Iris S. Kriese Iris S. Kriese Götterzorn Die Chroniken des Olymp I „Wen du für treu hältst, den fliehe, Dann bist du gedeckt. Nimm dich vor Brüdern in Acht, Vor Verwandten und trauten Genossen. Dies ist die Schar, aus der Wirkliche Furcht dir erwächst.“ Ovid 5 Jegliche Gemeinsamkeiten mit realen Personen sind nicht von der Autorin beabsichtigt. Originalcopyright © Iris S. Kriese 2016 Umschlaggestaltung: Iris S. Kriese; alle Rechte vorbehalten Umschlagillustration: Iris S. Kriese; alle Rechte vorbehalten Text: Written by Iris S. Kriese; alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Holtzbrinck Digital Content Group Printed in Germany 6 Für alle, die mir wegen dieser Widmung auf die Nerven gegangen sind. 7 PROLOG Familienbande Der Wind pfiff kalt durch die nächtlichen Straßen Londons. Der Mann schlang seinen Mantel enger und beschleunigte seine Schritte. Obwohl es erst November war, fühlte sich die Luft an als würde sie jeden Augenblick zu Eis gefrieren. Sein Ziel lag auf der rechten Straßenseite. Er überprüfte, ob ein Auto kam, und hatte Glück. Schnell eilte er über die Straße bis zur Tür des Merchants. Das Merchants hatte stets geöffnet, selbst zu einer so späten Uhrzeit. Er drückte die verdunkelte Glastür auf. Der Innenraum des Merchants war wie gewöhnlich nicht sonderlich gefüllt. Für die geheime Gesellschaft der Übernatürlichen war dies der Untergrund des Untergrunds. In einer Ecke saßen drei kleine vermummte Gestalten, die eine schleimige Suppe aßen und dabei laute Schmatz-Geräusche von sich gaben. Angewidert wandte der Mann den Blick ab. Zwerge hatten wirklich keinen Sinn für Anstand. Er schritt hinüber zur Bar, wo eine der Besitzerinnen des Merchants hinter den Tresen stand und ein paar Gläser abtrocknete. „Hätte nicht gedacht, dass du in diesem Jahrzehnt noch mal in die Stadt kommst“, bemerkte die Barfrau, als er sich auf einem Barhocker niederließ. Sie griff nach einer Flasche mit einer goldenen Flüssigkeit und schenkte großzügig in ein Glas ein, das sie ihm zuschob. „Man erzählt sich, du wärst gerade auf großer Weltreise.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe hier was zu erledigen.“ „Hat es was mit dem Mord an diesem Hexenmädchen zu tun?“, hakte sie nach und strich sich eine rote Strähne hinters Ohr. 8 Der Mann verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Du kennst mich langsam wirklich gut, Daphne.“ Daphne fing wieder an Geschirr abzutrocknen. „Wenn man Leute wie dich kennt, muss man nun mal aufpassen. Schließlich will ich keinen von euch zum Feind haben. Außerdem bin ich immer gerne auf dem Laufenden.“ „Was weißt du über den Tod der Hexe?“, fragte er und trank einen Schluck. Sie sah sich um, beugte sich vor und flüsterte: „Es ist praktisch das Thema des Jahres. Jeder erzählt etwas anderes, weil alle Details verschwiegen werden. Es scheint, als würde Jared Ghosthive persönlich versuchen alles zu vertuschen. Keiner der Beteiligten verrät etwas. Man weiß, dass der Schuldige gefasst wurde, doch die offizielle Bekanntgabe des Vorfalls ist erst übermorgen. Bis dahin wirst du auf weitere Informationen warten müssen. Dabei ist das wirklich eine sehr spannende Angelegenheit: Erst der Autounfall der Castervilles und jetzt das… die Adligen bekommen allmählich Angst und flüchten alle ins Ausland.“ Er schnaubte. „Hast du auch was vom Schwarzen Lord gehört?“ „Er ist in St. Petersburg und sucht nach Alesya. Sie hat sich wohl seit der Nachricht von dem Mord nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt, und das bereitet ihm natürlich Sorgen. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie dahinter stecken würde. Der Ruf des schwarzen Lords wäre ein für alle Mal ruiniert. Ich nehme aber nicht an, dass du nur hier bist, um dir den neusten Klatsch berichten zu lassen, oder?“ Sie betrachtete ihn misstrauisch. „Zudem ist heute vielleicht nicht der beste Tag für deinen Besuch.“ Sie ruckte mit dem Kopf nach rechts. Er wandte sich um. Am anderen Ende der Bar saß ein junges Paar, das sich im Flüsterton unterhielt. Der Anblick der jungen Frau ließ sein Herz höher schlagen, wofür er sich abgrundtief hasste. Der andere 9 Mann dagegen brachte ihn zum Kochen. Ihm fiel auf, dass Daphne ihn neugierig beobachtete und drehte sich betont lässig wieder um. „Na und?“, meinte er kalt. „Damit bin ich fertig.“ Sie zog die gefärbten Augenbrauen hoch. „Du tauchst nach sechzehn Jahren wie aus dem Nichts hier auf, wegen dem Mord an einer kleinen Hexe? Erzähl mir nicht, dass du in Wahrheit nicht wegen etwas anderem zurückgekommen bist. Vor ‘ner Stunde ist schon deine Schwester, die Jüngere und nicht dein Zwilling, hier aufgekreuzt und hat sich in ein Hinterzimmer verzogen. Was läuft da bei euch Unsterblichen?“ Er stellte sein Glas ab. „Das ist eine Familienangelegenheit. Wir müssen uns um ein paar Probleme aus der Vergangenheit kümmern. Keine Sorge, in ungefähr zwei Jahren ist es vorbei. Du wirst nicht mal die Gelegenheit haben alles darüber herauszufinden.“ Daphne legte das Geschirrtuch beiseite. „Weißt du, für uns Sterbliche sind zwei Jahre gar nicht mal so wenig.“ Der Mann nahm einen weiteren Schluck. „Deswegen solltest du jetzt auch so freundlich sein und mir sagen, wo genau sich meine Schwester befindet. Heute ist kein guter Tag um eine einfache Werwölfin zu töten.“ „Gut zu wissen“, erwiderte Daphne trocken. „Erst in vier Tagen ist wieder Vollmond, also bin ich heute noch wehrlos. Durch die Tür neben den Toiletten, die Treppe hoch und die zweite Tür von links. Viel Spaß.“ Er zog einen Geldschein aus seinem Portemonnaie und legte ihn auf den Tisch. „Danke. Für alles.“ Sie steckte das Geld weg. „Vielleicht solltest du…“ „Schon geschehen.“ Mit einem Mal klang seine Stimme weiblich und sein Körper war der einer dunkelhäutigen Frau mittleren Alters. „Auf Wiedersehen, Daphne.“ Die Frau, zu der der Mann geworden war, folgte Daphnes Wegbeschreibung und öffnete kurz darauf eine Tür zu einem Hinterzimmer. 10 Der Raum wurde nur von einer Stehlampe erhellt, die neben dem kleinen Esstisch in der Mitte stand. Auf einem Stuhl saß eine weitere Frau mit langen blonden Haaren. Sie sah nicht mal auf, als die dunkelhäutige Frau sich hinsetzte. Diese verwandelte sich zurück in den blonden Mann. „Es ist wirklich zu schade, dass diese nichtsnutzige Göre nicht mal gelitten hat, als sie gestorben ist“, meinte die Blondine abweisend. „Sie hatte nur einen einfachen Auftrag und den hat sie auch noch vermasselt.“ „Du bist dir also sicher?“, fragte der Mann skeptisch. „Ich dachte wir hätten alle zukünftigen Reinkarnationen verhindert?!“ Seine Schwester schaute ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. „Es kann kein Licht ohne Finsternis geben. Das Gute ist nur dann gut, wenn es auch Böses gibt. Alles muss im Gleichgewicht stehen.“ Er seufzte. „Das bedeutet wohl, dass der Krieg von vorne losgeht.“ Auf ihrem Gesicht erschien die Andeutung eines Lächelns. „Ich wusste du würdest mein Angebot annehmen. Nach all der Zeit ist es immer noch sie, die dich kontrolliert. Du richtest dein Leben nach ihr, unabhängig davon, ob sie noch lebt.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nicht jeder von uns hat das Glück innerlich tot zu sein.“ Seine Schwester wandte den Blick ab. „Der Liebende ist nicht der Narr der Zeit/ Wenn süßer Wangen Reiz auch welken mag/ Er wandelt sich nicht mit dem Stundenschlag./ Er lebt im Schicksalslicht der Ewigkeit“, zitierte sie. Er lachte auf. „Ich dachte, du wärst keine Freundin von Shakespeare gewesen.“ Sie betrachtete ihre ordentlich weiß lackierten Fingernägel. „Das stimmt nicht ganz. Allerdings fand ich die Wahl seiner Geliebten etwas gewöhnungsbedürftig. William wusste nicht mal, mit wem er es zu tun hatte.“ 11 „Wo wir gerade bei irgendwelchen Williams sind… Hast du gesehen wer unten an der Bar sitzt?“, fragte der Mann. Die Frau griff nach einer Weintraube aus einer Schüssel und steckte sie sich in den Mund. Das Platzen der Frucht knallte in den Ohren ihres Bruders und wieder einmal verfluchte er sich für sein übermenschliches Gehör. „Du bist doch nicht hier, um mir zu erzählen, dass du diesem Bastard Will und seiner Frau nachspionierst oder?“, entgegnete sie süßlich. „Es gibt schließlich viel interessantere Personen, die man beobachten kann. Hast du in letzter Zeit meinen Lieblingsdämon getroffen?“ Er nahm sich ebenfalls eine Traube, aß sie aber nicht. „Ayil ist kein Dämon, sondern irgendwas zwischen Himmel und Hölle und jedes Mal, wenn ich in ihrer Nähe war, hat sie versucht mich schwer zu verwunden. Wenn sie könnte, würde sie mich glatt töten.“ Seine Schwester blickte ihn kalt an. „Du bist halt schwach. Niemand wird jemals deine Macht anerkennen, wenn du immer wieder alles aufgibst, um einem längst vergangenen Traum nachzujagen. Manchmal reicht es nicht unendlich lang leben zu können. Man muss auch die Fähigkeit besitzen, so ein langes Leben mit Lebendigkeit zu füllen.“ „Deine ‚Lebendigkeit‘ besteht zur Hälfte daraus, immer und immer wieder die gleichen Leute umzubringen“, erinnerte er sie. Sie nickte. „So muss man das machen, wenn der größte Feind, der im Übrigen unsere Unsterblichkeit beenden könnte, einfach nicht tot bleiben will.“ „Aber du wirst mit jedem Mal brutaler. Es sterben immer mehr und das immer früher“, wandte er ein. Er beugte sich vor. „Du verlierst langsam den Verstand. Die Bedrohung, vor der du solche Furcht hast, existiert nicht mehr.“ 12 Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Kennst du nicht das Sprichwort: ‚Je früher, desto besser‘?“ Sie legte den Kopf schief. „Du bist mein Bruder, einer von meinem Blut. Aber woher soll ich nur wissen ob ich dir auch vertrauen kann?“ Er seufzte. „Du vertraust nicht mal einer Handvoll Leute, Schwesterchen.“ Sie lachte abfällig. „Und wenn es sein muss, schneide ich mir sogar den ganzen Arm ab.“ Er erwiderte ihr lächeln. „In Ordnung, jetzt wissen wir, wo wir beide stehen. Wie sieht dein Plan aus?“ „Ach, nur das übliche“, meinte sie gelassen. „Romantik, Drama, Action, ein bisschen Magie hier und ein Stück Verwirrung da – es wird der beste Weltuntergang den wir bisher hatten. Danach“, ihr Lächeln vertiefte sich. „Danach wird neu angefangen. Und diesmal werde ich die Regeln der neuen Ordnung bestimmen.“ „Klingt gut. Welches Ende hast du dir für, na ja, du weißt schon… ausgedacht?“, fragte er zögernd. „Steh auf und komm her“, befahl sie gebieterisch. Er beschloss, dass es sinnlos war nachzufragen und folgte stumm ihrem Befehl. „Hand ausstrecken“, sagte sie kühl. Gehorsam streckte er ihr seine linke Hand hin. Sie ergriff sie mit ihren eigenen Händen. Er schaute ihr ins Gesicht. Ihre sonst blaue Iris hatte die Farbe von goldenem Honig. Sein Blickfeld verschwamm und als nächstes sah er ein Schlachtfeld. Eine junge Kriegerin in schwarzer Rüstung kämpfte gegen eine Armee aus allen möglichen Fabelwesen. An ihrer Seite war Ayil, was ihm Gewissheit über die blondem Haar auf. Die Augen dieses Kriegers glühten golden, genau wie die der Schwester des Mannes zuvor auch. Der Krieger schwang sein Schwert und trennte der Kriegerin 13 den Kopf ab. Zufrieden bemerkte der Mann, dass Ayil in diesem Augenblick ebenfalls erstochen wurde. Die Vision verschwand und er stand wieder vor seiner Schwester im Hinterzimmer des Merchants. „Ich nehme an, dass er das ist, richtig?“, fragte er amüsiert. Sie grinste, und zum ersten Mal an diesem Abend war ihr Lächeln echt. „Die Jagd ist eröffnet.“ Er konnte nicht anders, als in ihr grausames Lachen einzustimmen. 14 TEIL I Glühende Finsternis Vergebung ist ein Privileg, welches dir alle, Die dir am Herzen liegen, erst dann gewähren Wenn sie deine Hilfe benötigen in ihrem Falle Der sie aus den Lüften des Himmels soll lehren, Dass Zeit verrinnt wie ein wirbelnder Sandsturm, Dass wir für die Göttlichen lästig sind wie ein Wurm, Dass wir so vergänglich sind wie diese, Die schon verweilen auf der paradiesischen Wiese. 15 Glühende Finsternis KAPITEL I Die Mörderin & die Männlichkeit von auf Pferden reitenden Idioten Falls ich jemals auf denjenigen treffen sollte, der für das Schicksal verantwortlich war, würde ich ihn umarmen. Um den Hals. Mit einem Seil. Und dann würde ich den Stuhl unter ihm oder ihr wegtreten. Es würde mir Spaß machen dabei zuzusehen, wie er oder sie litt. Denn das, was aus meinem Leben geworden war, war ein einziger Witz. Mein Name ist Aria Grey. Ariana Grey, um genau zu sein, aber Ariana war viel zu lang um es auszusprechen und dazu kam, dass es sich anhörte als wäre ich schon uralt. Vierzig Jahre alt oder so. Ich bin schließlich erst siebzehn und führe ein fast normales Teenager-Leben. Als ich die Schlange vor der Passkontrolle am Ticketschalter zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich mir insgeheim gewünscht die letzten zwei Jahre in Europa verbracht zu haben. Die Warteschlange für die europäischen Reisenden war einfach viel kürzer als unsere und bewegte sich sogar, was unsere definitiv nicht tat. Leider traf es sich auch, dass ich kaum Geduld hatte. Davon besaß ich nämlich ungefähr so viel wie ein Junkie, der jeden Augenblick seinen Stoff bekommen würde. Mit anderen Worten: Überhaupt keine. Katherine Parr, meine Aufsicht, die mich nach Hause zu meiner Familie bringen sollte, unterhielt sich die ganze Zeit mit dem chinesischen Seniorenehepaar hinter uns auf Mandarin, während ich mir aus lauter Langeweile die Durchsagen aus den Lautsprechern anhörte. Das Londoner Wetter war wie immer im November nicht besonders flug- 16 zeugfreundlich und es wurde praktisch durchgehend von Verspätungen berichtet. Die wenigen Geschäftsleute, die mit uns von Los Angeles nach London geflogen waren, hatte man über diese Problematik nicht informiert. Katherine und ich sind die einzigen gewesen, die ganz ruhig geblieben waren, als der Pilot eine Extra-Runde über den Flughafen Heathrow angekündigt hatte. Sogar die etwas fülligere Stewardess namens Poppy hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch erlitten. Dabei war es eigentlich ihre Aufgabe uns zu beruhigen, nicht anders herum. Langsam bewegten wir uns vorwärts und nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir endlich die Passkontrolle. Der Mann in dem Glaskasten nahm unsere Pässe und ließ sie gemeinsam mit unseren Tickets über den Scanner laufen. Er gehörte nicht gerade zu den redseligsten Menschen, denn alles was er zu uns sagte war: „Hallo“, „Danke“ und „der Nächste, bitte.“ Katherine verabschiedete sich von ihren neuen Freunden und folgte mir durch eine Reihe langer Gänge in die riesige Empfangshalle. Ich fühlte mich wie ein Star auf dem roten Teppich bei einer wichtigen Preisverleihung, während wir durch den für ankommende Fluggäste abgesperrten Bereich gingen. Links und rechts am Rand stand eine Menge von Wartenden, von denen die meisten ein ‚Willkommen‘Schild in den Händen hielten. Alle redeten wild durcheinander in den verschiedensten Sprachen, sodass die Luft von einem unvergleichlichen Summen erfüllt wurde. Unser Empfangskomitee bestand aus… Franklin. Dads Arbeitskollegen, der sich in seiner Freizeit wie ein in die Jahre gekommener Rockstar kleidete. „Willkommen im Vereinigten Königreich, Aria“, begrüßte er mich steif und reichte mir seine Hand. Ich musste erstmal meine Reisetasche abstellen, bevor ich sie schütteln konnte. „Hattest du eine gute Reise?“, fragte er. 17 Ich zuckte mit den Schultern und hob mein Gepäck wieder auf. „Wie man’s nimmt. Ich musste mich jedenfalls nicht übergeben.“ „Aria, bitte“, wies Katherine mich naserümpfend zurecht. Franklins Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. „Kommt mit, mein Wagen steht hier in der Nähe.“ Wenn ich uns aus dem weihnachtlich geschmückten Flughafen hätte lotsen müssen, wären wir garantiert gezwungen gewesen auf der Toilette zu übernachten. Franklins ‚in der Nähe‘ bedeutete nämlich fünfzehn Minuten Fußmarsch durch so gut wie alle Stockwerke. Heathrow war gigantisch und kaum beschildert, ein richtiger Irrgarten aus Glas und Stahl. Dank Franklin und einer netten Kleinfamilie, die uns dem Vortritt bei einem der Fahrstühle gewährte, landeten wir wie geplant auf dem Parkplatz. Nach ein bisschen Tüftelei schafften wir es sogar unser gesamtes Gepäck im Kofferraum unterzubringen. Bis auf Katherines Handtasche, denn die hätte unser Meisterwerk des Reinstopfens gesprengt und musste deshalb mit uns auf die Rückbank. Erschöpft sank ich in den weichen Sitz. „Schlecht geschlafen?“, fragte Katherine mitleidig. Unter ihren asiatisch-mandelförmigen Augen lag nicht mal der Hauch von Müdigkeit. „Du siehst fertig aus.“ Kunststück, wo ich doch die ganze letzte Woche nie mehr als vier Stunden am Stück geschlafen hatte, weil ich meine Vorfreude auf London so groß gewesen war. Allerdings hatte diese nicht dem Schneeregen gegolten, der von außen gegen die Fenster klatschte und meine schöne Aussicht ruinierte. „Im Flieger war so ein Typ neben mir“, erwiderte ich und strich mir eine Strähne meines dunklen Haares aus dem Gesicht. „Ich habe mich die ganze Zeit mit ihm unterhalten.“ „Ist das da seine Handynummer?“, sie deutete auf meinen rechten Handrücken, der mit krakeligen Zahlen bekritzelt worden war. 18 Ich nickte. „Er heißt Collin Singer, ist eigentlich Ire und hat ein schulisches Auslandsjahr in San Francisco gemacht.“ Ich mied absichtlich ihren prüfenden Blick. „Und er hat dir einfach so seine Nummer gegeben?“, hakte Katherine nach. „Oder hast du ihn darum gebeten?“ „Ich musste ihm zweimal die irische Nationalhymne rückwärts vorsingen“, antwortete ich ironisch. Franklin auf dem Fahrersitz gluckste leise. Wahrscheinlich wusste er genauso gut wie Katherine, dass ich die irische Nationalhymne nicht kannte. Ich kannte ja nicht mal alle Strophen der britischen, obwohl ich gebürtige Londonerin war. Katherine seufzte und zupfte eine Fluse von ihrem roten Kaschmirmantel. „Hauptsache es passiert dir nichts, bis ich dich zu deiner Familie gebracht habe. Deine Eltern bringen mich um, wenn dir jetzt noch etwas passiert.“ Oh Mann, da war ich erst seit knapp zwei Stunden wieder in England, fing sie schon wieder damit an. Es war doch schon schlimm genug gewesen, mich die letzten zwei Jahre von allen zu trennen, die ich kannte und mich in die USA zu schicken, da musste sie nicht schon wieder die alten Geschichten hervorkramen. Ich kannte das Risiko zurückzukommen besser als jeder andere. „Wir sind da“, meinte Franklin und hielt vor einem altmodischen Herrenhaus. Die beiden Tannen im Vorgarten waren mit Lichterketten geschmückt, genau wie ich es in Erinnerung hatte. Franklin öffnete mir die Tür, ging um den Wagen rum und machte anschließend vorsichtig den Kofferraum auf. Ich stieg aus und blieb stehen, bis Katherine neben mich trat. In meinem Bauch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Mein Zuhause nach all der Zeit wiederzusehen fühlte sich seltsam an. 19 „Alles ist gut, Aria“, versuchte Katherine mich zu beruhigen. „Dir kann nichts mehr passieren. Deine Familie wird dich beschützen. Keiner kann dir zu nahe kommen.“ Ich holte tief Luft. „Weiß ich. Es ist nur so…seltsam. Aber ich bin bereit dafür.“ Nein, das war ich eigentlich nicht, doch das musste sie ja nicht unbedingt wissen. Katherine zog mich in eine Umarmung. „Ich werde nicht weit weg sein“, versprach sie. „Du kannst jederzeit zu mir kommen.“ „Aber nur solange du nicht gerade irgendwo anders den Moralapostel spielst“, erinnerte ich sie. Sie konnte ihre Arbeit nicht jederzeit für mich beenden. Die Leute, die sie betreute, brauchten ihre Hilfe. Sie lachte. „Schade, ich dachte, ich könnte dich ab und zu mitnehmen und zeigen was für gute Arbeit ich bei dir geleistet habe.“ Die Tür des Herrenhauses wurde geöffnet und ein Mann im Frack mit einem hohen Zylinder und Gehstock kam heraus. Es fehlte noch das Monokel und sein Kostüm wäre perfekt. Ich befürchtete aber, dass dies überhaupt kein Kostüm sein sollte. Der merkwürdig gekleidete Mann schritt würdevoll die kurze Steintreppe vor dem Haus runter, winkte Franklin zu und machte eine kleine Verbeugung vor uns, bei der er sogar seinen Hut zog. „Aria Grey, wieder zurück und wohlauf, wie ich sehe.“ Er machte Anstalten meine Hand zu küssen, doch ich steckte sie schnell in meine Jackentasche. Ich war nicht die Queen und ich kannte diesen Typen nicht, also war meine Reaktion nur gerechtfertigt. Er nahm meine Abweisung mit Fassung und wandte sich an Katherine. „Ach, Katherine Parr, die gute Fee, die schon so viele verlorene Seelen zurückgeführt hat. Willkommen in England.“ Katherine hob eine Augenbraue. „Mein Ruf eilt mir wohl voraus. Und Sie sind...?“ 20 „Wie überaus unhöflich von mir“, sagte der Mann. „Lord Malicious Balduin Frederic George Albert Blackburn, der Dritte. Doch nennen Sie mich einfach Lord Blackburn.” Als könnte ich mir die anderen Namen merken. Innerlich verdrehte ich die Augen. Der Typ war seltsam, so viel stand fest. Abgesehen von seiner Kleidung sah er fast gut aus. Dunkles Haar, blasse Haut und ein einprägsames Gesicht mit vielen Kanten. Nur seine Augen waren unheimlich; tiefschwarz und rot umrändert, so als wären sie vor kurzem noch stark entzündet gewesen. „Sie arbeiten für die Adligen“, stellte Katherine fest. Der unheimliche Blackburn lächelte bedauernd. „Meine Liebe, ich arbeite für niemanden. Doch ich komme nicht umhin zuzugeben, dass die höheren Schichten der Gesellschaft meine Anwesenheit des Öfteren, auf eigenen Wunsch hin, genießen. Dieses Privileg lasse ich heute Abend aber auch dieser jungen Dame zukommen. Ich hatte geschäftlich mit Mister Grey zu tun und wurde von der reizenden Misses Grey eingeladen, den heutigen Feierlichkeiten beizuwohnen. Würden Sie mir die Ehre erweisen mich hinein zu begleiten, Miss Grey?“ Wie ein Gentleman aus früheren Zeiten bot er mir seinen Arm an. „Ähh…“ Ich wusste nicht so recht was ich tun sollte und war deswegen froh, dass Franklin in diesem Moment fragte: „Aria, kannst du deinen Rucksack nehmen?“ Ich ließ den unheimlichen Blackburn stehen und half stattdessen Franklin mit meinem Gepäck. Katherine nahm sich ebenfalls ihre Sachen und verabschiedete sich von uns. Ich sah ihr nach, wie sie die immer dunkler werdende Straße runterlief. Der unheimliche Blackburn begleitete Franklin und mich ins Haus. Als große Hilfe stellte er sich nicht heraus, denn er wartete darauf, dass ich mein Zeug abstellte um ihm die Tür zwischen dem kleinem Empfangsraum und dem Erdgeschoss des Hauses zu öffnen. 21 Blöder Schleimer, dachte ich. Erst den Kavalier geben und sich dann bedienen lassen. Der Aufenthaltsraum hinter der Empfangshalle sah noch genauso aus, wie ich ihn im Gedächtnis hatte. Dunkler Holzboden, kahle weiße Wände und ein protziger Kronleuchter an der Decke. An der gegenüber liegenden Wand befand sich eine breite Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Die einzige Dekoration neben dem Kronleuchter war ein riesiges Portrait zwischen zwei Fenstern. Allerdings konnte man das Bild gar nicht sehen, da es von einem schwarzen Tuch verhangen wurde. „Dad ist also nach wie vor gegen eine vernünftige Raumgestaltung allergisch“, stellte ich fest. „Er mag es halt lieber so“, ächzte Franklin und wuchtete mein Gepäck in eine leere Ecke. Mitten im Raum stand unser Esstisch, der schon gedeckt worden war. Ich sah mich suchend um. „Wo sind die denn alle?“ Leider schaffte ich es nicht ganz, die Enttäuschung aus meiner Stimme zu nehmen. Die Tür neben der Treppe ging auf. Zuerst kamen meine Eltern heraus, die eine große Torte trugen, dann folgten meine Brüder Henry und Stephen. Hinter ihnen strömten immer mehr Leute herein; mein Onkel Carson, meine Großeltern, unsere Nachbarn, Freunde meiner Eltern wie Franklin und zu guter Letzt: Polly und Meggie, die besten Freundinnen meiner Großmutter väterlicherseits. Meine Eltern stellten die Torte ab und kamen dann zu mir herüber um mich in den Arm zu nehmen. Es kam zu einem richtigen Durcheinander. Ich wurde umarmt, musste viele Hände schütteln und mindestens dreimal so viele Fragen beantworten. Als Mum uns dann endlich dazu aufforderte uns hinzusetzen, verspürte ich eine richtige Erleichterung. Die Sitzordnung war gut gewählt. Ich befand mich vor Kopf, sodass alle meine Tischnach- 22 barn ums Eck saßen. Links von mir hatten sich die Eltern meiner Mutter niedergelassen, die beide eher zurückhaltend waren, wenn es um mich ging. Auf der anderen Seite breiteten sich Henry und Stephen aus, die sich erstmal aufs Essen statt auf mich fixieren würden. Das hieß, dass ich zumindest vorerst nicht wie bei einer wichtigen Pressekonferenz ausgefragt werden würde. Die Torte hatte unsere Nachbarin Misses Eddison gebacken, die neben ihrem Mann auch noch ihre Tochter Elise mitgebracht hatte. Früher war ich Elises Babysitter gewesen, doch jetzt war sie sieben und verkündete laut bei Tisch, dass sie keine Aufsicht mehr bräuchte. Neben mir verkniff sich Henry ein Lachen. Er wurde nächsten März einundzwanzig, deswegen war sieben Jahre alt sein in seinen Augen keine große Leistung. Genoveva, Mums Mutter, wandte sich höflich an mich und fragte: „Wie bekam dir das Essen da drüben, Aria?“ ‚Da drüben‘ war die Bezeichnung von Genoveva und ihrem Mann Flavius für die Vereinigten Staaten. Sie gehörten zu der Art Engländer, die die Unabhängigkeit der früheren menschlichen Kolonien als ein Verbrechen sahen und würden das Kürzel ‚USA‘ nicht mal dann in den Mund nehmen, wenn ihr Leben davon abhing. In meinen Augen waren Flavius und Genoveva viel zu altmodisch. Dass Mum und Dad mich vor siebzehn Jahren adoptiert hatten, machte ihnen immer noch zu schaffen. Henry und Stephen waren die leiblichen Kinder meiner Eltern. Von Genoveva und Flavius wurden sie deshalb immer bevorzugt, egal wie sehr Mum und Dad versuchten mich in die Familie zu integrieren. Bei Dads Eltern, Annie und Hugo Hastings, war das kein Problem. Sie behandelten uns drei alle gleich. Meistens bekamen wir sogar alle dasselbe zu Weihnachten, obwohl Henry ja fast drei Jahre älter war als Stephen und ich. Für uns gab es jedes Jahr von ihnen jeweils einen 23 selbstgestrickten Schal, eine große Dose Plätzchen und hundert Pfund, die wir irgendwo verprassen konnten. Die Weihnachtsgeschenke der Grey’schen Großeltern waren immer unterschiedlich. Letztes Jahr hatten sie mir ein Buch über englische Weihnachtstraditionen geschickt. Vermutlich damit ich nicht vergaß, dass wir hier keine Plastikschneemänner auf unsere Dächer stellten. Henry hatte mir am Telefon erzählt, dass sein Geschenk ein Lehrgang in der Kochschule gewesen war. Stephen hatte eine Armbanduhr bekommen. Zumindest Henry hatte unbedingt mit mir tauschen wollen, weil er Kochen für pure Zeitverschwendung hielt. Wenn ihm nicht jemand anderes Essen zubereitete, bestellte er sich einfach etwas beim Italiener einen Ort weiter. Wir hatten uns darauf einigen können, dass ich mit dem Kochkurs noch weniger anfangen konnte als er. Nicht weil ich nicht gerne kochte, sondern weil ich in meinem Internat in Kalifornien einfach zu weit weg wohnte von hier. Ansonsten hätte ich das Angebot sicher angenommen. Ich fand die Zubereitung von Essen ziemlich faszinierend, aber alles, was über das Aufgießen von heißem Wasser für Nudeln hinausging, überschritt meine Fähigkeiten. „Das Essen war besser als ich es erwartet hatte“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Dass ich beim Anblick eines normalgroßen Burgers, der ungefähr die Größe eines Chihuahuas gehabt hatte, fast in Ohnmacht gefallen wäre, erzählte ich nicht. Bis heute war es mir ein Rätsel, wie diese Zahnstocherbreite Cheerleaderin Bethany es geschafft hatte, den zu essen. „Janice meinte, du hättest dich gut mit denen verstanden“, bemerkte Flavius und nippte an seinem Tee. ‚Denen‘ entsprach in diesen Fall wohl den Amerikanern und Janice war meine Mum. Ich nickte. „Alle waren total nett. Vor allem die Cheerleader.