesellschaft
im Allgemeinen war streng katholisch. Dass sie, wie die Menschen im
Mittelalter, glaubten, ihre Könige wären von Gott dazu ausersehen zu
regieren, war nur eine der vielen Eigenartigkeiten, die es aufgrund
dieser Religionsausübung gab. Da ich es nicht so mit der Kirche und
hatte (die meisten Priester, Bischöfe und so weiter waren einfach nur
ein Haufen alter, frauenhassender Idioten), bezweifelte ich es ein wenig, dass man von Geburt aus dazu bestimmt sein konnte über andere
zu herrschen. Aber ich war kein Feind der Monarchie. Bisher hatte ich
wie die meisten jugendlichen Übernatürlichen überhaupt nicht realisiert, dass wir eine richtige Königin hatten, die uns leitete und unser
ganzes Leben beeinflusste. Für mich waren es immer die beiden Berserker-Meister aus der Londoner Zentrale gewesen, die über uns bestimmten. Das lag möglicherweise daran, dass der Rest meiner Familie nun mal Berserker und keine Hexen waren. Sie waren eine eigene
Gemeinschaft, die nur im Sinne der Wicca handelte und für Sicherheit
vor den Dämonen sorgte.
„Ich habe beschlossen, da ich keine anderen lebenden Erben mehr
habe, Aria aufgrund ihrer Fähigkeiten als Casterville und als Dauphine zu legitimieren“, sagte Lucinda.
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Warum sollte ich ein Delfin werden?
„Dauphine ist das französische Wort für Kronprinzessin“, flüsterte
der unheimliche Blackburn.
„Außerdem“, fuhr die Königin fort, „werde ich sie zu mir nach Casterville-Castle nehmen, wo ich ihr die richtig Erziehung zukommen
lasse. Sie muss schließlich eines Tages ein ganzes Volk regieren, das
sich weltweit verteilt hat. Einen Heiratskandidaten habe ich auch
schon gefunden.“
Mich wegbringen? Heiratskandidat? Lucinda hatte sie wohl nicht
mehr alle! Ich würde nie im Leben…, aber bevor ich diesen Gedanken
zu Ende fassen konnte, mischte Mum sich ein.
„Sie bleibt hier“, widersprach sie Lucinda, mit klarer, fester Stimme.
„Sie ist unsere Tochter, deswegen haben wir das zu entscheiden. Wir
lassen uns unser Kind nicht einfach wegnehmen.“
Lucinda sah aus, als hätte Mum ihr eine Backpfeife gegeben. Nach
einem Moment der Überraschung meinte sie kalt. „Aria ist eine Hexe
und ich bin ihre Königin. Es ist irrelevant, was Sie wollen. Sie kommt
mit mir.“
„Auch wenn sie eine Hexe ist, dürfen nur ihre Eltern über sie entscheiden, bis sie volljährig ist“, erwiderte Dad angespannt. Es war das
erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte, seitdem ich das Büro betreten hatte.
Isabelle schüttelte ihr langes, rotes Haar. „Also gut. Ich würde sagen
wir stimmen darüber ab. Soll die Dauphine“ – sie warf mir einen abfälligen Blick zu – „hier in London bei ihrer Adoptivfamilie bleiben,
trotz des hohen Risikos, dass ihr etwas zustößt und obwohl sie dringend eine höfische Erziehung nötig hat, oder darf sie zusammen mit
ihrer Majestät nach Casterville-Castle, wo sie in Sicherheit wäre, während man sie auf ihre Zukunft vorbereitet? Wer ist für die Residenz
ihrer Majestät?“
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„Ich bin die Königin der Übernatürlichen des Vereinigten Königreiches Großbritanniens und all seiner Kolonien. Es gibt keine Demokratie in unserer Welt. Meine Entscheidung steht“, konstatierte Lucinda.
„Die Dauphine sollte selbst darüber entscheiden dürfen, schließlich
ist sie fast achtzehn“, rettete Jason mich.
Alle Augen waren auf mich gerichtet. Mums Blick war traurig, der
von Lucinda triumphierend. Die Königin schien zu glauben, dass ich
ihr ohne weiteres zustimmen würde. Um ehrlich zu sein tat es mir
nicht mal leid sie enttäuschen zu müssen.
„Ich bleibe in London, bei meiner Familie.“ Ich betonte das letzte
Wort absichtlich, damit Lucinda verstand, dass ich mich nicht als Casterville sah. „Und ich weigere mich auch ihr blöder Delfin zu werden!“
Alle schnappten entsetzt nach Luft, auch Mum und Dad. Na ja, fast
alle. Avery applaudierte. „Bravo, mein Kirschwäffelchen! Du vertrittst
deine Meinung exakt wie eine echte Regentin. Nur leider hast du keine Wahl. Da du eine Casterville zu sein scheinst, wirst du die nächste
Dauphine. Du kannst hier in London bleiben, aber du wirst trotzdem
eine Königin, die dann keine Ahnung vom Regieren hat.“
„Aber ich habe jemanden umgebracht!“, stieß ich hervor. „Clary!“
Jason schaute auf. „Clary? Das Mädchen, dass vor zwei Jahren…
verunfallt ist?“
‚Verunfallt‘, so konnte man es auch sagen.
Ich nickte.
„Ähm, Aria“, sagte Ash zögerlich. „Das war die vorige Dauphine,
Clarissa Casterville. So gesehen hast du schon etwas getan, was typisch adelig ist: du hast eine Konkurrentin für den Thron ausgeschaltet.“
Oh Mann. Ich hatte die verdammte Prinzessin umgebracht und das
sagte man mir jetzt? Es grenzte an ein Wunder, dass man mich damals
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nicht sofort um die Ecke gebracht hatte. Wahrscheinlich hatte man
mich nur ins Exil geschickt, weil ich noch so jung gewesen war.
„Ich kann nicht die nächste Königin werden. Dafür braucht man
doch eine lebenslange Ausbildung und selbst mit einem hard-core
Crash-Kurs kann ich das alles niemals aufholen“, versuchte ich meine
Untauglichkeit zu erklären.
Lucindas Tonfall war unglaublich freundlich, als sie antwortete:
„Aus diesem Grund werde ich dir einen äußerst fähigen Ehemann an
die Seite stellen, der dir als König all deine Lasten abnehmen wird.
Deine Aufgabe wird es sein, einen Erben zu bekommen, damit die
Monarchie unserer Familie gesichert ist. Ansonsten kannst du tun und
lassen was du möchtest. Stell es dir ruhig vor: du hättest genug Geld
um jeden Tag mit deinen Freundinnen einkaufen zu gehen und könntest von einer Party zur nächsten ziehen. Um die Erziehung deiner
Kinder würden sich andere kümmern, sodass du deine Jugend so verbringen könntest, wie du es willst.“
Zugegeben, es klang verlockend. Ich musste nur irgendeinen Typen
heiraten, die nächste Königin werden, ein-zwei Kinder bekommen
und konnte dann tun und lassen was ich wollte, bis an mein Lebensende. Einen Moment lang war ich versucht das Angebot anzunehmen,
aber dann begegnete ich Jasons Blick. Seine Augen flehten mich
stumm an es nicht zu tun, den Handel auszuschlagen. Ich atmete tief
durch. Es war meine Entscheidung, wie sich mein Schicksal von nun
an gestalten würde.
„Wer?“, verlangte Dad zu erfahren. „Wen soll sie heiraten?“
Gute Frage, das sollte ich wissen. Schließlich musste ich den Typ
den ganzen Tag lang ertragen und Kinder mit ihm haben. Einen Namen zu kennen, bevor man zustimmte, war vielleicht gar nicht so
blöd.
„Ich habe einen hervorragenden Kandidaten, den sie noch früh genug kennenlernen werden, Mister Grey“, erwiderte Lucinda selbstge-
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fällig. „Allerdings habe ich meine Wahl noch nicht endgültig getroffen, denn so etwas braucht schließlich auch seine Zeit.“
Das waren gute Neuigkeiten, denn bis dahin hatte ich bestimmt
schon meinen Schulabschluss und konnte das Land verlassen, ohne
dass ich riskierte auf dem Thron der Hexen zu enden.
„Und wann ist die Hochzeit?“, kam es von Lord Wolfram.
„Am 21. Dezember“, antwortete Lucinda prompt. „Diesen Jahres.“
Oh nein. Das war mein 18. Geburtstag und damit die erstmögliche
Gelegenheit mich legal zu verheiraten. Zudem waren es nicht mal
mehr fünf Wochen bis dahin. Ich war ja sowas von geliefert.
„Ich bin dafür den Termin noch etwas nach hinten zu verschieben“,
wandte Jason ein. „Sie sollte zumindest die Schule beenden dürfen.“
Für diesen Einwand hätte ich ihn küssen können.
Ash räusperte sich. „Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Sie ist
noch keine legitimierte Erbin und das muss sich so schnell wie möglich ändern.“
Also von mir aus konnten wir damit noch ruhig ein paar Jahrzehnte
warten.
„Sie ist doch noch fast ein Kind und hat noch nicht die nötige Reife
um mit dieser Situation zurechtzukommen“, widersprach Jason.
Okay, ich nahm alles zurück. Jetzt wollte ich ihm eine reinhauen,
schließlich war ich kein Kind mehr und mehr als reif genug.
Die beiden Mentoren funkelten sich böse an. Ich überlegte, wer von
ihnen einen realen Kampf wohl gewinnen würde. Ash mit seiner
schlanken Anmut, oder Jason, der einfach absolut unberechenbar
wirkte. Gutaussehend waren sie beide, da bestand kein Zweifel, aber
keiner von ihnen war so wirklich mein Typ. Ich stand mehr auf den
Kumpel-artigen Typen, der mich zum Lachen bringen konnte. Das
hatte zwar nicht direkt etwas mit einem Wettkampf auf Leben und
Tod zu tun, aber es musste auch mal gesagt werden. Schließlich sollte
mein blödes Gehirn nicht auch noch damit anfangen nachts Träume zu
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produzieren, in denen ein halbnackter Ash gegen einen halbnackten
Jason kämpfte. Einen Moment schwelgte ich in dieser Vorstellung, bis
plötzlich Nicks Gesicht vor meinem inneren Auge auftauchte und
alles kaputt machte.
Keine Ahnung was mein Gehirn mir damit sagen wollte, aber cool
war es nicht. Nick hatte nicht mal eine Ahnung von dem ganzen magischen Kram, was unsere Freundschaft schon verkomplizierte, an eine
Beziehung war da gar nicht zu denken.
„Vorerst bleibt der Termin“, entschied Lucinda. „Und um Aria hier
in London auf ihre Rolle vorzubereiten, wird Ashallyn sie in Stil und
Etikette unterrichten.“ Die Schulklingel zum Tagesende ertönte. „Ich
denke wir können jetzt auseinander gehen.“
Erleichtert drehte ich mich auf der Stelle um und machte die Tür auf.
Je schneller ich hier weg kam, desto besser.
„Warte, Aria“, rief Lucinda mir hinterher.
Ich sah über meine Schulter „Ja?“
„Willkommen in der Familie.“ Wieder erreichte ihr Lächeln nicht
ihre Augen. Das war wirklich unheimlich.
Ich nickte ihr zu und hastete dann aus Direktor Harpers Büro. Obwohl es keinen Grund dafür gab, brummte mein Kopf. Mir fiel nicht
auf, dass ich fast in Carter reinrannte, die vor der Tür auf mich gewartet hatte.
„Aria, was zum Kuckuck ist denn passiert? Alle sagen man hätte
gestern eine Leiche gefunden und dass du die Mörderin bist!“ Ich
konnte hören wie verwirrt und ängstlich sie war.
Dann aber verstand ich, was sie gesagt hatte. Ich packte sie an den
Schultern. „Wer ist es, Carter? Wer ist tot?“
„Annabelle Munroe, behauptet zumindest Chuck. Sie ist in der Bibliothek gefunden…“ Sie brach ab.
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Ich machte noch einen Schritt auf sie zu, sodass unsere Gesichter nur
Zentimeter voneinander entfernt waren. „Was noch, Car? Was ist
noch passiert und warum glaubt man es sei meine Schuld?“
Carter würgte. „Eine Botschaft“, stieß sie hervor. „Hinter ihr an der
Wand hat jemand etwas geschrieben.“
Langsam war ich diese Fragerei leid. „Was hat man gefunden? Was
steht an der Wand?“
„Omnia ad maiorem dei gloriam“, antwortete Carter leise.
Alles zur höheren Ehre Gottes. Um ehrlich zu sein klang das gar
nicht gut. Ich stellte mir vor, wie die unscheinbare, blonde Annabelle
auf dem Holzboden der Bibliothek lag, während an der Wand hinter
ihr mit blutähnlicher Farbe ein lateinisches Zitat geschrieben worden
war. Dieses Bild in meinem Kopf wirkte so real, als stände ich tatsächlich davor. Ich sah in diese kalten, toten, blauen Augen. Annabelles Augen, in denen sich die Blutlache vor ihr spiegelte, die aus ihrem
zerfetzten Hals ausgetreten war. Carter hatte vergessen zu erwähnen,
dass unter dem lateinischen Wahlspruch der Jesuiten noch etwas gestanden hatte: ‚Requiescat in pace‘.
Sie ruhe in Frieden.
Dieser, normalerweise gutgemeinte, Satz, den Trauernde für den
Grabstein eines Verstorbenen verwendeten, wirkte auf mich bedrohlich, so als würde man mir sagen, dass ich keinen Frieden finden würde, wenn ich starb.
Plötzlich änderte sich Annabelles Leiche. Ihre Haare wurden länger,
dunkler und lockiger, ihr Gesicht änderte sich in etwas vollkommen
Vertrautes, die blauen Augen wurden grün-grau-bräunlich. Auch ihre
Kleidung wandelte sich. Statt der hässlichen Schuluniform trug die
Tote ein weißes Spitzenkleid und auf ihrem Kopf erschien eine reichlich verzierte Krone aus massivem Gold. Blut lief aus ihren Augen,
ihrer Nase, ihren Ohren und aus ihrem Mund. Ihre Haut war aschfahl
und die Adern traten überall stark hervor. Die Leiche, die jetzt vor mir
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lag, war unter keinen Umständen Annabelle. Genauso wenig wie der
Spruch an der Wand, der sich, wie alles andere auch, verändert hatte.
Die blutroten Buchstaben verkündeten jetzt: ‚Momento te hominem
esse‘, was auf Englisch so viel hieß wie: ‚Bedenke, dass du ein
Mensch bist‘.
Vor Entsetzen machte ich einen Schritt zurück. Ich versuchte es zu
verhindern, doch ein Schrei entwich meiner Kehle. Er hallte in dem
leeren Raum wieder, in den sich die Bibliothek verwandelt hatte.
„Aria! Oh mein Gott! Hast du einen Anfall oder so?!“ Carters schrille Stimme riss mich zurück in die Wirklichkeit.
Ich befand mich noch immer in Winterstone vor Direktor Harpers
Büro, zusammen mit Carter, die mich anstarrte wie das Monster von
Loch Ness (bei dem es sich eigentlich nur um einen Tarasque, ein
Wasserwesen aus der Mischung eines Fisches und einer Schlange,
handelte, aber das konnten die Menschen ja nicht wissen). Anscheinend hatte niemand meinen Beinen gesagt, dass meine Vision von
Annabelles Tod nicht real gewesen war, denn sie gaben unter mir
nach wie Grandma Annies weihnachtlicher Plumpudding.