“ Bis auf Bethany. Die war noch heute ein arrogantes Miststück. „Ich bin 24 dann auch selber Cheerleader geworden. Die Atmosphäre beim Training und bei den Spielen ist einfach großartig.“ Genoveva rümpfte die Nase. „Football“, sagte sie angewidert. „Das ist kein Sport, sondern ein Wettkampf für Dummschwätzer.“ „Polo, das ist wirklich männlich“, fügte Flavius hinzu. Ja klar, dachte ich, vor allem der Teil auf den Pferden. Männlicher geht’s nicht. Laut erwiderte ich: „Manche der Cheerleader reiten auch.“ Henry kicherte leise. „Ja, aber keine Pferde.“ Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Stephen grinste, während er sich ein Stück Torte in den Mund schob. Genoveva und Flavius, die übrigens darauf bestanden, dass wie sie mit ihren Vornamen ansprachen, sahen verwirrt zwischen uns dreien hin und her. Mum, die weiter vorn am Tisch neben Misses Newsome, der alten schrulligen Dame von schräg gegenüber, gesessen hatte, stand auf und kam zu uns rüber. Sie reichte mir eine Dose mit Tabletten, auf deren Etikett mein Name stand. „Doktor Pinner hat mir die hier für dich gegeben. Du sollst nach jedem Essen zwei davon nehmen“, erklärte sie. Ich nahm die Dose und steckte sie in meine Hosentasche. Es musste ja nicht jeder sehen, dass ich Medikamente brauchte. Und mit meinem Stück Torte war ich auch noch nicht fertig. Mum strich mir über den Kopf. „Alles okay bei dir?“ „Nein“, antwortete Genoveva für mich. „Janice, wie konntest du nur zulassen, dass Aria Cheerleader wird? Das ist eine Schande für die ganze Familie!“ Mum atmete tief durch. „Mutter, bitte. Aria ist alt genug um für sich selber entscheiden zu können. Sie wollte Cheerleader werden, also warum hätte ich es ihr verbieten sollen?“ „Sie hätte dann vielleicht Polo gespielt “, jammerte Flavius. „Oder Golf.“ 25 „Selbst Tennis wäre besser gewesen“, bekräftigte Genoveva ihn. „Mein Gott, reißt euch mal zusammen“, fuhr Mum die beiden an. „Mit eurer schlechten Laune macht ihr allen die Stimmung kaputt.“ Ich legte Mum eine Hand auf den Arm. „Lass sie doch, ich kann das ab.“ Mum strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht und betrachtete ihre Eltern kalt. „Du solltest das gar nicht abkönnen müssen, Aria. Deine Großeltern müssen sich dir gegenüber anders benehmen, wenn sie beim nächsten Familientreffen noch dabei sein wollen.“ Genoveva stand auf. „Hervorragend, ich denke wir gehen lieber. Anscheinend sind wir hier nicht erwünscht. Bis bald, macht’s gut Henry, Stephen.“ Sie stapfte, ohne Mum oder mich eines Blickes zu würdigen, in Richtung Eingangshalle. Flavius dackelte ihr hinterher, irgendetwas davon murmelnd wie gut Kricket mir tun würde. Mum seufzte, als die Tür hinter den beiden ins Schloss fiel. Sie setzte sich auf den nun freien Platz neben mir. „Was für ein Schlamassel. Die beiden lernen es wohl nie.“ Ihr jüngerer Bruder Carson rückte auf Flavius‘ Platz auf. „Du solltest dich nicht beschweren, Janice. Sie sind alt und stur, da änderst du jetzt auch nichts mehr dran.“ Mum nickte. „Wahrscheinlich hast du Recht.“ Ich widmete mich wieder meinem Tortenstück. Mum und Carson führten diese Gespräche öfters. Im Grunde sogar jedes Mal, wenn wir auf Genoveva und Flavius trafen. Im Gegensatz zu meinen Großeltern waren sowohl Mum, wie auch Carson, offen für Neues. Beide beschäftigten sich beruflich mit anderen Leuten. Meine Mum als Anwältin, Onkel Carson als offensiver Berserker. Berserker. Meine ganze Verwandtschaft bestand aus ihnen. Sie waren übernatürlich schnell, stark und hatten einen Tötungsinstinkt für 26 Dämonen. Henry war einer, auch wenn er die meiste Zeit nur zusammen mit Dad die Verletzten wieder zusammenflickte. Mum kümmerte sich um die Fälle vor Gericht, in denen Dämonen ein Problem für die menschliche Öffentlichkeit wurden. Carson jagte Dämonen und brachte sie zur Strecke, und Stephen ging genau wie ich noch zur Schule. Doch er wollte nach unserem Abschluss im Sommer ebenfalls wie Carson auf die Jagd gehen. Auch Genoveva, Flavius, Grandma Annie und Grandpa Hugo waren Berserker, aber inzwischen befanden sie sich alle im Ruhestand. Ich war die einzige in der Familie, die keine Berserkerin war, sondern eine Hexe. Statt zu lernen, bösen Dämonen in den Hintern zu treten, brachte man mir lateinische Zaubersprüche bei und bläute mir ein, dass ich das natürliche Gleichgewicht zwischen Gut und Böse nicht zerstören durfte. Dabei passte ich rein vom äußerlichen her gut zu den anderen. Ich hatte zwar weder das Blondhaar von Mum, noch ihre und Carsons blaue Augen, doch die hatten Henry und Stephen auch nicht. Sie kamen beide nach Dad: dunkles Haar (das inzwischen schon um einiges ergraut war), blasse Haut und warme braune Augen, die ein wenig meinen grün-schlammbraunen-steingrauen Augen ähnelten. Ich fand, dass meine Augen aussahen wie ein schmutziges Stück Moos, auch wenn Mum sagte, sie würden charmant aussehen. Meine Haare waren auch dunkel und genauso wellig wie die meiner Brüder. Selbst Carson hatte braune Haare, die er von Flavius geerbt hatte. Das konnte man jetzt leider nicht mehr erkennen, da Flavius seit Jahren eine weiße Halbglatze zur Schau stellte, doch auf Fotos von früher war es deutlich zu sehen. „Die zwei sind nicht die einzigen Idioten in der Familie“, murmelte Stephen, so laut, dass selbst ich es hören konnte. Mum sah ihn warnend an. „Fang jetzt nicht damit an! Wir haben das Thema heute Morgen gründlich ausdiskutiert!“ 27 Stephen hob abwehrend die Hände. „Ist ja gut, reg dich ab, Mum.“ Er stand auf. „Ich geh jetzt auf mein Zimmer. Wenn ich nicht ein bisschen was für Englisch mache, wird mein Zeugnis noch schlechter als es dank Religion sowieso schon ist.“ Mums Gesichtsausdruck wurde bitter ernst. „Du. Bleibst. Hier.“ Knurrte sie. Stephen tat so als hätte er sie nicht gehört, schob seinen Stuhl ran und ging zur Treppe. Mum erhob sich, das Gesicht blass vor Wut. „Stephen Benedict Grey, du setzt dich auf der Stelle wieder hin!“ „Gute Nacht, Mum“, erwiderte mein Bruder gelassen und ging hoch in den ersten Stock. Stille war eingekehrt, alle starrten entweder uns an oder Stephen hinterher Mum wollte ihm nachgehen, doch Dad meinte: „Du kannst nichts tun, Janice. Er macht sowieso was er will.“ Mum sah sich um als würde ihr erst jetzt auffallen, dass wir noch ein Dutzend Gäste am Tisch sitzen hatten, die sie alle aufmerksam beobachteten. Sie atmete tief durch und ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen. „Daniel, gib mir bitte meinen Teller rüber“, sagte sie zu Dad. Langsam löste sich die Spannung wieder auf und alle fingen an munter weiter zu quatschen. Ich nutzte die Gelegenheit, beugte mich zu Henry und flüsterte: „Was hat Stephen denn für ein Problem mit Religion? Die Lehrer sind gerade in diesem Fach doch immer absolut entspannt.“ Henry grinste. „Er hat seiner Lehrerin einen Textmarker ins Gesicht geworfen. Da ist sie ausgeflippt und hat dem Direktor befohlen ihn von der Schule zu werfen. Sie meint, er wäre gemeingefährlich.“ Ich hob meine Augenbrauen. „Warum hat er sie mit einem… Textmarker…?“, 28 Henry nickte bestätigend, „…Abgeworfen? Weiß nicht, hat er nicht gesagt“, antwortete er achselzuckend. „Außerdem hat es mich nicht genug interessiert um nachzufragen.“ Typisch Henry. Ich nahm mir noch ein zweites Stück Torte. Mum und Carson erkundeten sich nach meinem Leben in Amerika. Sie fragten nach Einzelheiten über meine Freunde, mein Cheerleader-Training und über das Leben im Internat, die ich ihnen noch nicht am Telefon erzählt hatte. Ich versuchte ihnen alles mit der nötigen Begeisterung zu erzählen, schließlich hatte ich alles live miterlebt und hatte viel mehr Spaß gehabt, als es sich vielleicht anhörte. Ab und zu klinkte sich Henry in unser Gespräch ein und stellte eigene Fragen. Im Gegensatz zu Mum und Carson wollte er ausschließlich etwas über die Partys wissen, auf denen ich gewesen war. Zu viele Hollywood-Streifen hatten ihm offenbar gezeigt, dass die Amerikaner ein Fest nach dem anderen feierten, von denen jedes einzelne genug Skandale für einen ganzen Roman enthielt. Zwischendurch kam auch Grandpa Hugo rüber um mir zu verkünden, wie stolz er und Grandma Annie auf mich waren. Ich vermutete, er hatte das größtenteils nur gesagt, um einen Grund zu haben vor Grandma und ihren Freundinnen fliehen zu können, die am anderen Ende des Tisches die Köpfe zusammengesteckt hatten. Polly, Meggie und Grandma Annie kannten sich schon seit ihrer Kindheit und waren seitdem unzertrennlich. Für mich waren Polly und Meggie so etwas wie Großtanten. Die drei hatten ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht und laut Grandpa Hugo mehr Blödsinn im Kopf als eine ganze Schulklasse pubertierender Teenager zusammen. Laut Grandpa würde sein etwas altersschwaches Herz es nicht schnell genug schaffen ihn unter die Erde zu bringen, weil Annie ihn schon genug umbrachte. Grandma war der Ansicht, das Leben konnte nur dann genossen werden, wenn es auch einen Nervenkitzel gab. Sie liebte es manchmal in die Berserkerzentrale zu gehen, sich dort nach einem 29 besonders schlimmen Dämonenvorfall umzuhören und dann loszumarschieren, um die Höllenbrut zu erledigen. Sie verließ das Haus nie ohne Waffen. Ich würde schwören, dass sich momentan in der Handtasche unter ihrem Stuhl mindestens ein Messer befand, das so scharf war, dass es beim Schlachter für das Häuten von Krokodilen benutzt werden könnte. Noch schräger war Meggie. Ich hatte ihr Haus nur einmal betreten, aber das hatte gereicht, um mich für mein Leben zu zeichnen. Meggie war von Blumen besessen, und zwar richtig. Bei ihr Zuhause sah es aus wie in einem Urwald. Überall standen Blumentöpfe und Balkonkästen mit jeder Art von Blumen. Sie hatte wahrscheinlich mehr von den Dingern als der botanische Garten von London. Stephen hatte bei unserem Besuch vor fünf Jahren versucht, einen ihrer fleischfressenden Lieblinge zu füttern, was ihm eine schöne Narbe an seinem rechten Zeigefinger eingebracht hatte. Selbst Meggies Kleidung zeugte von ihrer Liebe zu Blumen, denn sie trug nur bedruckte Kleider mit einfarbigen Strickjacken und im Winter einen moosgrünen Mantel drüber. Nicht mal ihre Haare blieben verschont, denn die trug sie schon seit ich sie kannte in einem auffälligen Smaragdton. Das alles war aber nichts im Vergleich zu Polly. Polly hatte einen Narren an selbstgemachten Hüten gefressen. Das wäre ja nicht weiter schlimm, wenn ihre Hüte nicht so absurd gewesen wären. Ihr heutiges Exemplar glich einem schwarz-roten Cowboyhut mit einem Flugzeugmodell oben drauf, auf dem das abgeänderte Logo von Britsh Airways stand: ‚Aria’s homeways‘. Das war aber immer noch besser als der Taubenkäfig-Hut den sie an der Goldhochzeit meiner Großeltern angezogen hatte. Irgendwann hatte sie diesen auf den Tisch gestellt und angefangen die lebendigen Tauben darin zu füttern. Ein Anblick, den man nicht so schnell vergisst. Zu den anderen Highlights ihrerseits zählten ein Rentierkopf (auf ihrem Kopf, man konnte ihr Gesicht noch sehen) an Weihnachten, eine Diskokugel- 30 Kappe am Geburtstag meiner Mutter und das Tafel Set-Barett, bestehend aus einem Schwamm und Kreidestücken, an meinem ersten Schultag. Und trotz all der Macken, die Grandma Annie und ihre Freundinnen hatten, waren sie die fröhlichsten Leute, die ich kannte. Mit ihnen wurde es niemals langweilig, egal wann. Ich vermutete das war der Grund, was Grandpa so an Grandma mochte. Die Tür zur Eingangshalle wurde aufgerissen und ein Typ in Henrys Alter kam hereingestürmt „‘tschuldigung, dass ich zu spät bin.“, setzte er an, dann bemerkte er die vielen anwesenden Leute. „Scheiße.“ Oh Mann, das konnte glatt von mir sein. Dad stand auf. „Aria, das ist Ash. Er wohnt seit dem Sommer bei uns.“ Ash. Komischer Name. Klang irgendwie nach Arsch. Ich nickte ihm peinlich berührt zu. Was sollte ich jetzt sagen? Henry nahm mir die Entscheidung ab, in dem er Ash Stephens Platz anbot. Ash und Dad setzten sich, was die anderen dazu aufforderte ihre Gespräche von gerade wieder aufzunehmen. Mum reichte Ash wortlos ein Stück Torte, das er aber nicht anrührte. Stattdessen starrte er mich an. Und ich, einfallsreiches Genie, starrte zurück. Er hatte dieselben dunklen Haare wie meine Brüder und ich, und auch dieselbe helle Haut. Sein Gesicht war hübsch, ohne dabei weiblich zu wirken und sein Körper… traumhaft. Doch das faszinierendste an ihm waren seine Augen. Sie hatten die Farbe eines klaren Winterhimmels, was total aus seinem Gesicht hervorstach. Die Iris wechselte ständig von Silber zu Türkis, so als könnte sie sich nicht entscheiden wie sie lieber aussehen wollten. Meiner Meinung nach stand ihm beides. Seine Kleidung war eher rebellisch, schwarze Jeans, ein weißes Shirt und eine Lederjacke. Passend zu seinem leichten Dreitagebart. 31 Bei seinem Anblick vergaß ich, dass ich unrasierte Jungs nicht mochte, denn ihm stand es. Irgendwann schaltete sich mein Gehirn wieder ein und ich schaute weg. Der Typ war viel zu alt für mich und lebte schließlich mit mir in einem Haus! Um also etwas Vernünftiges zu tun, prüfte ich nochmal eingehend die noch anwesenden Gäste. Von meinen alten Schulfreunden war leider keiner hier. Mum bemerkte meinen Blick und sagte: „Nick und seine Eltern kommen gleich noch vorbei, Nicole muss noch arbeiten. Deine anderen Freunde sehen dich ja sowieso morgen.“ Ja, falls ich noch welche habe, schoss es mir durch den Kopf. Ich erhob mich. „Sagst du Nick, dass ich oben auf ihn warte?“, bat ich. Mum nickte. „Kein Problem. Ich sag’s ihm.“ Ash stand ebenfalls auf. „Ich denke, ich gehe auch lieber.“ „Du hast noch nicht aufgegessen“, entrüstete sich Carson. Ash zuckte mit den Schultern. „Henry kann mein Stück haben, ich will es nicht.“ „Ich auch nicht“, murrte Henry. „Friss dein Zeug selbst, ich bin nicht dein Mülleimer.“ Ich achtete nicht auf ihn und ging um den Tisch herum zur Treppe, Ash folgte mir auf dem Fuß. Wir gingen nebeneinander hoch und anschließend in das ‚kleine Wohnzimmer‘, wie Mum es nannte. Früher war es Henrys Zimmer gewesen, doch der war nach seinem Schulabschluss zusammen mit einem Kumpel in eine kleine Wohnung gezogen um unabhängiger von uns zu sein. Niemand von uns sprach. Ich setzte mich in meinen schwarzen Lieblingssessel und Ash ließ sich auf das Sofa fallen. Auch hier hatte sich so gut wie nichts verändert. Der Raum war immer noch leer bis auf ein weiteres Sofa, ein Couchtisch, zwei Sesseln und einer hellgrünen Pflanze (ein Geschenk von Meggie zum 15. Hochzeitstag meiner 32 Eltern). Unsere Bücher standen alle in unserer Bibliothek im Keller und jeder von uns hatte bisher einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer gehabt, sodass einer im Wohnzimmer unnötig war. Wir guckten ohnehin niemals etwas zusammen, das war schon ewig so. Dad und Henry liebten Krimis, Mum fuhr auf diese langweiligen Liebesschnulzen ab und Stephen mochte was weiß ich was. In solchen Angelegenheiten war er nicht sonderlich gesprächig. Ich hatte zwar immer einen Fernseher gehabt, ihn aber nur benutzt wenn Freunde da waren. Ich war mehr der Typ der stundenlang durchs Netz surfte und sich dort Musik anhörte. Katherine hatte mir vorgeworfen, ich sei vom Musikhören besessen, da ich das selbst unter der Dusche und beim Essen tat, wenn ich die Möglichkeit dazu hatte. „Wie steht’s eigentlich mit der Herrenwelt? Schon irgendein Herz erobert oder wartest du noch ein bisschen?“, fragte Ash plötzlich. „Denk dran: man lebt nur einmal und ist auch nicht ewig jung.“ Ich war so geschockt, dass er mich überhaupt ansprach, dass ich eine Sekunde brauchte, um seine Worte zu begreifen. Mit: „Wieso, bist du interessiert?“, fand ich meine alte Selbstsicherheit wieder. Einen Augenblick lang sahen wir uns nur an, dann verzog er seine Lippen zu einem umwerfenden Lächeln. „Du bist ja wirklich so schlagfertig wie alle sagen. Ich hab schon viel von dir gehört, wusste aber nicht, wem man glauben kann. Anscheinend hatten viele meiner Quellen Recht. Und nein, ich bin nicht interessiert. Ist mir zu gefährlich mit dir.“ Ich warf mein Haar über die Schulter und legte den Kopf schief. „Heißt das, du hast Angst vor mir?“ Ash lachte. „Wohl kaum, die meiste Zeit über bist du harmloser als eine tote Fliege.“ Ich hob eine Augenbraue. „Die meiste Zeit? Ich bin immer harmlos!“ 33 „Nein, bist du nicht. Denk mal an Cla-“ „Halt die Klappe!“, unterbrach ich ihn. „Das war nicht meine Schuld!“ Ash winkte ab. „Wie du meinst, Killer.“ Innerhalb von Sekunden war ich aufgesprungen, meine rechte Hand in seine Richtung gestreckt, während das Licht im Raum anfing stetig zu flackern. Ich hatte einen anstrengenden Tag gehabt, kaum geschlafen und dieser Typ meinte auch noch Anspielungen auf meine Vergangenheit machen zu müssen! Das war einfach zu viel für mich. Ich kanalisierte meine ganze Wut in Magie; meine Haare peitschten um mein Gesicht, als würde ich mitten in einem Sturm stehen. Eigentlich hatte ich nur vorgehabt etwas Kleines zu zaubern, vielleicht einen Lufthauch, der die Fenster aufschlagen ließ, doch irgendwie verlor ich die Kontrolle und die Magie machte sich eigenständig. Ash schrie auf und umklammerte seinen Kopf mit seinen Händen. Er rutschte vom Sofa und fiel auf die Knie, sich windend vor Schmerz. Ich drehte meine Hand ein wenig, was ihm noch mehr wehtat. Ein abfälliges Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. Ich fühlte mich mächtig und absolut großartig. Ash schrie erneut, allerdings um einiges lauter als zuvor. Ich konnte fühlen wie die Magie ihn durchdrang und die Adern in seinem Gehirn zum Kochen brachte. Das Zimmer war erfüllt von meiner Wut und meiner Macht. Ash konnte nichts dagegen tun. Etwas Heißes, Nasses rann mir aus der Nase. Blut. Die Magie kostete mich viel Kraft und ich benutzte keine Hilfsmittel, mit denen ich sie lenken konnte. Magie war weder Gut noch Böse, sondern neutral. Setzte eine Hexe sie aber ein, ohne eine korrekte Zauberformel und Dinge wie Kerzen zu verwenden, wandte sich die Magie auch gegen ihren Urheber. In diesem Fall: ich. Meine Kraft schwand langsam, denn auch meine Wut verrauchte nach und nach. 34 Ich ließ Ash noch einen Moment lang leiden, bevor ich damit aufhörte ihn zu foltern. Schwer keuchend richtete er sich auf. Sein Blick war finster. Ich fing mit der Hand das Blut ab, das aus meiner Nase strömte, während ich mir mit der anderen eine Packung Taschentücher vom Tisch nahm. Glücklicherweise bestand Dad darauf, dass es die Dinger überall im Haus gab. So konnte ich mir das Blut abwischen, bevor es auf meiner Haut trocknete. „Du…“, knurrte Ash. Er schwankte. „Du wirst das noch bereuen, du verlogener Killer!“ Obwohl ich definitiv nicht die Energie hatte ihn noch einmal zu attackieren, streckte ich meine Hand erneut in seine Richtung. „Willst du noch mehr, oder reicht’s fürs erste?“ „Mach doch was du willst“, gab er zurück. „Aber nicht mit mir.“ Er rauschte aus dem Zimmer. Die Tür war fast zugefallen, als sie von außen wieder geöffnet wurde. Ein Junge in meinem Alter mit braunen Haaren, dunklen Augen und normaler Alltagskleidung trat ein. Er könnte vom Aussehen her mit mir verwandt sein, aber das waren wir nicht. Bei meinem Anblick huschte ein Lächeln über seine Lippen. Er schloss die Tür hinter sich. „Sieh mal an, das schwarze Schaf ist nach Hause zurückgekehrt.“ „Als wärst du besser“, erwiderte ich. „Wer von uns beiden ist nachts von der Polizei nach Hause gebracht worden, weil er sich mit einem anderen geprügelt hat?“ „Der wiederum dich vermöbeln wollte, weil du ihm dein Bier über den Kopf geschüttet hast“, erinnerte Nick mich. Ich grinste. „Tom Bartons 16. Geburtstag, deine Sternstunde.“ Er grinste zurück. „Seine Duschstunde.“ Ich stürmte auf ihn zu und umarmte ihn. Er schloss mich fest in die Arme und ich vergrub den Kopf in seiner Schulter. Was nicht einfach 35 war, denn Nick war so groß, dass ich mich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste. In meinem Kopf spielte sich unser letztes Treffen ab. Das war vor meiner Abreise gewesen. Wir hatten in meinem Zimmer gesessen und an seinem Politikprojekt gearbeitet. Er hatte mir damals noch unbedingt etwas sagen wollen, doch dann war seine Mutter Nicole gekommen und hatte ihn abgeholt, um ihn zum Basketballtraining zu fahren. Am nächsten Morgen hatte ich dann schon im Flieger nach Kalifornien gesessen. Ohne zu wissen, was er mir hatte erzählen wollen. Ich wollte ihn jetzt danach fragen, überlegte es mir dann aber anders. Ich hatte zwei Jahre gewartet, auf ein paar Tage länger kam es jetzt auch nicht an. Wahrscheinlich war es ohnehin nicht mehr wichtig. Langsam löste ich mich von Nick. „Schön, dich wieder hier zu haben“, sagte er leise. Ich nickte „Ja, es ist großartig“, und setzte eine fröhliche Miene auf, obwohl ich mich total entkräftet von meiner Attacke auf Ash fühlte. Nick sollte nichts merken. Er war ein gewöhnlicher Mensch und hatte keine Ahnung, dass ich eine Hexe war. Für ihn war ich nur Aria, das Mädchen, dass zwei Jahre freiwillig in die USA gegangen war, und nicht Aria Grey, die man für zwei Jahre nach Kalifornien verbannt hatte. Ich war alles andere als froh darüber, ihn ständig anlügen zu müssen, aber es ging nicht anders. Die Menschen durften nichts über uns erfahren, egal wie schwer es uns fiel ihnen nichts zu sagen. Dämonen fraßen zwei Arten von Sterblichen: die Unvorsichtigen, die sich nachts an Orten aufhielten, wo sie niemand sehen und hören konnte; und diejenigen, die freiwillig auf die Suche nach dem Übernatürlichen gingen. Die Berserker retteten meistens keinen von uns vor der Höllenbrut, sondern Menschen. Die Übernatürlichen kannten schließlich die Gefahr und waren deswegen um einiges vorsichtiger. 36 Ich wollte nicht wissen, was passierte, falls Nick jemals von uns erfuhr. Würde er es mir glauben, und wenn ja, wie würde er reagieren? Würde er schreiend davon rennen und die Polizei rufen? Oder würde er einfach gehen und niemals wieder ein Wort mit mir wechseln? Da gab es so viele Möglichkeiten wie er handeln könnte, wenn ich es ihm sagte, aber jede von ihnen würde ihn in unglaubliche Gefahr bringen. Es war uns gesetzlich verboten Aufsehen zu erregen. Wer dagegen verstieß, hatte mit Schlimmerem zu rechnen, als einem kurzen Exil-Aufenthalt in Amerika. Bei uns Übernatürlichen gab es schließlich noch die Todesstrafe. Wir hatten unseren eigenen Gesetze, unsere eigene Regierung, unsere eigene Polizei. Das Leben unter den Menschen führten wir nur zum Schein. Ein Krieg zwischen uns und den Menschen würde uns viel kosten, aber sie würde es vollkommen vernichten. Atombomben waren bei uns nutzlos. Hexen konnten die radioaktive Energie in Magie transformieren und es gab welche von uns, die sogar die Schwerkraft beherrschten. Jeder Berserker war so stark wie zehn sterbliche Männer, ein Vampir war doppelt so mächtig. Werwölfe konnten alles fressen, auch einen bewaffneten Soldaten. Für die Dämonen standen die Menschen ja jetzt schon auf der Beuteliste ganz oben. Es gab so viele Arten von Übernatürlichen, aber jede davon war der Menschheit überlegen. Man könnte sagen, sie existierten nur, weil wir es so wollten. „Was ist los?“, fragte Nick. „Du guckst so komisch, alles in Ordnung? Hast du einen Jetlag vom langen Flug?“ Ich schüttelte den Kopf und versuchte glaubwürdig zu wirken, als ich antwortete: „Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen, mir geht es großartig. Ich bin Zuhause und kann euch alle wiedersehen. Alles ist gut.“ 37 Nach jahrelanger Übung hatte ich den Dreh raus, wie ich ihn davon überzeugen konnte, keine weiteren Fragen zu stellen. Ich wusste, ich war eine miese Freundin, aber das war der einzige Weg, ihn aus allem herauszuhalten. Und wenn ich ihm dafür Tag für Tag die Wahrheit verschweigen musste, dann war das halt so. Jetzt konnte ich nichts mehr daran ändern, wir kannten uns schon zu lange, als dass ich ohne weiteres den Kontakt abbrechen konnte. Dann würde er erst recht versuchen herauszufinden, was mit mir los war. „Okay, wenn du das sagst. Bestimmt hattest du die beste Zeit deines Lebens da drüben.“ Er ließ sich aufs Sofa fallen. „Deine Mum hat erzählt du warst Cheerleader und uns die Fotos gezeigt. Ich dachte immer Internate wären furchtbar öde, aber deins sah ganz nett aus, so normal.“ „Es war schön da.“ „Das glaub ich dir gerne“, seufzte er. Innerlich schrie alles in mir ihm zu erzählen, wie schlimm es gewesen war. Was für Albträume ich die ersten Monate gehabt hatte. Wie oft ich mitten am Tag Panikattacken erlitten hatte. Wie viele Tabletten man mich hatte schlucken lassen, damit ich keine plötzlichen Heulkrämpfe bekommen konnte. Aber das durfte ich weder ihm, noch einem anderen Menschen sagen, da sie den Grund nicht erfahren sollten. Meine Welt bestand daraus, dass ich anderen etwas vormachte. Ich hob den Kopf, sah ihn an, und lächelte. Als alle Gäste gegangen waren, ging ich erschöpft den Flur des ersten Stocks lang, bis zu meinem Zimmer. Ich öffnete die Tür und trat ein. Zuerst dachte ich, ich hätte mich mit dem Zimmer vertan. Nach zwei Jahren war das schließlich durchaus möglich. Nichts sah mehr aus wie vor meiner Abreise. Nicht, dass ich meine kindischen Poster und den knallrosa Plüschteppich vermisst hätte, doch alles wirkte so fremd. Als gehörte es nicht mir. Es gab nicht 38 einmal ein Bett, sondern nur altmodische Holzschränke, Kommoden und eine schwarze Couch. In der Mitte des Raums stand ein Schreibtisch auf dem sich reihenweise hohe Schuhe in verschiedenen Ausführungen befanden. Im kleinen, angrenzenden Badezimmer hörte ich Geräusche. Die Klinke wurde heruntergedrückt und eine Frau, barfuß und nur in ein schwarzes Handtusch gewickelt, kam heraus. Sie blieb erschrocken stehen, als sie mich sah. Ich starrte sie an und versuchte herauszufinden, was hier eigentlich gerade passierte. Was machte diese Frau in meinem Zimmer? Sie schien die Situation jedenfalls schneller zu begreifen als ich. „Du bist Aria“, sagte sie. „Ja“, antwortete ich, obwohl es keine Frage gewesen war. „Und wer sind Sie?“ Die Frau schlang ihr Handtuch enger. „Du kannst mich ruhig duzen. Ich bin Avery.“ Sie war im Grunde ganz hübsch, auch wenn ihre Haare trotz ihrer Jugend (sie musste ungefähr so alt sein wie ich) schneeweiß waren und in ihren blauen Augen noch der Schock über meine Anwesenheit stand. „Das ist mein Zimmer“, meinte ich vorsichtig. „Was tust du hier?“ Avery lachte kalt. „Glaub mir, mein Honigplätzchen, ich wäre nicht hier, wenn ich nicht müsste. Deine Eltern sollen auf mich achtgeben und sie haben gesagt, dass ich hier sein darf. Dein Zimmer ist jetzt woanders.“ Erst jetzt bemerkte ich das schwarze Armband an ihrem linken Handgelenk. Es war ein schmaler Metallreif, in den silberne Wörter eingraviert waren. Ich konnte sie zwar von meinem Standort aus nicht erkennen, aber ich wusste von meinen Eltern, was dort stand: ‚Extra ecclesiam nulla salus‘, was auf Englisch hieß: ‚Außerhalb der Kirche findet man kein Heil‘. 39 „Du bist ein Dämon“, stellte ich fest. „Nicht ganz“, erwiderte sie. „Aber ich gehöre zumindest offiziell zu den Dämonen der Hölle.“ Ich hob eine Augenbraue. „Und inoffiziell bist du was?“ Sie schenkte mir ein liebenswürdiges Lächeln. „Inoffiziell kannst du mich mal, du verschrumpelnder Sellerie! Dieses Zimmer gehört mir und ich will dich hier nicht, also verschwinde!“ Ich gab keine Widerworte. Diese Avery war ein Dämon, den man in die Obhut meiner Berserker-Eltern gegeben hatte, damit sie nicht weiter draußen auf den Straßen irgendwelche Menschen umbrachte. Sie musste wichtige Verbindungen zu höheren Dämonen haben, die die Berserker nutzen wollten, denn ansonsten hätte man längst kurzen Prozess mit ihr gemacht. Es war besser auf sie zu hören und hinaus auf den Flur zu gehen, als ihren Zorn auf mich zu ziehen. Vor der Tür stieß ich fast mit Henry zusammen, der sich wohl verabschieden wollte, bevor er ebenfalls nach Hause fuhr. „Was zum… Henry!“, stieß ich hervor. Er sah mich besorgt an. „Was ist denn mit dir los, du siehst blasser aus als ein Geist.“ Sein blick fiel auf die Tür hinter mir. Er nickte. „Ach, du hast den reizenden Gast des Hauses bereits kennengelernt. Sie ist amüsant, oder?“ „Amüsant ist nicht gerade das erste Wort, das mir zu ihr einfällt“, erwiderte ich. „Du weißt nicht zufällig, wo mein Zimmer ist? Mein altes werde ich niemals wieder betreten, solange dieses Miststück da drin wohnt.“ „Sei vorsichtig, wen du hier als Miststück bezeichnest“, meinte Stephen, der gerade den Korridor betreten hatte. „Du wohnst unten im Keller, die zweite Tür. Neben dir ist jetzt der Arsch.“ „Er meint Ash“, klärte Henry mich auf. „Der ohne Frage ein Arsch ist.“ 40 Ich war also nicht die einzige, die Ash für einen Idioten hielt. Stephen zuckte mit den Schultern. „Mir doch egal. Ich mag ihn nicht und es ist mir gleich, was sie von mir denkt.“ Er deutete auf mich. Ich überspielte, wie sehr mich das verletzte, und entgegnete: „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Danke, für deine Hilfe, Bruderherz.“ Er erwiderte meinen gehässigen Tonfall. „Kein Problem, Aria.“ Nicht Ash war der größte Idiot im Haus, sondern Stephen. So viel stand fest. „Ich geh dann mal“, verabschiedete ich mich. „Gute Nacht.“ „Bis bald. Viel Spaß in der Schule“, sagte Henry. Stephen schwieg und starrte mich böse an. Ich beachtete ihn nicht weiter, machte kehrt und ging runter in mein Zimmer. Kaum hatte ich den Raum betreten, wusste ich, dass ich richtig war. Nicht zuletzt, weil über dem Schreibtisch in der Ecke meine Fotowand hing, die Bilder von meiner Familie, meinen früheren Freunden und meinen Erlebnissen in Kalifornien zeigten (Mum hatte darauf bestanden, dass ich ihr Fotos schickte). Glücklicherweise war der pinke Plüschteppich nicht hier, genau wie die peinlichen Poster. Über diesen Kitsch-Kram war ich längst hinweg. Es gab ein riesiges neues Bett mit einfacher, grauer Bettwäsche; einen großen Kleiderschrank; einen kleinen Schrank, in dem ich überlebenswichtige Lebensmittel (wie Chips) lagern konnte, und einen Mini-Kühlschrank, der schon mit Getränken gefüllt worden war. Ich nahm mir eine Flasche Wasser, trank und sah mich dabei um. Letzteres war ein Wunsch von mir an meine Eltern gewesen. In Amerika hatte es auf jedem Zimmer im Internat einen kleinen Kühlschrank gegeben, was mir gezeigt hatte, wie nützlich so ein Ding sein konnte. Mein Blick fiel auf den Kleiderschrank. Meine Koffer waren im Laufe des Abends irgendwie verschwunden und ich hatte eigentlich nicht vorgehabt solange in Schuluniform rumzurennen, bis ich entwe- 41 der den Koffer gefunden hatte, oder einkaufen gegangen war. Ich machte den Schrank auf und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ein Teil war allein mit der Schuluniform meiner neuen Schule, der Winterstone-Academy, befüllt, doch der Rest war voller Klamotten, die alle neu sein mussten. Anhand der Auswahl erkannte ich deutlich Mums Handschrift. Sie hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, sich von vorne bis hinten von den Verkäufern beraten zu lassen. So passte jede Jeans zu jedem Oberteil, jede Jacke zu jedem T-Shirt und so weiter. Ich zog mich um und warf die Sachen von heute auf den Boden vor meinem Bett. Dabei dachte ich an Ash und daran, wie die Magie sich plötzlich eigenständig gemacht hatte. Das war kein gutes Zeichen und es beunruhigte mich zutiefst. Es gab zwei Arten von Hexen. Die einen könnte man als ‚Gute‘ Hexen bezeichnen und die anderen als die ‚Dunklen‘ oder ‚Bösen‘. An unserem achtzehnten Geburtstag wurden wir praktisch vom Schicksal auserwählt, welche Art von Hexe wir in Zukunft werden würden. Die Entscheidung hing natürlich davon ab, was für eine Persönlichkeit wir hatten. Hexen, die sich von Anfang an mehr zur schwarzen Magie hingezogen fühlten, wurden meistens dann auch ‚Dunkle Hexen‘, die wir Übernatürlichen ‚Sidhe‘ nannten. Umgekehrt wurden die anderen zu ‚Guten Hexen‘, den sogenannten ‚Wicca‘. Man versuchte natürlich immer, uns auf den Pfad den Wicca zu bringen, da die Sidhe eher ein Problem für die Gesellschaft darstellten. Die Wicca versuchten absolut gewaltfrei zu leben und arbeiteten mit den Berserkern zusammen, damit diese sich um die Dämonen kümmerten. Die Sidhe jedoch standen auf der Seite der Hölle, weswegen die Dämonen ihre Verbündeten waren. Manche von ihnen waren so mächtig mit ihrer schwarzen Magie, dass sie sogar Nekromantie beherrschten. 42 Das war die Kunst, Tote ins Leben zurückzuholen. Allerdings nicht so, wie man es sich gerne vorstellen möchte. Diese ‚Wiedergänger‘ waren kalte, gefühlslose Gestalten ohne Augen, die nur den Befehlen ihres Beschwörers folgten. Sie sahen aus wie Zombies, mit eingefallener Haut und ausdruckslosen Gesichtern. Jede Art von Gnade und Zuneigung war ihnen fremd. Mein Leben lang war ich davon ausgegangen, dass ich wie der Großteil der Hexen eine Wicca werden würde, aber inzwischen war ich mir da nicht mehr so sicher. Es gab eine Statistik die besagte, dass eine von eintausend Hexen eine Sidhe wurde. So wie ich mich kannte, gehörte ich mit Sicherheit zu der bösartigen Minderheit. Das Szenario von heute Abend zeigte schließlich, dass ich auch als Sidhe enden könnte. Dann würde ich meine Familie verlassen und mich alleine durchschlagen müssen, da die Berserker nichts mit den Sidhe zu tun haben durften, außer um sie umzubringen. Ich wäre vollkommen allein und könnte mir höchstens ein paar Wiedergänger beschaffen, die mir Gesellschaft leisteten. Und so wollte ich nicht leben. Ich hatte mir geschworen gut zu sein, um eine Wicca zu werden. Der schlimmste Teil meines Lebens sollte endlich hinter mir liegen. Okay, es stellte sich ja später heraus, wie sehr ich mich damit noch irren sollte. Eine plötzliche Welle von Müdigkeit hatte von mir Besitz ergriffen und ich beeilte mich, mit allem fertig zu werden. Kaum hatte ich mich hingelegt und die Augen geschlossen, war ich auch schon eingeschlafen. 43 Glühende Finsternis KAPITEL II Die Mörderin & das tödliche Kopfkissen-Attentat auf einen Reibekuchen Beim Anblick der Winterstone-Academy war mein erster Gedanke: Wie komme ich hier auf der Stelle wieder weg? Gefolgt von einem: Gibt es an diesem Ort überhaupt Strom und fließendes Wasser? Allein die schwarzen Uniformen mit den weißen Hemden und den schwarzen Krawatten, waren ein Grund um sofort ein One-WayTicket ans andere Ende der Welt zu buchen. Denn in diesen Kleidern würde sogar Avery, die heute das Outfit einer Edelstripperin trug, wie ein harmloser Streber aussehen. Nur musste sie als Dämon natürlich nicht zur Schule gehen. Es stellte sich heraus, dass Ash als Mentor an der Winterstone arbeitete. Er unterrichtete übernatürliche Schüler im Kämpfen, sofern diese Schüler männlich und Berserker waren. Weibliche Übernatürliche (auch Berserkerinnen) hatten dafür Hauswirtschaft, was verdammt unfair war. Die menschlichen Schüler der Winterstone wurden entweder mit uns Mädchen in einen Kurs gesteckt oder hatten getrennt von Stephen und den anderen Sportunterricht bei einem menschlichen Lehrer. Mentoren waren aber gleichzeitig auch eine Art Sicherheitsdienst der Schule, die sich mit Dingen wie Prügeleien im Flur rumschlagen mussten. Ash durfte wegen seiner hohen Position ein blaues Jackett mit dem Schulwappen darauf tragen, um sich von unserem Schwarz abzuheben. Er musste sich auch keine hässliche Krawatte um den Hals kno- 44 ten, und weil er ein Junge war, hatte er eine schwarze Hose an, statt einem kurzen Rock mit blickdichter Strumpfhose darunter. In meinen Gedanken freute ich mich über seinen Anblick, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass es besonders großartig war, nach dem Abschluss weiterhin in einer Uniform rumlaufen zu müssen. Stephen war direkt nach unserer Ankunft auf dem Schulparkplatz verschwunden, genau wie Ash, der meinte, es sei unter seiner Würde für mich den Babysitter zu spielen. Weil Mum schon direkt nach dem mehr oder weniger hektischen Frühstück in ihre Anwaltskanzlei gefahren war und Henry Frühdienst auf der Krankenstation der Berserkerzentrale schob, stand ich jetzt nur in Begleitung von Dad und einer zu Tode gelangweilten Avery im Sekretariat. Die nette Blondine in dem grauen Tweed Kostüm hinter den Tresen, gab mir meinen Stundenplan und stellte mir meine Ansprechpartner für das letzte Schuljahr vor. Wie ich es schon vermutet hatte, waren die beiden auch die Schulsprecher. Das Mädchen könnte man sicherlich als südländische Schönheit bezeichnen, wenn ihre herablassende Haltung nicht gewesen wäre. Ihr erstes Wort an mich war der Hinweis, dass ich meine Krawatte richten sollte. Ihr zweites war ihr Name, durch den sie mir fast wieder Leid tat. Wenn ich Iphigenia heißen würde, wäre ich vielleicht auch zu einem nervtötenden Kontrollfreak mutiert. Der Junge war ein Freund von Nick namens Chuck Castille. Ich erinnerte mich daran, dass er ebenfalls übernatürlich war. Ein Hexer aus einer gewöhnlichen Wicca-Familie oder so. Viel besser als seine Gattung lagen mir seine feuerroten Haare in Erinnerung. Die beiden redeten die ganze Zeit auf mich ein, während sie mich zu meiner ersten Stunde Geschichte brachten. Dad und Avery waren bei Direktor Harper geblieben, um mit ihm noch ein wenig zu quatschen, aber Avery hatte es sich nicht nehmen lassen, mich mit ‚mein Sahnehäubchen‘ zu verabschieden. 45 Chucks unterdrücktes Lachen und Iphigenias gerunzelte Stirn waren beinahe zu viel für mich gewesen. Hätte ich heute Morgen keine Beruhigungsmittel eingeworfen, wäre der Tag nicht ganz so großartig für den Dämon verlaufen. Winterstone selbst sah von innen genauso prunkvoll und herrschaftlich aus, wie von außen. Ganz anders als das moderne Internat in Kalifornien. An den Wänden hingen Bilder von verschiedenen berühmten Persönlichkeiten der Vergangenheit, von denen die Hälfte bestimmt nur hier hing, weil sie übernatürlich gewesen waren und Winterstone in unserer Welt als Schule für Übernatürliche galt. Es gab nur wenige Menschen, die hier überhaupt angenommen wurden, damit die Übernatürlichen sich nicht auf alle weiterführenden Schulen der Stadt verteilen mussten. Iphigenia versuchte mir die Geschichte jedes Bildes und jeder Statue zu erzählen, aber Chuck fiel ihr ständig mit irgendwelchen Kommentaren ins Wort, die zum Beispiel von den miesesten Lehrern handelten. Es wunderte mich ein wenig, dass er Ash nicht erwähnte. Ich hätte einiges darauf verwettet, dass er im Beruflichen ein genauso großer Idiot war wie privat. Die anderen Schüler saßen schon längst an ihren Plätzen, als die beiden mich endlich im Geschichtsunterricht absetzten. Misses Dreafer, unsere etwas rundliche, dunkelhäutige Lehrerin mit einer interessanten Dauerwelle, empfing mich höflich, wie es sich gehörte. Allerdings sah sie mir dabei nicht ins Gesicht und ihre Stimme blieb die ganze Zeit über kühl. „Stell dich doch bitte kurz vor und setz dich dann auf einen freien Platz“, befahl sie. Ich hatte mit so etwas gerechnet. In Kalifornien hatten die Lehrer das anfangs auch immer verlangt. „Ich bin Aria Grey“, fing ich an. 46 Die Temperatur im Raum fiel um gefühlte zehn Grad. Die Blicke meiner Mitschüler trieften vor Feindseligkeit. „Ich bin seit gestern wieder in London und war vorher zwei Jahre in den Vereinigten Staaten.“ Es war so still, dass man den Regen hören konnte, der im regelmäßigen Rhythmus gegen die Fenster klopfte. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ließ ich mich vorsichtig auf einem Stuhl in der letzten Reihe nieder. Keiner sagte etwas, als ich den Raum durchquerte, um mich hinzusetzen. Nach ein paar Sekunden tiefen Schweigens, räusperte Misses Dreafer sich und begann einen Vortrag über das British Empire. Britische Geschichte, oder eher jede Art von Geschichte, langweilte mich, weshalb ich schon bald nur noch aus dem Fenster schaute und den verregneten Innenhof beobachtete. Ich dachte an den merkwürdigen Traum, den ich diese Nacht gehabt hatte. Ich war durch eine karge, trostlose Landschaft gewandert, die nur aus Stein und Asche bestanden hatte. Der Himmel über mir hatte die Farbe von Blut besessen und war teilweise von rauchig-schwarzen Wolken bedeckt worden. Der Mond hatte silbern auf mich herabgestrahlt, doch das düsterte Gestein am Boden hatte sein Licht verschluckt. Es hatte kein Wind geweht, obwohl meine Haare um mein Gesicht gepeitscht waren, als hätte ich mitten in einem Orkan gestanden. Außerdem war es kalt gewesen, sehr kalt. Meine Lungen waren zu einem kleinem Etwas gefroren und meine Zunge hatte sich angefühlt, als hätte ich an einem Eiswürfel gelutscht. Selbst der warme Pullover, den ich als Schlafanzug benutzte und aus irgendeinem Grund auch in meinem Traum aufgetaucht war, hatte nichts gegen die Kälte ausrichten können. Ich war um einen großen Felsen gebogen, der mir noch mehr dahinterliegendes Ödland offenbart hatte. Aber nicht weit entfernt hatte etwas gestanden, das so gar nicht dorthin passen wollte: ein Torbogen aus schwarzem Marmor, ähnlich den antiken Triumphbögen, hatte 47 sich wie eine mystische Wahnvorstellung, die mein gefrostetes Gehirn vor lauter Eisigkeit erstellt hatte, aus dem Boden erhoben. Warum es ein Torbogen und kein gemütlicher Starbucks gewesen war, konnte ich mir immer noch nicht erklären. Zitternd war ich darauf zugegangen, stetig mit den Zähnen klappernd. Erst kurz bevor ich unter dem Bogen gestanden hatte, war mir aufgefallen, dass ein Schild in den Bogen eingelassen worden war, auf dem Etwas auf Englisch gestanden hatte. Stirnrunzelnd hatte ich die Inschrift gelesen, und ich war stolz darauf, sie immer noch auswendig zu können: Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze, Durch mich geht man zu dem verlor ‘nen Volke. Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer, Geschaffen hat mich die Allmacht Gottes, Die höchste Weisheit und erste Liebe. Vor mir ist kein geschaffen Ding gewesen, Nur ewiges, und ich muss ewig dauern. Lasst jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten. Das klang genauso einladend wie gestern Nacht, als ich es zum ersten Mal gesehen hatte. Ich hatte mich genervt auf die Suche nach dem Sinn dieser Erscheinung gemacht, hatte aber, wie erwartet, nichts gefunden. Also hatte ich mich wieder dem seltsamen Torbogen gewidmet. Es war für mich mehr als eindeutig gewesen, dass es dahinter nichts weiter gab als noch mehr Stein und Asche. Dennoch war da das Gefühl gewesen, da wäre noch etwas anderes, das ich nicht hatte sehen können. Langsam hatte ich meine Hand ausgestreckt. Mir war es so vorgekommen, als hätte die Luft vor Anspannung geprickelt. In 48 dem Moment, in dem meine Finger die Mitte des Torbogens erreicht hatten, war es passiert. Ein stechender Schmerz war durch meinen Körper geschossen. Ich war aus dem Schlaf gerissen worden, so real hatte es sich angefühlt. „Ich finde man hätte mehr in die Suche nach Jack the Ripper investieren sollen“, meinte Stephen laut und holte mich zurück in die Realität. Er saß zwei Reihen vor mir und sah Misses Dreafer herausfordernd an. „Unschuldige zu töten ist grausam und unmenschlich.“ Die Hälfte der Anwesenden drehte sich zu mir um und bedachte mich mit finsteren Blicken. Darunter waren auch menschliche Schüler, die von meiner Vergangenheit nichts wussten und wohl irgendwelchen Gerüchten Glauben schenkten. Misses Dreafer setzte zum Sprechen an, aber in diesem Moment klingelte die Schulglocke zum Stundenende. Ich verließ als eine der ersten den Raum, ohne meinen Bruder auch nur einmal anzusehen. Auch die nächsten Stunden begrüßten meine Lehrer und meine Mitschüler mich mit Abneigung, und ohne Carter wäre ich nach einer katastrophalen Englischstunde schon nach Hause gefahren. Kaum hatte die lebhafte Blondine mich in der Menge auf dem Gang mit den Spinden entdeckt, stürmte sie auf mich zu und schloss mich in eine Umarmung, die mir sämtliche Luft aus dem Körper presste. Carter Levinson war vor meinem Exil meine beste Freundin gewesen und war es anscheinend immer noch. Sie hatte ebenfalls eine Zeit lang in Amerika verbracht, damit ich nicht so alleine war. Doch sie war schon zu Beginn des Schuljahres nach London zurückgekehrt, um nicht mitten im Jahr die Schule wechseln zu müssen. Carter war schließlich freiwillig gegangen, während man mich offiziell verbannt hatte. Ich rechnete es ihr hoch an, dass sie mit mir das Internat besucht hatte. Niemand von meinen anderen Freunde von damals hätte das für mich getan. 49 Wir hatten uns immer näher gestanden als Nick und ich, da sie mich besser verstand als jeder andere. Sie behandelte mich den ganzen Tag so, als wäre ich nie fort gewesen, worüber ich mehr als dankbar war. Pausenlos redete sie von Klamotten, die sie sich noch kaufen wollte, ihrem harten Balletttraining und welche Paare in letzter Zeit zusammengekommen waren oder sich getrennt hatten. Ich täuschte die ganze Zeit echte Begeisterung vor, obwohl ich in Gedanken ganz woanders war. Meine Schläfen pochten schon seit etwa einer halben Stunde und ich hatte das Gefühl irgendwer würde in meinem Gehirn mit Handgranaten um sich werfen. Ab und zu verschwamm mein Blickfeld und wurde dann wieder klarer. Ich stützte mich ein wenig an der Wand ab, während Carter mich zum Speisesaal brachte. „Hallo? Beste Freundin an Aria!“, sagte sie laut. Ich blinzelte. „Äh… was hast du gesagt?“ Schnaubend stemmte Carter eine Hand in ihre schmale Taille. „Ich weiß, du bist im Augenblick total durch den Wind, aber das was geschehen ist, ist keine Entschuldigung dafür, dass du andauernd wie ein Zombie durch die Gegend torkelst und Löcher in die Luft starrst! Was passiert ist, ist passiert. Also hör auf vor dich hin zu leiden und lass die ganze Sache endlich hinter dir! Du machst ein Gesicht wie meine Großtante Polly, wenn sie über eine ihrer toten Katzen redet!“ Oh Mann. Carter war echt sauer. Normalerweise hatte sie das liebenswürdigste Gesicht unter der Sonne, doch jetzt sah es so aus, als würden Blitze aus ihren blauen Augen schießen. Da sie eine Hexe war, konnte sie durchaus ein Gewitter heraufbeschwören. Ihre Großtante Polly, die Freundin von Grandma Annie (die mit dem Hut-Tick), soll angeblich mal ihre ganze Küche zerlegt haben, als sie ausversehen ein Unwetter gezaubert hatte. „Okay, ich versuch’s“, erwiderte ich kleinlaut. „Aber ich kann nicht versprechen, dass es klappen wird. Wenn man überall als Mörderin 50 beschimpft wird, ist es nicht gerade einfach ein normales Leben zu führen.“ Carter lächelte ihr typisches Carter-Lächeln. „Das ist besser als die Alternative, das garantiere ich dir. Außerdem wirst du dich schnell wieder einfinden. Chuck Castilles Eltern sind ab morgen für eine Woche in Monaco, weshalb er am Wochenende eine Hausparty schmeißen wird. Wir schwänzen morgen einfach die letzten beiden Stunden Erdkunde und gehen shoppen. Die diesjährige Winterkollektion ist traumhaft. Du-“ „Okay, Car“, beruhigte ich sie. „Wir gehen einkaufen und du kannst mich in jeden Laden schleppen, der dir gefällt.“ Sie strahlte. Ich grinste. Beim Gedanken an unsere früheren Einkaufsbummel, machte sich eine Fröhlichkeit in mir breit, die mir half das leise Geflüster, das mir gerade eben den ganzen Hauswirtschaftsunterricht ruiniert hatte, zumindest kurzzeitig zu vergessen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich in einen halboffenen Klassenraum etwas bewegte. Ich wandte den Kopf um zu prüfen, was da vor sich ging. Carter bemerkte die Veränderung in mir und sah ebenfalls hin. Entsetzen leuchtete in ihren Augen auf. Stephen stand dort neben einem Tisch, zusammen mit Ash und einem weiteren Jungen in Ashs Alter. Der andere, ein blonder Typ, trug dieselbe Uniform wie Ash, unter der sich ein durchtrainierter Körper abzeichnete. Bevor ich allerdings in eine teeniehafte Schwärmerei verfallen konnte, schlug der Blonde meinem Bruder ins Gesicht. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Carter hielt meinen Arm fest, doch ich riss mich los und marschierte geradewegs in den Raum hinein. Ich packte Stephen an der Schulter und schob mich vor ihn. „Sagt mal, habt ihr den Verstand verloren?! Lasst ihn in Ruhe!“, blaffte ich die beiden Mentoren an. „Er hat euch nichts getan!“ 51 Ash lachte abfällig. „Was soll das, Aria? Hast du nichts Besseres zu tun, als deinen Bruder zu bemuttern?“ „Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als meinen Bruder zu verprügeln?“, gab ich zurück. Der Blonde sah von mir zu Ash und zurück. „Ich wollte ihm nur ein bisschen Respekt beibringen. Wir haben mitbekommen, wie er einen jüngeren Schüler bedroht hat und als wir mit ihm reden wollten, hat er uns beleidigt“, sagte er ruhig. „Und dafür wird er jetzt büßen“, fügte Ash hinzu. Ich stellte mich aufrechter hin. „Wenn ihr es auch nur wagt, ihn noch einmal anzurühren, reiße ich euch mit meinen eigenen Händen die Herzen aus und schiebe sie euch durch eure Hintern hoch, bis ihr daran erstickt, kapiert?“ Beide blieben angesichts meiner Drohung ungerührt, aber der Blonde nickte. „Bitte, bleib ruhig. Wir wollen schließlich nicht, dass das hier in einen richtigen Streit ausartet“, meinte er. „Ich habe keine Lust eine Disziplinarbeschwerde gegen euch beide einzureichen. Wir werden jetzt gehen und die ganze Angelegenheit vorläufig vergessen.“ „Okay, danke“, antwortete ich. Der Blonde war nett. Er würde uns nicht bei Direktor Harper wegen Androhungen von Gewalt und dem, was Stephen getan hatte, verpfeifen. „Stephen, du solltest dich bei deiner Schwester bedanken. Sie scheint dich wirklich gern zu haben, da sie sich für dich mit uns anlegt“, maßregelte der Blonde meinen Bruder. Dieser tat so, als hätte er ihn nicht gehört. Der Blonde seufzte. „In Ordnung, schönen Tag noch.“ Er machte kehrt und ging aus dem Raum. Ash folgte ihm schweigend, aber mit einer Miene, die Bände sprach. Ich wandte mich zu Stephen um. „Seit wann lässt du es zu, dass man dich schlägt und wieso beleidigst du die Mentoren? Du hättest ihn 52 doch einfach erklären können, dass du den Kleinen gar nicht bedroht hast!“ „Hab ich aber“, erwiderte er ruhig. „Und das geht dich nichts an. Nicht mehr.“ Er rempelte mich absichtlich im Gehen an. Ich sah ihm traurig nach. Carter kam vorsichtig herein. „Du kannst ihm nicht vorhalten, dass er dir nicht vertraut“, sagte sie sanft. „Schließlich hast du seine Freundin sterben lassen.“ Irritiert schaute ich sie an. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ „Auf deiner“, entgegnete sie prompt. „Solange es dabei keine weiteren Toten gibt.“ Da war es wieder. Diese eine Sache, die ich stets ausblendete. Ich hatte Stephens Freundin Clary ausversehen an Halloween vor zwei Jahren umgebracht. Seitdem hatten fast alle eine wirklich große Abneigung gegen mich und ich rechnete es Carter hoch an, das sie noch weiterhin mit mir redete. Nick wusste von all dem nichts, denn natürlich hatte ihm keiner etwas gesagt. Kein Mensch wusste davon. Im Matheunterricht bei Mister Heronstate gab es eine Überraschung für mich. Der äußerst einschläfernde Lehrer teilte mir mit, dass ich heute keinen normalen Unterricht nach der Mittagspause haben würde, sondern Privatstunden in der Turnhalle bei einem der Mentoren. Ich betete inständig, dass es nicht Ash war. Ich wurde aufgefordert mein Zeug zu packen und sofort dorthin zu gehen. Nick bot an, mich zu begleiten, aber Mister Heronstate verkündete ich sei als Abschlussklässlerin durchaus in der Lage, allein in die Turnhalle zu finden. Irgendwie hatte er Recht, denn so viele konnte es ja hier von den Dingern nicht geben. Als ich ankam, war die Sporthalle menschenleer. Ich ging in eine Kabine um mich kurz umzuziehen und kehrte dann zurück in die Hal- 53 le. Noch immer war keiner hier. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, dehnte ich mich ein bisschen und lief ein paar Runden. Dabei versuchte ich den Kopf frei zu bekommen von allen Gedanken, was nicht gerade einfach war. Die Tür ging auf und der blonde Mentor, der Stephen geschlagen hatte, trat ein. Er trug wie ich Sportsachen, die ihm genauso gut standen wie die Mentoren-Uniform. „Du bist schon da“, stellte er fest. „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat, doch ich musste noch etwas klären.“ „Wen haben sie diesmal verprügelt?“, rutschte es mir heraus. Er hob eine Augenbraue. „Niemanden. Es ging darum eine Glühbirne im Lehrerzimmer auszuwechseln. Unser Hausmeister, Mister Snuggles, ist nicht mehr der Jüngste, und deswegen habe ich das gemacht.“ Er streckte die Hand aus. „Ich habe mich bisher noch nicht vorgestellt, nicht wahr? Mein Name ist Jason Thales.“ Ich schüttelte seine Hand. „ Aria Grey.“ Mentor Thales runzelte die Stirn. „Die Aria Grey?“ „Nein, die andere. Die nette, die heute ihren Bruder vor ein paar gemeingefährlichen Idioten gerettet hat.“ Natürlich hatte er schon von mir gehört, schließlich war er Teil der übernatürlichen Gesellschaft. Wahrscheinlich hatte Ash ihm auch von meinem kleinen Wutausbruch von gestern Abend erzählt. Meine Antwort schien ihn zu amüsieren. „Ash hatte Recht. Du bist wirklich äußerst direkt.“ Ich legte den Kopf schief. „Fänden sie es besser, wenn ich nie den Mund aufmachen würde? Warum? Weil ich ein Mädchen bin?“ Er lachte. „Nein, das nun wirklich nicht. Ich habe schon Frauen erlebt, die mit gefährlichen Dämonen fertig geworden sind. Ich bin definitiv nicht so altmodisch , dass ich dir verbieten werde zu reden. Das hier ist kein normaler Unterricht, also sag, wenn dich etwas stört. Und fang an dich einzulaufen.“ 54 „Ich bin schon warm“, protestierte ich. „Dann lauf trotzdem. Wir machen heute Konditionstraining. Ich möchte wissen, wie fit du bist“, antwortete er prompt. Also joggte ich, schon wieder, los und fing an meine Runden zu drehen. „Wieso ‚heute‘?“, hakte ich, leicht keuchend, nach. „Nach dem… Zwischenfall vor zwei Jahren, halten es alle für das Beste, wenn du regelmäßig Sport machst. Jeden Tag, um genau zu sein.“ Sein Tonfall klang bitter ernst. „Lassen sie mich raten“, erwiderte ich. „Ich soll so ausgepowert sein wie möglich sein, damit ich auf keine dummen Ideen kommen kann.“ Er schüttelte den Kopf, was ich nur aus den Augenwinkeln sehen konnte. „Du musst trainiert sein. Kampferprobt, könnte man sagen. Ich werde dir verschiedene Varianten zeigen, wie du dich verteidigen kannst, falls dir etwas … zustoßen sollte.“ Mein Gehirn sendete ein Fragezeichen nach dem anderen. „Wer will, dass ich kämpfen kann?“ Diese Frage schien Jason Unbehagen zu bereiten, denn er zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Deine Eltern verlangen das, selbstverständlich. Direktor Harper auch und deine Ärztin, Doktor Pinner, hält das ebenfalls für eine gute Idee. Außerdem ist da noch deine Betreuerin, Caitlin…“ „Katherine“, korrigierte ich ihn. „Katherine Parr. Wieso wollen die das alle?“ „Du hast Feinde“, erklärte er. „Dir ist bestimmt aufgefallen, wie die Leute hier in der Schule auf dich reagiert haben. Dabei sind das nur Unbeteiligte, die von dem Vorfall bloß gehört haben. Andere dagegen sind dadurch direkt betroffen worden und es ist möglich, dass sie auf Rache sinnen. Dazu kommen die Dämonen. Jetzt, wo du bewiesen hast, dass du, nun ja, zu manchen Taten fähig bist, könnten sie versuchen, dir deine Seele abzukaufen. Du musst dich schützen können, falls es zu dergleichen kommen sollte.