Zwei Arme fingen mich von hinten auf, bevor ich auf dem Boden
aufschlagen konnte.
„Vorsicht, der Boden hier ist äußerst hart“, murmelte eine männliche
Stimme nah an meinem Ohr. Ich schlug die Augen auf, die ich wegen
des Schwindelanfalls geschlossen hatte.
„Und du bist schwer, das tut also doppelt so weh“, bemerkte Avery,
die ebenfalls aufgetaucht war.
„Jason“, hauchte ich, und dann mit festerer Stimme: „Ich bin überhaupt nicht zu schwer.“
„Ist sie wirklich nicht“. Der Mentor half mir mich wieder vernünftig
hinzustellen.
Avery schnaubte. „Ihre Waage sieht das sicherlich anders.“
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Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust. Wir beide wussten, dass ich schlank war und es störte mich furchtbar, dass sie Witze
über mein Gewicht machte. Ich mochte eine übermenschliche Hexe
sein, die aus dem Nichts Feuer beschwören konnte, mit gerademal
fünfzehn Jahren einen Mord begangen hatte und verrückterweise die
neue Königin der Hexen werden sollte, ganz abgesehen davon dass
irgendein Verrückter versucht hatte mich mit meinem Kissen zu ersticken, aber auch ich fand es nicht gerade großartig, wenn eine blöde
Dämonin mit den langen, dünnen Beinen eines Supermodels, sich
über mein Gewicht lustig machte.
„Ich würde mich auch mit deiner Waage gegen dich verbünden“,
gab ich frech zurück. „Nur ist sie ja leider beim letzten Mal unter dir
zusammengebrochen.“
„Fantastisch. Dann werde ich jetzt nach Hause fahren und meine
Waage fragen, was sie darüber denkt“, meinte Avery bissig. „Bis später, mein Pfirsich-Sahne-Törtchen.“
Mit schnellen Schritten und einem übertrieben ausladendem
Hüftschwung, ging sie in Richtung Ausgang davon.
„Blödes Miststück“, murmelte ich.
Jason lächelte breit, und ich konnte nicht anders als ebenfalls zu
grinsen.
„Bereit für dein Training?“, fragte er.
Ich sagte die Wahrheit. „Nein, aber du lässt mir ohnehin keine andere Wahl als trotzdem hinzugehen, oder?“
Er fing an zu lachen. „Stimmt.“
Es tat gut ihn Lachen zu hören. Das half mir dabei, diese schlimme
Vision zu verdrängen, da er mich so auf andere Gedanken brachte.
Alleine wäre das wohl unmöglich gewesen. Aber ein Teil meines Gehirns wollte nicht vergessen, was aus dem Bild von Annabelles Tod
geworden war, ebenso wie die Warnung, die zum Schluss an der
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Wand gestanden hatte. Über dieser Königin, deren Gesicht mir so
vertraut war wie kein anderes auf der Welt.
Denn die zweite Leiche, in dem Spitzenkleid mit der Krone auf dem
Kopf und dem vielen Blut, war ich gewesen.
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Glühende Finsternis
KAPITEL IV
Die Mörderin & das Debakel des niedlichsten Brandvorfalls der Welt
Statt Krafttraining machten wir Lauftraining, was nur bedingt besser
war. Jason, der kein wenig von meinem Tempo gelangweilt schien,
wich nicht mal eine Sekunde meiner Seite. Er passte sich an mich an,
obwohl er wahrscheinlich dreimal so schnell rennen konnte wie ich.
Wir redeten die ganze Zeit über alles Mögliche, aber nicht über das,
was im Schulleiter-Büro vorgefallen war. Er klärte mich über die verschiedenen Dämonenarten auf (was ich als Mädchen in der Schule
nicht lernte und auch meine Eltern hatten mir nie etwas darüber erzählen wollen), nannte mir ihre Stärken und Schwächen, und sagte mir
wie ich mich am besten gegen sie verteidigen konnte.
An unterster Stelle der Höllenhierachie standen die einfachen, handgroßen Dämonen, die einfallsreicherweise als ‚Niedere Dämonen‘
bezeichnet wurden. Danach kamen die ‚Mittleren Dämonen‘, die den
ersten bis zweiten Höllengrad hatten, weswegen sie nicht nur die Vorhölle sondern auch die ersten beiden von insgesamt neun Höllen betreten durften. Nach ihnen kamen dann die ‚Höheren Dämonen‘ (wer
hätte das gedacht?), die bis in den vierten Höllenkreis gehen konnten.
Alles andere über ihnen war so mächtig, dass diese Dämonen jeweils
eigene Namen hatten. Ich hätte es nicht gedacht, aber der Ort für all
die Seelen, die es nicht ins Himmelreich schafften, hatte eine richtig
durchstrukturierte Regierung.
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Das Oberhaupt war natürlich Luzifer, der gefallene Engel, der Kaiser der Hölle. Sein Vertreter war Vizekönig Belial, der laut Jason zu
den anständigsten seiner Art gehörte (das hieß nicht, dass er anständig
im eigentlichen Sinne war, er benahm sich nur besser als die restliche
Höllenbrut). Unter ihm standen die beiden Herrscher Beelzebub und
Astaroth, gefolgt von sieben Großfürsten und fünf Großräten. Außerdem gab es einen Reichssekretär namens Milpeza, der die Hölle unter
gar keinen Umständen verließ. Wäre mein Name ‚Milpeza‘ würde ich
wahrscheinlich auch nie vor die Tür gehen.
Was die Tötungsmethoden anging, so waren diese eigentlich ganz
leicht zu merken: Kopfabschlagen, Herzausreißen oder eine große
Menge Weihwasser auf sie schütten, wenn man kein exorzierender
Priester war (Jason meinte, die würden die Dämonen mit Gebeten
erledigen, was ich nicht so recht glauben konnte. Vielleicht starben
die Dämonen dann nämlich gar nicht, sondern schliefen nur ein. Das
war mir auch schon öfters in der Kirche passiert).
Bei Jason klang das alles so einfach, aber ich würde höchstens einen
Niederen Dämon besiegen können. Mir war beigebracht worden, dass
ich mich nicht gegen die Hölle stellen durfte, da die Natur sonst aus
dem Gleichgewicht kam. Hexen blieben immer neutral und hielten
sich aus dem Krieg zwischen Himmel und Hölle raus. Die bösen Sidhe stellten sich oft auf die Seite von Luzifer und seinen Dämonenkumpels, doch eine Wicca, oder eine Hexe die zu sehr an ihrem Leben
hing um keine Wicca zu werden, verhielt sich unparteiisch. Für die
Kämpfe gab es schließlich Berserker, die ihr Leben lang nichts anderes Taten als die Ausgeburten der Hölle zu töten. Dazu kam, dass ich
ein Mädchen war, die in unserer Gesellschaft ohnehin kein Recht auf
die Jagd von Dämonen hatten.
„Warum wird Avery nicht getötet?“, fragte ich. „Wen kennt sie, dass
sie am Leben bleiben darf?“
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Jason, der inzwischen neben mir lief, schien diese Frage zu wundern. „Du meinst Avery Helltray.“
Es war keine Frage gewesen, aber ich antwortete trotzdem. „Gibt es
noch eine?“
„Nein“, sagte er langsam. „Hat sie es dir denn nicht erzählt?“
Ich schüttelte den Kopf.
Er seufzte. „Man kann Avery nicht töten und sie somit zurück in die
Hölle schicken, da man sie von dort verbannt hat. Wenn sie stirbt,
bleibt sie vielleicht ein paar Stunden bewusstlos, doch dann wacht sie
auf als wäre nichts passiert. Selbst wenn man sie köpft, bildet sie sich
einfach neu.“
Was musste man für ein Verbrechen begehen, um aus der verdammten Hölle geschmissen zu werden? Ich hatte gedacht, das wäre der
Abgrund des Universums, das Schlimmste, was einem zustoßen konnte. Meine Vorstellungskraft reichte nicht aus um eine Tat zu finden,
die eine Verbannung aus dem bösesten Ort aller Zeiten rechtfertigen
könnte.
„Sie hat sich in den falschen Mann verliebt“, antwortete Jason auf
meine unausgesprochene Frage.
Ich sah ihn prüfend an. „Kannst du eigentlich Gedanken lesen?“
Er lachte. „Selbstverständlich nicht. Allerdings sprechen deine Gesichtsausdrücke für sich selbst.“
„Oh gut. Das wäre sonst wirklich unheimlich. Ich wüsste gar nicht,
an was ich dann denken sollte.“
Verdammt, was redete ich da? Ich würde mich von der nächsten
Brücke werfen, wenn er meine Gedanken lesen könnte. Denn dann
wüsste er, wie attraktiv ich ihn fand, obwohl er mein Lehrer war.
Peinlicher ging es wirklich nicht.
Wir hielten an und tranken ein wenig. Mit einem Mal griff er nach
einer meiner Haarsträhnen, die sich aus dem Kopf gelöst hatten, und
strich sie mir hinters Ohr. Würde ich so hoffnungslos romantisch wie
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Carter sein, wäre ich wohl für Freude darüber ausgeflippt und hätte
angefangen heimliche Hochzeitspläne zu schmieden, aber dank Lucinda und ihrer Drohung mich in weniger als fünf Wochen mit einem
Unbekannten zu verheiraten, konnte ich an Dinge wie Romantik und
Liebe einfach nicht denken.
Jason zog seine Hand zurück, als merkte er, dass etwas nicht stimmte. Er lächelte schwach. „Kannst du dich bis morgen Nachmittag bitte
aus allen Gefahren raushalten? Ich möchte dir ein paar Dinge zeigen,
die dir gegen mit Kopfkissen bewaffnete Mörder helfen könnten.“
„Woher weißt du davon?“ Ich konnte mich nicht daran mich mit ihm
über die Ereignisse der letzten Nacht unterhalten zu haben.
„Deine Mutter erzählte es mir.“, erwiderte achselzuckend. „Sie hat
mich gegen zehn Uhr angerufen.“
Ich verstand die Welt nicht mehr. „Warum denn das?“
Dass sie die Berserkerzentrale hatte anrufen wollen, konnte ich
nachvollziehen, aber was hatte Jason damit zu tun?
Er zuckte erneut mit den Schultern und hob seine Tasche auf. „Weil
ich dich trainiere, denke ich. Vielleicht glaubt sie, dass ich dich dann
besser in einem bestimmten Bereich ausbilden würde, was totaler
Unsinn ist. Du musst alles der Reihe nach lernen.“ Er nestelte einen
Schlüssel aus dem vordersten Fach seiner Sporttasche. „Soll ich dich
heute nach Hause fahren?“
„Ich bin mit Nick verabredet“, sagte ich vorsichtig. „Wir treffen uns
am National History Museum.“
Jason überlegte kurz, dann meinte er: „In Ordnung, ich fahre dich
dorthin. Ich muss sowieso in die Stadt um mit den Berserkern zu reden.“
„Wegen Annabelle“, vermutete ich. „Das Mädchen, das man gestern
tot in der Bibliothek gefunden hat.“
Es schien ihn nicht zu überraschen, dass ich davon wusste. „Genau.
Sie ist ermordet worden und wir wollen herausfinden von wem.“
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„Gibt es schon irgendwelche Verdächtige?“
Er schüttelte den Kopf. „Leider Nein. Vielleicht war es ein Dämon,
aber das ist eher unwahrscheinlich. Man hat ihr die Kehle aufgerissen
und sie fast blutleer zurückgelassen, Dämonen tun das nicht. Alles
spricht für eine andere Art von Täter.“
„Ein Vampir“, sagte ich und fügte auf seinen fragenden Blick hin
hinzu: „Wegen der Geschichte mit dem Blut. Vampire machen das
doch so.“
„Das tun sie, ja, aber wie soll ein Vampir das Schulgebäude betreten
haben?“, entgegnete Jason, als wäre ihm dieser Gedanke auch schon
gekommen.
Vampire mussten in ein Gebäude reingebeten werden, solange es
kein öffentliches Eigentum war. Bei einer Schule wie Winterstone, wo
man durchaus wusste wozu diese Blutsauger im Stande waren, war es
wie in allen übernatürlichen Häusern so, dass das Gebäude einer oder
mehreren bestimmten Personen gehörte, die den Vampiren den Eintritt
erst einmal erlauben mussten. Ansonsten konnten diese nur blöd auf
der Türschwelle rumstehen. Die Personen, die über das Gebäude bestimmen durften, nannte man ‚Patronen‘. Bei mir Zuhause war jeder
von meiner Familie ein Patron, bei Ash wusste ich es nicht und Avery
war ein Dämon, weswegen sie niemals eine Patronin werden konnte.
Mir kam eine Idee. „War Annabelle ein Patron?“, fragte ich auf dem
Weg zur Umkleide.
„Soweit wir wissen nicht. Sie ist… war die Stieftochter des Direktors, also wäre dies durchaus eine Möglichkeit, die man in Betracht
ziehen muss“, gab er zu. „Allerdings glaubt niemand, dass sie den
Mörder absichtlich hereingebeten hat, falls es denn ein Vampir war.
Wir haben die Spuren eines Kampfes gefunden, die zeigen, dass sie
sich gewehrt hat.“
„Und wenn jemand nur wollte, dass es wie ein Vampir-Angriff aussieht, damit ihr euch bloß auf die Vampire bei der Suche nach dem
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Täter konzentriert?“, hakte ich nach. „Jeder Vollidiot kann einen Hals
aufschneiden.“
„Du hast es erfasst.“ Sein Tonfall klang bitter. „Im Grunde könnte es
jeder sein. Die Frage ist nur: Warum wollte sie jemand töten? Sie ist
nicht die Art von Mädchen gewesen, die viele Probleme gemacht hat.
Wer auch immer sie beseitigen wollte, es handelt sich dabei vermutlich um eine Verwechslung.“
Die arme Annabelle. Ich hatte gestern in der Mittagspause in der
Schlange vor der Essensausgabe noch mit ihr geredet. Sie hatte mir
von ihrem Auslandsjahr in den USA erzählt und wir hatten uns ein
wenig über die amerikanischen Bräuche unterhalten, und darüber was
für seltsame Vorstellungen die Amerikaner von Essen hatten. Sie hatte
in South Carolina bei einer typischen vierköpfigen Familie mit einem
Hund gewohnt. Im Gegensatz zu mir war sie kein Cheerleader gewesen, sondern irgendeine Art von Mathe-Ass, das sich auf Meisterschaften mit anderen Strebern gemessen hatte. Als ich das gehört hatte, hatte ich mich unwillkürlich gefragt, ob das für Genoveva und
Flavius akzeptabler gewesen wäre als Cheerleadern. Wahrscheinlich
nicht, da sie ohnehin gegen alles waren, was ich tat.
Ich hatte nicht wirklich viel Ahnung von Autos, aber das von Jason
sah definitiv teuer aus. Die Sitze waren aus braunem Leder und es
hatte noch diesen Neu-Geruch, als wäre es vorhin erst gekauft worden. Ich ließ mich auf dem Beifahrersitz fallen und bewunderte die
glänzende Armatur.