“ 55 Ich lachte, nach Luft schnappend und dennoch ironisch. „Und warum machen sie das? Und wieso kriege ich Sie als Kampf-Guru?“ Jason begann auf und ab zu gehen. „Ich habe mich freiwillig gemeldet, als gefragt wurde, wer sich mit einem Sonderfall befassen könnte. Erst gerade habe ich erfahren wer du bist, als du dich vorgestellt hast. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde dich gut ausbilden. Du bist nicht die erste, die ein Problem mit ihrer Vergangenheit hat.“ Ich machte meine letzte Runde zu Ende und hielt dann vor ihm an. Einen Augenblick lang, rang ich nach Atem. Ich strich mir mein zerzaustes Haar aus dem Gesicht. Bestimmt sah ich absolut bescheuert aus, so verschwitzt. Jason dagegen hatte dieselbe zeitlose Eleganz in seinen Trainingsklamotten, wie in seiner Uniform. Reiß dich zusammen, Aria, ermahnte ich mich selbst. Er ist viel zu alt für dich. Außerdem bist du für ihn nur eine Schülerin. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er und musterte mich besorgt. Großartig, jetzt hält er mich für eine verträumte Idiotin. „Alles bestens“, sagte ich schnell. „Also, was machen wir als nächstes?“ Er stellte sich aufrecht hin. „Du greifst mich an und versuchst mich für sieben Sekunden auf den Boden zu drücken. Du hast zehn Minuten Zeit.“ Ich sah auf den Boden, der ziemlich hart auf mich wirkte. Jason folgte meinem Blick und meinte: „Keine Sorge, wir gehen dafür dort rüber, zu den Matten.“ Er führte mich ans andere Ende der Halle, stellte sich ganz lässig in die Mitte der mit Matten ausgelegten Zone und schaute mich erwartungsvoll an. „Worauf wartest du?“ Ich zögerte. „Ich soll sie einfach so angreifen?“ Er nickte. „Ja. Keine Sorge, du würdest es wahrscheinlich nicht mal dann schaffen mich zu verletzten, wenn du es ernsthaft darauf anlegen würdest.“ 56 Das würden wir ja sehen. Was er nicht wusste war, dass ich in Amerika sehr wohl trainiert hatte. Ich konnte ein wenig kämpfen, auch wenn so ein Ringkampf nicht gerade meine Stärke war. Im Weglaufen war ich eigentlich besser, aber das brachte mir momentan leider gar nichts. Ich stürmte auf ihn zu und versuchte ihm meine Faust ins Gesicht zu rammen. Jason blockte sie ab, packte mein anderes Handgelenk und wirbelte mich herum. Ich hatte meine Schwierigkeiten mein Gleichgewicht zu finden, aber sobald ich mich wieder halbwegs orientieren konnte, streckte ich mein Bein mit einer Drehung in seine Richtung. Mühelos wich er mir aus. Langsam wurde ich wütend. Ich stürzte mich auf ihn und versuchte ihn mit irgendwas zu treffen, sei es Hand oder Fuß. Leider schien er jede meiner Bewegung voraus zu ahnen, sodass ich keinen einzigen Treffer landete. „Was sind Sie?“, schnaufte ich. „Superman? Batman? Der verdammte Hulk?“ Er lachte amüsiert. „Thor wäre näher. Ich bin ein Halbgott.“ Oh Mann. Ein Halbgott. Okay, das war eine Überraschung. „Cool“, brachte ich heraus. Zu mehr Worten war ich irgendwie nicht in der Lage. Halbgötter waren die Nachkommen zwischen den Unsterblichen, die man vor ein paar Jahrtausenden als Götter verehrt hatte, wie zum Beispiel Zeus, Anubis und auch Thor, und einem normalen Menschen. Sie waren stark, schnell und besaßen angeblich einen Teil der Magie ihrer unsterblichen Eltern. Fast alle von ihnen lebten auf einer versteckten Insel im Mittelmeer, die Attica hieß. Ich hatte noch niemals einen Halbgott zu Gesicht bekommen. Ohne Vorwarnung trat Jason vor und griff nach meinem Arm. Er drehte mich und hob mich irgendwie hoch. Als nächstes lag ich mit dem Rücken auf dem Boden, während er immer noch stand. 57 „Du bist unaufmerksam und lässt dich leicht ablenken. Konzentrier dich auf das Wesentliche. Was ist, wenn du deinen Angreifer persönlich kennst? Wenn er oder sie mal mit dir befreundet gewesen ist? Du darfst so nicht so viel denken!“ Ich richtete mich auf. „Ich bin stärker, als sie glauben.“ „Dann beweis es!“, forderte er. Ich erhob mich und ging in eine Angriffsstellung über, aber anscheinend hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Denn sofort riss er mich wieder von den Füßen, bevor ich ihn überhaupt angegriffen hatte. Er verlagerte sein gesamtes Gewicht so gut es ging weg von mir und umfasste mit seinen Händen meine Kehle. „Verteidige dich!“, befahl er. Ich bäumte mich mit aller Kraft auf, bis ich mich aus seinem Griff befreit hatte. Das brachte mir nicht gerade viel, da ich einen Wimpernschlag später schon wieder unter ihm lag. So ging es weiter, bis er sich von mir löste und aufstand. Er reichte mir seine Hand und zog mich hoch. „Du warst am Ende ganz passabel“, kommentierte er meine Versuche, nicht andauernd zu verlieren. „Wenn das allerdings ein echter Kampf gewesen wäre, wärst du jetzt tot.“ „Sie sind ein Lehrer. Sollte ich nicht eigentlich besser dastehen, wenn ich Ihnen nichts antue?“, erwiderte ich ironisch. Jason fuhr sich mit einer Hand durch sein, durch unseren Kampf leicht zerzaustes, Blondhaar. „Bitte hör auf mich zu siezen, Ariana. Das hier ist kein gewöhnlicher Unterricht. Du kannst ruhig Jason zu mir sagen.“ „Das ist ein cooler Name. Hat er irgendeine Bedeutung?“, wollte ich wissen. Über irgendetwas mussten wir ja reden. Hauptsache, er forderte mich nicht zu einem weiteren Kampf heraus. Ich hatte keine Lust darauf , schon wieder zu verlieren. 58 „Es heißt ‚Heilbringender‘ und kommt aus dem altgriechischem“, erklärte er. Ich runzelte die Stirn. „Der eine Typ im alten Griechenland hieß auch so, oder? Der, der mit ein paar Astronauten eine magische Ziege gejagt hat?“ Jason sah mich fragend an. „Du meinst Jason, der zusammen mit den Argonauten das Fell des goldenen Widders gesucht hat?“ „Genau der“, fiel es mir ein. Jason lachte. „Der goldene Widder war ein Schafsbock und keine Ziege und die Argonauten gehörten zu Jasons Seeflotte. Sie sind nie im Weltall gewesen, wie die Astronauten, die du meinst“, er wurde wieder ernst. „Wir müssen weitermachen.“ Innerlich stöhnte ich bei seinen Worten auf. Mir tat jetzt schon alles weh. Ab wie vielen blauen Flecken bekam man eigentlich schulfrei? Die nächste Übung bestand aus Boxen. Das war etwas, was ich immerhin glaubte zu können. Aber nachdem ich mich eine gefühlte Ewigkeit von Jason hatte fertig machen lassen, war es die reinste Höllenqual. Allerdings litt er viel mehr als ich. Ich trieb ihn damit in den Wahnsinn, dass ich alles anders machte, als er es wollte. Er gab einen Befehl nach dem anderen, bemängelte meine Fußstellung, korrigierte meine Körperhaltung und erinnerte mich ständig daran meine Hände oben zu halten, um einen Schutzschild vor meinen Körper zu bilden. Als er mich endlich anwies, damit aufzuhören und verkündete wir seien für heute fertig, durchflutete mich Erleichterung. Zumindest bis ich erfuhr, dass er morgen Krafttraining machen wollte. „Carter und ich wollten einkaufen gehen“, beschwerte ich mich. „Wenn ich dafür keine Energie mehr habe, muss ich nackt zu Chucks Party! Dabei brauche ich wirklich keinen weiteren Skandal!“ Ungerührt packte Jason seine Boxhandschuhe in seine große Sporttasche. „Du bist schwach. Wenn du unbedingt einkaufen gehen möchtest, dann mach das wann anders. Es ist ja noch genug Zeit bis zu die- 59 ser Party, oder? Außerdem halte ich sowieso nicht viel davon, dass du dahin gehst.“ Ich hob eine Augenbraue. „Wieso?“ „Da werden jede Menge alkoholisierte Jugendliche sein. Falls etwas passiert, kann dir niemand helfen“, antwortete er. „Das wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, dir etwas anzutun, da es für dich keine Chance auf Hilfe gibt.“ „Und genau weil du solche Antworten gibst, würde ich dich niemals um Erlaubnis fragen. Ich kann halbwegs auf mich aufpassen und kann auch anderen helfen, wenn sie Probleme bekommen. Auch dir“, provozierte ich ihn. Ich beschloss sogar noch einen drauf zu setzen. „Wie hält deine Freundin das nur mit dir aus?“ Er sah verwirrt drein. „Ich habe keine Freundin.“ „Okay, vergiss, was ich über Problemlösungen gesagt habe. In dieser Sache kann ich dir nicht helfen“, entgegnete ich achselzuckend. Innerlich dachte ich nur: Wieso hat dieser niedliche Typ keine Freundin? Das ist doch physikalisch unmöglich! Jason tat so, als hätte er mich nicht gehört und verließ die Turnhalle. Kurz bevor er durch die Tür getreten war, drehte er sich noch einmal um. „Soll ich dich nach Hause fahren?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nö, ist nicht nötig. Ich nehm den Bus.“ „Bist du dir sicher?“ „Natürlich.“ Ich grinste zuversichtlich. „Ich muss mich doch wieder daran gewöhnen, dass hier alle links fahren. Wo kann ich das besser als mit einer Busverbindung, bei der ich zweimal umsteigen muss?“ Er erwiderte mein Lächeln „Verlauf dich nicht, Ariana“ sagte er und ging. Mein Grinsen wurde breiter. Ariana. Niemand nannte mich so und wenn doch, klang es wie ein Schimpfwort, das man sich nur für mich ausgedacht hatte. Bei Jason nicht, er sprach es sanft aus, wie manche Menschen, die über ihr neugeborenes Baby redeten. Und aus irgend- 60 einem dummen, hormongesteuerten Grund, fand ich das auch noch absolut cool. Ich beschloss mich noch kurz umzuziehen, da ich nicht in meinen verschwitzten Sportklamotten im Bus sitzen wollte. Es dauerte ein wenig, bis ich mich zurechtfand, aber nach fast einer Stunde war ich soweit in die Nähe meines Zuhauses gekommen, dass ich den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen konnte. Während ich durch die vertrauten Straßen Hampsteads ging, glaubte ich verfolgt zu werden. Eine dunkel gekleidete Gestalt, ein Mann mit langen Gewändern, lief schon seit ich aus dem Bus gestiegen war hinter mir her. Ein mulmiges Gefühl hatte sich in mir ausgebreitet. Ich bog in die nächste Straße. Unser Haus war keine hundert Meter mehr entfernt. Worauf war er aus? Möglicherweise war es ja zu riskant ihn bis zum Haus meiner Familie zu führen. Vielleicht sollte ich woanders hingehen und versuchen ihn abzuschütteln, oder zumindest herausfinden wer er war und warum er mich so offensichtlich verfolgte. ‚Du hast Feinde‘, hatte Jason gesagt. Jetzt blieb nur noch die Frage, ob dieser Typ ein Dämon oder einfach nur ein Anhänger des AntiAria-Grey-Clubs war (Stephen war bei letzterem bestimmt das freiwillige Vorstandsmitglied). Die Entscheidung, ob ich möglicherweise nicht nach Hause gehen sollte, wurde mir abgenommen, als gerade in diesem Augenblick ein Auto neben mir am Straßenrand hielt. „Sollen wir dich das letzte Stück mitnehmen, mein Reibeküchlein?“, fragte Avery mich. Neben ihr auf dem Fahrersitz saß niemand anderes als der unheimliche Blackburn, der sogar im Auto einen Zylinder trug. Es waren nur noch gute fünfzig Meter bis nach Hause, aber ich nahm das Angebot trotzdem an. Hier im Wagen fühlte ich mich sicher. Ich sah aus dem Fenster um zu prüfen, was mein Verfolger jetzt machte, doch er war spurlos verschwunden. War das der Angreifer gewesen, vor dem Jason mich gewarnt hatte? 61 Hatten ausgerechnet Avery und der unheimliche Blackburn mich gerade davor gerettet, von einem unbekannten Bösewicht entführt und möglicherweise auch umgebracht zu werden? Wenn das nicht mal eine Ironie des Schicksals war. Wieder wanderte ich in meinem Traum durch die öde Steinwüste und wieder war es so kalt wie in einem Gefrierschrank. Nach einer kleinen Suche fand ich den Torbogen. Er sah noch genauso aus wie vorige Nacht und dieselbe geheimnisvolle Macht ging von ihm aus. Ich wollte auf ihn zugehen und nachsehen, ob ich diesmal durch ihn hindurch gehen konnte. Möglicherweise gab es eine bestimmte Technik, um nicht aus dem Schlaf gerissen zu werden. Als ich schon fast unter ihm stand, hatte ich plötzlich das Gefühl etwas Großes, Weiches würde sich auf mein Gesicht legen. Anfangs fühlte es sich angenehm an, aber dann bemerkte ich, dass ich nicht mehr atmen konnte. Das weiche Etwas verschlang meine kostbare, dringend benötigte Atemluft. Ich schrie gegen meine Verzweiflung an, bis ich schließlich davon aufwachte. Leider brachte das keine Besserung für mich, denn die Dunkelheit meines Zimmers erstickte mich weiterhin. Nach einigen Momenten der Panik begriff ich, dass es nicht die Finsternis war, die sich auf mein Gesicht presste, sondern ein Kissen, das mir jemand mit aller Kraft aufdrückte. Kreischend strampelte ich mich in die Freiheit, wobei ich meinen Angreifer von mir wegschleuderte. Ich schnappte nach Luft. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Adrenalin durchströmte meine Adern. Ganz tief in meinem Inneren, am Grunde meiner Seele, regte sich etwas. Eine uralte Macht, die lange in mir geschlummert hatte. Statt ängstlich wegzulaufen, sprang ich auf meinen Feind zu und versuchte ihn zu erwischen. Wegen des fehlenden Lichtes konnte ich ihn nur schemenhaft erkennen. Ein Knurren, wie das einer wilden Bestie, 62 drang aus meiner Kehle, als ich die Verfolgung meines fliehenden Gegners aufnahm. Bevor er im Erdgeschoss angekommen war, kriegte ich ihn noch zu fassen. Aus einem Reflex heraus, wahrscheinlich wegen der vielen Aufregung, schoss etwas Magie aus meiner Hand in seine Schulter. Es sah aus wie Feuer, allerdings war ich mir nicht ganz sicher. Er schrie jedenfalls auf vor Schmerz und beim Klang seiner Stimme glaubte ich ihn zu kennen. Aber woher? Wer würde versuchen, mich mit meinem eigenen Kopfkissen zu ersticken? Durch mein Nachdenken war ich abgelenkt worden. Genau wie Jason es mir prophezeit hatte. Der Typ befreite sich aus meiner Umklammerung und verschwand blitzschnell in den Schatten. Er hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Statt mir darüber den Kopf zu zerbrechen, hielt ich mir eine Hand an das Gesicht. Meine Nase blutete, wahrscheinlich, da ich schon wieder ohne ein anständiges Ritual gezaubert hatte. Die Magie war stark gewesen, das hatte ich gespürt, und sie hatte mich als ihren weltlichen Anker benutzt. Es tat nicht sehr weh, aber wirklich großartig fühlte es sich nun auch nicht an. Das Licht ging an und Mum stand vor der Tür, die zu ihrem und Dads gemeinsamen Schlafzimmer führte. Als sie mich erkannte, wandelte sich die Verwirrung in ihrem Gesicht in blankes Entsetzen, und ich ahnte schon warum. Meine Haare hatten die Verfolgungsjagd mit Sicherheit nicht gut überstanden und ich hielt mir momentan mit beiden Händen meine blutende Nase fest. „Aria, was ist hier los?“, wollte sie wissen. Ihr Ton war um einiges härter als üblich. Im Bruchteil einer Sekunde entschied ich mich die Wahrheit zu sagen. Ich versuchte ihr zu erklären, wie ich dadurch aufgewacht war, dass man mich fast erstickt hätte und wie ich mit den Typen gerungen 63 und trotzdem verloren hatte. Zu sprechen war mit dem Nasenbluten schwieriger als man denken mochte. Nur, dass die Stimme des Angreifers mir bekannt vorgekommen war, verschwieg ich. Was das anging, war ich mir nicht sicher genug und ohne sie jemandem zuordnen zu können, war diese Information ohnehin nutzlos. Mum reagierte, wie ich es erwartet hatte. Sie wollte unbedingt alle im Haus aufwecken und danach mit der Londoner Berserkerzentrale telefonieren, damit die sich auf die Suche nach dem Täter machten. Glücklicherweise konnte ich sie soweit beschwichtigen, dass sie mit all dem bis nach dem Frühstück warten würde. Trotzdem verlangte sie mich auf mein Zimmer zu begleiten, um dort zu warten, bis ich eingeschlafen war. „Ich bin bei dir. Alles wird gut“, meinte sie. Letzteres sagte sie mehr zu sich selbst, als zu mir. Obwohl man versucht hatte mich zu töten, war ich von einer seltsamen Ruhe erfüllt. Ich verspürte weder Angst, noch war ich geschockt von den Ereignissen. Eine seltsame Atmosphäre umhüllte mich von allen Seiten, als säße ich mitten in einer Seifenblase, die mich unempfänglich für die Außenwelt machte. Es war nicht Mum, die mich tröstete, sondern ich war es, die ihr Beistand leistete. Im Gegensatz zu mir zitterte sie am ganzen Körper; die Angst um mich stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Wäre sie eine Hexe, wäre draußen angesichts ihres Gefühlszustandes ein Sturm ausgebrochen. „Es ist vorbei, Mum“, flüsterte ich ihr leise zu, damit sie sich wieder einkriegte. Das schien sie wachzurütteln. Sie setzte sich aufrecht auf die Kante meines Bettes und drückte meine Hand. „Nein, Aria“, sagte sie mit düsterer Miene. „Das hier ist erst der Anfang.“ 64 Glühende Finsternis KAPITEL III Die Mörderin & die Verkündung des neuen, halluzinierenden Delfins Mum hielt ihr Versprechen. Beim Frühstück diskutierte sie mit Dad über einen neuen Fall in ihrer Kanzlei. Wie ich es verstanden hatte, ging es um einen Dämonenvorfall in einer U-Bahn in Islington, bei dem zwei Menschen tödlich verletzt worden waren. Mum war der Ansicht der Vorfall sei die Schuld der Berserker, die den Dämon erst zu spät bemerkt hatten, während Dad meinte der Dämon wäre gar nicht erst auf den Radaren der Zentrale erschienen. Das machte mir Bedenken. Wenn die Dämonen nicht mehr auffindbar waren, wie sollten die Berserker uns dann vor ihnen beschützen? Ich lebte in einer Welt, in der die Höllenbrut die Todesursache Nummer Eins war. Falls die Dämonen einen Weg gefunden hatten, die Berserker zu umgehen, dann hatten wir ein verdammt großes Problem. Oder auch nicht. Vielleicht ging die Welt auch sofort unter. Dann mussten wir uns wenigstens nicht um eine Problemlösung kümmern. Bei diesem Gedanken zuckte ich nur leicht mit den Schultern und biss ein weiteres Stück Toast ab. Es war schließlich nicht meine Aufgabe die Welt zu retten. Alles, was man von mir verlangte, war eines Tages eine liebe, brave Wicca-Hexe zu werden, die nichts weiter tat als lauter nervigen Hexenkindern Toast zum Frühstück zu servieren. Das klang doch wesentlicher anspruchsvoller, als irgendwelche Dämonen davon abzuhalten, die ganze Erdzivilisation aufzufressen. 65 Außer Mum hatte niemand etwas von den Ereignissen der letzten Nacht mitbekommen. Stephen verkündete zwar, dass meine Anwesenheit im Haus ihn immer wieder hatte aufwachen lassen (angeblich hatte er ständig kalte Schwingungen gespürt, die von meiner abgrundtiefen Bösartigkeit zeugten) und Avery erzählte uns von ihrem Traum (der von dem Einkauf neuer Schuhe gehandelt hatte), aber über weitere seltsame Vorkommnisse unterhielt sich niemand. Dabei war ich mir sicher gewesen, dass selbst unsere Nachbarn drei Häuser weiter alles von meiner Auseinandersetzung mit den Kissentypen gehört hatten. Ganz friedlich verlief der Morgen deswegen trotzdem nicht. Im Kellergeschoss des Hauses gab es nur ein Badezimmer, das ich mir mit Ash teilen musste. Ich bürstete gerade meine Haare, als er seine Zahnbürste weglegte, sich zu mir rüber beugte und mir in mein Ohr hauchte: „An deiner Stelle würde ich die Mentoren von jetzt an in Frieden lassen.“ Ich sah ihn böse an. „An deiner Stelle würde ich aufhören andere zu terrorisieren, die schwächer sind als du selbst. Das ist falsch und unehrenhaft.“ Er lachte abfällig. „Ich hab ja ganz vergessen, dass ich mit der Ehrenhaftigkeit in Person rede. Unschuldige umzubringen ist sicherlich total akzeptabel.“ So verschwand sie, meine gute Laune, und sie kehrte erst wieder im Zaubereiunterricht zurück. Unsere Lehrerin, eine ältere Dame mit dem Namen Misses Frostchild, nahm mich freundlich in ihrem Kurs auf, obwohl sie als Hexe eigentlich von der Sache mit Clary wissen müsste. Ich hatte das Gefühl, dass sie ein wenig verrückt war, aber solange sie nicht das Maß an Verrücktheit hatte, das Grandma Annie und ihre Freundinnen besaßen, war das für mich okay. Sie übte mit uns Schutzkreise zu ziehen, mit denen man mehrere Personen vor Dämonen schützen konnte. Die eigenen Kinder, die wir später haben sollten 66 (oder eher haben mussten, um keinen gesellschaftlichen Tod zu erleiden) waren wohl die Schützlinge, die wir lernten abzusichern. Ich hasste es, wenn man versuchte uns Mädchen einzutrichtern, dass unser Leben nur aus den drei Ks bestehen durfte (wie Mum sie immer nannte): Kirche, Kinder, Kochen. Das war kein Schicksal, mit dem ich klar kommen konnte. Meine Mum ging schließlich auch arbeiten und ich fand nicht, dass meine Brüder und ich großartige Schäden davon getragen hätten, von Annie und Hugo großgezogen worden zu sein. Bis auf Stephen, dem schien das gar nicht gut getan zu haben. Schutzkreise zu errichten war im Grunde ganz einfach und mit Sicherheit auch dann nützlich, wenn man keine eigene Familie hatte. Man zeichnete einen fünfzackigen Stern, ein Pentagramm, in den Boden und machte einen Kreis darum. Effektiver bei beispielsweise Fliesenboden war es allerdings den Kreis mit Salz oder ähnlichem zu streuen. Die Hexe musste sich in die Mitte des Pentagramms stellen und die Beschwörung aufsagen, die einfacher war als gedacht. Mir fiel die Sache mit dem Schutzkreis ziehen leicht, weswegen Misses Frostchild mich dazu aufforderte das Ritual vor der ganzen Klasse zu demonstrieren. Gehorsam nahm ich meinen Platz im Pentagramm ein, das Momentan gerade mal eineinhalb Meter breit war. Auf ein Zeichen von Misses Frostchild hin, hob ich meine Stimme und sagte: „Lege vindice: in hoc salus. Ego sum in salvo.“ Das war Latein und bedeutete so viel wie ‚Unter dem Schutz des Gesetzes: In diesem ist das Heil. Ich bin in Sicherheit‘. Zauberformeln klangen meistens nur im Lateinischen eindrucksvoll. Das Salz fing an zu schweben, genau in der Form, in der es zuvor zu meinen Füßen gelegen hatte. Ich grinste zufrieden, denn es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, bis ich den einfachen Schutzzauber für nur eine Person geschafft hatte. Es mochte nach nur ein bisschen fliegendem Salz aussehen, doch es war in Wahrheit um einiges an- 67 spruchsvoller. Den Schutzkreis zu ziehen war nichts gegen die Anstrengung, die das praktizieren von Magie für das Ritual verlangte. Ich wiederholte den ersten Teil der Beschwörung, änderte aber den Schluss in: „Nos sumus in salvo“ (‚Wir sind in Sicherheit‘). Dadurch fand der eigentliche Schutzprozess statt. Das Pentagramm mit dem wenigen Salz, von dem nur noch ein winziger Bruchteil auf dem Boden lag, dehnte sich aus, bis es jeden im Raum mit einbezog. Das Salz aus den Pentagrammen meiner Mitschüler fügte sich wie von selbst in mein Ritual ein. Es sah aus als ständen wir alle im ruhigen Auge eines Schneesturms, die Linien aus Salz ragten nun wie Wände bis zur Decke. Magie durchströmte meine Adern, was sich für mich wie pure Glücksseligkeit anfühlte. Ich war erfüllt von Vertrauen in mich selbst und in meine Fähigkeiten. Ich war unbesiegbar. Misses Frostchild applaudierte begeistert und die anderen sechs Schüler stimmten widerwillig in den Beifall ein. Bis auf Carter starrte mich jeder von ihnen mit einer Mischung aus Abneigung und Neid an. Einer von ihnen, ein großer Junge mit kurzen, dunklen Haaren sagte leise und voller Boshaftigkeit: „Wetten dieses Grey-Mädchen hat nur deshalb so starke Kräfte, weil sie es heimlich mit einem Dämon treibt? Das wäre doch typisch für so eine Sidhe.“ Carter schnappte entsetzt nach Luft. „Tyler, spinnst du?“ Meine Konzentration ging ins Wanken. Misses Frostchild sah auf ihre Armbanduhr, anscheinend hatte sie Tylers Kommentar nicht gehört. „Halte den Kreis noch eine Minute, Aria. Du solltest solange durchhalten können.“ Der Typ namens Tyler kicherte gehässig. „Ich wette ihr Höllenlover verlangt mehr Durchhaltevermögen von ihr.“ Knall! Ich hatte keine Ahnung was passiert ist. Alles was ich wusste war, dass Tyler plötzlich auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen wand. 68 Seine Haut war rot und schwielig, und seine Kleider sahen irgendwie verbrannt aus. Ein paar, darunter auch Carter, hatten vor Angst geschrien, als mit einem Mal das ganze Ritual zusammengebrochen war. Misses Frostchild ging sofort in die Knie um Tyler zu helfen, während Carter sich mit bleichem Gesicht zu mir umdrehte. „Wie hast du das gemacht?“, fragte sie, so leise, dass nur ich sie hören konnte. Ich schüttelte ahnungslos den Kopf. In meinem Schädel hämmerte es und mein Blickfeld verschwamm immer wieder. Carter packte mich am Arm und zog mich aus dem Raum, ohne auf die anderen zu achten. Sie schleifte mich aufs Mädchenklo, wo sie mich losließ und die Arme vor der Brust verschränkte. Hilfesuchend stützte ich mich am Waschbecken ab, wobei ich ihr den Rücken zuwandte. Nach einem Augenblick der Stille meinte sie: „Da war Feuer, Aria. Feuer. Und du hast es erzeugt.“ Ich krallte mich fester an den Beckenrand. „Unmöglich“, presste ich hervor. „Hexen können kein Feuer herzaubern. Niemand kann das.“ „Das weiß ich“, erwiderte sie ruhig. „Deswegen will ich ja wissen, wie du das geschafft hast.“ Ich hob den Kopf und sah in den Spiegel. Carter mochte bleich sein von dem Schreck, aber mein Gesicht war kreideweiß. Mein Spiegelbild war eine Fremde. Sie hatte tiefliegende, dunkle Augen, die kalt und tot aussahen. Dieser Anblick jagte mir Schauer über den Rücken. Das da war nicht ich, sondern jemand anderes. „Ich weiß nicht…“, setzte ich an, brach dann aber ab. Was sollte ich sagen? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung was mit Tyler passiert war. Carter legte mir von hinten einen Arm um die Schulter. „Vermutlich hattest du bloß einen Adrenalinstoß. Mach dir keine Sorgen. Ich bin mir sicher es gibt dafür eine ganz logische Erklärung.“ 69 Sie versuchte sich ihre eigenen Worte glaubhaft zu machen. Ich wusste, dass sie in Wahrheit genauso viel Angst hatte wie alle anderen. Angst vor mir. Aber sie log, weil sie mir helfen wollte. Carter war die selbstloseste Person, die ich kannte. Unter gar keinen Umständen würde sie es sich anmerken lassen, dass sie ein Problem mit mir hatte. Sie würde lächeln. Lächeln auf dieselbe Weise, mit der ich Nick bedachte. Und das Schlimmste war, dass ich ihr für diese Lügen auch noch dankbar war. Ich sah auf meine Hände. Es gab sicherlich eine Erklärung dafür wie ich Tyler verletzen konnte, ohne es absichtlich zu wollen. Vielleicht hatte sich ein Teil der Magie ruckartig entladen und ihn getroffen. Das war eigentlich unmöglich, denn selbst wenn die Magie gegen alle Wahrscheinlichkeit einen Weg gefunden hätte sich nicht in dem Ritual zu verankern, hätte sie nur mich als die praktizierende Hexe erreichen können. Jetzt hatte ich jemanden verletzt, wie eine bösartige Sidhe. Das war gar kein gutes Zeichen für meinen achtzehnten Geburtstag, der schon bald sein würde. Carter klopfte mir auf die Schulter. „Na komm, Aria, das wird schon wieder.“ Ich schnaubte. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Jetzt wird das Gerede erst richtig losgehen. Alle werden mich anstarren und hinter meinem Rücken lästern.“ Das war mehr als nur wahrscheinlich. Ich wollte Stephens Gesicht gar nicht erst sehen, wenn er erfuhr, dass ich einen Mitschüler verletzt hatte. Es war ihm zuzutrauen, dass er in nächster Zeit Werbe-Flyer für den Anti-Aria-Grey- Club verteilte. Allerdings konnte sie das nicht verstehen. Sie war seit ihrem achtzehnten Geburtstag im September eine offizielle Wicca. Nachdem das Ritual vollzogen worden war, hatte sie auf der Stelle ihr Schicksal als Wicca angenommen. Ansonsten wäre sie bei dem zweiten Ritual, der ‚Himmlischen Taufe‘, gestorben. Die neu-anerkannten Sidhe erhielten 70 die ‚Höllische Taufe‘, insofern sie nicht rein zufällig verstarben. Viele Sidhe erlitten tragische Unfälle, wenn sie ihr neues Leben annahmen. Aber tat eine Hexe das nicht und verweigerte die nächste Taufe, verstarb sie am Ende ihres achtzehnten Geburtstages. Mit anderen Worten: Eine Sidhe zu sein entspricht fast dem Zustand tot zu sein. Und irgendwie war ich gerade dabei eine von den bösen Hexen zu werden. Blödes Schicksal. Carter fuhr sich durch ihre blonde Lockenmähne. „Ich muss jetzt eigentlich los. Schaffst du es alleine in die Cafeteria, ohne jemandem an die Gurgel zu springen?“ „Witzig, Car. Zum Totlachen“, entgegnete ich ironisch, aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Es ging mir besser als vorher. Sie machte einen Luftkuss in meine Richtung, stemmte eine Hand in ihre Hüfte und verschwand wie ein Topmodel auf dem Laufsteg aus der Mädchentoilette. Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Meine Gesichtsfarbe war halbwegs wieder normal und nach ein paar Handgriffen sahen auch meine Haare wie absichtlich verwuschelt aus (was ich eigentlich nicht gewollt hatte, aber egal - es gab schlimmeres). „Also Aria“, redete ich mir selbst zu. „Versuch den Rest des Tages niemandem den Kopf abzureißen.“ Das war bestimmt einfacher gesagt, als getan, bei meinen…furchtbar netten Mitschülern. Ach, vergesst das ‚nett‘; die waren nur furchtbar. In der letzten Stunde hatten wir (Carter, Chuck, Stephen, ein paar andere und ich) Mythologie, während Nick zu seinem Physikkurs musste. Das war für Nick aber gar nicht schlimm, mal abgesehen davon dass er dachte, wir hätten Zoologie, mochte er nämlich Physik. Er wollte es sogar später studieren. Das ist wirklich unheimlich, ich weiß. 71 Miss Altrova war noch ziemlich jung und die wohl coolste Lehrerin von Winterstone. Sie hatte denselben freizügigen Kleidungsstil wie Avery, trug ähnlich schwindelerregend hohe Schuhe und hatte dieselben promi-verdächtigen Locken wie die Dämonin, nur in dunkelbraun. Außerdem waren auch ihre Augen braun, nicht blau. Sie sah einfach viel mehr nach einer reichen Schauspielerin aus, als nach einer gewöhnlich-übernatürlichen Lehrerin, die Mythologie unterrichtete. „Hört alle her“, als sie sprach, verstummte die ganze Klasse. Nicht viele Lehrer brachten das fertig. „Ich habe noch ganz kurz etwas zu erledigen, weiß aber nicht wie lange das dauert. Lest euch Seite 97 im Buch durch und bearbeitet die Aufgaben. Falls ich bis zum Stundenende nicht zurück bin: Was ihr heute nicht schafft, ist Hausaufgabe.“ Ich wollte gerade mein Zeug auspacken, da sagte sie: „Aria Grey, du kommst mit mir mit.“ Sie nahm ihre schwarze Handtasche und ging zur Tür. Verwirrt steckte ich meine Bücher zurück in meinen Rucksack. Carters Blick war so irritiert wie meiner. Einer von den Typen, die mit diesem Tyler befreundet waren, der sich nach dem Zauberei-Unterricht hatte abholen lassen, rief: „Und, wer ist jetzt gestorben?“ „Vielleicht schmeißt man sie raus“, mutmaßte Stephen laut. Es soll ja Familien geben, in der alle zusammen hielten. So wie Romeo und Julia, bis in den Tod. Stephen und ich waren eher so wie die Griechen und die Trojaner; es war nur eine Frage der Zeit bis der eine den anderen mit einer tückischen List umbrachte. „Oder sie hat jemanden getötet und wird jetzt rausgeschmissen“, sagte Tylers Freund. Ausgerechnet Miss-Iphigenia-ich-weiß-und-kann-alles-besser-alsder-Rest-der-Welt schleuderte ihm entgegen: „Halt die Klappe, Logan. Allmählich ist das echt nicht mehr lustig, und das gilt auch für dich, Stephen! Lasst Aria in Frieden und kümmert euch um eure eigenen Probleme!“ 72 Miss Altrova wartete schon ganz ungeduldig, also hielt ich nicht vor Iphigenia an, um mich zu bedanken. Stattdessen nickte ich ihr dankbar zu und lächelte. Ich vermutete, sie verstand mein Lächeln falsch, denn sie runzelte die Stirn und wandte sich dann ihren Aufgaben zu. Dann halt nicht, du eingebildetes Miststück, dachte ich. Miss Altrova führte mich zu Direktor Harpers Büro. Kurz bevor wir dort ankamen, bemerkte sie beiläufig: „Du erinnerst mich an eine frühere Bekannte. Auch sie hat sich nicht auf ihrem Weg beirren lassen. Regeln waren für sie bloß Herausforderungen, die sie bewältigen wollte. Aber..“ Sie verstummte. „Aber was?“, hakte ich nach. „Was ist mit ihr passiert?“ „Sie ist gestorben.“ Miss Altrova klang unglaublich traurig. „Ihr Hang gegen alles und jeden zu protestieren, der ihr etwas vorschreiben wollte, und ihre Neugierde was Gefahren angeht, hat ihr das Leben gekostet.“ Ich wusste nicht, ob es angebracht war, aber ich tätschelte meiner Lehrerin den Arm. „Das tut mir leid.“ Miss Altrova schüttelte den Kopf. „Das muss es nicht. Pass einfach nur auf dich auf. Es gibt weitaus schrecklicheres da draußen als bösartige Mitschüler.“ „Meinen sie Dämonen?“, fragte ich. Ihre Mundwinkel zuckten. „Nicht nur. Natürlich sind Dämonen gefährlich. Mein Vater war ein mächtiger Wicca-Hexenmeister und er wurde von ihnen getötet, also weiß ich das. Aber es gibt Dinge, die weitaus gefährlicher sind. Und ich fürchte, du wirst ihnen gleich begegnen.“ Das klang gar nicht gut. Was konnte schlimmer sein, als eine Ausgeburt der Hölle? Außer zwei Ausgeburten, natürlich. Die waren dann doppelt so schlimm wie eine von ihnen, logischerweise. Wir standen vor Direktor Harpers Tür. Ich klopfte und jemand machte von Innen auf. Es war der unheimliche Blackburn, der Avery 73 und mich gestern nach Hause gebracht hatte, und er trug einen Zylinder. „Schön Sie wiederzusehen, Miss Grey“, begrüßte er mich und machte eine lächerliche Verbeugung. Er schaute Miss Altrova an. „Das wäre dann alles, Alena. Sie können zurück in ihren Unterricht.“ Miss Altrova sah aus als wollte sie ihm widersprechen, und ich hoffte sogar sie würde versuchen bei mir zu bleiben (schließlich hatte sie gesagt ich würde schlimmeres als Dämonen treffen), doch sie tat nichts. Sie machte einfach auf dem Absatz kehrt und ging davon. Der unheimliche Blackburn schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln. „Komm doch rein“, sagte er zuckersüß. Das Büro war voller Leute. Neben Direktor Harper, der auf seinem gewohnten Platz hinter dem riesigen Schreibtisch saß, stand eine ältere Dame in einem mittelalterlichen Kleid mit eleganten Gesichtszügen und einer tadellosen Haltung. Daneben stützte sich Misses Frostchild auf einen Stock. Sie sah gebrechlich und um hundert Jahre gealtert aus, seit ich sie zum letzten Mal (heute Morgen) gesehen hatte. Mum und Dad befanden sich auf der anderen Seite des Direktors. Sie waren in ein Gespräch mit Ash vertieft. Am Kamin zu meiner linken lehnte Jason, der das Geschehen von seiner Position aus genau beobachtete. Der letzte Gast im Raum, mit dem ich am wenigsten gerechnet hatte, war Avery. Sie saß auf dem kleinen Sofa vor dem Kamin und es sah danach aus, dass sie alleine eine Flasche Rotwein leerte. Ich konnte mir nur einen Grund vorstellen, warum sie alle hier waren: Stephen hatte damit Recht gehabt und Direktor Harper würde mich wegen der Sache mit Tyler der Schule verweisen. Direktor Harper ergriff das Wort. „Nun, ich denke wir können jetzt anfangen. Der Rest scheint es nicht rechtzeitig zu schaffen.“ Was für ein Rest? Es saßen doch fast alle hier, die ich kannte. 74 In diesem Moment ging die Tür erneut auf und noch mehr Leute betraten den Raum. Es waren allesamt Fremde in teuer aussehenden Kleidern und mit grimmigen Mienen. „Was hat das zu bedeuten?“, polterte einer von ihnen, ein korpulenter Mann mit gegelter Frisur und einem feinen schwarzen Bart. Ein leicht schottischer Akzent färbte seine dröhnende Stimme. „Wieso rufen sie mich ausgerechnet an diese… Schule?“ Er sprach das Wort ‚Schule‘ wie ein Schimpfwort aus. Ich, als Schülerin, konnte seine Abneigung gegenüber dem Lernen und den strengen Regeln natürlich nachvollziehen, doch die meisten Erwachsenen, vor allem Direktor Harper, runzelten bei seinem Tonfall die Stirn. Die eindrucksvolle Frau in dem schwarzen Mittelalterkleid neben dem Direktor, richtete sich noch ein wenig mehr auf, dabei sah sie ohnehin schon so aus als hätte sie einen Stock verschluckt. „Es ist etwas geschehen, was sich nicht aufschieben lässt. Wir mussten auf der Stelle handeln, denn ansonsten wären die Folgen vermutlich katastrophal.“ Der Mann schien mehr von ihrer Antwort verstanden zu haben als ich. Er gewann langsam an Fassung zurück und stellte sich neben den unheimlichen Blackburn, der wiederum mir nicht von der Seite gewichen war. Die Frau wandte sich jetzt an uns alle. „Willkommen allerseits.“ Ihr Lächeln war breit, doch kein bisschen freundlich. Unwillkürlich bekam ich es bei ihr mit der Angst zu tun. „Sicherlich fragt ihr euch, was denn so dringend sei, dass ich euch so plötzlich und ohne ersichtlichen Grund habe herkommen lassen“, fuhr sie fort. Vielleicht war sie ja mit Tyler verwandt und verlangte jetzt, dass man mich auf dem Scheiterhaufen verbrannte oder in der Themse ertränkte. „Aber bevor ich anfange dieses Treffen in all seinen Einzelheiten zu erläutern, sollten wir eine kleine Vorstellungsrunde geben. Mister Harper, wären sie so gut dies für mich zu übernehmen?“ 75 „Selbstverständlich.“ Der Schulleiter erhob sich und richtete seine Krawatte, obwohl sie bereits richtig saß. „Nun, die meisten von Ihnen kennen einander ja schon, also stelle ich ihnen zuerst die unbekannteste Person im Raum vor“ – er deutete auf mich –„Aria Grey, die Tochter von den anwesenden Berserkern Daniel und Janice Grey, die ihnen wohl ebenfalls nicht geläufig sein dürften.“ „Adoptivtochter“, merkte Ash an. Der dicke Mann mit dem Bart schnaubte abfällig. „Adoptiert? Sie ist also ein gewöhnlicher Mensch? Das ist doch nichts Besonderes und kein Grund mich hierher zu zitieren.“ Ich wollte mich verteidigen, aber der unheimliche Blackburn zischte leise: „Sag nichts, solange du nicht gefragt wirst.“ Jason warf mir zusätzlich noch einen warnenden Blick zu, als wüsste er, dass ich nicht unbedingt auf den unheimlichen Blackburn hören würde. Er wandte sich an den unhöflichen Fremden. „Ich bitte sie, Lord Wolfram, Ariana Grey ist keine normale Sterbliche, sondern eine der Unsrigen. Außerdem gab es heute in Ellens Zaubereiunterricht eine Art Unfall, der auch sie und ihre Leute maßgeblich betrifft.“ Ellen musste Misses Frostchilds Vornamen sein, doch das war nicht der Teil von Jasons Rede, der mich beschäftigte. Dieser fette Typ sollte ein Lord sein? Und mit dem Namen ‚Wolfram‘ musste er auch noch ein Mitglied der Adelsfamilie Wolfram sein, die als Regenten die Übernatürlichen in Schottland regierten. Ich hatte mir die großen und mächtigen Wolfram-Wicca immer äußerst stark und furchteinflößend mit Millionen von Muskeln und einem Bodybuilder-Körper vorgestellt. Typisch schottisch halt. Möglicherweise war er ja auch nur adoptiert, überlegte ich. „Und was genau ist nun passiert?“, wollte ein hünenhafter Typ mit Millitärfrisur wissen. „Warum sind wir hier?“ 76 „Mister, Misses und Miss Grey, dies ist Riccardo di Valpecca, ein Berserker, der heute als Botschafter dienen wird“, teilte Direktor Harper meinen Eltern und mir mit. Wofür brauchte man einen Botschafter, wenn es doch um einen harmlosen Schulunfall ging? „Der Herr in der Kutte ist Hüter Bartholomir, der Prior der Hüter von England, Schottland, Irland und Wales“, sagte der Schulleiter und zeigte auf einen Typen, dessen bleiches Gesicht fast vollständig von einer grauen Kapuze verdeckt wurde. Wir hatten in Mythologie gelernt, dass Hüter Berserker waren, die ihren Dämonen-Tötungstrieb dazu verwendeten, geistige Fähigkeiten wie Telekinese zu erlernen. Sie lebten in klosterartigen Tempeln, wo sie den ganzen Tag damit verbrachten die Höllenbrut mit ihren Gedanken verpuffen zu lassen. Wie die menschlichen Mönche waren alle Hüter männlich und vermieden näheren Kontakt zu Frauen. Sie legten ein Gelübde ab, das ihnen das Verlangen nach Frauen nahm, sodass sie sich einzig und allein auf ihre Arbeit konzentrieren konnten. Ein Prior musste irgendein Amt bei den Hütern sein. Eine Zeit lang hatte ich geglaubt, Stephen würde ein Hüter werden, aber dann war er mit Clary zusammengekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher gewesen, ob mein Bruder überhaupt wusste, dass es Mädchen gab. Bei Henry war es von Anfang an abwegig geblieben, dass er das Gelübde ablegen würde. Laut Mum brachte er ständig irgendwen mit in seine Wohnung, wenn er mit seinen Freunden auf Partys gewesen war. „Heben wir uns das Beste für den Schluss auf, Simon?“, fragte die letzte der Nachzügler, eine schlanke junge Frau mit feuerroten Haaren. Aus einem Gefühl heraus wusste ich, dass sie eine Hexe war. Da blitzte etwas in ihren Augen, das mir sagte, sie wäre genau wie ich. Ihre Haltung glich der der Frau neben Misses Frostchild und sie hatte dieselbe kühle, ausdruckslose Miene. 77 „Lord Blackburn ist auch noch nicht vorgestellt worden“, erinnerte Ash die Frau. Zu meinen Eltern und mir sagte er: „Das ist Countess Isabelle Renouard, eine entfernte Verwandte der französischen, übernatürlichen Königsfamilie Renouard und die baldige Anführerin des Londoner Hexenclans, der momentan noch von der ehrenwerten Marquess Ellen Frostchild geleitet wird.“ Misses Frostchild winkte ab. „Lass gut sein, Ashallyn. Isabelle kümmert sich jetzt schon um alles und die Zeit geht schnell rum. Zu Beginn des neuen Jahres ist sie die neue Anführerin.“ Wir hatten erst den 25. November, bis zum Jahresende dauerte es noch ein wenig, aber wenn man so alt war wie Misses Frostchild, dann waren die verbleibenden sechsunddreißig Tage wohl kaum nennenswert. Ganz im Gegensatz zu ihrem Adelstitel. Ash hatte sie als Marquess bezeichnet, was hieß, dass Misses Frostchild eine wirklich ranghohe Hexe war. In der übernatürlichen Gesellschaft gab es noch immer eine Monarchie, die sich auch nicht so schnell absetzen würde. Berserker gehörten allerdings niemals zu den Adeligen, da sie keine Magie praktizieren konnten und deswegen als unwürdig galten. Die meisten Hexen interessierten sich auch nicht dafür, sondern kümmerten sich jeweils nur um ihren eigenen Clan. Soweit ich es wusste, gab es außerhalb der königlichen Familie nur noch vier Gruppierungen von Adelsmitgliedern, die einen hochadligen Titel hatten: Die Marquis’, die Earls, die Viscounts und die Baronen. Der Titel Marquess war das weibliche Gegenstück zu einem Marquis, den mächtigsten Adligen dieser vier Gruppen. Eine Countess entsprach einem Earl, also war auch Isabelle Renouard eine hohe Adlige. Im Weiteren waren Viscountess die weiblichen Viscounts und die Baroness die Frau eines Barons. Da meine Familie im Grunde nur aus Berserkern bestand, die ihre eigene komplizierte Regierungsform hatten und nur zwangsweise der Hexen-Monarchie unterstanden, war keiner in meiner Familie adelig. 78 Bei Carter war das schon anders. Ihr Großonkel Zacharias war ein Baron, doch Carters Familie hatte sich schon vor langer Zeit mit ihm zerstritten. Es hatte irgendetwas damit zu tun, dass Carters Mutter Rebecca einen unbedeutenden, kleinbürgerlichen Wicca-Hexer mit dem Namen Dylan Finnley geheiratet hatte. Ich stemmte eine Hand in die Hüfte, genau wie Carter es immer machte. „Was soll das alles? Von mir aus geh ich gleich nach der Schule zu Tyler nach Hause und entschuldige mich bei ihm.“ Alle Anwesenden sahen erwartungsvoll die Fremde neben Direktor Harper an, die das Vorgehen sorgsam beobachtete hatte. Sie stand da wie eine Statue, das Gesicht wie aus Stein gemeißelt. In meinem Kopf bildete sich ein Gedanke. Gerade Haltung, korrekte Sprache, mittelalterliche Kleidung wie die einer Königin… nein, das war viel zu abwegig. Ich schüttelte den Kopf. Was sollte die Königin des übernatürlichen Englands denn bitte mit mir zu schaffen haben? Ihr konnte es doch egal sein, ob ich Tyler verletzt hatte oder nicht. Oder sie war wegen Clary hier, was noch unwahrscheinlicher war. Der Unfall war vor zwei Jahren gewesen, daher ergab es keinen Sinn, wenn man mich erst jetzt bestrafen würde. Es sei denn, sie wollen dich hinrichten, flüsterte eine hinterhältige Stimme in meinen Gedanken. Dafür müsstest du volljährig sein und das bist du in nicht mal fünf Wochen. Ganz so Unrecht hatte die Stimme nicht. Für eine Hinrichtung müsste der Angeklagte achtzehn sein, und das war ich ab dem 21. Dezember. Ich könnte da noch so viel protestieren wie ich wollte. Dass der Unfall schon etwas weiter zurücklag, würde den Richter nicht interessieren. Mord verjährte schließlich nicht, hatte meine Mutter mir beigebracht. Ich konnte aber schlecht gegen alle kämpfen und mir einen Fluchtweg freischlagen. Magie war nicht zum Angreifen da und meine körperlichen Kampfkünste würden gegen die Berserker nicht ankommen. 79 Spätestens Jason würde mich aufhalten, wenn ich jetzt versuchen würde wegzulaufen. Dazu kam, dass ich nirgendwo hinkonnte. Mir fielen nur Grandma Annies und Carters Haus ein, in dem ich unterkommen könnte, aber da würde man mich finden. Ich musste mich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden, dass meine Tage gezählt waren. „Verzeihung“, sagte Direktor Harper plötzlich. „Ich vergaß ganz die wichtigste Person im Raum zu nennen: ihre hochwohlgeborene Majestät Lucinda Adeline Elizabeth Theodora Casterville, Königin der Übernatürlichen in England, Wales, Schottland, Irland, den Kolonien in Asien, Afrika, Australien und Amerika, und Oberhaupt des Casterville- Clans.“ Ich hatte also tatsächlich Recht gehabt. Diese Frau war Königin Lucinda. Das bedeutete, ich steckte in sehr, sehr großen Schwierigkeiten. Isabelle ergriff das Wort. „Was ist mit Ashallyn Tullaryn und Jason Thales, dem…“ „Wir kennen uns bereits“, unterbrach Jason sie. „Ich denke wir sind fertig mit der Vorstellungsrunde und können zum Hauptteil übergehen.“ Seine Reaktion war hastig gewesen, so als hätte er gewollt, dass ich nicht noch mehr über ihn von Isabelle erfahren konnte. Das machte mich nachdenklich. Er war ein Halbgott, lebte aber nicht wie die restlichen Halbgötter auf Attica, der geheimen Insel im Mittelmeer, auf der sich die Halbgötter üblicherweise befanden. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung welches seiner Elternteile ein Unsterblicher war, obwohl das doch das Wichtigste am Halbgott-Sein sein musste. „Aria Grey wird meine Nachfolgerin auf dem Thron“, verkündete Lucinda. Es wurde totenstill. Die anderen sahen abwechselnd von der Königin zu mir und wieder zurück, während ich fast umgekippt wäre. Vor 80 Erleichterung (weil ich doch nicht hingerichtet wurde) und vor Verwirrung. „Wie bitte?!“, beschwerte sich Lord Wolfram. „Wieso denn das? Seit wann dürfen gewöhnliche Hexen einfach so Königin werden? Die schottischen Übernatürlichen werden sie unter gar keinen Umständen akzeptieren!“ „Sie besitzt als einzige die Voraussetzungen dafür“, antwortete Lucinda ruhig. „Da sie eine Casterville ist.“ Isabelle Renouard schnappte deutlich hörbar nach Luft. „Aber von wem? Wer sind ihre Eltern? Ich meine“, sie sah kurz zu Mum und Dad hinüber, die sich aneinander festhielten als hinge ihr Leben davon ab, „Wer sind ihre leiblichen Eltern?“ In mir war alles erstarrt. Ich wollte antworten, dass ich unmöglich eine Casterville sein konnte. Meine Mutter hatte mich damals anonym zur Adoption freigegeben, ohne den Namen meines Vaters zu verraten. Ich war immer davon ausgegangen, dass sie eine von den Hexen war, die unten am Hafen als Prostituierte oder Straßenhändlerin arbeiteten, wo sie Touristen nutzlose Tarot-Karten legte und ihnen mit falschen Kristallkugeln die Zukunft vorhersagte. Daran war nichts Besonderes, nichts Königliches, wie die Castervilles es waren. Sie regierten die britischen Hexen schon seit rund 1500 Jahren, seit dem Untergang des Römischen Reiches. Vorher hatten die römischen Halbgötter über uns geherrscht, doch mit dem Ende der Antike war uns Eigenverantwortung zugesprochen worden. „Das weiß keiner“, meinte Mum mit zittriger Stimme. „Ihre Eltern sind anonym bei der Adoption vorgegangen.“ „Woher weiß man dann, dass sie eine Casterville ist?“, fragte Riccardo di Dings da. Misses Frostchild räusperte sich. „Sie hat heute in meinem Unterricht einen Schüler verletzt, indem sie ihn mit Feuer verbrannt hat.“ 81 Anscheinend war ich die Einzige, die dabei den Zusammenhang mit meiner Herkunft nicht verstanden hatte. Alle anderen sahen so aus, als wäre ihnen ein Licht aufgegangen und nickten, wenn auch in Lord Wolframs und Isabelles Fall, eher widerwillig. Der unheimliche Blackburn, der meine Unwissenheit bemerkt hatte, beugte sich vor und flüsterte mir zu: „Die Castervilles sind wie alle übernatürlichen Königsfamilien, die einzigen Hexen, die Feuer erschaffen können. Sie sind von Gott dem Allmächtigen dazu auserwählt worden, die übrigen Übernatürlichen zu führen. Ihre außergewöhnliche Gabe kennzeichnet sie als die unumstrittenen Herrscher, die seit jeher auf dem Thron sitzen.“ So unsinnig es auch klingen mochte, die übernatürliche Gesellschaft im Allgemeinen war streng katholisch. Dass sie, wie die Menschen im Mittelalter, glaubten, ihre Könige wären von Gott dazu ausersehen zu regieren, war nur eine der vielen Eigenartigkeiten, die es aufgrund dieser Religionsausübung gab. Da ich es nicht so mit der Kirche und hatte (die meisten Priester, Bischöfe und so weiter waren einfach nur ein Haufen alter, frauenhassender Idioten), bezweifelte ich es ein wenig, dass man von Geburt aus dazu bestimmt sein konnte über andere zu herrschen. Aber ich war kein Feind der Monarchie. Bisher hatte ich wie die meisten jugendlichen Übernatürlichen überhaupt nicht realisiert, dass wir eine richtige Königin hatten, die uns leitete und unser ganzes Leben beeinflusste. Für mich waren es immer die beiden Berserker-Meister aus der Londoner Zentrale gewesen, die über uns bestimmten. Das lag möglicherweise daran, dass der Rest meiner Familie nun mal Berserker und keine Hexen waren. Sie waren eine eigene Gemeinschaft, die nur im Sinne der Wicca handelte und für Sicherheit vor den Dämonen sorgte. „Ich habe beschlossen, da ich keine anderen lebenden Erben mehr habe, Aria aufgrund ihrer Fähigkeiten als Casterville und als Dauphine zu legitimieren“, sagte Lucinda. 82 Warum sollte ich ein Delfin werden? „Dauphine ist das französische Wort für Kronprinzessin“, flüsterte der unheimliche Blackburn. „Außerdem“, fuhr die Königin fort, „werde ich sie zu mir nach Casterville-Castle nehmen, wo ich ihr die richtig Erziehung zukommen lasse. Sie muss schließlich eines Tages ein ganzes Volk regieren, das sich weltweit verteilt hat. Einen Heiratskandidaten habe ich auch schon gefunden.“ Mich wegbringen? Heiratskandidat? Lucinda hatte sie wohl nicht mehr alle! Ich würde nie im Leben…, aber bevor ich diesen Gedanken zu Ende fassen konnte, mischte Mum sich ein. „Sie bleibt hier“, widersprach sie Lucinda, mit klarer, fester Stimme. „Sie ist unsere Tochter, deswegen haben wir das zu entscheiden. Wir lassen uns unser Kind nicht einfach wegnehmen.“ Lucinda sah aus, als hätte Mum ihr eine Backpfeife gegeben. Nach einem Moment der Überraschung meinte sie kalt. „Aria ist eine Hexe und ich bin ihre Königin. Es ist irrelevant, was Sie wollen. Sie kommt mit mir.“ „Auch wenn sie eine Hexe ist, dürfen nur ihre Eltern über sie entscheiden, bis sie volljährig ist“, erwiderte Dad angespannt. Es war das erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte, seitdem ich das Büro betreten hatte. Isabelle schüttelte ihr langes, rotes Haar. „Also gut. Ich würde sagen wir stimmen darüber ab. Soll die Dauphine“ – sie warf mir einen abfälligen Blick zu – „hier in London bei ihrer Adoptivfamilie bleiben, trotz des hohen Risikos, dass ihr etwas zustößt und obwohl sie dringend eine höfische Erziehung nötig hat, oder darf sie zusammen mit ihrer Majestät nach Casterville-Castle, wo sie in Sicherheit wäre, während man sie auf ihre Zukunft vorbereitet? Wer ist für die Residenz ihrer Majestät?“ 83 „Ich bin die Königin der Übernatürlichen des Vereinigten Königreiches Großbritanniens und all seiner Kolonien. Es gibt keine Demokratie in unserer Welt. Meine Entscheidung steht“, konstatierte Lucinda. „Die Dauphine sollte selbst darüber entscheiden dürfen, schließlich ist sie fast achtzehn“, rettete Jason mich. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Mums Blick war traurig, der von Lucinda triumphierend. Die Königin schien zu glauben, dass ich ihr ohne weiteres zustimmen würde. Um ehrlich zu sein tat es mir nicht mal leid sie enttäuschen zu müssen. „Ich bleibe in London, bei meiner Familie.“ Ich betonte das letzte Wort absichtlich, damit Lucinda verstand, dass ich mich nicht als Casterville sah. „Und ich weigere mich auch ihr blöder Delfin zu werden!“ Alle schnappten entsetzt nach Luft, auch Mum und Dad. Na ja, fast alle. Avery applaudierte. „Bravo, mein Kirschwäffelchen! Du vertrittst deine Meinung exakt wie eine echte Regentin. Nur leider hast du keine Wahl. Da du eine Casterville zu sein scheinst, wirst du die nächste Dauphine. Du kannst hier in London bleiben, aber du wirst trotzdem eine Königin, die dann keine Ahnung vom Regieren hat.“ „Aber ich habe jemanden umgebracht!“, stieß ich hervor. „Clary!“ Jason schaute auf. „Clary? Das Mädchen, dass vor zwei Jahren… verunfallt ist?“ ‚Verunfallt‘, so konnte man es auch sagen. Ich nickte. „Ähm, Aria“, sagte Ash zögerlich. „Das war die vorige Dauphine, Clarissa Casterville. So gesehen hast du schon etwas getan, was typisch adelig ist: du hast eine Konkurrentin für den Thron ausgeschaltet.“ Oh Mann. Ich hatte die verdammte Prinzessin umgebracht und das sagte man mir jetzt? Es grenzte an ein Wunder, dass man mich damals 84 nicht sofort um die Ecke gebracht hatte. Wahrscheinlich hatte man mich nur ins Exil geschickt, weil ich noch so jung gewesen war. „Ich kann nicht die nächste Königin werden. Dafür braucht man doch eine lebenslange Ausbildung und selbst mit einem hard-core Crash-Kurs kann ich das alles niemals aufholen“, versuchte ich meine Untauglichkeit zu erklären. Lucindas Tonfall war unglaublich freundlich, als sie antwortete: „Aus diesem Grund werde ich dir einen äußerst fähigen Ehemann an die Seite stellen, der dir als König all deine Lasten abnehmen wird. Deine Aufgabe wird es sein, einen Erben zu bekommen, damit die Monarchie unserer Familie gesichert ist. Ansonsten kannst du tun und lassen was du möchtest. Stell es dir ruhig vor: du hättest genug Geld um jeden Tag mit deinen Freundinnen einkaufen zu gehen und könntest von einer Party zur nächsten ziehen. Um die Erziehung deiner Kinder würden sich andere kümmern, sodass du deine Jugend so verbringen könntest, wie du es willst.“ Zugegeben, es klang verlockend. Ich musste nur irgendeinen Typen heiraten, die nächste Königin werden, ein-zwei Kinder bekommen und konnte dann tun und lassen was ich wollte, bis an mein Lebensende. Einen Moment lang war ich versucht das Angebot anzunehmen, aber dann begegnete ich Jasons Blick. Seine Augen flehten mich stumm an es nicht zu tun, den Handel auszuschlagen. Ich atmete tief durch. Es war meine Entscheidung, wie sich mein Schicksal von nun an gestalten würde. „Wer?“, verlangte Dad zu erfahren. „Wen soll sie heiraten?“ Gute Frage, das sollte ich wissen. Schließlich musste ich den Typ den ganzen Tag lang ertragen und Kinder mit ihm haben. Einen Namen zu kennen, bevor man zustimmte, war vielleicht gar nicht so blöd. „Ich habe einen hervorragenden Kandidaten, den sie noch früh genug kennenlernen werden, Mister Grey“, erwiderte Lucinda selbstge- 85 fällig. „Allerdings habe ich meine Wahl noch nicht endgültig getroffen, denn so etwas braucht schließlich auch seine Zeit.“ Das waren gute Neuigkeiten, denn bis dahin hatte ich bestimmt schon meinen Schulabschluss und konnte das Land verlassen, ohne dass ich riskierte auf dem Thron der Hexen zu enden. „Und wann ist die Hochzeit?“, kam es von Lord Wolfram. „Am 21. Dezember“, antwortete Lucinda prompt. „Diesen Jahres.