Jason setzte sich auf den Fahrersitz und musterte mich einen Augenblick an. Ich trug normale Straßenkleidung, genau wie er, nur bestand
meine aus Winterstiefeln, Jeans, einem Schal und einem Kapuzenpullover, während er trotz der Kälte einen dunkelgrauen Anzug mit einem weißen Hemd anhatte. Immerhin hatte er keine Krawatte um den
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Hals, denn dann sähe er wirklich seltsam aus. Ich meine, er war um
die zwanzig und nicht vierzig Jahre alt.
„So läufst du für gewöhnlich rum?“, fragte er verwirrt.
Ich nickte. „Aber nur wenn meine Cocktailkleider alle in der Wäsche sind, oder es so schön sonnig ist wie heute.“ Der Regen, der auf
das Auto trommelte, unterstrich die Ironie in meiner Stimme. Ich hatte
meine Schuluniform zusammen mit meinen Sportsachen in meinem
Spind gelagert, weil ich sie nicht mit zu meinem Treffen mit Nick
schleppen wollte.
„Es spielt sowieso keine Rolle, du siehst auch so hübsch aus“, verkündete er.
Ich starrte ihn an. Hatte er gerade gesagt, ich sei hübsch? Mein Herz
schlug so laut, dass ich Angst hatte, er könnte es hören. In meinem
Inneren breitete sich ein warmer Luftballon aus, der mich nach und
nach betäubte.
„Du hast doch jetzt ein Date, oder nicht?“, ergänzte er, nachdem er
merkte wie verblüffend seine Aussage für mich gewesen war. „Und
ich finde du kannst so dahin gehen, weil du nicht zu unnatürlich aussiehst.“
Der Luftballon in meiner Brust zerplatzte. Er dachte, ich hätte mit
Nick ein Date. Natürlich dachte er das, wies ich mich selbst zu recht,
was sollte er schon von dir wollen. Du bist doch viel zu jung.
Ich musste mich wieder zusammenreißen, um zu antworten: „Nick
und ich sind nur Freunde. Das ist kein richtiges Date oder so, sondern
ein ganz normales Treffen unter Kumpels.“
„Entschuldige meinen Fehler“, erwiderte Jason, aufrichtig betroffen.
„Die Theorie, dass du verabredet bist, ist schließlich nicht wirklich
abwegig.“
Der Luftballon war sofort wieder da. Innerhalb von drei Minuten
hatte er mir gleich zwei Komplimente gemacht. Ich war in Hochstimmung, versuchte aber auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben.
98
„Gehst du momentan mit irgendwem aus?“ Dass er keine feste Freundin hatte, hieß ja nicht gleich, dass er im Zölibat lebte. Henry war
auch mit niemanden zusammen und schleppte trotzdem ständig Mädchen an, wenn man Mum Glauben schenken konnte.
Er startete den Motor. „Ab und zu, aber ich habe eigentlich keine
Zeit für sowas.“
„Bist du schwul?“, rutschte es mir heraus. Schließlich trug der Typ
in seiner Freizeit Anzüge, so weit hergeholt war das also nicht.
Jason sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren, dann fing er
an zu lachen. Nach einer Sekunde stimmte ich in sein Lachen ein,
einfach nur weil es gut tat mal wieder unbeschwert Lachen zu können.
„Keine Sorge, ich bin nicht homosexuell“, beruhigte er mich und wir
verließen den Schulparkplatz.
„Also, gestört hätte es mich jetzt nicht.“
Ein winziges bisschen vielleicht, weil er so gut aussah. Okay eine
großes bisschen, aber das war jetzt auch egal.
Während der Fahrt machte er das Radio an. Als aus irgendeinem
Grund ‚Born to make me happy ‘ von Britney Spears gespielt wurde,
begann ich mitzusingen. Ich hatte das Lied schon geliebt, als ich es
das erste Mal bei meiner Mum in der Küche gehört hatte, auch wenn
ich den Sinn des Textes nicht wirklich verstanden hatte. Sie hatte es
mir dann zu meinem nächsten Geburtstag auf CD geschenkt und ich
hatte diese CD sogar mit in die Vereinigten Staaten genommen. Im
Augenblick lag sie irgendwo in meinem Zimmer, bereit wieder von
mir gehört zu werden.
Jason sah mich immer wieder an und grinste. Als das Lied zu Ende
war, griff ich nach meinem Handy und wählte Carters Nummer.
„Aria? Wo steckst du? Ich stehe mir am Picadilly die Beine in den
Bauch!“, beschwerte sie sich. Im Hintergrund rauschte die Kulisse der
Weltmetropole London.
99
„Tut mir leid, Car, ich komm heute nicht. Ich bin mit Nick verabredet und schaff es nicht, okay? Wir können ja wann anders einkaufen
gehen.“
Ich versuchte nett zu klingen, obwohl mir klar war was für eine miese Freundin war. Aber im Moment brauchte ich Nick mehr als Carter.
Er war nicht übernatürlich und hatte keine Ahnung von all dem Dämonenkram. Für ihn war Annabelle nicht tot, sondern vorerst im Urlaub oder so. Vielleicht täuschte man auch vor, sie hätte eine schlimme Krankheit oder sei von Zuhause weggelaufen. Irgendetwas…
Normales. Okay, mehr oder weniger.
Carter zögerte. „Du… du versprichst mir, dass du nichts Verbotenes
tun wirst? Du hast einen ganz normalen Nachmittag, an dem niemand
stirbt, verstanden?“
Irgendetwas an ihrem Tonfall gefiel mir gar nicht. „Carter, ich hab
Clary umgebracht, aber es wird keine weiteren Opfer geben!“
Jason warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich winkte ab.
„Wir reden später, Aria“, sagte sie, in einem Ton, als wäre sie in
Wahrheit mit den Gedanken ganz woanders. „Viel Spaß noch.“ Sie
legte auf.
Ich blickte einen Moment lang auf den Display, dann steckte ich
mein Handy wieder weg.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jason besorgt.
Ich nickte. „Alles bestens.“
Das war eine Lüge, aber verglichen mit den anderen Dingen, die gerade um mich herum passierten, fand ich es nicht weiter schlimm.
Jason hielt in der Nähe des Museums an. „Sag Stephen, dass er mir
noch seine Abschrift der Schulordnung geben soll“, rief er mir nach,
als ich ausstieg.
Ich nahm meinen Rucksack von der Rückbank. „Okay, mach ich.
Soll ich ihm auch in deinem Namen eine verpassen, oder meinst du er
versteht das auch so?“
100
Ohne seine Antwort abzuwarten, schloss ich die Autotür hinter mir.
Nick wartete, wie ausgemacht, am Tor der Einfahrt zum Museum
auf mich. Er wirkte ein wenig nervös und strich sich ständig durch
sein braunes Haar, das er heute sorgfältig frisiert hatte. Innerlich verdrehte ich die Augen. Wann würde er endlich begreifen, dass er besser
nicht wie Mummys kleiner Liebling aussehen sollte, um als Mann
ernstgenommen zu werden? Allerdings war ich froh darüber, dass er
so war wie er war. Er gab mir einen vertrauten halt in dieser Welt, die
mich anscheinend wirklich in den Wahnsinn treiben wollte.
Ich begrüßte ihn mit einer Umarmung, die mir ebenso vertraut war,
wie die üblichen Erdrückungen, die Carter mir immer zumutete.
Zu meiner großen Enttäuschung gingen wir tatsächlich ins Museum,
wo ich pausenlos Begeisterung vortäuschte. Nick schienen die Ausstellungen zu gefallen, obwohl wir schon Millionen Mal hier gewesen
waren und mindestens genauso viel wussten wie die Führungsleiter.
Nach dem Tier-/Pflanzen-/Mensch-Teil des Museums, schleppte Nick
mich zusätzlich noch in die Dinosaurier-Ausstellung.
Mir tat das Herz weh, beim Anblick der vergammelten Knochen. Als
Kind hatte Stephen Dinosaurier geliebt, weswegen wir ständig hierhergekommen waren. Ich erinnerte mich daran, wie Dad mich getragen hatte, weil ich wegen der vielen Dunkelheit in dem Raum jedes
Mal Angst bekommen hatte. Es war so, als stände ich mit ihnen hier,
meiner Familie. Mum meckerte Henry an, weil er immer vorgelaufen
war und Stephen ließ sich die Texte von Dad vorlesen. Plötzlich war
Nick verschwunden, genau wie Touristen neben uns. Stattdessen befand ich mich direkt neben Dad, der jünger aussah und ein kleines
Mädchen an der einen und einen Jungen an der anderen Hand hielt.
Daneben stand eine jüngere Version meiner Mum, die einem kleinen
Jungen seine Jacke zumachte. Aber niemand schien mich zu erkennen.
„Ich will auch ein Dino sein“, quengelte der Junge an Dads Hand.
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„Das kannst du nicht, Blödmann“, erwiderte der andere Junge, der
etwas älter wirkte als die anderen beiden Kinder.
„Henry!“, sagte die junge Mum wütend. „Beleidige nicht deinen
Bruder! Entschuldige dich!“
Der Junge an Dads Hand, der frühere Stephen, streckte dem kleinen
Henry die Zunge raus.
Mum stöhnte. „Stephen, lass das!“ Sie sah Dad an. „Daniel, könntest
du bitte kurz auf die Jungs aufpassen? Ich muss kurz mit Aria weg.“
Ihre Augen schauten bedeutungsvoll an das andere Ende des Raumes.
Dad und ich, also mein jetziges Ich, drehten beide die Köpfe, um zu
erfahren, wovon sie redete. Ich konnte nichts weiter entdecken als ein
Haufen Touristen. Dann verstand ich, was sie meinte. Eine junge Frau
mit langen dunklen Haaren, die vollkommen in schwarz gekleidet
war, starrte unentwegt zu uns rüber.
Dad nickte. „Geh, aber passt auf euch auf. Die Jungs sind bei mir in
Sicherheit.“ Er schob die kleine Aria zu Mum hinüber, die mich hochhob.
„Mummy ist gleich wieder da“, versprach sie Stephen und Henry.
Dann machte sich kehrt und ging aus dem Ausstellungsraum. Ich beschloss ihr zu folgen, denn ich konnte mich an dieses Ereignis partout
nicht erinnern.
Die fremde Frau folgte uns bis zu einem leeren Gang, in dem Ausstellungsstücke aufbewahrt wurden, am gegengesetzten Teil des Gebäudes.
Wir waren allein, keine Touristen und Mitarbeiter befanden sich in
unserer Nähe.
Mum hielt an und stellte meine frühere Version auf den Boden, hielt
sie aber an der Hand fest. „Was willst du, Natalia?“, fragte sie kalt.
Natalia, die Fremde, machte einen Schritt auf Mum zu. „Ich bin hier
wegen dem, weswegen du mich letzte Woche angerufen hast.“
102
Mums Augen leuchteten auf. „Du hast es dabei? Du hast es tatsächlich gefunden?“
Ich hatte keine Ahnung, worüber sie sprachen. Ich hatte die andere
Frau noch nie gesehen (okay, ich war als kleines Kind anwesend, aber
daran erinnerte ich mich nicht).
Natalia zog etwas aus der Jackentasche ihrer Lederjacke. Es glänzte
im Licht der Lampen. „Hier ist es. Es war genau da, wo es geschrieben stand.“
Mum sah unglaublich erleichtert aus, als hätte man ihr eine gigantische Last abgenommen. „Gott sei Dank! Lange hätten wir es nicht
mehr verbergen können.“
Die kleine Aria starrte von Mum zu Natalia und zurück. Sie sagte
nichts, sondern drängte sich noch näher an Mum.
Natalia sah traurig aus. Sie übergab Mum das Ding, das sie in der
Hand gehalten hatte. Ich beugte mich vor, konnte aber nichts erkennen, da Mum es sofort in ihrer Handtasche verschwinden ließ. „Könntest du…?“, fragte sie.
Natalia nickte. „Natürlich.“ Sie ging in die Hocke vor der kleinen
Aria. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und strich der kleinen Aria
über die Wange. „Du vergisst, dass du mich jemals gesehen hast, in
Ordnung, tapfere, kleine Junica?“
Das Mädchen nickte.
Junica war mein zweiter Name, aber absolut niemand sprach ihn je
aus. Er stand nur auf meiner Geburtsurkunde (beziehungsweise Adoptionsurkunde) und nirgendwo sonst, weil selbst meine Eltern fanden,
dass der Name sich furchtbar anhörte. Als sie sich für ihn entschieden
hatten, hatte er gut geklungen, meinten sie immer, wenn ich sie danach fragte. Dabei hörte sich ‚Ariana Junica Grey‘ grauenvoll an.
Ariana war schon schlimm genug, aber Junica wirkte dagegen fast wie
eine ernstgemeinte Beleidigung. Stephen und Henry hatten auch jeweils zwei Vornamen, aber ihre waren nicht ganz so schrecklich: Ste-
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phen Benedict und Henry August. Genau wie die Benediktiner- und
Augustiner-Mönche.
Von den Junica-Nonnen hatte ich allerdings noch nie etwas gehört
(das lag aber nicht daran, dass ich keine Ahnung von Kirche hatte,
sondern daran, dass es sie tatsächlich nicht gab).
Natalia presste die Lippen aufeinander, erhob sich und sah Mum an.
„Sorge dafür, dass ihr nichts passiert, Janice. Wir sehen uns.“
Mum warf ihr blondes Haar zurück. „Ich danke dir und keine Sorge,
ihr wird nichts geschehen.“
Natalia warf noch einen letzten Blick auf das Mädchen, dann ging
sie mit schwingenden Hüften davon. Ich wollte ihr nachgehen, herausfinden wer sie war, doch mit einem Mal stand ich wieder neben Nick
in der Dino-Ausstellung. Er redete gerade über irgendeine Band, die
nächste Woche Freitagabend in einem kleinem Club in Whitechapel
auftreten würde und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte mit ihm und
seinen Schulfreunden dorthin zugehen.
„Oh Mann, das war seltsam“, sagte ich. „Findest du nicht auch?“
Nick sah mich irritiert an. „Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Nein, ich meine…“ Ich war total verwirrt, riss mich aber schnell
wieder zusammen. „Tut mir leid, ich war kurz abgelenkt.“ Ich lächelte. „Ich gehe gerne mit dir und deinen Freunden aus. Die Frage ist nur,
ob deine Freunde das auch wollen.“
Zu seinen Freunden zählte schließlich auch Chuck, der von der Sache mit Clary wusste. Bestimmt gab es da eine Menge Übernatürliche,
die lieber nichts mit mir zu tun haben wollten.
„Klar, wie kann man deinem Charme denn wiederstehen?“, wehrte
er ab. „Chuck hat mich heute noch danach gefragt, ob du zu seiner
Party kommen wirst.“
Ja, weil er Angst um seine Gäste hat.
„Carter wird mich dahin schleifen“, entgegnete ich, gespielt um Mitleid bettelnd.
104
Nicks Stirn legte sich in Falten. „Carter? Das ist merkwürdig. Normalerweise schottet sie sich von allen anderen ab.“
„Carter Levinson?“
Er nickte. „Ja, sie hat sich verändert seit sie aus Kalifornien zurück
ist. Erst kam sie kaum zur Schule, und später redete sie mit fast niemandem. Mit der Zeit ist es besser geworden. Sie hat sich mit Iphigenia Archer angefreundet, seitdem ist sie wieder mehr wie früher.
Und jetzt wo du da bist benimmt sie sich, als wäre nie etwas passiert.“
Ich zog beide Augenbrauen hoch. „Willst du mir sagen, dass es eine
Zeit gab, in der Carter Levinson niemals den Mund aufgemacht hat?“
Nick schien das nicht so zu amüsieren wie mich. „Es war schlimm,
Aria“, sagte er ernst. „Als ihr gegangen seid, schien es so als wären
alle erleichtert und gleichzeitig hatten sie Angst. Ich hab versucht
herauszufinden was passiert ist, doch keiner wollte was sagen, wie als
wären sie für ihr Schweigen bezahlt worden.“
Nicht ganz, aber wenn man einem Menschen etwas über die Welt
der Übernatürlichen verriet, musste man selbst bezahlen. Mit dem
eigenen Leben.
„Mit Sicherheit lag das nur daran, dass sie mich vermisst haben“, log
ich.
Er glaubte mir nicht. „Das war es nicht. Das ist jetzt echt nicht böse
gemeint, aber ich habe das Gefühl, die meisten mögen dich nicht
mehr.“
Ein Hoch auf Nicks Menschenkenntnis. Selbst ein taubstummer
Blinder konnte erkennen, dass fast jeder, meinen eigenen Bruder eingeschlossen, mich nicht leiden konnte.
Ich tat es mit einem Schulterzucken ab. „Es gibt Schlimmeres. Außerdem habe ich ja noch Carter und dich. Was kümmern mich dann
die, die ohnehin nichts mit mir zu tu haben wollen?“
Nick griff nach meiner Hand. „Alles klar, Themawechsel. Wir wollen uns doch schließlich die Dinosaurier ansehen, oder?“
105
Um ehrlich zu sein: nein, wollten wir nicht. Ich wollte es jedenfalls
nicht.
Wir erreichten den Höhepunkt der Ausstellung: einen möglichst real
aussehenden Tyrannosaurus-Rex, der sich bewegen konnte. Wäre das
nicht mein millionster Museumsbesuch, hätte ich den Dino bestimmt
genauso spannend gefunden wie die Touristen, die uns förmlich
zerquetschten, nur um ein Foto zu machen, auf dem man wegen der
seltsamen Lichtverhältnisse ohnehin so gut wie nichts erkennen konnte. Nick erzählte mir von seinen Plänen für die Zeit nach der Schule.
Er wollte nach Amerika oder in die Schweiz und dort Physik studieren, seine mit Abstand größte Leidenschaft (obwohl die meisten Leute
ihn für einen Sportfanatiker hielten, war er in Wahrheit ein richtiger
Naturwissenschaften-Junkie).
Ich hatte mir noch keine großen Gedanken gemacht. Ich wollte nicht
schon wieder in die Vereinigten Staaten und auf ein Studium hatte ich
noch weniger Lust, wo ich doch noch nicht einmal wusste, was ich
überhaupt studieren sollte. Soweit ich wusste, konnte man weder
‚Sarkasmus‘ noch ‚von-jedem-gehasst-werden‘ als Studienfach belegen, und das waren meine einzigen Stärken, die mir momentan einfielen. Wenn Lucinda und ihre seltsamen Pläne, mich eines Tages zur
Königin zu machen, nicht wären, würde ich mit dem Gedanken spielen eine Rucksackwanderung in Australien zu machen oder per Anhalter durch Europa reisen.
Würde ich nicht das neue Hofmaskottchen der britischen Übernatürlichen werden, könnte ich nach Wien ziehen. Grandma Annie war
Österreicherin und sie besaß mitten in der Hauptstadt Österreichs eine
niedliche Wohnung für ihre Ferien dort. Mein Deutsch war zwar
furchtbar (ich hatte das Fach bei der erstmöglichen Gelegenheit abgewählt), aber im 21. Jahrhundert konnte sogar jeder chinesische Reisbauer ein wenig Englisch. Dort könnte ich dann Englisch-Nachhilfe
geben, obwohl ich Kinder eigentlich nicht mochte. Oder ich folgte
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dem Beispiel von Grandma Annies Freundin Meggie und machte etwas in der Gartengestaltung, aber mit Steinen. Pflanzen überlebten
meine Pflege meistens nicht, da war ich wie Dad. Und der hatte es
fertig gebracht einen Kaktus krepieren zu lassen.
Nur leider war ich nun mal der blöde Delfin, oder Dauphine, wie
auch immer, und das bedeutete, dass meine Zukunft aus einem Haufen
Regeln bestehen würde.
Um Nick eine plausible Berufsmöglichkeit nennen zu können, sagte
ich, ich würde versuchen wie Mum Anwältin zu werden. Das schien
ihn zu beeindrucken, weil er bei mir jetzt nicht so die Zukunft bei
Gericht gesehen hatte. Vor dem Gericht ja, als Angeklagte wegen
Sachbeschädigung oder so. Aber nicht als jemand, der nichts verbrochen hatte.
„Das war ein einziges Mal“, verteidigte ich mich. „Und du hast mitgemacht.“
An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte irgendwer einen Beutel mit
Graffiti-Dosen mitgebracht. Falls ihr euch jemals gefragt habt, wie an
einer Garage drei Straßen von Nicks Haus entfernt, der Spruch ‚Lieber
teuer gelebt, als billig gestorben‘, gekommen ist, kann ich nur sagen,
dass zumindest die Idee dazu nicht von mir gewesen war.
Statt dass wir weiter darauf eingingen, berichtete er mir von ähnlichen Partyereignissen. Irgendwann driftete ich ab und lenkte meine
Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Ein kleines Mädchen beugte sich
keine vier Meter von uns entfernt über die Absperrung und versuchte
mit ihren Fingerspitzen eine der Pflanzen um den ‚lebendigen‘ Dino
herum zu berühren. Nein, nicht die Pflanze. Etwas anderes; ein kleiner
schwarzer Ball. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch, so als würde
gleich etwas Schlimmes passieren. Kurz bevor das Mädchen das
schwarze Ding erreichte, ging das Etwas in Flammen auf.
Eine Stichflamme schoss hervor und setzte die Pflanzen ringsherum
in Brand. Die Leute schrien vor Entsetzen auf und drängten in Rich-
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tung Ausgang. In dem Tumult wurden Nick und ich getrennt. Ich
wurde über die Absperrung gestoßen – genau auf eine freie Stelle
zwischen den brennenden Pflanzen. Rauch und Lärm der von der Panik erfassten Menschen benebelten mein Gehirn, das viel zu lange
brauchte um die Situation zu erfassen.
Ich tastete nach der Magie. Wenn ich tatsächlich eine Casterville
war und Feuer beschwören konnte, dann sollte ich es auch schaffen
die Flammen zu ersticken. Meine schmerzenden Knochen protestierten heftig, als ich mich ein wenig aufrichtete. Ich streckte die Hand
aus. Angestrengt versuchte ich das Feuer zu löschen, aber ich hatte
keine Ahnung wie ich das tun sollte. Ich konzentrierte mich einzig
und allein auf den Zauber, was bei all dem Geschrei um mich herum
nicht gerade einfach war. Nach weiteren unglaublich kräftezehrenden
Momenten, zeigten meine Bemühungen endlich Wirkung; die Flammen wurden kleiner und verschwanden schließlich ganz.
Sofort explodierte der Schmerz in meinem Gehirn. Ich umfasste mit
beiden Händen meinen Kopf. Es war schlimmer als sonst, viel
schlimmer. Dabei war das nicht mal mein größtes Problem, denn ich
hatte eben vor gut drei Dutzend Sterblichen Magie praktiziert. Wäre
der schwarze Ball nicht genau in diesem Augenblick auf mich zu gekrochen, wäre ich wohl vor Erschöpfung zusammengebrochen. Aus
der Nähe betrachtet sah das Etwas aus wie ein Hamster mit sehr dunklem Fell. Doch die hellen Funken, die immer wieder aus seinem Peltz
sprühten, verrieten die Wahrheit: Das hier war kein Hamster.
Das war ein leibhaftiger Dämon.
Der Dämon krabbelte weiter auf mich zu. Ich wollte zurückweichen,
aber dafür fehlte mir die Energie. Er erreichte meinen Fuß. Gleich ist
es aus, dachte ich. Er kletterte auf meinen Turnschuh, schnüffelte eine
Sekunde lang und…
machte es sich gemütlich.
108
Ich lehnte mich vor und konnte zusehen, wie der Hamster-Dämon
sich zusammenrollte und die Augen schloss. Vorsichtig stupste ich ihn
an. Möglicherweise schlief er ja gar nicht und wartete nur darauf mich
in Brand setzten zu können. Er öffnete die Augen wieder und reckte
sich, als wollte er, dass ich ihn streichelte. Ganz langsam nahm ich ihn
hoch und streichelte dabei seinen seidig weichen Körper. Dieser Dämon war mit Abstand die niedlichste, kuscheligste und süßeste Killermaschine aller Zeiten.
„Wie heißt du denn?“ flüsterte ich und kraulte sein winziges Köpfchen.
Der Hamster-Dämon sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Kein Wunder, schließlich saß ich in den verkohlten AusstellungsÜberresten, knuddelte einen Feuerdämon und fragte ihn nach seinem
Namen. Dann bemerkte ich, dass der Dämon gar nicht mich anschaute, sondern die Tyrannosaurus-Figur hinter mir.
„T-Rex“, sagte ich leise. „So nenne ich dich.“
Unglaublicherweise schien der Dämon mich zu verstehen, denn er
machte eine Kopfbewegung, die wie ein zustimmendes Nicken aussah. Oder der ganze Rauch hatte nachhaltige Schäden bei mir verursacht, sodass ich anfing zu halluzinieren.
„Scheiße! Aria! Ist alles klar bei dir?“, rief Nick. Er stürzte auf mich
zu. Menschen konnten Dämonen nicht sehen. Um peinliche Fragen zu
vermeiden, warum ich eine, für ihn leere, Hand hochhielt, setzte ich
T-Rex vorsichtig auf meine Schulter, griff nach Nicks Hand und stand
auf, wobei ich aufpasste, dass der Dämon nicht runterfiel. Glücklicherweise war dieses Exemplar der Höllenbrut intelligent genug sich
festzukrallen und unglücklicherweise tat es das sogar sehr gut – an
meinen Haaren.
Weil Nick eben Nick war, drückte er mich fest an sich, wie Carter es
in dieser Situation (zehn Mal fester) bestimmt auch gemacht hätte.
Wenn ich später mal wiedergeboren werden sollte (ein umstrittenes
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Thema, selbst in der übernatürlichen Welt), würde ich mir einen nicht
ganz so umarmungssüchtigen Freundeskreis zulegen müssen. Auf
Dauer war das nämlich wirklich schmerzhaft.
In meinem Nacken prickelte es, als würde man mich beobachten. Ich
löste mich aus Nicks Umklammerung und drehte mich um. Dort, am
Ausgang, stand ein junger Mann, der auffällig zu mir rüber schaute.
Ein furchtbarer Gedanke kam mir in den Sinn: Was wenn das kein
gewöhnlicher Mensch war, sondern beispielsweise ein Berserker?
Was dachte er von mir, wo er doch sehen konnte, dass ich einen Dämon auf meiner Schulter trug (der sich inzwischen damit zufrieden
gab seine Pfoten in meinem Pullover zu versenken).
Der Mann hatte dunkles Haar und trug einen langen schwarzen Ledermantel über irgendwie befremdlich aussehender schwarzer Kleidung. Obwohl wir gute zehn Meter voneinander entfernt standen,
konnte ich die Farbe seiner Augen erkennen. Sie wirkten wie zwei
perfekte Türkise, die in sein Gesicht eingelassen worden waren. Seine
Figur war ziemlich faszinierend, so durchtrainiert wie er war. Ich war
mir nicht sicher, ob selbst Jason oder Ash mit ihm mithalten konnten.
„Du hattest echt viel Glück. Ich dachte schon, du hättest dich mega
verbrannt“, sagte Nick laut. „Letztens haben sie im Fernsehen Opfer
von so einem Großbrand gezeigt. Die waren alle ganz verrußt und voll
mit diesen Brandblasen. Da war echt überall Blut! Es sah echt übel
aus. Die Sanitäter wussten gar nicht, wem sie zuerst helfen sollten.
Ich sah ihn an und verdrehte die Augen. „Wie du siehst bin ich gerade noch am Leben.“
Der Mann an der Tür war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
Ich suchte unauffällig den ganzen Raum nach ihm ab, aber er blieb
verschwunden.
„Ja, und ich bin echt froh darüber“, erwiderte Nick. Innerlich mit
den Nerven total am Ende, folgte ich ihm nach draußen durch die
110
Menge geschockter Museumsmitarbeiter, ratloser Feuerwehrmänner
und schaulustiger Touristen.
Ich bin echt froh, wenn dieses Treffen endlich zu Ende ist, schoss es
mir durch den Kopf. Noch mehr unangenehme Überraschungen für
heute brauchte ich wirklich nicht.
Auf die Erfüllung meines Wunsches musste ich glücklicherweise
nicht lange warten, denn Nick hatte gleich noch ein wichtiges Treffen
mit seinen Freunden aus der Physik-AG. Sie wollten irgendein ‚echt
cooles‘ Experiment machen. Ich versprach ihm, ihn nachher noch
anzurufen, schwor mir aber innerlich es nicht zu tun. Was hatte dieses
Treffen denn bitte gebracht? Einkaufen zu gehen mit Carter wäre viel
witziger gewesen.
„Aria“, murmelte Nick, als wir gemeinsam auf seinen Bus warteten.
Ich hob den Kopf.
„Wie sehr… hast du mich vermisst?“ Er sprach so leise, dass ich die
Frage kaum verstand.
Einen Moment lang musterte ich ihn um zu prüfen ob er es ernst
meinte. Verdammt, er meinte es ernst. Ich überlegte. „Du bist mein
bester Freund und wir kennen uns jetzt schon seit einer Ewigkeit, also
würde ich sagen du hast mir verdammt viel gefehlt.“
Er schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Ich will wissen wie
sehr du mich magst?“
Ich runzelte die Stirn. „Nick, worauf willst du hinaus?“
In diesem Augenblick kamen eine riesige japanische Touristengruppe und Nicks Bus gleichzeitig. „Bis morgen“, verabschiedete er sich
hektisch und stieg ein, ohne mir meine Frage zu beantworten.
Sobald Nicks Bus außer Reichweite war rief ich Carter an und teilte
ihr mit, dass ich doch noch einkaufen gehen würde. Vielleicht stimmte
es ja, dass ein paar neue Klamotten einem die Stimmung verbessern
konnten. Momentan wäre ein bisschen Fröhlichkeit wirklich nicht
schlecht. Ich setzte T-Rex in die Außentasche, wo er schlafen konnte
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und auch Luft bekam. Wie es zu erwarten gewesen war, stand Carter
gerade an einer Kasse in einem Geschäft in der Oxford-Street, wo sie
den ganzen Nachmittag verbracht hatte (ich weiß, kein richtiger Londoner kaufte in der Oxford-Street ein, aber Carter war da wohl die
goldene Ausnahme). Sie freute sich und versprach an der nächsten UBahn Station auf mich zu warten.
Eine halbe Stunde später verpasste Carter mir die übliche Begrüßungszerquetschung und zerrte mich gleich darauf in den ersten Laden, eine Tierhandlung, die auch Haustiermöbel im Angebot hatte. Ich
hatte ihr am Telefon eine herzzerreißende Geschichte von Aria Grey,
der selbstlosen Hamsterretterin vor dem Tod auf der Straße, erzählt.