“ Oh nein. Das war mein 18. Geburtstag und damit die erstmögliche Gelegenheit mich legal zu verheiraten. Zudem waren es nicht mal mehr fünf Wochen bis dahin. Ich war ja sowas von geliefert. „Ich bin dafür den Termin noch etwas nach hinten zu verschieben“, wandte Jason ein. „Sie sollte zumindest die Schule beenden dürfen.“ Für diesen Einwand hätte ich ihn küssen können. Ash räusperte sich. „Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Sie ist noch keine legitimierte Erbin und das muss sich so schnell wie möglich ändern.“ Also von mir aus konnten wir damit noch ruhig ein paar Jahrzehnte warten. „Sie ist doch noch fast ein Kind und hat noch nicht die nötige Reife um mit dieser Situation zurechtzukommen“, widersprach Jason. Okay, ich nahm alles zurück. Jetzt wollte ich ihm eine reinhauen, schließlich war ich kein Kind mehr und mehr als reif genug. Die beiden Mentoren funkelten sich böse an. Ich überlegte, wer von ihnen einen realen Kampf wohl gewinnen würde. Ash mit seiner schlanken Anmut, oder Jason, der einfach absolut unberechenbar wirkte. Gutaussehend waren sie beide, da bestand kein Zweifel, aber keiner von ihnen war so wirklich mein Typ. Ich stand mehr auf den Kumpel-artigen Typen, der mich zum Lachen bringen konnte. Das hatte zwar nicht direkt etwas mit einem Wettkampf auf Leben und Tod zu tun, aber es musste auch mal gesagt werden. Schließlich sollte mein blödes Gehirn nicht auch noch damit anfangen nachts Träume zu 86 produzieren, in denen ein halbnackter Ash gegen einen halbnackten Jason kämpfte. Einen Moment schwelgte ich in dieser Vorstellung, bis plötzlich Nicks Gesicht vor meinem inneren Auge auftauchte und alles kaputt machte. Keine Ahnung was mein Gehirn mir damit sagen wollte, aber cool war es nicht. Nick hatte nicht mal eine Ahnung von dem ganzen magischen Kram, was unsere Freundschaft schon verkomplizierte, an eine Beziehung war da gar nicht zu denken. „Vorerst bleibt der Termin“, entschied Lucinda. „Und um Aria hier in London auf ihre Rolle vorzubereiten, wird Ashallyn sie in Stil und Etikette unterrichten.“ Die Schulklingel zum Tagesende ertönte. „Ich denke wir können jetzt auseinander gehen.“ Erleichtert drehte ich mich auf der Stelle um und machte die Tür auf. Je schneller ich hier weg kam, desto besser. „Warte, Aria“, rief Lucinda mir hinterher. Ich sah über meine Schulter „Ja?“ „Willkommen in der Familie.“ Wieder erreichte ihr Lächeln nicht ihre Augen. Das war wirklich unheimlich. Ich nickte ihr zu und hastete dann aus Direktor Harpers Büro. Obwohl es keinen Grund dafür gab, brummte mein Kopf. Mir fiel nicht auf, dass ich fast in Carter reinrannte, die vor der Tür auf mich gewartet hatte. „Aria, was zum Kuckuck ist denn passiert? Alle sagen man hätte gestern eine Leiche gefunden und dass du die Mörderin bist!“ Ich konnte hören wie verwirrt und ängstlich sie war. Dann aber verstand ich, was sie gesagt hatte. Ich packte sie an den Schultern. „Wer ist es, Carter? Wer ist tot?“ „Annabelle Munroe, behauptet zumindest Chuck. Sie ist in der Bibliothek gefunden…“ Sie brach ab. 87 Ich machte noch einen Schritt auf sie zu, sodass unsere Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. „Was noch, Car? Was ist noch passiert und warum glaubt man es sei meine Schuld?“ Carter würgte. „Eine Botschaft“, stieß sie hervor. „Hinter ihr an der Wand hat jemand etwas geschrieben.“ Langsam war ich diese Fragerei leid. „Was hat man gefunden? Was steht an der Wand?“ „Omnia ad maiorem dei gloriam“, antwortete Carter leise. Alles zur höheren Ehre Gottes. Um ehrlich zu sein klang das gar nicht gut. Ich stellte mir vor, wie die unscheinbare, blonde Annabelle auf dem Holzboden der Bibliothek lag, während an der Wand hinter ihr mit blutähnlicher Farbe ein lateinisches Zitat geschrieben worden war. Dieses Bild in meinem Kopf wirkte so real, als stände ich tatsächlich davor. Ich sah in diese kalten, toten, blauen Augen. Annabelles Augen, in denen sich die Blutlache vor ihr spiegelte, die aus ihrem zerfetzten Hals ausgetreten war. Carter hatte vergessen zu erwähnen, dass unter dem lateinischen Wahlspruch der Jesuiten noch etwas gestanden hatte: ‚Requiescat in pace‘. Sie ruhe in Frieden. Dieser, normalerweise gutgemeinte, Satz, den Trauernde für den Grabstein eines Verstorbenen verwendeten, wirkte auf mich bedrohlich, so als würde man mir sagen, dass ich keinen Frieden finden würde, wenn ich starb. Plötzlich änderte sich Annabelles Leiche. Ihre Haare wurden länger, dunkler und lockiger, ihr Gesicht änderte sich in etwas vollkommen Vertrautes, die blauen Augen wurden grün-grau-bräunlich. Auch ihre Kleidung wandelte sich. Statt der hässlichen Schuluniform trug die Tote ein weißes Spitzenkleid und auf ihrem Kopf erschien eine reichlich verzierte Krone aus massivem Gold. Blut lief aus ihren Augen, ihrer Nase, ihren Ohren und aus ihrem Mund. Ihre Haut war aschfahl und die Adern traten überall stark hervor. Die Leiche, die jetzt vor mir 88 lag, war unter keinen Umständen Annabelle. Genauso wenig wie der Spruch an der Wand, der sich, wie alles andere auch, verändert hatte. Die blutroten Buchstaben verkündeten jetzt: ‚Momento te hominem esse‘, was auf Englisch so viel hieß wie: ‚Bedenke, dass du ein Mensch bist‘. Vor Entsetzen machte ich einen Schritt zurück. Ich versuchte es zu verhindern, doch ein Schrei entwich meiner Kehle. Er hallte in dem leeren Raum wieder, in den sich die Bibliothek verwandelt hatte. „Aria! Oh mein Gott! Hast du einen Anfall oder so?!“ Carters schrille Stimme riss mich zurück in die Wirklichkeit. Ich befand mich noch immer in Winterstone vor Direktor Harpers Büro, zusammen mit Carter, die mich anstarrte wie das Monster von Loch Ness (bei dem es sich eigentlich nur um einen Tarasque, ein Wasserwesen aus der Mischung eines Fisches und einer Schlange, handelte, aber das konnten die Menschen ja nicht wissen). Anscheinend hatte niemand meinen Beinen gesagt, dass meine Vision von Annabelles Tod nicht real gewesen war, denn sie gaben unter mir nach wie Grandma Annies weihnachtlicher Plumpudding. Zwei Arme fingen mich von hinten auf, bevor ich auf dem Boden aufschlagen konnte. „Vorsicht, der Boden hier ist äußerst hart“, murmelte eine männliche Stimme nah an meinem Ohr. Ich schlug die Augen auf, die ich wegen des Schwindelanfalls geschlossen hatte. „Und du bist schwer, das tut also doppelt so weh“, bemerkte Avery, die ebenfalls aufgetaucht war. „Jason“, hauchte ich, und dann mit festerer Stimme: „Ich bin überhaupt nicht zu schwer.“ „Ist sie wirklich nicht“. Der Mentor half mir mich wieder vernünftig hinzustellen. Avery schnaubte. „Ihre Waage sieht das sicherlich anders.“ 89 Beleidigt verschränkte ich die Arme vor der Brust. Wir beide wussten, dass ich schlank war und es störte mich furchtbar, dass sie Witze über mein Gewicht machte. Ich mochte eine übermenschliche Hexe sein, die aus dem Nichts Feuer beschwören konnte, mit gerademal fünfzehn Jahren einen Mord begangen hatte und verrückterweise die neue Königin der Hexen werden sollte, ganz abgesehen davon dass irgendein Verrückter versucht hatte mich mit meinem Kissen zu ersticken, aber auch ich fand es nicht gerade großartig, wenn eine blöde Dämonin mit den langen, dünnen Beinen eines Supermodels, sich über mein Gewicht lustig machte. „Ich würde mich auch mit deiner Waage gegen dich verbünden“, gab ich frech zurück. „Nur ist sie ja leider beim letzten Mal unter dir zusammengebrochen.“ „Fantastisch. Dann werde ich jetzt nach Hause fahren und meine Waage fragen, was sie darüber denkt“, meinte Avery bissig. „Bis später, mein Pfirsich-Sahne-Törtchen.“ Mit schnellen Schritten und einem übertrieben ausladendem Hüftschwung, ging sie in Richtung Ausgang davon. „Blödes Miststück“, murmelte ich. Jason lächelte breit, und ich konnte nicht anders als ebenfalls zu grinsen. „Bereit für dein Training?“, fragte er. Ich sagte die Wahrheit. „Nein, aber du lässt mir ohnehin keine andere Wahl als trotzdem hinzugehen, oder?“ Er fing an zu lachen. „Stimmt.“ Es tat gut ihn Lachen zu hören. Das half mir dabei, diese schlimme Vision zu verdrängen, da er mich so auf andere Gedanken brachte. Alleine wäre das wohl unmöglich gewesen. Aber ein Teil meines Gehirns wollte nicht vergessen, was aus dem Bild von Annabelles Tod geworden war, ebenso wie die Warnung, die zum Schluss an der 90 Wand gestanden hatte. Über dieser Königin, deren Gesicht mir so vertraut war wie kein anderes auf der Welt. Denn die zweite Leiche, in dem Spitzenkleid mit der Krone auf dem Kopf und dem vielen Blut, war ich gewesen. 91 Glühende Finsternis KAPITEL IV Die Mörderin & das Debakel des niedlichsten Brandvorfalls der Welt Statt Krafttraining machten wir Lauftraining, was nur bedingt besser war. Jason, der kein wenig von meinem Tempo gelangweilt schien, wich nicht mal eine Sekunde meiner Seite. Er passte sich an mich an, obwohl er wahrscheinlich dreimal so schnell rennen konnte wie ich. Wir redeten die ganze Zeit über alles Mögliche, aber nicht über das, was im Schulleiter-Büro vorgefallen war. Er klärte mich über die verschiedenen Dämonenarten auf (was ich als Mädchen in der Schule nicht lernte und auch meine Eltern hatten mir nie etwas darüber erzählen wollen), nannte mir ihre Stärken und Schwächen, und sagte mir wie ich mich am besten gegen sie verteidigen konnte. An unterster Stelle der Höllenhierachie standen die einfachen, handgroßen Dämonen, die einfallsreicherweise als ‚Niedere Dämonen‘ bezeichnet wurden. Danach kamen die ‚Mittleren Dämonen‘, die den ersten bis zweiten Höllengrad hatten, weswegen sie nicht nur die Vorhölle sondern auch die ersten beiden von insgesamt neun Höllen betreten durften. Nach ihnen kamen dann die ‚Höheren Dämonen‘ (wer hätte das gedacht?), die bis in den vierten Höllenkreis gehen konnten. Alles andere über ihnen war so mächtig, dass diese Dämonen jeweils eigene Namen hatten. Ich hätte es nicht gedacht, aber der Ort für all die Seelen, die es nicht ins Himmelreich schafften, hatte eine richtig durchstrukturierte Regierung. 92 Das Oberhaupt war natürlich Luzifer, der gefallene Engel, der Kaiser der Hölle. Sein Vertreter war Vizekönig Belial, der laut Jason zu den anständigsten seiner Art gehörte (das hieß nicht, dass er anständig im eigentlichen Sinne war, er benahm sich nur besser als die restliche Höllenbrut). Unter ihm standen die beiden Herrscher Beelzebub und Astaroth, gefolgt von sieben Großfürsten und fünf Großräten. Außerdem gab es einen Reichssekretär namens Milpeza, der die Hölle unter gar keinen Umständen verließ. Wäre mein Name ‚Milpeza‘ würde ich wahrscheinlich auch nie vor die Tür gehen. Was die Tötungsmethoden anging, so waren diese eigentlich ganz leicht zu merken: Kopfabschlagen, Herzausreißen oder eine große Menge Weihwasser auf sie schütten, wenn man kein exorzierender Priester war (Jason meinte, die würden die Dämonen mit Gebeten erledigen, was ich nicht so recht glauben konnte. Vielleicht starben die Dämonen dann nämlich gar nicht, sondern schliefen nur ein. Das war mir auch schon öfters in der Kirche passiert). Bei Jason klang das alles so einfach, aber ich würde höchstens einen Niederen Dämon besiegen können. Mir war beigebracht worden, dass ich mich nicht gegen die Hölle stellen durfte, da die Natur sonst aus dem Gleichgewicht kam. Hexen blieben immer neutral und hielten sich aus dem Krieg zwischen Himmel und Hölle raus. Die bösen Sidhe stellten sich oft auf die Seite von Luzifer und seinen Dämonenkumpels, doch eine Wicca, oder eine Hexe die zu sehr an ihrem Leben hing um keine Wicca zu werden, verhielt sich unparteiisch. Für die Kämpfe gab es schließlich Berserker, die ihr Leben lang nichts anderes Taten als die Ausgeburten der Hölle zu töten. Dazu kam, dass ich ein Mädchen war, die in unserer Gesellschaft ohnehin kein Recht auf die Jagd von Dämonen hatten. „Warum wird Avery nicht getötet?“, fragte ich. „Wen kennt sie, dass sie am Leben bleiben darf?“ 93 Jason, der inzwischen neben mir lief, schien diese Frage zu wundern. „Du meinst Avery Helltray.“ Es war keine Frage gewesen, aber ich antwortete trotzdem. „Gibt es noch eine?“ „Nein“, sagte er langsam. „Hat sie es dir denn nicht erzählt?“ Ich schüttelte den Kopf. Er seufzte. „Man kann Avery nicht töten und sie somit zurück in die Hölle schicken, da man sie von dort verbannt hat. Wenn sie stirbt, bleibt sie vielleicht ein paar Stunden bewusstlos, doch dann wacht sie auf als wäre nichts passiert. Selbst wenn man sie köpft, bildet sie sich einfach neu.“ Was musste man für ein Verbrechen begehen, um aus der verdammten Hölle geschmissen zu werden? Ich hatte gedacht, das wäre der Abgrund des Universums, das Schlimmste, was einem zustoßen konnte. Meine Vorstellungskraft reichte nicht aus um eine Tat zu finden, die eine Verbannung aus dem bösesten Ort aller Zeiten rechtfertigen könnte. „Sie hat sich in den falschen Mann verliebt“, antwortete Jason auf meine unausgesprochene Frage. Ich sah ihn prüfend an. „Kannst du eigentlich Gedanken lesen?“ Er lachte. „Selbstverständlich nicht. Allerdings sprechen deine Gesichtsausdrücke für sich selbst.“ „Oh gut. Das wäre sonst wirklich unheimlich. Ich wüsste gar nicht, an was ich dann denken sollte.“ Verdammt, was redete ich da? Ich würde mich von der nächsten Brücke werfen, wenn er meine Gedanken lesen könnte. Denn dann wüsste er, wie attraktiv ich ihn fand, obwohl er mein Lehrer war. Peinlicher ging es wirklich nicht. Wir hielten an und tranken ein wenig. Mit einem Mal griff er nach einer meiner Haarsträhnen, die sich aus dem Kopf gelöst hatten, und strich sie mir hinters Ohr. Würde ich so hoffnungslos romantisch wie 94 Carter sein, wäre ich wohl für Freude darüber ausgeflippt und hätte angefangen heimliche Hochzeitspläne zu schmieden, aber dank Lucinda und ihrer Drohung mich in weniger als fünf Wochen mit einem Unbekannten zu verheiraten, konnte ich an Dinge wie Romantik und Liebe einfach nicht denken. Jason zog seine Hand zurück, als merkte er, dass etwas nicht stimmte. Er lächelte schwach. „Kannst du dich bis morgen Nachmittag bitte aus allen Gefahren raushalten? Ich möchte dir ein paar Dinge zeigen, die dir gegen mit Kopfkissen bewaffnete Mörder helfen könnten.“ „Woher weißt du davon?“ Ich konnte mich nicht daran mich mit ihm über die Ereignisse der letzten Nacht unterhalten zu haben. „Deine Mutter erzählte es mir.“, erwiderte achselzuckend. „Sie hat mich gegen zehn Uhr angerufen.“ Ich verstand die Welt nicht mehr. „Warum denn das?“ Dass sie die Berserkerzentrale hatte anrufen wollen, konnte ich nachvollziehen, aber was hatte Jason damit zu tun? Er zuckte erneut mit den Schultern und hob seine Tasche auf. „Weil ich dich trainiere, denke ich. Vielleicht glaubt sie, dass ich dich dann besser in einem bestimmten Bereich ausbilden würde, was totaler Unsinn ist. Du musst alles der Reihe nach lernen.“ Er nestelte einen Schlüssel aus dem vordersten Fach seiner Sporttasche. „Soll ich dich heute nach Hause fahren?“ „Ich bin mit Nick verabredet“, sagte ich vorsichtig. „Wir treffen uns am National History Museum.“ Jason überlegte kurz, dann meinte er: „In Ordnung, ich fahre dich dorthin. Ich muss sowieso in die Stadt um mit den Berserkern zu reden.“ „Wegen Annabelle“, vermutete ich. „Das Mädchen, das man gestern tot in der Bibliothek gefunden hat.“ Es schien ihn nicht zu überraschen, dass ich davon wusste. „Genau. Sie ist ermordet worden und wir wollen herausfinden von wem.“ 95 „Gibt es schon irgendwelche Verdächtige?“ Er schüttelte den Kopf. „Leider Nein. Vielleicht war es ein Dämon, aber das ist eher unwahrscheinlich. Man hat ihr die Kehle aufgerissen und sie fast blutleer zurückgelassen, Dämonen tun das nicht. Alles spricht für eine andere Art von Täter.“ „Ein Vampir“, sagte ich und fügte auf seinen fragenden Blick hin hinzu: „Wegen der Geschichte mit dem Blut. Vampire machen das doch so.“ „Das tun sie, ja, aber wie soll ein Vampir das Schulgebäude betreten haben?“, entgegnete Jason, als wäre ihm dieser Gedanke auch schon gekommen. Vampire mussten in ein Gebäude reingebeten werden, solange es kein öffentliches Eigentum war. Bei einer Schule wie Winterstone, wo man durchaus wusste wozu diese Blutsauger im Stande waren, war es wie in allen übernatürlichen Häusern so, dass das Gebäude einer oder mehreren bestimmten Personen gehörte, die den Vampiren den Eintritt erst einmal erlauben mussten. Ansonsten konnten diese nur blöd auf der Türschwelle rumstehen. Die Personen, die über das Gebäude bestimmen durften, nannte man ‚Patronen‘. Bei mir Zuhause war jeder von meiner Familie ein Patron, bei Ash wusste ich es nicht und Avery war ein Dämon, weswegen sie niemals eine Patronin werden konnte. Mir kam eine Idee. „War Annabelle ein Patron?“, fragte ich auf dem Weg zur Umkleide. „Soweit wir wissen nicht. Sie ist… war die Stieftochter des Direktors, also wäre dies durchaus eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen muss“, gab er zu. „Allerdings glaubt niemand, dass sie den Mörder absichtlich hereingebeten hat, falls es denn ein Vampir war. Wir haben die Spuren eines Kampfes gefunden, die zeigen, dass sie sich gewehrt hat.“ „Und wenn jemand nur wollte, dass es wie ein Vampir-Angriff aussieht, damit ihr euch bloß auf die Vampire bei der Suche nach dem 96 Täter konzentriert?“, hakte ich nach. „Jeder Vollidiot kann einen Hals aufschneiden.“ „Du hast es erfasst.“ Sein Tonfall klang bitter. „Im Grunde könnte es jeder sein. Die Frage ist nur: Warum wollte sie jemand töten? Sie ist nicht die Art von Mädchen gewesen, die viele Probleme gemacht hat. Wer auch immer sie beseitigen wollte, es handelt sich dabei vermutlich um eine Verwechslung.“ Die arme Annabelle. Ich hatte gestern in der Mittagspause in der Schlange vor der Essensausgabe noch mit ihr geredet. Sie hatte mir von ihrem Auslandsjahr in den USA erzählt und wir hatten uns ein wenig über die amerikanischen Bräuche unterhalten, und darüber was für seltsame Vorstellungen die Amerikaner von Essen hatten. Sie hatte in South Carolina bei einer typischen vierköpfigen Familie mit einem Hund gewohnt. Im Gegensatz zu mir war sie kein Cheerleader gewesen, sondern irgendeine Art von Mathe-Ass, das sich auf Meisterschaften mit anderen Strebern gemessen hatte. Als ich das gehört hatte, hatte ich mich unwillkürlich gefragt, ob das für Genoveva und Flavius akzeptabler gewesen wäre als Cheerleadern. Wahrscheinlich nicht, da sie ohnehin gegen alles waren, was ich tat. Ich hatte nicht wirklich viel Ahnung von Autos, aber das von Jason sah definitiv teuer aus. Die Sitze waren aus braunem Leder und es hatte noch diesen Neu-Geruch, als wäre es vorhin erst gekauft worden. Ich ließ mich auf dem Beifahrersitz fallen und bewunderte die glänzende Armatur. Jason setzte sich auf den Fahrersitz und musterte mich einen Augenblick an. Ich trug normale Straßenkleidung, genau wie er, nur bestand meine aus Winterstiefeln, Jeans, einem Schal und einem Kapuzenpullover, während er trotz der Kälte einen dunkelgrauen Anzug mit einem weißen Hemd anhatte. Immerhin hatte er keine Krawatte um den 97 Hals, denn dann sähe er wirklich seltsam aus. Ich meine, er war um die zwanzig und nicht vierzig Jahre alt. „So läufst du für gewöhnlich rum?“, fragte er verwirrt. Ich nickte. „Aber nur wenn meine Cocktailkleider alle in der Wäsche sind, oder es so schön sonnig ist wie heute.“ Der Regen, der auf das Auto trommelte, unterstrich die Ironie in meiner Stimme. Ich hatte meine Schuluniform zusammen mit meinen Sportsachen in meinem Spind gelagert, weil ich sie nicht mit zu meinem Treffen mit Nick schleppen wollte. „Es spielt sowieso keine Rolle, du siehst auch so hübsch aus“, verkündete er. Ich starrte ihn an. Hatte er gerade gesagt, ich sei hübsch? Mein Herz schlug so laut, dass ich Angst hatte, er könnte es hören. In meinem Inneren breitete sich ein warmer Luftballon aus, der mich nach und nach betäubte. „Du hast doch jetzt ein Date, oder nicht?“, ergänzte er, nachdem er merkte wie verblüffend seine Aussage für mich gewesen war. „Und ich finde du kannst so dahin gehen, weil du nicht zu unnatürlich aussiehst.“ Der Luftballon in meiner Brust zerplatzte. Er dachte, ich hätte mit Nick ein Date. Natürlich dachte er das, wies ich mich selbst zu recht, was sollte er schon von dir wollen. Du bist doch viel zu jung. Ich musste mich wieder zusammenreißen, um zu antworten: „Nick und ich sind nur Freunde. Das ist kein richtiges Date oder so, sondern ein ganz normales Treffen unter Kumpels.“ „Entschuldige meinen Fehler“, erwiderte Jason, aufrichtig betroffen. „Die Theorie, dass du verabredet bist, ist schließlich nicht wirklich abwegig.“ Der Luftballon war sofort wieder da. Innerhalb von drei Minuten hatte er mir gleich zwei Komplimente gemacht. Ich war in Hochstimmung, versuchte aber auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. 98 „Gehst du momentan mit irgendwem aus?“ Dass er keine feste Freundin hatte, hieß ja nicht gleich, dass er im Zölibat lebte. Henry war auch mit niemanden zusammen und schleppte trotzdem ständig Mädchen an, wenn man Mum Glauben schenken konnte. Er startete den Motor. „Ab und zu, aber ich habe eigentlich keine Zeit für sowas.“ „Bist du schwul?“, rutschte es mir heraus. Schließlich trug der Typ in seiner Freizeit Anzüge, so weit hergeholt war das also nicht. Jason sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren, dann fing er an zu lachen. Nach einer Sekunde stimmte ich in sein Lachen ein, einfach nur weil es gut tat mal wieder unbeschwert Lachen zu können. „Keine Sorge, ich bin nicht homosexuell“, beruhigte er mich und wir verließen den Schulparkplatz. „Also, gestört hätte es mich jetzt nicht.“ Ein winziges bisschen vielleicht, weil er so gut aussah. Okay eine großes bisschen, aber das war jetzt auch egal. Während der Fahrt machte er das Radio an. Als aus irgendeinem Grund ‚Born to make me happy ‘ von Britney Spears gespielt wurde, begann ich mitzusingen. Ich hatte das Lied schon geliebt, als ich es das erste Mal bei meiner Mum in der Küche gehört hatte, auch wenn ich den Sinn des Textes nicht wirklich verstanden hatte. Sie hatte es mir dann zu meinem nächsten Geburtstag auf CD geschenkt und ich hatte diese CD sogar mit in die Vereinigten Staaten genommen. Im Augenblick lag sie irgendwo in meinem Zimmer, bereit wieder von mir gehört zu werden. Jason sah mich immer wieder an und grinste. Als das Lied zu Ende war, griff ich nach meinem Handy und wählte Carters Nummer. „Aria? Wo steckst du? Ich stehe mir am Picadilly die Beine in den Bauch!“, beschwerte sie sich. Im Hintergrund rauschte die Kulisse der Weltmetropole London. 99 „Tut mir leid, Car, ich komm heute nicht. Ich bin mit Nick verabredet und schaff es nicht, okay? Wir können ja wann anders einkaufen gehen.“ Ich versuchte nett zu klingen, obwohl mir klar war was für eine miese Freundin war. Aber im Moment brauchte ich Nick mehr als Carter. Er war nicht übernatürlich und hatte keine Ahnung von all dem Dämonenkram. Für ihn war Annabelle nicht tot, sondern vorerst im Urlaub oder so. Vielleicht täuschte man auch vor, sie hätte eine schlimme Krankheit oder sei von Zuhause weggelaufen. Irgendetwas… Normales. Okay, mehr oder weniger. Carter zögerte. „Du… du versprichst mir, dass du nichts Verbotenes tun wirst? Du hast einen ganz normalen Nachmittag, an dem niemand stirbt, verstanden?“ Irgendetwas an ihrem Tonfall gefiel mir gar nicht. „Carter, ich hab Clary umgebracht, aber es wird keine weiteren Opfer geben!“ Jason warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich winkte ab. „Wir reden später, Aria“, sagte sie, in einem Ton, als wäre sie in Wahrheit mit den Gedanken ganz woanders. „Viel Spaß noch.“ Sie legte auf. Ich blickte einen Moment lang auf den Display, dann steckte ich mein Handy wieder weg. „Alles in Ordnung?“, fragte Jason besorgt. Ich nickte. „Alles bestens.“ Das war eine Lüge, aber verglichen mit den anderen Dingen, die gerade um mich herum passierten, fand ich es nicht weiter schlimm. Jason hielt in der Nähe des Museums an. „Sag Stephen, dass er mir noch seine Abschrift der Schulordnung geben soll“, rief er mir nach, als ich ausstieg. Ich nahm meinen Rucksack von der Rückbank. „Okay, mach ich. Soll ich ihm auch in deinem Namen eine verpassen, oder meinst du er versteht das auch so?“ 100 Ohne seine Antwort abzuwarten, schloss ich die Autotür hinter mir. Nick wartete, wie ausgemacht, am Tor der Einfahrt zum Museum auf mich. Er wirkte ein wenig nervös und strich sich ständig durch sein braunes Haar, das er heute sorgfältig frisiert hatte. Innerlich verdrehte ich die Augen. Wann würde er endlich begreifen, dass er besser nicht wie Mummys kleiner Liebling aussehen sollte, um als Mann ernstgenommen zu werden? Allerdings war ich froh darüber, dass er so war wie er war. Er gab mir einen vertrauten halt in dieser Welt, die mich anscheinend wirklich in den Wahnsinn treiben wollte. Ich begrüßte ihn mit einer Umarmung, die mir ebenso vertraut war, wie die üblichen Erdrückungen, die Carter mir immer zumutete. Zu meiner großen Enttäuschung gingen wir tatsächlich ins Museum, wo ich pausenlos Begeisterung vortäuschte. Nick schienen die Ausstellungen zu gefallen, obwohl wir schon Millionen Mal hier gewesen waren und mindestens genauso viel wussten wie die Führungsleiter. Nach dem Tier-/Pflanzen-/Mensch-Teil des Museums, schleppte Nick mich zusätzlich noch in die Dinosaurier-Ausstellung. Mir tat das Herz weh, beim Anblick der vergammelten Knochen. Als Kind hatte Stephen Dinosaurier geliebt, weswegen wir ständig hierhergekommen waren. Ich erinnerte mich daran, wie Dad mich getragen hatte, weil ich wegen der vielen Dunkelheit in dem Raum jedes Mal Angst bekommen hatte. Es war so, als stände ich mit ihnen hier, meiner Familie. Mum meckerte Henry an, weil er immer vorgelaufen war und Stephen ließ sich die Texte von Dad vorlesen. Plötzlich war Nick verschwunden, genau wie Touristen neben uns. Stattdessen befand ich mich direkt neben Dad, der jünger aussah und ein kleines Mädchen an der einen und einen Jungen an der anderen Hand hielt. Daneben stand eine jüngere Version meiner Mum, die einem kleinen Jungen seine Jacke zumachte. Aber niemand schien mich zu erkennen. „Ich will auch ein Dino sein“, quengelte der Junge an Dads Hand. 101 „Das kannst du nicht, Blödmann“, erwiderte der andere Junge, der etwas älter wirkte als die anderen beiden Kinder. „Henry!“, sagte die junge Mum wütend. „Beleidige nicht deinen Bruder! Entschuldige dich!“ Der Junge an Dads Hand, der frühere Stephen, streckte dem kleinen Henry die Zunge raus. Mum stöhnte. „Stephen, lass das!“ Sie sah Dad an. „Daniel, könntest du bitte kurz auf die Jungs aufpassen? Ich muss kurz mit Aria weg.“ Ihre Augen schauten bedeutungsvoll an das andere Ende des Raumes. Dad und ich, also mein jetziges Ich, drehten beide die Köpfe, um zu erfahren, wovon sie redete. Ich konnte nichts weiter entdecken als ein Haufen Touristen. Dann verstand ich, was sie meinte. Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren, die vollkommen in schwarz gekleidet war, starrte unentwegt zu uns rüber. Dad nickte. „Geh, aber passt auf euch auf. Die Jungs sind bei mir in Sicherheit.“ Er schob die kleine Aria zu Mum hinüber, die mich hochhob. „Mummy ist gleich wieder da“, versprach sie Stephen und Henry. Dann machte sich kehrt und ging aus dem Ausstellungsraum. Ich beschloss ihr zu folgen, denn ich konnte mich an dieses Ereignis partout nicht erinnern. Die fremde Frau folgte uns bis zu einem leeren Gang, in dem Ausstellungsstücke aufbewahrt wurden, am gegengesetzten Teil des Gebäudes. Wir waren allein, keine Touristen und Mitarbeiter befanden sich in unserer Nähe. Mum hielt an und stellte meine frühere Version auf den Boden, hielt sie aber an der Hand fest. „Was willst du, Natalia?