Ich fühlte mich mies weil ich sie anlog, aber andererseits konnte ich ja
schlecht sagen: ‚Das ist ein gefährlicher Feuerdämon in der Gestalt
eines harmlosen Hamsters. Ich habe ihn entdeckt als er versucht hat
das Museum abzufackeln, aber keine Sorge in den letzten fünfundvierzig Minuten hat er noch nicht versucht jemanden zu fressen. Lass uns
einfach so tun als gehörte er nicht zu unseren geborenen Todfeinden,
obwohl wir an oberster Stelle seiner Beuteliste stehen.‘
Carter würde schreiend zur Berserkerzentrale rennen, um ein Dämonen-Killerkommando zu holen und mir einen Vogel zeigen. Okay,
wahrscheinlich eher anders rum. Sie würde mir erst einen Vogel zeigen und dann schreiend davonrennen.
Der Kassierer in der Tierhandlung war äußerst zuvorkommend. Er
bot an T-Rex in seinem neuen Käfig erstmal im Laden zu behalten
und ihn nach Geschäftsschluss persönlich bei mir Zuhause abzuliefern. Da ich keine Lust hatte den leicht entzündlichen HamsterDämon mit in die ganzen Geschäfte zu nehmen, stimmte ich diesem
Plan zu.
Carter und ich amüsierten uns den Abend über prächtig. Wie früher
schon, redeten wir die völlig verwirrten Geschäftsangestellten auf
Latein an und taten so, als würden wir kein Englisch verstehen. Be-
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sonders eine Beraterin in einem Schuhgeschäft hatte damit ihre Probleme. Sie erklärte uns mit Händen, Füßen und den lustigsten Gesichtsausdrücken die Vorteile von High Heels gegenüber denen von Pumps,
was besser war als alle Comedy-Shows im Fernsehen zusammen. Wir
fanden auch geeignete Outfits für Chucks Party und auch noch welche
für ein paar andere Anlässe. Anschließend beschlossen wir noch nach
Weihnachtsgeschenken für unsere Familien zu suchen. Schließlich
hatten wir in ein paar Wochen schon den 25. Dezember. Draußen war
es dunkel geworden, also hatte man überall die Beleuchtung angeschaltet.
Die Vorweihnachtszeit war eine meiner liebsten Zeiten im Jahr, weil
alles so festlich geschmückt wurde und permanent Weihnachtslieder
in den Läden gespielt wurden. Ich liebte die Plastikbäume, die Holzfiguren und den Kunstschnee in den Schaufenstern und genoss die heitere Atmosphäre und den Geruch von Tannen- und Mistelzweigen.
Alles fühlte sich so vertraut an und auch die Leute auf den Straßen
waren viel freundlicher zueinander.
In einem von Carters und meinen Lieblingsläden trafen wir auf Iphigenia, die ebenfalls auf der Suche nach Geschenken für ihre Liebsten
war. Carter überredete sie, dass sie doch mit uns kommen könnte, aber
ich war von dieser Idee nicht wirklich überzeugt. Bisher hatte Iphigenia auf mich wie eine arrogante Streberin gewirkt, die in der Schule
immer die kleine Miss Perfekt spielte. Ich dagegen hatte zu den meisten Lehrern ein nicht ganz so großartiges Verhältnis (größtenteils auch
wegen der Sache mit Clary). Umso überraschter war ich, als ich merkte, wie gut ich mich mit Iphigenia verstand. Sie bot mir an, dass ich
sie wie Carter ‚Ivy‘ nennen durfte, statt immer ihren Zungenbrecher
von einem Vornamen aussprechen zu müssen. Weniger unerwartet
war, dass ihr größter Wunsch lautete, eine Wicca zu werden. Sie wirkte wie die makellose Version einer Jugendlichen Hexe, die niemals
einen Fehler machte.
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Aber trotz der guten Schwingungen zwischen uns an diesem Abend,
erzählte ich nichts von meiner Krönung. Carter fragte zwar, wieso ich
in Mythologie hatte gehen müssen, aber ich behauptete einfach es
wäre nur um Formalitäten wegen der Schulunterlagen aus Amerika
gegangen. Ich konnte ihnen die Wahrheit nicht sagen. Es fühlte sich
falsch an, dass ausgerechnet ich die nächste Königin werden sollte.
Ich wollte keine Krone, keine Kleider, keinen verdammten Hofstaat.
Alles was ich mir wünschte war… Freiheit, Selbstbestimmung und
vielleicht auch die Bestätigung für irgendetwas nützlich zu sein.
Man hatte mir immer gesagt, Gott hätte uns eine Rolle im Leben gegeben, aber ich wusste nicht so recht was er mir mit meiner Sagen
wollte. Sollte ich Aria Grey, die böse Mörderin sein, oder doch die
feine Prinzessin? So wirklich eindeutig war er was das anging noch
nicht gewesen. Ich konnte mir nichts unter meiner Zukunft vorstellen,
rein gar nichts. Es war durchaus möglich, dass es daran lag, dass der
Kissentyp wieder auftauchen würde um mich endgültig zu erledigen,
sodass ich keine Zukunft hatte. Dieser Gedanke war noch deprimierender als die Vorstellung Königin zu werden.
Dass ich keine Ahnung hatte, wie es mit mir weiterging, hieß aber
nicht, dass ich nicht existieren wollte. Ganz im Gegenteil. Und falls
der Kissentyp noch mal versuchen würde mich umzubringen, würde
ich ihm auch zeigen wie sehr ich an meinem Leben hing. Ob er das
überlebte, war für mich eher fragwürdig.
Ich hatte gehofft darum zu kommen, doch irgendwann landeten wir
beim Thema von Annabelles Tod. Ivy und Annabelle waren gute
Freundinnen gewesen, deshalb betraf es sie mehr als Carter oder mich.
Laut Ivy war Annabelle bei einem Ritual gestorben, das sie wahrscheinlich selbst durchgeführt hatte. Anscheinend hatte sie versucht
einen Dämon zu beschwören, obwohl sie eine Wicca gewesen war.
Dem entsprechend war der Zauber natürlich total fehlgeschlagen und
bloß zu einer Anrufung geworden.
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Bei einer Beschwörung, die nur von einer Sidhe bewerkstelligt werden konnte, musste der Dämon dem Beschwörer dienen und konnte
nur so lange auf der Erde bleiben, wie sein Gebieter es verlangte. Bei
einer Anrufung aber war es fast anders herum. Der Dämon konnte
bleiben so lange er wollte und musste sich nicht an die Regeln des
Anrufers halten. Meistens machten die Ausgeburten der Hölle sich
den Anrufer gefügig um einen Handlanger zu haben, der sie ein wenig
vor den Berserkern schützen konnte. Es war streng verboten einen
Dämon sowohl anzurufen, als auch zu beschwören. Wir durften ihnen
keine Möglichkeit geben in unsere Welt zu kommen, denn selbst Beschwörungen verliefen nie zu unseren Gunsten.
Ihre Geschichte stimmte nur an einem Punkt mit Jasons überein,
nämlich dass man sie blutleer aufgefunden hatte. Von einem Ritual
hatte Jason aber nichts gesagt.
Ivy brach während ihrer Erzählung in Tränen aus, womit ich nicht
wirklich umgehen konnte. Im Gegensatz zu Carter lösten weinende
Menschen bei mir kein Mitleid sondern Ratlosigkeit aus, weil ich nie
wusste wie ich helfen konnte. Während Carter also den PsychoDoktor spielte, kaufte ich uns Wein von einem Straßenverkäufer. Danach wurde die Stimmung deutlich besser.
Der Abend erreichte seinen Höhepunkt, als wir uns glitzernde Plastikkrönchen mit einem albernen Plüschbesatz kauften. Der Kassierer
murmelte mit einem Blick auf unsere Einkaufstüten etwas von ‚Eltern,
die ihren Kindern zu viel erlaubten‘, doch keiner von uns ließ sich von
ihm den Einkauf verderben.
Da wir nun mal alle mehr oder weniger Frauen waren (im Grunde
war nur Carter volljährig), setzten wir uns irgendwann in ein gemütliches Café, bestellten uns etwas zu essen und redeten über Gott und die
Welt. Nach den üblichen Lästereien über Lehrer und Mitschüler, zu
denen ich nicht gerade viel beitragen konnte, gingen wir zum Thema
Jungs über. Ivy verpasste mir einen halben Herzinfarkt als sie uns
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offenbarte, dass sie Stephen ganz niedlich fand. Meinen Bruder Stephen, für den ich seit Clarys Tod das Böse in Person war. Ich empfahl
ihr, nett wie ich nun mal war, ihm gegenüber nicht zu erwähnen, dass
wir befreundet waren, damit sich zwischen den beiden überhaupt etwas entwickeln konnte. Obwohl Stephen nun wirklich nicht hässlich
war, hatte er seit Clary keine andere Freundin gehabt. Er hatte sie
tatsächlich geliebt, und ja, auch ich hatte mich gewundert, dass das
überhaupt möglich war. Aber gut, sie war auch nicht seine Schwester
gewesen.
Carter hatte angesichts von Ivys Geständnis und meinem Gesichtsausdruck einen Lachanfall bekommen, in den wir nach und nach auch
einstimmten. Einfach so, weil es gut tat zu lachen. In diesem Moment
fühlte ich mich wie ein ganz normaler Teenager, ohne die ganze Magie, die Dämonen und der Prinzessinnen-Geschichte. So musste es
sein wenn man ein normaler Mensch war. Okay, ein angetrunkener,
normaler Mensch traf es wohl besser. Die zwei Flaschen Rotwein vom
Straßenverkäufer waren jedenfalls schon leer.
„Stimmt es, dass du es in Kalifornien mit dem gesamten Footballteam getrieben hast?“, fragte Ivy.
Ich schüttelte mich vor Abscheu und dachte dann an den Fullback
Shane Worrington, der ein echtes Ekelpaket war. „Igitt, nein. Wer
behauptet denn sowas?“
„Stephen“, antwortete Ivy.
Klar, wer sonst.
„Sie war mit dem Quarterback zusammen, David Irgendwas“,
mischte Carter sich ein. Sie war ja größtenteils dabei gewesen.
„Spencer, David Spencer“, korrigierte ich sie. „Aber wir sind schon
seit dem Sommer getrennt.“
Ivys Neugier war geweckt. Ein Haufen Fragen brach aus ihr hervor.
„Ach, und wie lange wart ihr ein Paar? Warum habt ihr euch getrennt?
Wer von euch hat Schluss gemacht? Hat er jetzt eine Neue?“
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„Also erstens“, sagte ich. „Wir waren zehn Monate zusammen. Soweit ich weiß ist er immer noch Single, aber ich hab ihn seit meiner
Trennung von ihm nicht mehr gesehen. Er ist jetzt auf der McGill
University und startet dort seine große Footballkarriere. Ich wollte
keine Fernbeziehung, also habe ich ihm den Laufpass gegeben.“
„Hast du ihn denn gar nicht geliebt?“, hakte Ivy interessiert nach.
Gute Frage. „Nein, nicht wirklich. Nicht so wie ich es hätte tun müssen.“
David war in vielerlei Hinsicht großartig gewesen, weswegen ich
mich überhaupt auf ihn eingelassen hatte. Er hatte mich oft zum Lachen gebracht und hatte stets auf meiner Seite gestanden, selbst wenn
ich im Unrecht gewesen war. Aber nach zehn Monaten Beziehung und
dem Wissen, dass er aufs College und ich im Winter zurück nach England gehen würde, hatte ich beschlossen unsere Beziehung zu beenden. Die Zeit mit ihm war wunderschön gewesen, aber alles hatte nun
Mal sein Ende. Außerdem, wohin hätte es noch führen sollen? Er war
nicht Teil meiner Welt und ich hatte es langsam satt gehabt eine Lüge
leben zu müssen.
„Ich hatte auch mal eine Beziehung, die ich aus ähnlichen Gründen
beenden musste“, meinte Ivy einfühlsam. „Das ist immer hart, selbst
wenn es die richtige Entscheidung ist.“
Ich wandte mich an Carter. „Was ist eigentlich mit dir? Hast du irgendwelche Skandale am Laufen, die du uns anvertrauen möchtest?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Momentan nicht. Ich bin der Meinung Männer werden völlig überbewertet.“
Glaubt sie eigentlich selbst an das, was sie sagt?
„Hey.“ Ivy tätschelte Carters Hand. „Wir sind’s. Du kannst uns alles
erzählen. Wir halten zu dir, du kannst uns vertrauen. Sister for Mister,
richtig?“
Das war der Augenblick in dem ich Ivy wirklich ins Herz schloss.
Sie war die fürsorgliche Freundin, die Carter brauchte und ich niemals
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sein konnte. Es tat gut jemanden zu haben der gleichzeitig mitfühlen
und logisch denken konnte.
Carter seufzte und sah auf ihre silberne Armbanduhr, die farblich
mit ihrem Armband übereinstimmte. „Ich muss los, wir haben schon
halb elf.“
Sie hatte Recht; es war schon sehr spät. Wir bezahlten und gingen
gemeinsam zum nächsten Taxistand, die Arme ineinander verhakt.
Carter war in der Mitte, da sie die höchsten Absätze besaß und sich
beim Trinken kaum zurückgehalten hatte. Reden funktionierte einwandfrei, aber Laufen war dann doch etwas problematisch. Obwohl
ich meine Jacke geöffnet hatte und die Temperaturen auf unter null
Grad gesunken waren, war mir richtig warm. Ich fühlte mich geborgen und sicher, ein Gefühl von dem ich geglaubt hatte es nach Clarys
Tod nie wieder spüren zu können. Nicht etwa weil wir uns nahe gestanden hätten – für mich war sie immer nur Stephens Freundin gewesen – sondern weil ich geglaubt hatte, dass der Gedanke an das was
passiert ist, mir jegliche Freude im Leben rauben würde. Nicht die Art
von Freude, die ich empfunden hatte, als Jason mich hübsch genannt
hatte, es war anders. Und wie das bei Gefühlen so war, einfach unbeschreiblich.
Ivy und Carter nahmen die ersten Taxen in Beschlag, sodass ich beschloss noch ein wenig zu warten. Die beiden protestierten, weil sie
nicht wollten, dass ich alleine hier im Dunkeln stand, doch ich schaffte es sie dazu zu bringen sofort nach Hause zu fahren. Ich war alt genug um ein paar Minuten allein zu sein. Seufzend stellte ich meine
Taschen neben mir auf den Boden. Die Taxen waren gerade um die
Ecke gebogen und aus meinem Sichtfeld verschwunden, als mein
Handy anfing zu klingeln. Ich nestelte es aus meiner Hosentasche.
‚Unbekannter Anrufer‘ zeigte der Display an.
Neugierig nahm ich den Anruf entgegen.
„Ariana?“ Das war Jasons Stimme.
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„Wer sonst? Woher hast du meine Nummer?“ Ich war mir ziemlich
sicher, dass ich ihm meine Nummer nicht gegeben hatte.
„Deine Mum wollte, dass ich dich im Notfall anrufen kann“, antwortete er knapp. „Und das hier ist ein Notfall.“
Verdammt, er hatte das mit T-Rex rausgekriegt. Bestimmt würde er
mir jetzt sagen was für eine Verräterin ich war und dass man Dämonen nicht als Haustiere halten konnte. Egal wie hübsch er mich finden
mochte, er würde mich mit Sicherheit an die Behörden übergeben. Die
Berserker würden mir T-Rex wegnehmen und mich wahrscheinlich
ins Gefängnis stecken, sobald ich achtzehn war. Aber hey, immer hin
musste ich dann keine Prinzessin werden.
„Sagt dir der Name Samael etwas?“ Er klang angespannt. „Das ist
einer der Höllenfürsten und wie es aussieht ist er derjenige, den Annabelle Munroe angerufen hat. Ein paar Berserker haben ihn in der
Nähe von Oxford Circus geortet und laut Ash bist du mit ein paar
Freundinnen dort.“
Woher wusste Ash das?
„Carter und Ivy sind schon weg, ich bin allein.“ Ohne dass ich es
wollte, zitterte meine Stimme.
„In Ordnung, bleib wo du bist. Ich bin gleich bei dir, alles wird gut,
dir wird nichts passieren. Pass auf dich auf und versuche nicht weiter
aufzufallen. Samael ist dafür bekannt, dass er sich seine Opfer danach
aussucht welchen Effekt ihr Tod auf die Gesellschaft haben könnte.
Umso aufsehenerregender die Folgen, desto mehr Spaß hat er.“
Ich hatte Angst vor der Antwort, dennoch fragte ich. „Wie schlimm
wäre es, wenn ich sterbe?“
„Du bist die einzige lebende Erbin für den Thron von England, ohne
dich würde eine Jahrtausend alte Monarchie untergehen“, erwiderte
Jason ruhig. „Außerdem würden dich viele vermissen.“
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„Du auch?“ Vielleicht war das der falsche Moment dafür, aber
Nachfragen kostete ja nichts und falls ich gleich starb, würde ich es
nie erfahren können.
„Ich vermutlich am meisten, Ariana“, sagte er leise und legte auf.
Das zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Es war mir egal, dass er
das wahrscheinlich nur aus Höflichkeit gesagt hatte. Jason war attraktiv, intelligent und er sorgte sich um mich, was konnte ich mehr verlangen? Okay, mir fiel noch einiges ein was er noch für mich tun
könnte, nur war das nicht der ideale Zeitpunkt um über Romantik
nachzudenken.
Abgesehen von mir war die Straße vollkommen leer. Wind war aufgekommen und er brachte eine unangenehm eisige Kälte mit sich.
Zitternd machte ich meine Jacke zu und schlang die Arme um meinen
Körper. Die Wärme von vorhin schien sich mit Carter und Ivy ins
Taxi gesetzt zu haben und war davongefahren. Der Mond am Himmel
wurde teilweise von schweren Wolken verhangen, die weitere Regenoder Schneeschauer für heute Nacht ankündigten. Es war so still wie
auf einem Friedhof, nicht mal die Geräusche der normalerweise so
belebten Stadt waren zu hören.
So als wären sie alle tot.
Ich schüttelte diesen Gedanken ab. Niemand war tot, ich machte nur
gerade aus einer Mücke einen Elefanten. Dann hörte ich halt nichts, na
und? Ich hatte einfach zu viel getrunken und hörte deswegen nicht
mehr so gut, das war doch ganz logisch. Ein kalter Windstoß blies mir
meine ganzen Haare ins Gesicht. Von irgendwoher hörte ich plötzlich
einen Raben krächzen. Es war das perfekte Horrorfilm-Feeling.
Wie aus dem Nichts legte sich von hinten eine Hand auf meinen
Mund, die meinen Schrei erstickte.
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Glühende Finsternis
KAPITEL V
Die Mörderin & der höllische Lebenstiefpunkt mit einem Hotelplaner
Ein kräftiger Männerarm presste mich an meinen Angreifer. Ich
strampelte wie wild, aber er war viel stärker als ich. Er zerrte mich in
eine kleine Gasse hinter zwei Müllcontainer, ließ mich dort los und
schubste mich gegen die Wand der Sackgasse. Ich knallte mit dem
Kopf gegen den Stein, wobei ein Stück Haut aufriss. Die Wunde
brannte und Blut lief mir über die Schläfen. Es war nicht viel, aber es
reichte, um mich in Angst zu versetzen.
„Stell dich gerade hin“, blaffte der Fremde.
Seine Stimme. Es war der Typ von gestern Nacht, der mir so vertraut
vorgekommen ist. Sein Gesicht wurde unter einer venezianischen
Karnevalsmaske versteckt, die mich mit einer gruselig fröhlichen
Miene belächelte.
Schluchzend folgte ich seinem Befehl und richtete mich, an die
Wand gelehnt, auf. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“,
krächzte ich.
Er hob den Arm. In seiner rechten Hand hielt er ein silbernes Messer. „Ich werde dich töten, weil du Abschaum der Hölle bist. Hexen,
Vampire, Werwölfe, Gestaltwandler – das alles muss vom Angesicht
der Erde getilgt werden. Erst dann können wir wieder auf Erlösung
hoffen.“
Okay. Der Typ war auf einer Verrücktheitsskala von eins bis zehn
eine glatte hundert.
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Ich hob beschwichtigend die Hände. „Ganz ruhig, Sir. Sie haben
Recht: ich bin eine Hexe, aber das macht mich nicht zu einem Dämon.
Ich habe nichts mit der Hölle zu schaffen. Es gibt keinen Grund mich
umzubringen.“
Sein Lachen klang wie ein Knurren. „Verstehst du es nicht, kleine
Hexe? Du bist so gut wie tot, denn deine Seele ist schon längst verloren. Ich werde dich aufschlitzen, dir beim lebendigen Leib das Gesicht
abschälen und deine zertrennten Körperteile an all deine anderen Dämonenfreunde schicken. Du kannst uns nicht aufhalten!“
„Uns?“, hakte ich nach. „Verstehen Sie mich nicht falsch, aber im
Moment sind Sie allein. Oder haben Sie ein paar unsichtbare Freunde
mitgeschleppt?“
Ich musste ihn zum Reden bringen. Leute die redeten, brachten einen normalerweise erst dann um, wenn sie fertig mit Sprechen waren.
Meine Berserker-Familie, vor allem Grandma Annie, hatte mir die
eine oder andere ihrer Gefahrenabwehrmethoden beigebracht.
Er lachte und bei diesem Klang stellten sich Härchen in meinem Nacken auf. „Hier sind nur wie beide, aber ich bin nicht der Einzige, der
dich und die anderen tot sehen will. Ihr werdet alle sterben, keine Sorge.“
„Was sagt eigentlich ihre Mutter dazu, dass sie in ihrer Freizeit versuchen kleine Mädchen töten?“, fragte ich, möglichst gelassen.
Ich musste ihm zum Nachdenken bringen, ihn ablenken, um mir
mehr Zeit zu verschaffen um einen Fluchtplan erstellen zu können.
„Meine Mutter“, spuckte er die Worte aus. „Sie interessiert es nicht,
was ich tue. Ich werde sie zur Strecke bringen, gleich nachdem ich mit
dir fertig bin.“
Okay, mein Plan war wohl nach hinten losgegangen. Der Typ gehörte nicht zu der Art Serienkiller, die noch heimlich bei ihren Eltern
wohnten und bei der Erwähnung ihrer Mummy sentimental zu weinen
anfingen. Vielleicht hätte ich nach seiner Grandma Fragen sollen. Bei
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Großmüttern wurde doch jeder weich. Allerdings rechnete er jetzt
vermutlich mit dieser Frage, also hatte es keinen Sinn sie zu stellen.
Ich musste ihn überrumpeln.
Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen. „Das werden wir ja noch
sehen.“
Ich griff nach der Magie und schleuderte sie ihm entgegen. Leider
schien ihm das nichts auszumachen, da er weiterhin ruhig dastand und
mich mit dem Messer bedrohte.
„Wie du siehst habe ich dazu gelernt, Kleine“, sagte er. „Deine Magie kann mir nichts mehr anhaben.“
Fasziniert legte ich den Kopf schief. Ich hatte nicht gewusst, dass
man magieresistent werden konnte. Ganz selten gab es Übernatürliche, die konnten Zauber abhaben, aber wie gesagt, die waren sehr,
sehr, sehr selten.
„Das macht nichts, dann versuch ich‘s eben anders.“
Ich sprang auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht. Damit hatte er anscheinend nicht gerechnet, denn er stolperte nach hinten. Mit aller
Kraft trat ich ihm gegen den Oberschenkel.
Er schnaufte, erholte sich aber schnell und stürzte sich nach vorn.
Seine eine Faust landete zuerst in meiner Magengrube, die zweite
etwas unterhalb meiner Schulter. Beides tat verdammt weh und ich
kippte gegen die Wand. Aus den Augenwinkeln sah ich sein Messer
aufblitzen. Instinktiv duckte ich mich weg und hörte stattdessen das
ohrenzerreißende Geräusch von Metall das auf Stein traf. Oh Mann,
der Typ meinte es tatsächlich ernst, er wollte mich wirklich umbringen! Erneut raste die Klinge auf mich zu. Ich packte sein Handgelenk
und hielt ihn fest, die Spitze des Messers war nur Zentimeter von meinem Hals entfernt.
Ich wusste nicht wie, aber mit einem Mal stand sein Ärmel, den ich
umklammert hielt, in Flammen. Der Fremde jaulte und wich zurück.
Dabei ließ er sein Messer fallen.
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Großer Fehler, dachte ich.
Ich zögerte nicht, rammte ihm meinen Ellenbogen in die Kehle,
packte ihn dann an seinem Hals, wirbelte ihn herum und drückte ihn
gegen die Wand, wobei seine Arme von seinem Körper zerquetscht
wurden.
„Wer sind Sie?“, zischte ich wütend.
„Ich bin dein Tod“, knurrte er.
Meine Hand, die ihn unterhalb des Kinns umklammert hielt, wurde
mit Blut betröpfelt. Seinem Blut. Ich hatte ihn wohl mit irgendwas
verletzt, aber besonders Leid tat er mir deswegen nicht.
Mit meiner freien Hand versuchte ich ihm die Maske abzunehmen,
aber es funktionierte nicht. Es schien so, als wäre sie an sein richtiges
Gesicht angetackert. Ich hielt von dem Versuch ab ihn zu demaskieren
und tat etwas anderes. Etwas, was alles an Brutalität übertraf, was ich
jemals getan hatte.
„Wenn sie mein Tod sind“, erwiderte ich kalt „dann bin ich ihr Fegefeuer.“
Statt erneut zu probieren ihn mit Magie zu anzugreifen, leitete ich
sie in meine Finger, bis ich das Gefühl hatte das Kribbeln nicht länger
aushalten zu können. Dann stieß ich ihm meine Hand in den Brustkorb.
Ich hätte mir vor Ekel fast an Ort und Stelle die Seele aus dem Leib
gekotzt. Seine inneren Organe fühlten sich warm und glitschig an,
heißes Blut lief über meine Hand in meinen Ärmel und durchtränkte
ihn. Ich berührte ein kleines pulsierendes Ding und umfasste es vorsichtig. Ja, es war zum Erbrechen ekelhaft. Der Angreifer röchelte und
keuchte vor Schmerz.
„Also, wer sind Sie?“, wiederholte ich, bemüht mein Essen drin zu
behalten. „Oder muss ich Ihnen ihr Herz ausreißen, um es herauszufinden?“
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Unfassbarerweise fing der Fremde an zu lachen, grausamer und kälter als zuvor. „Du wirst verlieren, kleine Hexe. Gegen sie hast du keine Chance.
Ich drückte seine Kehle ein wenig fester, woraufhin er sich unter
Schmerzen krümmte. „Wer ist sie?“
„Sie ist mächtiger als wir alle zusammen. Du kannst sie nicht aufhalten, niemand kann das“, würgte er.
Wütend packte ich noch energischer zu. „Du würdest dich wundern
wenn du wüsstest, wozu ich alles in der Lage bin.“
„Oh, ich weiß es“, höhnte er. „Aria Grey, die Mörderin der Freundin
ihres eigenen Bruders. Das Mädchen ohne eine leibliche Familie, das
nirgendwo wirklich hingehört.“ Seine Umrisse fingen an zu verschwimmen, selbst meine Hand die in seinem Körper steckte, ertastete
nur noch Luft.
Von irgendwoher erklang seine Stimme. „Sie weiß alles.“
Mit einem Scheppern knallte seine Maske auf den Boden, während
er buchstäblich verschwunden war. Verwirrt suchte ich die Umgebung
nach ihm ab, aber es sah danach aus, als hätte er sich einfach in Luft
aufgelöst. Ich sammelte das einzige Beweisstück auf, das ich für seine
Existenz hatte: die Maske. Im schummrigen Licht der Straßenlaterne
war das Grinsen der hässlichen Fratze unerträglich selbstzufrieden.
Wer auch immer diese Typ gewesen war, Mum hatte Recht gehabt.
Das hier was erst der Anfang. Beim nächsten Mal würde ich nicht so
einfach davonkommen. Diese Maske war eine Warnung an mich, dass
ich nicht wusste wer der oder die Angreifer in Wahrheit waren. Es
bedeutete, dass ich davon ausgehen musste, dass jeder, den ich kannte,
möglicherweise meinen Tod wollte.
Von jetzt an durfte ich niemandem mehr vertrauen.
Ich sah auf meine Hände hinunter. Eine davon war mit Blut überzogen, welches bereits zu trocknen anfing. Die rote Farbe erinnerte mich
an die Vision von meiner Leiche, denn auch die Krone war so von
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Blut überströmt gewesen. Damit stand fest was diese Vision bedeuten
sollte: Wenn ich wirklich Königin werden wollte, würde ich Gewalt
anwenden müssen, die mich letztendlich mein Leben kosten würde.
In meinem Blickfeld tauchte eine große Gestalt auf, die eilig auf
mich zu rannte. Ich wich zurück. Der Mann hielt mich an meinen
Oberarmen fest und sah mich eindringlich durch seine dunklen Augen
an. Ich kannte ihn nicht, da war ich mir sicher.
„Wer weiß, dass du hier bist?“, fragte er besorgt.
Im meinem Kopf hämmerte es. Die Magie, die ich verwendet hatte,
hatte mich als Anker benutzt und die Folgen davon zerfraßen mich
jetzt von innen.
„Jason. Jason Thales.“, hauchte ich. „Wie heißen sie?“
Der Mann packte mich, als meine Beine nachgaben. „Ich bin -“
Vor meinen Augen wurde alles schwarz und ich stürzte in unendliche Dunkelheit. Seinen Namen bekam ich leider nicht mehr mit.
Ich war wenig überrascht mich in der kargen Steinwüste wiederzufinden. Die eisige Kälte, die mir inzwischen schon vertraut vorkam,
durchdrang meine Kleidung und ließ mich bis auf die Knochen frieren, während ich wie schon zuvor zu dem Torbogen marschierte.
„Du siehst aus, als wärst du gerade aus dem Abfluss gekrochen“,
kommentierte eine fremde Stimme von irgendwo hinter mir.
Aufgeschreckt wandte ich mich um. Dort an einem großen Felsen
lehnte ein ungefähr Sechzehnjähriger mit schmächtiger Statur, blasser
Haut, dunklem Haar und schwarzen Klamotten.