“, fragte sie kalt. Natalia, die Fremde, machte einen Schritt auf Mum zu. „Ich bin hier wegen dem, weswegen du mich letzte Woche angerufen hast.“ 102 Mums Augen leuchteten auf. „Du hast es dabei? Du hast es tatsächlich gefunden?“ Ich hatte keine Ahnung, worüber sie sprachen. Ich hatte die andere Frau noch nie gesehen (okay, ich war als kleines Kind anwesend, aber daran erinnerte ich mich nicht). Natalia zog etwas aus der Jackentasche ihrer Lederjacke. Es glänzte im Licht der Lampen. „Hier ist es. Es war genau da, wo es geschrieben stand.“ Mum sah unglaublich erleichtert aus, als hätte man ihr eine gigantische Last abgenommen. „Gott sei Dank! Lange hätten wir es nicht mehr verbergen können.“ Die kleine Aria starrte von Mum zu Natalia und zurück. Sie sagte nichts, sondern drängte sich noch näher an Mum. Natalia sah traurig aus. Sie übergab Mum das Ding, das sie in der Hand gehalten hatte. Ich beugte mich vor, konnte aber nichts erkennen, da Mum es sofort in ihrer Handtasche verschwinden ließ. „Könntest du…?“, fragte sie. Natalia nickte. „Natürlich.“ Sie ging in die Hocke vor der kleinen Aria. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus und strich der kleinen Aria über die Wange. „Du vergisst, dass du mich jemals gesehen hast, in Ordnung, tapfere, kleine Junica?“ Das Mädchen nickte. Junica war mein zweiter Name, aber absolut niemand sprach ihn je aus. Er stand nur auf meiner Geburtsurkunde (beziehungsweise Adoptionsurkunde) und nirgendwo sonst, weil selbst meine Eltern fanden, dass der Name sich furchtbar anhörte. Als sie sich für ihn entschieden hatten, hatte er gut geklungen, meinten sie immer, wenn ich sie danach fragte. Dabei hörte sich ‚Ariana Junica Grey‘ grauenvoll an. Ariana war schon schlimm genug, aber Junica wirkte dagegen fast wie eine ernstgemeinte Beleidigung. Stephen und Henry hatten auch jeweils zwei Vornamen, aber ihre waren nicht ganz so schrecklich: Ste- 103 phen Benedict und Henry August. Genau wie die Benediktiner- und Augustiner-Mönche. Von den Junica-Nonnen hatte ich allerdings noch nie etwas gehört (das lag aber nicht daran, dass ich keine Ahnung von Kirche hatte, sondern daran, dass es sie tatsächlich nicht gab). Natalia presste die Lippen aufeinander, erhob sich und sah Mum an. „Sorge dafür, dass ihr nichts passiert, Janice. Wir sehen uns.“ Mum warf ihr blondes Haar zurück. „Ich danke dir und keine Sorge, ihr wird nichts geschehen.“ Natalia warf noch einen letzten Blick auf das Mädchen, dann ging sie mit schwingenden Hüften davon. Ich wollte ihr nachgehen, herausfinden wer sie war, doch mit einem Mal stand ich wieder neben Nick in der Dino-Ausstellung. Er redete gerade über irgendeine Band, die nächste Woche Freitagabend in einem kleinem Club in Whitechapel auftreten würde und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte mit ihm und seinen Schulfreunden dorthin zugehen. „Oh Mann, das war seltsam“, sagte ich. „Findest du nicht auch?“ Nick sah mich irritiert an. „Hast du mir überhaupt zugehört?“ „Nein, ich meine…“ Ich war total verwirrt, riss mich aber schnell wieder zusammen. „Tut mir leid, ich war kurz abgelenkt.“ Ich lächelte. „Ich gehe gerne mit dir und deinen Freunden aus. Die Frage ist nur, ob deine Freunde das auch wollen.“ Zu seinen Freunden zählte schließlich auch Chuck, der von der Sache mit Clary wusste. Bestimmt gab es da eine Menge Übernatürliche, die lieber nichts mit mir zu tun haben wollten. „Klar, wie kann man deinem Charme denn wiederstehen?“, wehrte er ab. „Chuck hat mich heute noch danach gefragt, ob du zu seiner Party kommen wirst.“ Ja, weil er Angst um seine Gäste hat. „Carter wird mich dahin schleifen“, entgegnete ich, gespielt um Mitleid bettelnd. 104 Nicks Stirn legte sich in Falten. „Carter? Das ist merkwürdig. Normalerweise schottet sie sich von allen anderen ab.“ „Carter Levinson?“ Er nickte. „Ja, sie hat sich verändert seit sie aus Kalifornien zurück ist. Erst kam sie kaum zur Schule, und später redete sie mit fast niemandem. Mit der Zeit ist es besser geworden. Sie hat sich mit Iphigenia Archer angefreundet, seitdem ist sie wieder mehr wie früher. Und jetzt wo du da bist benimmt sie sich, als wäre nie etwas passiert.“ Ich zog beide Augenbrauen hoch. „Willst du mir sagen, dass es eine Zeit gab, in der Carter Levinson niemals den Mund aufgemacht hat?“ Nick schien das nicht so zu amüsieren wie mich. „Es war schlimm, Aria“, sagte er ernst. „Als ihr gegangen seid, schien es so als wären alle erleichtert und gleichzeitig hatten sie Angst. Ich hab versucht herauszufinden was passiert ist, doch keiner wollte was sagen, wie als wären sie für ihr Schweigen bezahlt worden.“ Nicht ganz, aber wenn man einem Menschen etwas über die Welt der Übernatürlichen verriet, musste man selbst bezahlen. Mit dem eigenen Leben. „Mit Sicherheit lag das nur daran, dass sie mich vermisst haben“, log ich. Er glaubte mir nicht. „Das war es nicht. Das ist jetzt echt nicht böse gemeint, aber ich habe das Gefühl, die meisten mögen dich nicht mehr.“ Ein Hoch auf Nicks Menschenkenntnis. Selbst ein taubstummer Blinder konnte erkennen, dass fast jeder, meinen eigenen Bruder eingeschlossen, mich nicht leiden konnte. Ich tat es mit einem Schulterzucken ab. „Es gibt Schlimmeres. Außerdem habe ich ja noch Carter und dich. Was kümmern mich dann die, die ohnehin nichts mit mir zu tu haben wollen?“ Nick griff nach meiner Hand. „Alles klar, Themawechsel. Wir wollen uns doch schließlich die Dinosaurier ansehen, oder?“ 105 Um ehrlich zu sein: nein, wollten wir nicht. Ich wollte es jedenfalls nicht. Wir erreichten den Höhepunkt der Ausstellung: einen möglichst real aussehenden Tyrannosaurus-Rex, der sich bewegen konnte. Wäre das nicht mein millionster Museumsbesuch, hätte ich den Dino bestimmt genauso spannend gefunden wie die Touristen, die uns förmlich zerquetschten, nur um ein Foto zu machen, auf dem man wegen der seltsamen Lichtverhältnisse ohnehin so gut wie nichts erkennen konnte. Nick erzählte mir von seinen Plänen für die Zeit nach der Schule. Er wollte nach Amerika oder in die Schweiz und dort Physik studieren, seine mit Abstand größte Leidenschaft (obwohl die meisten Leute ihn für einen Sportfanatiker hielten, war er in Wahrheit ein richtiger Naturwissenschaften-Junkie). Ich hatte mir noch keine großen Gedanken gemacht. Ich wollte nicht schon wieder in die Vereinigten Staaten und auf ein Studium hatte ich noch weniger Lust, wo ich doch noch nicht einmal wusste, was ich überhaupt studieren sollte. Soweit ich wusste, konnte man weder ‚Sarkasmus‘ noch ‚von-jedem-gehasst-werden‘ als Studienfach belegen, und das waren meine einzigen Stärken, die mir momentan einfielen. Wenn Lucinda und ihre seltsamen Pläne, mich eines Tages zur Königin zu machen, nicht wären, würde ich mit dem Gedanken spielen eine Rucksackwanderung in Australien zu machen oder per Anhalter durch Europa reisen. Würde ich nicht das neue Hofmaskottchen der britischen Übernatürlichen werden, könnte ich nach Wien ziehen. Grandma Annie war Österreicherin und sie besaß mitten in der Hauptstadt Österreichs eine niedliche Wohnung für ihre Ferien dort. Mein Deutsch war zwar furchtbar (ich hatte das Fach bei der erstmöglichen Gelegenheit abgewählt), aber im 21. Jahrhundert konnte sogar jeder chinesische Reisbauer ein wenig Englisch. Dort könnte ich dann Englisch-Nachhilfe geben, obwohl ich Kinder eigentlich nicht mochte. Oder ich folgte 106 dem Beispiel von Grandma Annies Freundin Meggie und machte etwas in der Gartengestaltung, aber mit Steinen. Pflanzen überlebten meine Pflege meistens nicht, da war ich wie Dad. Und der hatte es fertig gebracht einen Kaktus krepieren zu lassen. Nur leider war ich nun mal der blöde Delfin, oder Dauphine, wie auch immer, und das bedeutete, dass meine Zukunft aus einem Haufen Regeln bestehen würde. Um Nick eine plausible Berufsmöglichkeit nennen zu können, sagte ich, ich würde versuchen wie Mum Anwältin zu werden. Das schien ihn zu beeindrucken, weil er bei mir jetzt nicht so die Zukunft bei Gericht gesehen hatte. Vor dem Gericht ja, als Angeklagte wegen Sachbeschädigung oder so. Aber nicht als jemand, der nichts verbrochen hatte. „Das war ein einziges Mal“, verteidigte ich mich. „Und du hast mitgemacht.“ An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte irgendwer einen Beutel mit Graffiti-Dosen mitgebracht. Falls ihr euch jemals gefragt habt, wie an einer Garage drei Straßen von Nicks Haus entfernt, der Spruch ‚Lieber teuer gelebt, als billig gestorben‘, gekommen ist, kann ich nur sagen, dass zumindest die Idee dazu nicht von mir gewesen war. Statt dass wir weiter darauf eingingen, berichtete er mir von ähnlichen Partyereignissen. Irgendwann driftete ich ab und lenkte meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes. Ein kleines Mädchen beugte sich keine vier Meter von uns entfernt über die Absperrung und versuchte mit ihren Fingerspitzen eine der Pflanzen um den ‚lebendigen‘ Dino herum zu berühren. Nein, nicht die Pflanze. Etwas anderes; ein kleiner schwarzer Ball. Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch, so als würde gleich etwas Schlimmes passieren. Kurz bevor das Mädchen das schwarze Ding erreichte, ging das Etwas in Flammen auf. Eine Stichflamme schoss hervor und setzte die Pflanzen ringsherum in Brand. Die Leute schrien vor Entsetzen auf und drängten in Rich- 107 tung Ausgang. In dem Tumult wurden Nick und ich getrennt. Ich wurde über die Absperrung gestoßen – genau auf eine freie Stelle zwischen den brennenden Pflanzen. Rauch und Lärm der von der Panik erfassten Menschen benebelten mein Gehirn, das viel zu lange brauchte um die Situation zu erfassen. Ich tastete nach der Magie. Wenn ich tatsächlich eine Casterville war und Feuer beschwören konnte, dann sollte ich es auch schaffen die Flammen zu ersticken. Meine schmerzenden Knochen protestierten heftig, als ich mich ein wenig aufrichtete. Ich streckte die Hand aus. Angestrengt versuchte ich das Feuer zu löschen, aber ich hatte keine Ahnung wie ich das tun sollte. Ich konzentrierte mich einzig und allein auf den Zauber, was bei all dem Geschrei um mich herum nicht gerade einfach war. Nach weiteren unglaublich kräftezehrenden Momenten, zeigten meine Bemühungen endlich Wirkung; die Flammen wurden kleiner und verschwanden schließlich ganz. Sofort explodierte der Schmerz in meinem Gehirn. Ich umfasste mit beiden Händen meinen Kopf. Es war schlimmer als sonst, viel schlimmer. Dabei war das nicht mal mein größtes Problem, denn ich hatte eben vor gut drei Dutzend Sterblichen Magie praktiziert. Wäre der schwarze Ball nicht genau in diesem Augenblick auf mich zu gekrochen, wäre ich wohl vor Erschöpfung zusammengebrochen. Aus der Nähe betrachtet sah das Etwas aus wie ein Hamster mit sehr dunklem Fell. Doch die hellen Funken, die immer wieder aus seinem Peltz sprühten, verrieten die Wahrheit: Das hier war kein Hamster. Das war ein leibhaftiger Dämon. Der Dämon krabbelte weiter auf mich zu. Ich wollte zurückweichen, aber dafür fehlte mir die Energie. Er erreichte meinen Fuß. Gleich ist es aus, dachte ich. Er kletterte auf meinen Turnschuh, schnüffelte eine Sekunde lang und… machte es sich gemütlich. 108 Ich lehnte mich vor und konnte zusehen, wie der Hamster-Dämon sich zusammenrollte und die Augen schloss. Vorsichtig stupste ich ihn an. Möglicherweise schlief er ja gar nicht und wartete nur darauf mich in Brand setzten zu können. Er öffnete die Augen wieder und reckte sich, als wollte er, dass ich ihn streichelte. Ganz langsam nahm ich ihn hoch und streichelte dabei seinen seidig weichen Körper. Dieser Dämon war mit Abstand die niedlichste, kuscheligste und süßeste Killermaschine aller Zeiten. „Wie heißt du denn?“ flüsterte ich und kraulte sein winziges Köpfchen. Der Hamster-Dämon sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Kein Wunder, schließlich saß ich in den verkohlten AusstellungsÜberresten, knuddelte einen Feuerdämon und fragte ihn nach seinem Namen. Dann bemerkte ich, dass der Dämon gar nicht mich anschaute, sondern die Tyrannosaurus-Figur hinter mir. „T-Rex“, sagte ich leise. „So nenne ich dich.“ Unglaublicherweise schien der Dämon mich zu verstehen, denn er machte eine Kopfbewegung, die wie ein zustimmendes Nicken aussah. Oder der ganze Rauch hatte nachhaltige Schäden bei mir verursacht, sodass ich anfing zu halluzinieren. „Scheiße! Aria! Ist alles klar bei dir?“, rief Nick. Er stürzte auf mich zu. Menschen konnten Dämonen nicht sehen. Um peinliche Fragen zu vermeiden, warum ich eine, für ihn leere, Hand hochhielt, setzte ich T-Rex vorsichtig auf meine Schulter, griff nach Nicks Hand und stand auf, wobei ich aufpasste, dass der Dämon nicht runterfiel. Glücklicherweise war dieses Exemplar der Höllenbrut intelligent genug sich festzukrallen und unglücklicherweise tat es das sogar sehr gut – an meinen Haaren. Weil Nick eben Nick war, drückte er mich fest an sich, wie Carter es in dieser Situation (zehn Mal fester) bestimmt auch gemacht hätte. Wenn ich später mal wiedergeboren werden sollte (ein umstrittenes 109 Thema, selbst in der übernatürlichen Welt), würde ich mir einen nicht ganz so umarmungssüchtigen Freundeskreis zulegen müssen. Auf Dauer war das nämlich wirklich schmerzhaft. In meinem Nacken prickelte es, als würde man mich beobachten. Ich löste mich aus Nicks Umklammerung und drehte mich um. Dort, am Ausgang, stand ein junger Mann, der auffällig zu mir rüber schaute. Ein furchtbarer Gedanke kam mir in den Sinn: Was wenn das kein gewöhnlicher Mensch war, sondern beispielsweise ein Berserker? Was dachte er von mir, wo er doch sehen konnte, dass ich einen Dämon auf meiner Schulter trug (der sich inzwischen damit zufrieden gab seine Pfoten in meinem Pullover zu versenken). Der Mann hatte dunkles Haar und trug einen langen schwarzen Ledermantel über irgendwie befremdlich aussehender schwarzer Kleidung. Obwohl wir gute zehn Meter voneinander entfernt standen, konnte ich die Farbe seiner Augen erkennen. Sie wirkten wie zwei perfekte Türkise, die in sein Gesicht eingelassen worden waren. Seine Figur war ziemlich faszinierend, so durchtrainiert wie er war. Ich war mir nicht sicher, ob selbst Jason oder Ash mit ihm mithalten konnten. „Du hattest echt viel Glück. Ich dachte schon, du hättest dich mega verbrannt“, sagte Nick laut. „Letztens haben sie im Fernsehen Opfer von so einem Großbrand gezeigt. Die waren alle ganz verrußt und voll mit diesen Brandblasen. Da war echt überall Blut! Es sah echt übel aus. Die Sanitäter wussten gar nicht, wem sie zuerst helfen sollten. Ich sah ihn an und verdrehte die Augen. „Wie du siehst bin ich gerade noch am Leben.“ Der Mann an der Tür war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich suchte unauffällig den ganzen Raum nach ihm ab, aber er blieb verschwunden. „Ja, und ich bin echt froh darüber“, erwiderte Nick. Innerlich mit den Nerven total am Ende, folgte ich ihm nach draußen durch die 110 Menge geschockter Museumsmitarbeiter, ratloser Feuerwehrmänner und schaulustiger Touristen. Ich bin echt froh, wenn dieses Treffen endlich zu Ende ist, schoss es mir durch den Kopf. Noch mehr unangenehme Überraschungen für heute brauchte ich wirklich nicht. Auf die Erfüllung meines Wunsches musste ich glücklicherweise nicht lange warten, denn Nick hatte gleich noch ein wichtiges Treffen mit seinen Freunden aus der Physik-AG. Sie wollten irgendein ‚echt cooles‘ Experiment machen. Ich versprach ihm, ihn nachher noch anzurufen, schwor mir aber innerlich es nicht zu tun. Was hatte dieses Treffen denn bitte gebracht? Einkaufen zu gehen mit Carter wäre viel witziger gewesen. „Aria“, murmelte Nick, als wir gemeinsam auf seinen Bus warteten. Ich hob den Kopf. „Wie sehr… hast du mich vermisst?“ Er sprach so leise, dass ich die Frage kaum verstand. Einen Moment lang musterte ich ihn um zu prüfen ob er es ernst meinte. Verdammt, er meinte es ernst. Ich überlegte. „Du bist mein bester Freund und wir kennen uns jetzt schon seit einer Ewigkeit, also würde ich sagen du hast mir verdammt viel gefehlt.“ Er schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Ich will wissen wie sehr du mich magst?“ Ich runzelte die Stirn. „Nick, worauf willst du hinaus?“ In diesem Augenblick kamen eine riesige japanische Touristengruppe und Nicks Bus gleichzeitig. „Bis morgen“, verabschiedete er sich hektisch und stieg ein, ohne mir meine Frage zu beantworten. Sobald Nicks Bus außer Reichweite war rief ich Carter an und teilte ihr mit, dass ich doch noch einkaufen gehen würde. Vielleicht stimmte es ja, dass ein paar neue Klamotten einem die Stimmung verbessern konnten. Momentan wäre ein bisschen Fröhlichkeit wirklich nicht schlecht. Ich setzte T-Rex in die Außentasche, wo er schlafen konnte 111 und auch Luft bekam. Wie es zu erwarten gewesen war, stand Carter gerade an einer Kasse in einem Geschäft in der Oxford-Street, wo sie den ganzen Nachmittag verbracht hatte (ich weiß, kein richtiger Londoner kaufte in der Oxford-Street ein, aber Carter war da wohl die goldene Ausnahme). Sie freute sich und versprach an der nächsten UBahn Station auf mich zu warten. Eine halbe Stunde später verpasste Carter mir die übliche Begrüßungszerquetschung und zerrte mich gleich darauf in den ersten Laden, eine Tierhandlung, die auch Haustiermöbel im Angebot hatte. Ich hatte ihr am Telefon eine herzzerreißende Geschichte von Aria Grey, der selbstlosen Hamsterretterin vor dem Tod auf der Straße, erzählt. Ich fühlte mich mies weil ich sie anlog, aber andererseits konnte ich ja schlecht sagen: ‚Das ist ein gefährlicher Feuerdämon in der Gestalt eines harmlosen Hamsters. Ich habe ihn entdeckt als er versucht hat das Museum abzufackeln, aber keine Sorge in den letzten fünfundvierzig Minuten hat er noch nicht versucht jemanden zu fressen. Lass uns einfach so tun als gehörte er nicht zu unseren geborenen Todfeinden, obwohl wir an oberster Stelle seiner Beuteliste stehen.‘ Carter würde schreiend zur Berserkerzentrale rennen, um ein Dämonen-Killerkommando zu holen und mir einen Vogel zeigen. Okay, wahrscheinlich eher anders rum. Sie würde mir erst einen Vogel zeigen und dann schreiend davonrennen. Der Kassierer in der Tierhandlung war äußerst zuvorkommend. Er bot an T-Rex in seinem neuen Käfig erstmal im Laden zu behalten und ihn nach Geschäftsschluss persönlich bei mir Zuhause abzuliefern. Da ich keine Lust hatte den leicht entzündlichen HamsterDämon mit in die ganzen Geschäfte zu nehmen, stimmte ich diesem Plan zu. Carter und ich amüsierten uns den Abend über prächtig. Wie früher schon, redeten wir die völlig verwirrten Geschäftsangestellten auf Latein an und taten so, als würden wir kein Englisch verstehen. Be- 112 sonders eine Beraterin in einem Schuhgeschäft hatte damit ihre Probleme. Sie erklärte uns mit Händen, Füßen und den lustigsten Gesichtsausdrücken die Vorteile von High Heels gegenüber denen von Pumps, was besser war als alle Comedy-Shows im Fernsehen zusammen. Wir fanden auch geeignete Outfits für Chucks Party und auch noch welche für ein paar andere Anlässe. Anschließend beschlossen wir noch nach Weihnachtsgeschenken für unsere Familien zu suchen. Schließlich hatten wir in ein paar Wochen schon den 25. Dezember. Draußen war es dunkel geworden, also hatte man überall die Beleuchtung angeschaltet. Die Vorweihnachtszeit war eine meiner liebsten Zeiten im Jahr, weil alles so festlich geschmückt wurde und permanent Weihnachtslieder in den Läden gespielt wurden. Ich liebte die Plastikbäume, die Holzfiguren und den Kunstschnee in den Schaufenstern und genoss die heitere Atmosphäre und den Geruch von Tannen- und Mistelzweigen. Alles fühlte sich so vertraut an und auch die Leute auf den Straßen waren viel freundlicher zueinander. In einem von Carters und meinen Lieblingsläden trafen wir auf Iphigenia, die ebenfalls auf der Suche nach Geschenken für ihre Liebsten war. Carter überredete sie, dass sie doch mit uns kommen könnte, aber ich war von dieser Idee nicht wirklich überzeugt. Bisher hatte Iphigenia auf mich wie eine arrogante Streberin gewirkt, die in der Schule immer die kleine Miss Perfekt spielte. Ich dagegen hatte zu den meisten Lehrern ein nicht ganz so großartiges Verhältnis (größtenteils auch wegen der Sache mit Clary). Umso überraschter war ich, als ich merkte, wie gut ich mich mit Iphigenia verstand. Sie bot mir an, dass ich sie wie Carter ‚Ivy‘ nennen durfte, statt immer ihren Zungenbrecher von einem Vornamen aussprechen zu müssen. Weniger unerwartet war, dass ihr größter Wunsch lautete, eine Wicca zu werden. Sie wirkte wie die makellose Version einer Jugendlichen Hexe, die niemals einen Fehler machte. 113 Aber trotz der guten Schwingungen zwischen uns an diesem Abend, erzählte ich nichts von meiner Krönung. Carter fragte zwar, wieso ich in Mythologie hatte gehen müssen, aber ich behauptete einfach es wäre nur um Formalitäten wegen der Schulunterlagen aus Amerika gegangen. Ich konnte ihnen die Wahrheit nicht sagen. Es fühlte sich falsch an, dass ausgerechnet ich die nächste Königin werden sollte. Ich wollte keine Krone, keine Kleider, keinen verdammten Hofstaat. Alles was ich mir wünschte war… Freiheit, Selbstbestimmung und vielleicht auch die Bestätigung für irgendetwas nützlich zu sein. Man hatte mir immer gesagt, Gott hätte uns eine Rolle im Leben gegeben, aber ich wusste nicht so recht was er mir mit meiner Sagen wollte. Sollte ich Aria Grey, die böse Mörderin sein, oder doch die feine Prinzessin? So wirklich eindeutig war er was das anging noch nicht gewesen. Ich konnte mir nichts unter meiner Zukunft vorstellen, rein gar nichts. Es war durchaus möglich, dass es daran lag, dass der Kissentyp wieder auftauchen würde um mich endgültig zu erledigen, sodass ich keine Zukunft hatte. Dieser Gedanke war noch deprimierender als die Vorstellung Königin zu werden. Dass ich keine Ahnung hatte, wie es mit mir weiterging, hieß aber nicht, dass ich nicht existieren wollte. Ganz im Gegenteil. Und falls der Kissentyp noch mal versuchen würde mich umzubringen, würde ich ihm auch zeigen wie sehr ich an meinem Leben hing. Ob er das überlebte, war für mich eher fragwürdig. Ich hatte gehofft darum zu kommen, doch irgendwann landeten wir beim Thema von Annabelles Tod. Ivy und Annabelle waren gute Freundinnen gewesen, deshalb betraf es sie mehr als Carter oder mich. Laut Ivy war Annabelle bei einem Ritual gestorben, das sie wahrscheinlich selbst durchgeführt hatte. Anscheinend hatte sie versucht einen Dämon zu beschwören, obwohl sie eine Wicca gewesen war. Dem entsprechend war der Zauber natürlich total fehlgeschlagen und bloß zu einer Anrufung geworden. 114 Bei einer Beschwörung, die nur von einer Sidhe bewerkstelligt werden konnte, musste der Dämon dem Beschwörer dienen und konnte nur so lange auf der Erde bleiben, wie sein Gebieter es verlangte. Bei einer Anrufung aber war es fast anders herum. Der Dämon konnte bleiben so lange er wollte und musste sich nicht an die Regeln des Anrufers halten. Meistens machten die Ausgeburten der Hölle sich den Anrufer gefügig um einen Handlanger zu haben, der sie ein wenig vor den Berserkern schützen konnte. Es war streng verboten einen Dämon sowohl anzurufen, als auch zu beschwören. Wir durften ihnen keine Möglichkeit geben in unsere Welt zu kommen, denn selbst Beschwörungen verliefen nie zu unseren Gunsten. Ihre Geschichte stimmte nur an einem Punkt mit Jasons überein, nämlich dass man sie blutleer aufgefunden hatte. Von einem Ritual hatte Jason aber nichts gesagt. Ivy brach während ihrer Erzählung in Tränen aus, womit ich nicht wirklich umgehen konnte. Im Gegensatz zu Carter lösten weinende Menschen bei mir kein Mitleid sondern Ratlosigkeit aus, weil ich nie wusste wie ich helfen konnte. Während Carter also den PsychoDoktor spielte, kaufte ich uns Wein von einem Straßenverkäufer. Danach wurde die Stimmung deutlich besser. Der Abend erreichte seinen Höhepunkt, als wir uns glitzernde Plastikkrönchen mit einem albernen Plüschbesatz kauften. Der Kassierer murmelte mit einem Blick auf unsere Einkaufstüten etwas von ‚Eltern, die ihren Kindern zu viel erlaubten‘, doch keiner von uns ließ sich von ihm den Einkauf verderben. Da wir nun mal alle mehr oder weniger Frauen waren (im Grunde war nur Carter volljährig), setzten wir uns irgendwann in ein gemütliches Café, bestellten uns etwas zu essen und redeten über Gott und die Welt. Nach den üblichen Lästereien über Lehrer und Mitschüler, zu denen ich nicht gerade viel beitragen konnte, gingen wir zum Thema Jungs über. Ivy verpasste mir einen halben Herzinfarkt als sie uns 115 offenbarte, dass sie Stephen ganz niedlich fand. Meinen Bruder Stephen, für den ich seit Clarys Tod das Böse in Person war. Ich empfahl ihr, nett wie ich nun mal war, ihm gegenüber nicht zu erwähnen, dass wir befreundet waren, damit sich zwischen den beiden überhaupt etwas entwickeln konnte. Obwohl Stephen nun wirklich nicht hässlich war, hatte er seit Clary keine andere Freundin gehabt. Er hatte sie tatsächlich geliebt, und ja, auch ich hatte mich gewundert, dass das überhaupt möglich war. Aber gut, sie war auch nicht seine Schwester gewesen. Carter hatte angesichts von Ivys Geständnis und meinem Gesichtsausdruck einen Lachanfall bekommen, in den wir nach und nach auch einstimmten. Einfach so, weil es gut tat zu lachen. In diesem Moment fühlte ich mich wie ein ganz normaler Teenager, ohne die ganze Magie, die Dämonen und der Prinzessinnen-Geschichte. So musste es sein wenn man ein normaler Mensch war. Okay, ein angetrunkener, normaler Mensch traf es wohl besser. Die zwei Flaschen Rotwein vom Straßenverkäufer waren jedenfalls schon leer. „Stimmt es, dass du es in Kalifornien mit dem gesamten Footballteam getrieben hast?“, fragte Ivy. Ich schüttelte mich vor Abscheu und dachte dann an den Fullback Shane Worrington, der ein echtes Ekelpaket war. „Igitt, nein. Wer behauptet denn sowas?“ „Stephen“, antwortete Ivy. Klar, wer sonst. „Sie war mit dem Quarterback zusammen, David Irgendwas“, mischte Carter sich ein. Sie war ja größtenteils dabei gewesen. „Spencer, David Spencer“, korrigierte ich sie. „Aber wir sind schon seit dem Sommer getrennt.“ Ivys Neugier war geweckt. Ein Haufen Fragen brach aus ihr hervor. „Ach, und wie lange wart ihr ein Paar? Warum habt ihr euch getrennt? Wer von euch hat Schluss gemacht? Hat er jetzt eine Neue?“ 116 „Also erstens“, sagte ich. „Wir waren zehn Monate zusammen. Soweit ich weiß ist er immer noch Single, aber ich hab ihn seit meiner Trennung von ihm nicht mehr gesehen. Er ist jetzt auf der McGill University und startet dort seine große Footballkarriere. Ich wollte keine Fernbeziehung, also habe ich ihm den Laufpass gegeben.“ „Hast du ihn denn gar nicht geliebt?“, hakte Ivy interessiert nach. Gute Frage. „Nein, nicht wirklich. Nicht so wie ich es hätte tun müssen.“ David war in vielerlei Hinsicht großartig gewesen, weswegen ich mich überhaupt auf ihn eingelassen hatte. Er hatte mich oft zum Lachen gebracht und hatte stets auf meiner Seite gestanden, selbst wenn ich im Unrecht gewesen war. Aber nach zehn Monaten Beziehung und dem Wissen, dass er aufs College und ich im Winter zurück nach England gehen würde, hatte ich beschlossen unsere Beziehung zu beenden. Die Zeit mit ihm war wunderschön gewesen, aber alles hatte nun Mal sein Ende. Außerdem, wohin hätte es noch führen sollen? Er war nicht Teil meiner Welt und ich hatte es langsam satt gehabt eine Lüge leben zu müssen. „Ich hatte auch mal eine Beziehung, die ich aus ähnlichen Gründen beenden musste“, meinte Ivy einfühlsam. „Das ist immer hart, selbst wenn es die richtige Entscheidung ist.