„Oh, und wer bist du jetzt?“, fragte ich verblüfft.
Bisher war ich immer alleine hier gewesen. Außerdem war er schon
der dritte Fremde, dem ich innerhalb der letzten fünf Minuten diese
Frage gestellt hatte.
Der Junge seufzte theatralisch. „Dir auch einen guten Tag. Um auf
deine Frage zurückzukommen, ich habe viele Namen. Früher nannte
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man mich Lichtträger, doch das ist lange her. Für die meisten bin ich
‚Herr‘, Gebieter‘ oder bloß ‚Eure Majestät‘.“
Ich lachte auf. Dieser schwächliche… Junge sollte ein Herrscher
sein? Wer’s glaubt. Aber sein Blick verriet mir, dass er es ernst meinte. Ich riss mich zusammen und fragte stattdessen: „Und wie soll ich
dich nennen?“
„Das hängt davon ab.“
„Wovon hängt es ab?“, hakte ich nach.
Er verschränkte die dünnen Arme vor der Brust. „Davon, ob du
Freund oder Feind bist.“
Irritiert runzelte ich die Stirn. „Ich bin weder mit dir befreundet,
noch mit dir verfeindet. Schließlich kenne ich dich gar nicht.“
Der Junge stöhnte. „Was bringen sie euch heutzutage eigentlich in
der Schule bei? Selbst Leonardo wusste, dass es ein schlechtes Zeichen war, als Übernatürlicher in einem Traum in einer fiktiven Welt
mit einem gutaussehenden Unbekannten zu sprechen. Meistens handelt es sich dann nämlich bei diesem Fremden um einen Dämon, der
einem die Seele klauen will.“
Ich hätte vieles Fragen können, zum Beispiel warum sich dieser unscheinbare Schwächling für gutaussehend hielt (er sah schließlich aus
wie eine blasse Vogelscheuche), aber aus meinem Mund kam nur:
„Wer ist Leonardo?“
Eine sehr wichtige Frage, ich weiß. Da hätte ich genauso gut fragen
können was denn so schlimm daran sei die eigene Seele zu verlieren
(die Antwort: Man wird ein willensloser Sklave der Hölle oder man
hat Glück und stirbt sofort).
„Leonardo da Vinci natürlich“, entrüstete sich der Lichtträger-Typ.
Ich verdrehte innerlich die Augen vor Ironie. Natürlich hat er da
Vinci gemeint, wie konntest du bei einer Bevölkerungszahl von circa
acht Milliarden Menschen nicht wissen, dass er ausgerechnet von
diesem, schon sehr lange toten, Leonardo geredet hat? Sagte eine
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sarkastische Stimme in meinem Kopf. Also wirklich, Aria, du solltest
dich schämen.
War nur ein Witz, ich war froh, dass ich überhaupt wusste wer Leonardo da Vinci gewesen war (ein Hoch auf Dads Liebe zu dem Film
‚Sakrileg –Der da Vinci Code‘): ein Erfinder, Kirchenkritiker und
berühmter Maler, von dem die Mona Lisa aus Paris stammte.
„Ach, der Leonardo“, sagte ich. „Und, bist du ein Dämon, der meine Seele klauen will?“
Er grinste. „Nein, ich bin kein Dämon.“ Ich wollte gerade erleichtert
aufatmen, als er fort fuhr: „Ich bin viel, viel schlimmer.“
Oh Mann. Heute war wirklich nicht mein Tag.
Der Junge stieß sich von dem Felsen ab, machte eine kleine Verbeugung und hielt mir die Hand zum Gruß hin. „Gestatten, der König der
Hölle, der Höllenkaiser, meinetwegen auch der Höllenzar, wie deine
russischen Kollegen zu mir sagen. Die Menschen nennen mich ‚Teufel‘ oder ‚Satan‘, obwohl das politisch inkorrekt ist. Du kannst mich
‚Morgenstern‘ nennen, wenn du möchtest, oder auch ‚Bitte – töte –
mich – nicht – hoher – Herr – Morgenstern ‘, doch für meine Freunde
bin ich Luzifer.“
Hatte ich schon erwähnt, dass heute ein mieser Tag war? Nun, jetzt
erreichte mein ganzes Leben gerade seinen Tiefpunkt.
Denn da ich mit dem Luzifer redete, dem Boss aller Bösewichte,
Dämonen und sonstiger Schurken, steckte ich wahrscheinlich in sehr,
sehr großen Schwierigkeiten. Außerdem befand ich mich wahrscheinlich gerade in der Hölle, was einen neuen Rekord an Problemen für
mich darstellte. In meiner Fantasie schlug ich mir gerade mit der Hand
gegen die Stirn. Bei all der Kälte und der seltsamen Warnung an dem
noch seltsameren Torbogen, die ewige Verdammnis predigte, hätte ich
im Grunde auch von selbst darauf kommen können.
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Ich schüttelte seine Hand. „Ich bin Aria Grey, aber wenn ich
dadurch verflucht werde, sprechen sie meinen Namen bitte lieber nicht
aus.“
Luzifer lachte. „Wie paranoid ihr Sterblichen doch seid! Sobald man
irgendetwas mit der Hölle zu schaffen hat, erwartet ihr immer gleich
das Schlimmste.“
„Na ja, auf ihrem Willkommensschild hier stehen nicht gerade
freundliche Worte“, verteidigte ich mich und deutete auf den Bogen.
Er fuhr sich durch seine Haare. „Ja, die Umbauplanungen laufen
schon. Ich wollte das Ganze im Urlaub-auf-Hawaii-Stil aufziehen,
aber Belial ist strikt dagegen. Er meint Pools und Wellnessbereiche
würden unser Image als ‚Nie endende Qualen‘ nicht gut zur Geltung
bringen. Dabei stelle ich es mir absolut fantastisch vor“, er breitete die
Arme aus, „Hier mache ich eine schöne Graslandschaft mit ganz vielen Blumen hin und zum Eingang führt dann eine Straße, an deren
Seite Palmen stehen, aber welche ohne Kokosnüsse. Wusstest du, dass
mehr Menschen von Kokosnüssen erschlagen, als von Haien gefressen
werden? Diese haarigen Nuss-Dinger scheinen echt gefährlich zu
sein.“
Der König aller fiesen Dämonen hielt Kokosnüsse für gefährlich. Ich
verkniff mir einen Kommentar und hörte ihm weiter zu.
„Es soll auf jeden Fall wärmer werden, damit die ganzen verdammten Seelen, die hierher kommen müssen, sich auch freuen. Dort hinten
steht dann eine Hotelanlage und der Torbogen wird in etwas Passenderes umgewandelt.“
Ich musste lächeln, weil er so glücklich aussah beim Erzählen. „Lass
mich raten“, erwiderte ich. „Auf dem Schild wird es heißen: ‚Willkommen im Hell’s Inn! Genießen sie die Ewigkeit mit unserem höllisch guten Service. Hier können sie am Pool des Bösen entspannen
und mit T-Rex kuscheln, wenn er nicht dabei ist alles in Brand zu setzen‘.“
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Luzifer nickte begeistert. „Genau, sowas in der Art. Aber wer ist TRex?“
„Mein Hamster.“ Als der Höllenkaiser die Stirn runzelte ergänzte
ich: „Er ist ein Feuerdämon, der heute das National History Museum
in London abgefackelt hat.“
„Faszinierend“, meinte Luzifer nachdenklich.
„Was ist faszinierend? Dass er mein Haustier ist, oder dass einer ihrer Leute freiwillig in ein todlangweiliges Museum geht?“, wollte ich
nur so, der Neugier halber, wissen.
Luzifer schaute mich an. „Weder noch. Du kommst aus London,
sagtest du?“ Seine schwarzen Augen glänzten vor Begeisterung. „Die
Hauptstadt von Großbritannien?“
Gab es noch ein anderes? Ich nickte.
„Das ist höchst faszinierend“, sagte Luzifer. „Es ist wohl ein wenig
ungewöhnlich dort, nach zwei Jahren in den Vereinigten Staaten von
Amerika, oder? Obwohl… für euch britischen Übernatürlichen existieren ja noch die alten Kolonien. So gesehen hast du Britannien also
nie verlassen.“
Ich hob eine Augenbraue. „Woher weißt du… wissen sie…, dass ich
in Amerika war?“
Er brach in Gelächter aus, als wäre meine Frage das lustigste was er
je gehört hatte. „Ich bin der König der Hölle, meine Dämonen sind
überall auf der Welt verteilt. Es geschieht nichts, ohne dass ich davon
erfahre. Du bist die bald achtzehnjährige Adoptivtochter von Janice
und Daniel Grey. Ich weiß alles über dich, sogar, dass diese närrische
Lucinda dich als Nächste auf dem Thron der britischen Übernatürlichen sehen will, um die Macht der Castervilles zu sichern. Eine Unverschämtheit, wenn du mich fragst. Du hast so viel Potenzial. Du
könntest mit deinen Fähigkeiten viel mehr sein als nur eine Königin.“
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Sein Lob war mir irgendwie peinlich. „Danke, aber eigentlich will
ich noch nicht einmal Königin werden. Ich möchte unabhängig von
allen anderen sein.“
Luzifer nickte zustimmend. „Das ist durchaus verständlich. Als Frau
ist das ein ziemlich unangenehmer Beruf, solange dein König lebt.
Lucinda ist nur so mächtig, weil ihr Ehemann Harold schon vor Jahren verstarb, kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Christian. Sie war fast ihr ganzes Leben lang die alleinherrschende Königin,
doch du wirst nur die königliche Marionette spielen dürfen. Nein, was
du brauchst, ist eine echte Schlacht, einen Krieg, und wie es aussieht
wirst du den bald auch bekommen.“
„Wofür brauche ich denn bitte einen Krieg?“, fragte ich verwirrt.
„Na, um sie zu besiegen“, antwortete er, als läge das auf der Hand.
„Und natürlich um am Leben zu bleiben, denn sie bringt dich sonst
um. Oder ein anderer von ihnen.“
Frustriert kickte ich einen Stein weg. „Wer ist sie? Und warum will
sie mich unbedingt töten?“
„Frag deine Mutter“, entgegnete er schulterzuckend. „Die Frau, die
dich geboren hat. Sie kann dir das alles erklären und dir helfen das
Ganze zu verstehen. Das ist ihre Aufgabe und nicht meine, denn ich
soll dir lediglich Hinweise geben.“
Ich stemmte eine Hand in die Hüfte. Eine Geste, die einen ‚Beste
Carter Levinson-Imitationspreis‘ verdient hatte. „Meine leibliche Mutter hat mich verlassen als ich noch ein Baby war und sich seit dem
nicht wirklich um mich gekümmert. Sie ist verschwunden und hoffentlich schon längst verreckt. Wie soll ich sie also fragen, wieso ich
einen Krieg brauche?“
Er lächelte schwach. „Du schaffst das schon. Ich habe volles Vertrauen in dich. Manchmal tun Eltern verrückte Dinge um ihre Kinder
zu schützen. Sie muss wohl geglaubt haben, dass es besser für dich sei
bei einer Adoptivfamilie aufzuwachsen. Das heißt aber nicht, dass sie
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sich nicht um dich kümmern würde. Ihr werdet euch eines Tages begegnen, das weiß ich.“
„Ja, und das wird dann wohl ihr letzter Tag sein“, murmelte ich.
Luzifer schüttelte den Kopf. „Vergebung ist meistens der bessere
Weg als Rache, glaube mir. Du denkst vielleicht jetzt noch so, doch
das wird sich noch ändern. Nondum omnium dierum sol occidit.“
Es ist noch nicht aller Tage Abend.
Langsam glaubte ich, es machte anderen Spaß, wenn sie mich mit
ihren nichtssagenden Antworten auf die Palme brachten. Eine Palme
mit Kokosnüssen, hoffte ich. Dann kann ich all diese Idioten mit den
Dingern erschlagen.
Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, als Averys Stimme von irgendwoher verkündete: „Mein Zuckerherz, dein Hamster brennt.“
Glaubt mir, so schnell war ich noch nie wach gewesen.
„Das war ein Scherz“, sagte die Dämonin amüsiert. „Aber es wundert mich schon ein bisschen, dass du dir einen Transformations-PyroDämonen als Haustier angeschafft hast. Eine doch eher ungewöhnliche Wahl für eine Hexe, die mit lauter Berserkern unter einem Dach
lebt und vorhat eine gute Wicca zu werden.“
Der Hamsterkäfig stand neben meinem Bett. T-Rex lag in seinem
neuen Häuschen und beobachtete mich durch seine niedlichen Hamster-Augen.
Ich sah sie finster an. „Was machst du in meinem Zimmer?“
Sie hielt meinem Blick stand. „Ich soll dir bloß deine Tabletten geben, bevor du zum Frühstück runter kommst. Heute ist ein ganz normaler Schultag und du bist vermutlich total verkatert.“
Sie reichte mir zwei Tabletten, die nicht zu meinen üblichen Beruhigungsmitteln gehörten, und hielt mir zusätzlich noch ein Glas Orangensaft hin.
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Obwohl es mir eigentlich blendend ging, spülte ich mir die Pillen
mitsamt dem Saft runter. Dann stellte ich das leere Glas auf dem
Nachttisch ab und stand auf.
„Wie bin ich gestern nach Hause gekommen“, fragte ich, auf dem
Weg zu meinem Kleiderschrank.
Avery lächelte süffisant. „So ein schnuckliger Freund von Ash hat
dich bewusstlos an einem Taxistand gefunden und dich hergefahren.
Er schien ganz besorgt um dich zu sein und hat dir sogar all deine
Sachen auf dein Zimmer gebracht. Deine Eltern mussten ihn fast
schon gewaltsam rausschleifen, sonst hätte er vermutlich die ganze
Nacht neben deinem Bett gestanden.“
„War es Jason?“, fragte ich, vielleicht etwas zu hoffnungsvoll.
„Exakt. Jason Thales. Ein richtiges Tiramisu-Häppchen, wenn du
mich fragst“, erwiderte sie.
Ich warf ihr einen weiteren, bitterbösen Blick zu.
Sie hob die Hände. „Also, bitte. Als würde ich etwas mit einem Kerl
anfangen, der dir hinterherhechelt. Auch ich erwarte stets ein gewisses
Niveau bei Männern.“
„Und ich erwarte, dass du aus meinem Zimmer verschwindest und
dir mal etwas anziehst, was nicht in einen Strip-Club gehört“, fauchte
ich wütend.
Tatsächlich trug sie ein Minikleid mit Perlenverzierung und einem
Ausschnitt, der bis unter ihren Bauchnabel reichte. Ab ihren Oberschenkeln kamen dann Netz-Strapsen dazu, die es aber auch nicht
besser machten und in knallroten Stiefeln mit eifelturmhohen Absatz
verschwanden. Wirklich, nicht mal ihre Schuhe sahen normal aus.
„Also schön, bis gleich. Aber du solltest wissen, dass dieser Typ
weit über deiner Liga spielt“, giftete sie zurück. Sie machte auf dem
Absatz kehrt und rauschte durch die Tür davon.
Ich seufzte und sah zum Hamsterkäfig rüber. „Versprich mir, T-Rex,
dass du nie ein Wort über Jason und mich verlieren wirst.“
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Der Hamster-Dämon tapste zu seinem Futternapf und fing an zu
fressen. Dabei beachtete er mich kein Stück.
„Danke, Kumpel. Du bist der Beste“, ich zeigte ihm einen aufgerichteten Daumen und machte mich dann daran mir meine heutige Schuluniform aus dem Schrank zu angeln.
Mum erzählte mir beim Frühstück, wie Jason mich wirklich nach
Hause gebracht hatte. Bei ihr klang es bei weitem nicht so romantisch
wie bei Avery, die mich während der ganzen Unterhaltung bei Tisch
unentwegt abfällig angrinste.
Als wir abräumten, streckte ich ihr unauffällig die Zunge raus. Meine ganzen Schrammen und Verletzungen von meiner Auseinandersetzung mit dem Angreifer waren anscheinend schon verschwunden,
bevor Jason mich gefunden hatte, denn alle schienen zu glauben, ich
wäre wegen Kreislaufproblemen zusammengebrochen. Das war wirklich seltsam. Hexen besaßen schließlich keine besonderen Selbstheilungskräfte.
Dad machte allen eine schlechte Stimmung, in dem er berichtete,
dass der Dämonenfürst Samael den Berserkern gestern entkommen
war. Sie vermuteten, er hätte nur einen kurzen Abstecher nach London
gemacht und die Stadt anschließend schleunigst verlassen. Das hieß
aber nicht, dass er nicht jeder Zeit hier wieder auftauchen könnte, was,
wie Avery uns amüsiert versicherte, sehr wahrscheinlich war.
Meine Eltern und alle anderen Berserker mussten deswegen erstmal
in Alarmbereitschaft bleiben, bis man ihn gefunden hatte und in die
Hölle zurückschicken konnte.
Ich dachte an mein Gespräch mit Luzifer. Er hatte so nett gewirkt
und T-Rex war im Grunde auch nicht wirklich bösartig. Natürlich
wusste ich, dass Dämonen gefährlich waren. Onkel Carson und
Grandma Annie hatten genug Narben, die das bewiesen, aber ich fragte mich trotzdem unwillkürlich, ob Samael nicht auch zu den netten
Höllenbewohnern gehörte. Zu welcher Sorte Avery zählte stand außer
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Frage. Meine Abneigung gegen sie wuchs von Sekunde zu Sekunde,
mit jedem bescheuerten Spitznamen den sie von sich gab (Sie hatte
Stephen beim Essen als ‚Marzipanrösschen‘ bezeichnet. Sein Gesichtsausdruck war einfach unvergesslich gewesen).
Außerdem dachte ich an meine Eltern. An meine richtigen Eltern.
Einer von den beiden musste mit Lucinda verwandt sein, sonst wäre
ich keine Casterville. Vielleicht machten die zwei gerade eine Weltreise und lernten die verschiedenen Kulturen kennen. Für mich stand
fest, dass ich sie trotz Luzifers Worten, ich solle mit meiner Mutter
sprechen, nicht suchen würde. Wenn sie mich gewollt hätten, wäre ich
jetzt bei ihnen. Also warum sollte ich mir die Mühe machen, die sich
die Berserker vor Jahren bereits umsonst bereitet hatten, und versuchen sie zu finden?
So oder so, Janice und Daniel waren jetzt meine Eltern. Die beiden
hatten mich immer wie eine Tochter behandelt und ich hatte sie unglaublich gern. Letztendlich waren sie, Henry und eventuell sogar
Stephen, meine Familie (Okay, Stephen war auch ohne das ‚eventuell
sogar‘ meine Familie, wenn auch nicht freiwillig).
Da Mum und Dad direkt nach dem Frühstück zur Arbeit mussten,
fuhr Ash Stephen und mich zur Schule, was für ihn wohl das Maximum an Freundlichkeit war. Er bestand darauf, dass wir uns anständig
und in aller Höflichkeit bei ihm bedankten, bevor wir das Auto verlassen durften. Mein Bruder nahm Jasons Nachricht, dass er seine Abschrift der Schulordnung wegen der Beleidigung von Montag abgeben
sollte, mit einem nichtssagenden Schulterzucken auf. Er sagte nichts,
sondern ging einfach davon. Auch gut.
Vor dem Gebäude fing Ivy mich ab und wir gingen gemeinsam zu
unseren Spinden, um unsere Bücher zu holen. Angesichts ihrer zerzausten Haare und den tiefen Augenringen schien ihr der gestrige
Abend nicht ganz so gut bekommen zu haben wie mir. In dem Gang,
in dem unsere Spinde untergebracht waren, herrschte ein riesiger Tu-
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mult. Alle standen um etwas herum, was ich noch nicht durch die
vielen Leute erkennen konnte. Als man meine Ankunft bemerkte,
machten viele bereitwillig Platz. Einer aus der Menge rief: „Lasst sie
durch, die Mörderin soll es sehen!“
Ich atmete tief durch. Das konnte doch nicht wahr sein! Jemand hatte meinen Spind aufgebrochen. Meine Bücher lagen in Fetzen auf dem
Boden verteilt und auf der schiefhängenden Tür stand in roter Schrift,
die wohl Blut darstellen sollte: ‚Schlampe des Bösen‘.
Fast hätte ich losgelacht, obwohl mir eher nach weinen zumute gewesen war. Ich hatte vergessen, wie charmant manche Leute sein
konnten, wenn sie mich beleidigten. Ich meine ‚Schlampe des Bösen‘?
Wie unkreativ und sinnlos war das bitte?!
„Ariana?“, rief Jason, der in diesem Moment in den Flur einbog. Er
drängte sich durch die Schüler, um zu mir zu gelangen. „Was ist geschehen? Ist alles in Ordnung bei dir?“
Ich deutete auf meinen Spind. „Alles bestens! Irgendwer zerschrottet
meinen ganzen Schulkram, schreibt ‘ne Beleidigung an die Tür und
alle starren mich an, als wäre ich ein gelber Elefant! Aber ja, mir
geht’s großartig.“
Mit aller Kraft hielt ich die Tränen zurück und blickte ihn mit aufgerichtetem Kopf an.
Ich wandte mich wütend an die Menge. „Wenn ich herausfinde, wer
von euch das getan hat, dann ist derjenige tot. Lasst mich gefälligst in
Ruhe, oder ihr bereut es“, knurrte ich.
Die anderen machten alle einen Schritt zurück.
Jason packte mich am Arm. „Komm erstmal wieder runter, ich
kümmere mich darum. Möchte irgendwer sich freiwillig stellen?“,
fragte er in die Runde.
Ich verdrehte die Augen. Wie naiv konnte man nur sein? Niemand
würde etwas zugeben, vor allem nicht nach meiner Drohung. Ich befreite mich aus seinem Griff. „Ist jetzt auch egal.“
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„Bist du dir da sicher?“ Er sah mich fragend an.
Ich schaute zu meinen Mitschülern rüber, die untereinander tuschelten. „Ja, ich bin mir sicher. Ich mach das hier einfach sauber und gehe
dann in den Unterricht.“
Er scheuchte die anderen mit einer Handbewegung davon. „Kümmert euch bitte um eure eigenen Angelegenheiten.“ Zu mir sagte er:
„Ich helfe dir beim Aufräumen.“
„Das ist nicht nötig, ich krieg das auch alleine hin.“ Ich kniete mich
hin und sammelte die Überreste meines Englischbuches auf. Keine
Ahnung warum ich Jason glauben ließ, dass ich seine Hilfe nicht wollte. Das war einfach so. Nicht alles, was ich tat, ergab für mich selbst
auch einen Sinn.
Er ging ebenfalls auf die Knie und fing an meine MatheArbeitsblätter zusammen zu suchen. Ivy und Carter, die in diesem
Moment zu uns stieß, halfen ebenfalls. Nick, der mit Carter zusammen
aufgetaucht war, ging los um den Hausmeister zu holen. Bevor der
Unterricht losging, hatten wir das Gröbste schon beseitigt. Jason
schlug vor, dass ich alles was noch zu retten war, bei ihm in seinem
Büro unterbringen konnte. Da niemand eine bessere Idee hatte, machten wir es dann auch so.
Bis zur Mittagspause passierte auch nichts weiter Spannendes, bis
auf ein bissiger Kommentar hier und da. Dafür hatte ich aber Nick,
der fast die ganze Zeit an mir klebte. Ich hätte es nie gedacht, aber die
Leute respektierten ihn. Zwar wussten die Übernatürlichen, dass Nick
nicht die Wahrheit kannte, sondern nur die haarsträubende Geschichte
ich hätte den Hund von Clary aus dem Fenster geschmissen, als ich
vollkommen betrunken gewesen und woraufhin dieser gestorben war.
Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich harmloser war als die Tatsache, dass Clary selbst und nicht ihr Haustier von mir umgebracht worden sind. Nick hielt diese Geschichte für ein blödsinniges Gerücht. Er
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stellte sich jedes Mal beschützend an meine Seite, wenn jemand mich
beleidigte.
Das Gerede in der Mensa verstummte, kaum dass ich sie betreten
hatte. Alle starrten mich an, als hätte ich soeben vor ihren Augen ihre
Großmütter erschossen. Es war eine Mischung aus Abneigung und
Ungläubigkeit. Ich versuchte nicht auf das Gemurmel zu achten, dass
sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten schien. Die häufigsten Wörter die
ich hörte waren ‚Annabelle‘, ‚Schlampe‘ und ‚ermordet‘. Witzigerweise konnte man da auch denken, dass Annabelle eine Schlampe
gewesen ist und jemanden getötet hatte. Leider war ich mir wirklich
sicher, dass meine Mitschüler über eine etwas andere Version eines
Mordfalls redeten, in der ich die Schlampe und Annabelle mein Opfer
war. Mir persönlich gefiel meine Variante besser, da ich in ihr nicht
die Rolle der Bösen besaß.
Kurz bevor ich unseren üblichen Tisch in der Mitte erreichen konnte, stolperte ich über den ausgestreckten Fuß eines Typen aus meinem
Jahrgang. Wie eine Idiotin aus einem langweiligen Teenie-Film,
knallte ich mit voller Wucht auf den Boden.
Der Typ lachte. „Hat die kleine Schlampe sich verletzt? Das tut mir
aber leid.“
Wütend erhob ich mich und stellte mich vor ihn. „Kannst du mir mal
erklären, warum ich jetzt plötzlich eine Schlampe bin?“
Mir fiel sogar sein Name ein. Marc Fisher, er war wie Nick einer der
wenigen Menschen hier.
Marc wirkte verunsichert und sah abwechselnd von seinen Kumpels
zu mir. Zu seinen Freunden gehörte Tyler, der trotz des Vorfalls im
Zaubereiunterricht wieder recht früh auf den Beinen war. Dazu kamen
noch Logan, den Ivy in Mythologie zu Recht gewiesen hatte, und
Stephen. Den letzten, einen Jungen mit dunkler Haut und kahl rasiertem Schädel, kannte ich aus Mathe. Der Typ war ungefähr genauso
schlecht wie ich darin Gleichungen zu lösen.
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„Äh, ein paar Leute haben dich gestern mit Nick Truman gesehen
und gleichzeitig verbringst du so viel Zeit mit Mentor Thales...“
„Okay, stopp mal kurz“, unterbrach ich Marc. „Wer behauptet ich
hätte was mit Jason?“
„Ach, ist das nicht so?“, spottete Stephen. „Du warst absolut hackdicht, als du nach Hause gekommen bist, und wer hat dich noch gleich
zu uns gefahren? War es nicht Mentor Thales? Ein bisschen übereifrig
für einen normalen Lehrer, findest du nicht?“
Carter knallte ihre Handtasche vor meinen Bruder und seinen Freunden auf den Tisch. Sie funkelte Stephen zornig an. „Sie ist deine
Schwester! Zeig mal ein bisschen Respekt! Oder willst du, dass wir
das draußen auf andere Weise klären?“
Stephen schaute sie finster an. „Du drohst mir, Carter? Echt jetzt?
Du hast Glück, dass ich keine Mädchen schlage.“ Er warf einen kurzen Blick auf mich. „Ich würde dir am liebsten an Ort und Stelle den
Kopf abreißen, weil du dich auf die Seite dieser Verräterin stellst, aber
das Töten überlasse ich nun mal ihr.“
Ich trat vor, direkt neben Carter. „Tatsächlich, Stephen? Du …“
Die Türen des Speisesaals flogen auf. Ich drehte mich um. Jason und
Ash betraten Seite an Seite den Raum. Es fehlte nur noch ein Ventilator, der ihre Haare im Wind fliegen ließ, dann wäre ihr Auftritt reif
fürs Fernsehen gewesen.
„Aria Grey!“ Rief Ash, „Was ist hier los?“
Natürlich nannte er mich zuerst, ich war schließlich jedermanns
Lieblingssündenbock.
Die Mentoren stellten sich neben Carter und mich und sahen uns alle
der Reihe nach an. Zumindest Ash sah alle an, Jasons Blick lag die
ganze Zeit auf mir.
Mein Bruder, dieser feige Mistkerl, deutete auf Carter. „Sie hat mich
erst beleidigt und dann wollte sie, dass wir uns draußen prügeln.“
Ash blickte zweifelnd zu Carter rüber. „Stimmt das?“
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Sie nickte. „Ja, aber nur weil die Jungs hier etwas ziemlich Beleidigendes zu Aria gesagt haben!“
Ash seufzte und wandte sich an Jason. „Ich kümmere mich darum.
Halte du diese Meute davon ab die Killer-Prinzessin umzulegen.
Bring sie am besten weg.“
„Nein danke“, widersprach ich. „Die Killer-Prinzessin braucht keinen blöden Babysitter.“
Jason ignorierte mich und versuchte mich wegzuführen. „Ich bin
nicht dein Babysitter, ich bringe dich nur weg.“
Ich blieb stehen. „Nein! Ich will hier bleiben! Ich will nicht, dass
jeder mich hier herumschubsen kann, wie es ihm gefällt!“
In diesem Moment war es mir egal, dass alle zusahen. Ich würde
mich doch nicht wie eine Verbrecherin aus der Mensa führen lassen,
nur weil die anderen meinten blöde Kommentare abgeben zu müssen.
Jason war der Ansicht, er würde mir helfen, aber das stimmte nicht.
Man konnte nicht immer vor seinen Problemen weg laufen.
Jason stöhnte und flüsterte: „Komm jetzt einfach mit, Ariana. Es wäre besser, wenn du in nächster Zeit nicht weiter auffällst. Denk an
deine Zukunft.“
Ich hob eine Augenbraue. „Wegen Lucinda? Wir beide wissen, dass
ich keine Prinzessin bin“, erwiderte ich ebenso leise.
„Nein, weil da draußen ein Irrer rumläuft, der schon zweimal versucht hat dich zu töten. Vielleicht findet er dich nicht, wenn du für
mindestens einen Tag nicht der Mittelpunkt eines skandalösen Aufruhrs bist“, zischte er zurück. „Lass die Leute reden. Sie glauben, du
hättest jemanden umgebracht, doch das kann dir egal sein.“
Ich grinste. „Falsch. Sie glauben es nicht nur, sie wissen ich habe
jemanden umgebracht. Deswegen vermutet jeder, dass ich auch noch
Annabelle ermordet habe. Oh, und sie glauben zwischen uns läuft
etwas.“
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Ende der Leseprobe von:
Götterzorn - Die Chroniken des Olymp I
Iris S. Kriese
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