“ Ich wandte mich an Carter. „Was ist eigentlich mit dir? Hast du irgendwelche Skandale am Laufen, die du uns anvertrauen möchtest?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Momentan nicht. Ich bin der Meinung Männer werden völlig überbewertet.“ Glaubt sie eigentlich selbst an das, was sie sagt? „Hey.“ Ivy tätschelte Carters Hand. „Wir sind’s. Du kannst uns alles erzählen. Wir halten zu dir, du kannst uns vertrauen. Sister for Mister, richtig?“ Das war der Augenblick in dem ich Ivy wirklich ins Herz schloss. Sie war die fürsorgliche Freundin, die Carter brauchte und ich niemals 117 sein konnte. Es tat gut jemanden zu haben der gleichzeitig mitfühlen und logisch denken konnte. Carter seufzte und sah auf ihre silberne Armbanduhr, die farblich mit ihrem Armband übereinstimmte. „Ich muss los, wir haben schon halb elf.“ Sie hatte Recht; es war schon sehr spät. Wir bezahlten und gingen gemeinsam zum nächsten Taxistand, die Arme ineinander verhakt. Carter war in der Mitte, da sie die höchsten Absätze besaß und sich beim Trinken kaum zurückgehalten hatte. Reden funktionierte einwandfrei, aber Laufen war dann doch etwas problematisch. Obwohl ich meine Jacke geöffnet hatte und die Temperaturen auf unter null Grad gesunken waren, war mir richtig warm. Ich fühlte mich geborgen und sicher, ein Gefühl von dem ich geglaubt hatte es nach Clarys Tod nie wieder spüren zu können. Nicht etwa weil wir uns nahe gestanden hätten – für mich war sie immer nur Stephens Freundin gewesen – sondern weil ich geglaubt hatte, dass der Gedanke an das was passiert ist, mir jegliche Freude im Leben rauben würde. Nicht die Art von Freude, die ich empfunden hatte, als Jason mich hübsch genannt hatte, es war anders. Und wie das bei Gefühlen so war, einfach unbeschreiblich. Ivy und Carter nahmen die ersten Taxen in Beschlag, sodass ich beschloss noch ein wenig zu warten. Die beiden protestierten, weil sie nicht wollten, dass ich alleine hier im Dunkeln stand, doch ich schaffte es sie dazu zu bringen sofort nach Hause zu fahren. Ich war alt genug um ein paar Minuten allein zu sein. Seufzend stellte ich meine Taschen neben mir auf den Boden. Die Taxen waren gerade um die Ecke gebogen und aus meinem Sichtfeld verschwunden, als mein Handy anfing zu klingeln. Ich nestelte es aus meiner Hosentasche. ‚Unbekannter Anrufer‘ zeigte der Display an. Neugierig nahm ich den Anruf entgegen. „Ariana?“ Das war Jasons Stimme. 118 „Wer sonst? Woher hast du meine Nummer?“ Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihm meine Nummer nicht gegeben hatte. „Deine Mum wollte, dass ich dich im Notfall anrufen kann“, antwortete er knapp. „Und das hier ist ein Notfall.“ Verdammt, er hatte das mit T-Rex rausgekriegt. Bestimmt würde er mir jetzt sagen was für eine Verräterin ich war und dass man Dämonen nicht als Haustiere halten konnte. Egal wie hübsch er mich finden mochte, er würde mich mit Sicherheit an die Behörden übergeben. Die Berserker würden mir T-Rex wegnehmen und mich wahrscheinlich ins Gefängnis stecken, sobald ich achtzehn war. Aber hey, immer hin musste ich dann keine Prinzessin werden. „Sagt dir der Name Samael etwas?“ Er klang angespannt. „Das ist einer der Höllenfürsten und wie es aussieht ist er derjenige, den Annabelle Munroe angerufen hat. Ein paar Berserker haben ihn in der Nähe von Oxford Circus geortet und laut Ash bist du mit ein paar Freundinnen dort.“ Woher wusste Ash das? „Carter und Ivy sind schon weg, ich bin allein.“ Ohne dass ich es wollte, zitterte meine Stimme. „In Ordnung, bleib wo du bist. Ich bin gleich bei dir, alles wird gut, dir wird nichts passieren. Pass auf dich auf und versuche nicht weiter aufzufallen. Samael ist dafür bekannt, dass er sich seine Opfer danach aussucht welchen Effekt ihr Tod auf die Gesellschaft haben könnte. Umso aufsehenerregender die Folgen, desto mehr Spaß hat er.“ Ich hatte Angst vor der Antwort, dennoch fragte ich. „Wie schlimm wäre es, wenn ich sterbe?“ „Du bist die einzige lebende Erbin für den Thron von England, ohne dich würde eine Jahrtausend alte Monarchie untergehen“, erwiderte Jason ruhig. „Außerdem würden dich viele vermissen.“ 119 „Du auch?“ Vielleicht war das der falsche Moment dafür, aber Nachfragen kostete ja nichts und falls ich gleich starb, würde ich es nie erfahren können. „Ich vermutlich am meisten, Ariana“, sagte er leise und legte auf. Das zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Es war mir egal, dass er das wahrscheinlich nur aus Höflichkeit gesagt hatte. Jason war attraktiv, intelligent und er sorgte sich um mich, was konnte ich mehr verlangen? Okay, mir fiel noch einiges ein was er noch für mich tun könnte, nur war das nicht der ideale Zeitpunkt um über Romantik nachzudenken. Abgesehen von mir war die Straße vollkommen leer. Wind war aufgekommen und er brachte eine unangenehm eisige Kälte mit sich. Zitternd machte ich meine Jacke zu und schlang die Arme um meinen Körper. Die Wärme von vorhin schien sich mit Carter und Ivy ins Taxi gesetzt zu haben und war davongefahren. Der Mond am Himmel wurde teilweise von schweren Wolken verhangen, die weitere Regenoder Schneeschauer für heute Nacht ankündigten. Es war so still wie auf einem Friedhof, nicht mal die Geräusche der normalerweise so belebten Stadt waren zu hören. So als wären sie alle tot. Ich schüttelte diesen Gedanken ab. Niemand war tot, ich machte nur gerade aus einer Mücke einen Elefanten. Dann hörte ich halt nichts, na und? Ich hatte einfach zu viel getrunken und hörte deswegen nicht mehr so gut, das war doch ganz logisch. Ein kalter Windstoß blies mir meine ganzen Haare ins Gesicht. Von irgendwoher hörte ich plötzlich einen Raben krächzen. Es war das perfekte Horrorfilm-Feeling. Wie aus dem Nichts legte sich von hinten eine Hand auf meinen Mund, die meinen Schrei erstickte. 120 Glühende Finsternis KAPITEL V Die Mörderin & der höllische Lebenstiefpunkt mit einem Hotelplaner Ein kräftiger Männerarm presste mich an meinen Angreifer. Ich strampelte wie wild, aber er war viel stärker als ich. Er zerrte mich in eine kleine Gasse hinter zwei Müllcontainer, ließ mich dort los und schubste mich gegen die Wand der Sackgasse. Ich knallte mit dem Kopf gegen den Stein, wobei ein Stück Haut aufriss. Die Wunde brannte und Blut lief mir über die Schläfen. Es war nicht viel, aber es reichte, um mich in Angst zu versetzen. „Stell dich gerade hin“, blaffte der Fremde. Seine Stimme. Es war der Typ von gestern Nacht, der mir so vertraut vorgekommen ist. Sein Gesicht wurde unter einer venezianischen Karnevalsmaske versteckt, die mich mit einer gruselig fröhlichen Miene belächelte. Schluchzend folgte ich seinem Befehl und richtete mich, an die Wand gelehnt, auf. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“, krächzte ich. Er hob den Arm. In seiner rechten Hand hielt er ein silbernes Messer. „Ich werde dich töten, weil du Abschaum der Hölle bist. Hexen, Vampire, Werwölfe, Gestaltwandler – das alles muss vom Angesicht der Erde getilgt werden. Erst dann können wir wieder auf Erlösung hoffen.“ Okay. Der Typ war auf einer Verrücktheitsskala von eins bis zehn eine glatte hundert. 121 Ich hob beschwichtigend die Hände. „Ganz ruhig, Sir. Sie haben Recht: ich bin eine Hexe, aber das macht mich nicht zu einem Dämon. Ich habe nichts mit der Hölle zu schaffen. Es gibt keinen Grund mich umzubringen.“ Sein Lachen klang wie ein Knurren. „Verstehst du es nicht, kleine Hexe? Du bist so gut wie tot, denn deine Seele ist schon längst verloren. Ich werde dich aufschlitzen, dir beim lebendigen Leib das Gesicht abschälen und deine zertrennten Körperteile an all deine anderen Dämonenfreunde schicken. Du kannst uns nicht aufhalten!“ „Uns?“, hakte ich nach. „Verstehen Sie mich nicht falsch, aber im Moment sind Sie allein. Oder haben Sie ein paar unsichtbare Freunde mitgeschleppt?“ Ich musste ihn zum Reden bringen. Leute die redeten, brachten einen normalerweise erst dann um, wenn sie fertig mit Sprechen waren. Meine Berserker-Familie, vor allem Grandma Annie, hatte mir die eine oder andere ihrer Gefahrenabwehrmethoden beigebracht. Er lachte und bei diesem Klang stellten sich Härchen in meinem Nacken auf. „Hier sind nur wie beide, aber ich bin nicht der Einzige, der dich und die anderen tot sehen will. Ihr werdet alle sterben, keine Sorge.“ „Was sagt eigentlich ihre Mutter dazu, dass sie in ihrer Freizeit versuchen kleine Mädchen töten?“, fragte ich, möglichst gelassen. Ich musste ihm zum Nachdenken bringen, ihn ablenken, um mir mehr Zeit zu verschaffen um einen Fluchtplan erstellen zu können. „Meine Mutter“, spuckte er die Worte aus. „Sie interessiert es nicht, was ich tue. Ich werde sie zur Strecke bringen, gleich nachdem ich mit dir fertig bin.“ Okay, mein Plan war wohl nach hinten losgegangen. Der Typ gehörte nicht zu der Art Serienkiller, die noch heimlich bei ihren Eltern wohnten und bei der Erwähnung ihrer Mummy sentimental zu weinen anfingen. Vielleicht hätte ich nach seiner Grandma Fragen sollen. Bei 122 Großmüttern wurde doch jeder weich. Allerdings rechnete er jetzt vermutlich mit dieser Frage, also hatte es keinen Sinn sie zu stellen. Ich musste ihn überrumpeln. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen. „Das werden wir ja noch sehen.“ Ich griff nach der Magie und schleuderte sie ihm entgegen. Leider schien ihm das nichts auszumachen, da er weiterhin ruhig dastand und mich mit dem Messer bedrohte. „Wie du siehst habe ich dazu gelernt, Kleine“, sagte er. „Deine Magie kann mir nichts mehr anhaben.“ Fasziniert legte ich den Kopf schief. Ich hatte nicht gewusst, dass man magieresistent werden konnte. Ganz selten gab es Übernatürliche, die konnten Zauber abhaben, aber wie gesagt, die waren sehr, sehr, sehr selten. „Das macht nichts, dann versuch ich‘s eben anders.“ Ich sprang auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht. Damit hatte er anscheinend nicht gerechnet, denn er stolperte nach hinten. Mit aller Kraft trat ich ihm gegen den Oberschenkel. Er schnaufte, erholte sich aber schnell und stürzte sich nach vorn. Seine eine Faust landete zuerst in meiner Magengrube, die zweite etwas unterhalb meiner Schulter. Beides tat verdammt weh und ich kippte gegen die Wand. Aus den Augenwinkeln sah ich sein Messer aufblitzen. Instinktiv duckte ich mich weg und hörte stattdessen das ohrenzerreißende Geräusch von Metall das auf Stein traf. Oh Mann, der Typ meinte es tatsächlich ernst, er wollte mich wirklich umbringen! Erneut raste die Klinge auf mich zu. Ich packte sein Handgelenk und hielt ihn fest, die Spitze des Messers war nur Zentimeter von meinem Hals entfernt. Ich wusste nicht wie, aber mit einem Mal stand sein Ärmel, den ich umklammert hielt, in Flammen. Der Fremde jaulte und wich zurück. Dabei ließ er sein Messer fallen. 123 Großer Fehler, dachte ich. Ich zögerte nicht, rammte ihm meinen Ellenbogen in die Kehle, packte ihn dann an seinem Hals, wirbelte ihn herum und drückte ihn gegen die Wand, wobei seine Arme von seinem Körper zerquetscht wurden. „Wer sind Sie?“, zischte ich wütend. „Ich bin dein Tod“, knurrte er. Meine Hand, die ihn unterhalb des Kinns umklammert hielt, wurde mit Blut betröpfelt. Seinem Blut. Ich hatte ihn wohl mit irgendwas verletzt, aber besonders Leid tat er mir deswegen nicht. Mit meiner freien Hand versuchte ich ihm die Maske abzunehmen, aber es funktionierte nicht. Es schien so, als wäre sie an sein richtiges Gesicht angetackert. Ich hielt von dem Versuch ab ihn zu demaskieren und tat etwas anderes. Etwas, was alles an Brutalität übertraf, was ich jemals getan hatte. „Wenn sie mein Tod sind“, erwiderte ich kalt „dann bin ich ihr Fegefeuer.“ Statt erneut zu probieren ihn mit Magie zu anzugreifen, leitete ich sie in meine Finger, bis ich das Gefühl hatte das Kribbeln nicht länger aushalten zu können. Dann stieß ich ihm meine Hand in den Brustkorb. Ich hätte mir vor Ekel fast an Ort und Stelle die Seele aus dem Leib gekotzt. Seine inneren Organe fühlten sich warm und glitschig an, heißes Blut lief über meine Hand in meinen Ärmel und durchtränkte ihn. Ich berührte ein kleines pulsierendes Ding und umfasste es vorsichtig. Ja, es war zum Erbrechen ekelhaft. Der Angreifer röchelte und keuchte vor Schmerz. „Also, wer sind Sie?“, wiederholte ich, bemüht mein Essen drin zu behalten. „Oder muss ich Ihnen ihr Herz ausreißen, um es herauszufinden?“ 124 Unfassbarerweise fing der Fremde an zu lachen, grausamer und kälter als zuvor. „Du wirst verlieren, kleine Hexe. Gegen sie hast du keine Chance. Ich drückte seine Kehle ein wenig fester, woraufhin er sich unter Schmerzen krümmte. „Wer ist sie?“ „Sie ist mächtiger als wir alle zusammen. Du kannst sie nicht aufhalten, niemand kann das“, würgte er. Wütend packte ich noch energischer zu. „Du würdest dich wundern wenn du wüsstest, wozu ich alles in der Lage bin.“ „Oh, ich weiß es“, höhnte er. „Aria Grey, die Mörderin der Freundin ihres eigenen Bruders. Das Mädchen ohne eine leibliche Familie, das nirgendwo wirklich hingehört.“ Seine Umrisse fingen an zu verschwimmen, selbst meine Hand die in seinem Körper steckte, ertastete nur noch Luft. Von irgendwoher erklang seine Stimme. „Sie weiß alles.“ Mit einem Scheppern knallte seine Maske auf den Boden, während er buchstäblich verschwunden war. Verwirrt suchte ich die Umgebung nach ihm ab, aber es sah danach aus, als hätte er sich einfach in Luft aufgelöst. Ich sammelte das einzige Beweisstück auf, das ich für seine Existenz hatte: die Maske. Im schummrigen Licht der Straßenlaterne war das Grinsen der hässlichen Fratze unerträglich selbstzufrieden. Wer auch immer diese Typ gewesen war, Mum hatte Recht gehabt. Das hier was erst der Anfang. Beim nächsten Mal würde ich nicht so einfach davonkommen. Diese Maske war eine Warnung an mich, dass ich nicht wusste wer der oder die Angreifer in Wahrheit waren. Es bedeutete, dass ich davon ausgehen musste, dass jeder, den ich kannte, möglicherweise meinen Tod wollte. Von jetzt an durfte ich niemandem mehr vertrauen. Ich sah auf meine Hände hinunter. Eine davon war mit Blut überzogen, welches bereits zu trocknen anfing. Die rote Farbe erinnerte mich an die Vision von meiner Leiche, denn auch die Krone war so von 125 Blut überströmt gewesen. Damit stand fest was diese Vision bedeuten sollte: Wenn ich wirklich Königin werden wollte, würde ich Gewalt anwenden müssen, die mich letztendlich mein Leben kosten würde. In meinem Blickfeld tauchte eine große Gestalt auf, die eilig auf mich zu rannte. Ich wich zurück. Der Mann hielt mich an meinen Oberarmen fest und sah mich eindringlich durch seine dunklen Augen an. Ich kannte ihn nicht, da war ich mir sicher. „Wer weiß, dass du hier bist?“, fragte er besorgt. Im meinem Kopf hämmerte es. Die Magie, die ich verwendet hatte, hatte mich als Anker benutzt und die Folgen davon zerfraßen mich jetzt von innen. „Jason. Jason Thales.“, hauchte ich. „Wie heißen sie?“ Der Mann packte mich, als meine Beine nachgaben. „Ich bin -“ Vor meinen Augen wurde alles schwarz und ich stürzte in unendliche Dunkelheit. Seinen Namen bekam ich leider nicht mehr mit. Ich war wenig überrascht mich in der kargen Steinwüste wiederzufinden. Die eisige Kälte, die mir inzwischen schon vertraut vorkam, durchdrang meine Kleidung und ließ mich bis auf die Knochen frieren, während ich wie schon zuvor zu dem Torbogen marschierte. „Du siehst aus, als wärst du gerade aus dem Abfluss gekrochen“, kommentierte eine fremde Stimme von irgendwo hinter mir. Aufgeschreckt wandte ich mich um. Dort an einem großen Felsen lehnte ein ungefähr Sechzehnjähriger mit schmächtiger Statur, blasser Haut, dunklem Haar und schwarzen Klamotten. „Oh, und wer bist du jetzt?“, fragte ich verblüfft. Bisher war ich immer alleine hier gewesen. Außerdem war er schon der dritte Fremde, dem ich innerhalb der letzten fünf Minuten diese Frage gestellt hatte. Der Junge seufzte theatralisch. „Dir auch einen guten Tag. Um auf deine Frage zurückzukommen, ich habe viele Namen. Früher nannte 126 man mich Lichtträger, doch das ist lange her. Für die meisten bin ich ‚Herr‘, Gebieter‘ oder bloß ‚Eure Majestät‘.“ Ich lachte auf. Dieser schwächliche… Junge sollte ein Herrscher sein? Wer’s glaubt. Aber sein Blick verriet mir, dass er es ernst meinte. Ich riss mich zusammen und fragte stattdessen: „Und wie soll ich dich nennen?“ „Das hängt davon ab.“ „Wovon hängt es ab?“, hakte ich nach. Er verschränkte die dünnen Arme vor der Brust. „Davon, ob du Freund oder Feind bist.“ Irritiert runzelte ich die Stirn. „Ich bin weder mit dir befreundet, noch mit dir verfeindet. Schließlich kenne ich dich gar nicht.“ Der Junge stöhnte. „Was bringen sie euch heutzutage eigentlich in der Schule bei? Selbst Leonardo wusste, dass es ein schlechtes Zeichen war, als Übernatürlicher in einem Traum in einer fiktiven Welt mit einem gutaussehenden Unbekannten zu sprechen. Meistens handelt es sich dann nämlich bei diesem Fremden um einen Dämon, der einem die Seele klauen will.“ Ich hätte vieles Fragen können, zum Beispiel warum sich dieser unscheinbare Schwächling für gutaussehend hielt (er sah schließlich aus wie eine blasse Vogelscheuche), aber aus meinem Mund kam nur: „Wer ist Leonardo?“ Eine sehr wichtige Frage, ich weiß. Da hätte ich genauso gut fragen können was denn so schlimm daran sei die eigene Seele zu verlieren (die Antwort: Man wird ein willensloser Sklave der Hölle oder man hat Glück und stirbt sofort). „Leonardo da Vinci natürlich“, entrüstete sich der Lichtträger-Typ. Ich verdrehte innerlich die Augen vor Ironie. Natürlich hat er da Vinci gemeint, wie konntest du bei einer Bevölkerungszahl von circa acht Milliarden Menschen nicht wissen, dass er ausgerechnet von diesem, schon sehr lange toten, Leonardo geredet hat? Sagte eine 127 sarkastische Stimme in meinem Kopf. Also wirklich, Aria, du solltest dich schämen. War nur ein Witz, ich war froh, dass ich überhaupt wusste wer Leonardo da Vinci gewesen war (ein Hoch auf Dads Liebe zu dem Film ‚Sakrileg –Der da Vinci Code‘): ein Erfinder, Kirchenkritiker und berühmter Maler, von dem die Mona Lisa aus Paris stammte. „Ach, der Leonardo“, sagte ich. „Und, bist du ein Dämon, der meine Seele klauen will?“ Er grinste. „Nein, ich bin kein Dämon.“ Ich wollte gerade erleichtert aufatmen, als er fort fuhr: „Ich bin viel, viel schlimmer.“ Oh Mann. Heute war wirklich nicht mein Tag. Der Junge stieß sich von dem Felsen ab, machte eine kleine Verbeugung und hielt mir die Hand zum Gruß hin. „Gestatten, der König der Hölle, der Höllenkaiser, meinetwegen auch der Höllenzar, wie deine russischen Kollegen zu mir sagen. Die Menschen nennen mich ‚Teufel‘ oder ‚Satan‘, obwohl das politisch inkorrekt ist. Du kannst mich ‚Morgenstern‘ nennen, wenn du möchtest, oder auch ‚Bitte – töte – mich – nicht – hoher – Herr – Morgenstern ‘, doch für meine Freunde bin ich Luzifer.“ Hatte ich schon erwähnt, dass heute ein mieser Tag war? Nun, jetzt erreichte mein ganzes Leben gerade seinen Tiefpunkt. Denn da ich mit dem Luzifer redete, dem Boss aller Bösewichte, Dämonen und sonstiger Schurken, steckte ich wahrscheinlich in sehr, sehr großen Schwierigkeiten. Außerdem befand ich mich wahrscheinlich gerade in der Hölle, was einen neuen Rekord an Problemen für mich darstellte. In meiner Fantasie schlug ich mir gerade mit der Hand gegen die Stirn. Bei all der Kälte und der seltsamen Warnung an dem noch seltsameren Torbogen, die ewige Verdammnis predigte, hätte ich im Grunde auch von selbst darauf kommen können. 128 Ich schüttelte seine Hand. „Ich bin Aria Grey, aber wenn ich dadurch verflucht werde, sprechen sie meinen Namen bitte lieber nicht aus.“ Luzifer lachte. „Wie paranoid ihr Sterblichen doch seid! Sobald man irgendetwas mit der Hölle zu schaffen hat, erwartet ihr immer gleich das Schlimmste.“ „Na ja, auf ihrem Willkommensschild hier stehen nicht gerade freundliche Worte“, verteidigte ich mich und deutete auf den Bogen. Er fuhr sich durch seine Haare. „Ja, die Umbauplanungen laufen schon. Ich wollte das Ganze im Urlaub-auf-Hawaii-Stil aufziehen, aber Belial ist strikt dagegen. Er meint Pools und Wellnessbereiche würden unser Image als ‚Nie endende Qualen‘ nicht gut zur Geltung bringen. Dabei stelle ich es mir absolut fantastisch vor“, er breitete die Arme aus, „Hier mache ich eine schöne Graslandschaft mit ganz vielen Blumen hin und zum Eingang führt dann eine Straße, an deren Seite Palmen stehen, aber welche ohne Kokosnüsse. Wusstest du, dass mehr Menschen von Kokosnüssen erschlagen, als von Haien gefressen werden? Diese haarigen Nuss-Dinger scheinen echt gefährlich zu sein.“ Der König aller fiesen Dämonen hielt Kokosnüsse für gefährlich. Ich verkniff mir einen Kommentar und hörte ihm weiter zu. „Es soll auf jeden Fall wärmer werden, damit die ganzen verdammten Seelen, die hierher kommen müssen, sich auch freuen. Dort hinten steht dann eine Hotelanlage und der Torbogen wird in etwas Passenderes umgewandelt.“ Ich musste lächeln, weil er so glücklich aussah beim Erzählen. „Lass mich raten“, erwiderte ich. „Auf dem Schild wird es heißen: ‚Willkommen im Hell’s Inn! Genießen sie die Ewigkeit mit unserem höllisch guten Service. Hier können sie am Pool des Bösen entspannen und mit T-Rex kuscheln, wenn er nicht dabei ist alles in Brand zu setzen‘.“ 129 Luzifer nickte begeistert. „Genau, sowas in der Art. Aber wer ist TRex?“ „Mein Hamster.“ Als der Höllenkaiser die Stirn runzelte ergänzte ich: „Er ist ein Feuerdämon, der heute das National History Museum in London abgefackelt hat.“ „Faszinierend“, meinte Luzifer nachdenklich. „Was ist faszinierend? Dass er mein Haustier ist, oder dass einer ihrer Leute freiwillig in ein todlangweiliges Museum geht?“, wollte ich nur so, der Neugier halber, wissen. Luzifer schaute mich an. „Weder noch. Du kommst aus London, sagtest du?“ Seine schwarzen Augen glänzten vor Begeisterung. „Die Hauptstadt von Großbritannien?“ Gab es noch ein anderes? Ich nickte. „Das ist höchst faszinierend“, sagte Luzifer. „Es ist wohl ein wenig ungewöhnlich dort, nach zwei Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika, oder? Obwohl… für euch britischen Übernatürlichen existieren ja noch die alten Kolonien. So gesehen hast du Britannien also nie verlassen.“ Ich hob eine Augenbraue. „Woher weißt du… wissen sie…, dass ich in Amerika war?“ Er brach in Gelächter aus, als wäre meine Frage das lustigste was er je gehört hatte. „Ich bin der König der Hölle, meine Dämonen sind überall auf der Welt verteilt. Es geschieht nichts, ohne dass ich davon erfahre. Du bist die bald achtzehnjährige Adoptivtochter von Janice und Daniel Grey. Ich weiß alles über dich, sogar, dass diese närrische Lucinda dich als Nächste auf dem Thron der britischen Übernatürlichen sehen will, um die Macht der Castervilles zu sichern. Eine Unverschämtheit, wenn du mich fragst. Du hast so viel Potenzial. Du könntest mit deinen Fähigkeiten viel mehr sein als nur eine Königin.“ 130 Sein Lob war mir irgendwie peinlich. „Danke, aber eigentlich will ich noch nicht einmal Königin werden. Ich möchte unabhängig von allen anderen sein.“ Luzifer nickte zustimmend. „Das ist durchaus verständlich. Als Frau ist das ein ziemlich unangenehmer Beruf, solange dein König lebt. Lucinda ist nur so mächtig, weil ihr Ehemann Harold schon vor Jahren verstarb, kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Christian. Sie war fast ihr ganzes Leben lang die alleinherrschende Königin, doch du wirst nur die königliche Marionette spielen dürfen. Nein, was du brauchst, ist eine echte Schlacht, einen Krieg, und wie es aussieht wirst du den bald auch bekommen.“ „Wofür brauche ich denn bitte einen Krieg?“, fragte ich verwirrt. „Na, um sie zu besiegen“, antwortete er, als läge das auf der Hand. „Und natürlich um am Leben zu bleiben, denn sie bringt dich sonst um. Oder ein anderer von ihnen.“ Frustriert kickte ich einen Stein weg. „Wer ist sie? Und warum will sie mich unbedingt töten?“ „Frag deine Mutter“, entgegnete er schulterzuckend. „Die Frau, die dich geboren hat. Sie kann dir das alles erklären und dir helfen das Ganze zu verstehen. Das ist ihre Aufgabe und nicht meine, denn ich soll dir lediglich Hinweise geben.“ Ich stemmte eine Hand in die Hüfte. Eine Geste, die einen ‚Beste Carter Levinson-Imitationspreis‘ verdient hatte. „Meine leibliche Mutter hat mich verlassen als ich noch ein Baby war und sich seit dem nicht wirklich um mich gekümmert. Sie ist verschwunden und hoffentlich schon längst verreckt. Wie soll ich sie also fragen, wieso ich einen Krieg brauche?“ Er lächelte schwach. „Du schaffst das schon. Ich habe volles Vertrauen in dich. Manchmal tun Eltern verrückte Dinge um ihre Kinder zu schützen. Sie muss wohl geglaubt haben, dass es besser für dich sei bei einer Adoptivfamilie aufzuwachsen. Das heißt aber nicht, dass sie 131 sich nicht um dich kümmern würde. Ihr werdet euch eines Tages begegnen, das weiß ich.“ „Ja, und das wird dann wohl ihr letzter Tag sein“, murmelte ich. Luzifer schüttelte den Kopf. „Vergebung ist meistens der bessere Weg als Rache, glaube mir. Du denkst vielleicht jetzt noch so, doch das wird sich noch ändern. Nondum omnium dierum sol occidit.“ Es ist noch nicht aller Tage Abend. Langsam glaubte ich, es machte anderen Spaß, wenn sie mich mit ihren nichtssagenden Antworten auf die Palme brachten. Eine Palme mit Kokosnüssen, hoffte ich. Dann kann ich all diese Idioten mit den Dingern erschlagen. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, als Averys Stimme von irgendwoher verkündete: „Mein Zuckerherz, dein Hamster brennt.“ Glaubt mir, so schnell war ich noch nie wach gewesen. „Das war ein Scherz“, sagte die Dämonin amüsiert. „Aber es wundert mich schon ein bisschen, dass du dir einen Transformations-PyroDämonen als Haustier angeschafft hast. Eine doch eher ungewöhnliche Wahl für eine Hexe, die mit lauter Berserkern unter einem Dach lebt und vorhat eine gute Wicca zu werden.“ Der Hamsterkäfig stand neben meinem Bett. T-Rex lag in seinem neuen Häuschen und beobachtete mich durch seine niedlichen Hamster-Augen. Ich sah sie finster an. „Was machst du in meinem Zimmer?“ Sie hielt meinem Blick stand. „Ich soll dir bloß deine Tabletten geben, bevor du zum Frühstück runter kommst. Heute ist ein ganz normaler Schultag und du bist vermutlich total verkatert.“ Sie reichte mir zwei Tabletten, die nicht zu meinen üblichen Beruhigungsmitteln gehörten, und hielt mir zusätzlich noch ein Glas Orangensaft hin. 132 Obwohl es mir eigentlich blendend ging, spülte ich mir die Pillen mitsamt dem Saft runter. Dann stellte ich das leere Glas auf dem Nachttisch ab und stand auf. „Wie bin ich gestern nach Hause gekommen“, fragte ich, auf dem Weg zu meinem Kleiderschrank. Avery lächelte süffisant. „So ein schnuckliger Freund von Ash hat dich bewusstlos an einem Taxistand gefunden und dich hergefahren. Er schien ganz besorgt um dich zu sein und hat dir sogar all deine Sachen auf dein Zimmer gebracht. Deine Eltern mussten ihn fast schon gewaltsam rausschleifen, sonst hätte er vermutlich die ganze Nacht neben deinem Bett gestanden.“ „War es Jason?“, fragte ich, vielleicht etwas zu hoffnungsvoll. „Exakt. Jason Thales. Ein richtiges Tiramisu-Häppchen, wenn du mich fragst“, erwiderte sie. Ich warf ihr einen weiteren, bitterbösen Blick zu. Sie hob die Hände. „Also, bitte. Als würde ich etwas mit einem Kerl anfangen, der dir hinterherhechelt. Auch ich erwarte stets ein gewisses Niveau bei Männern.“ „Und ich erwarte, dass du aus meinem Zimmer verschwindest und dir mal etwas anziehst, was nicht in einen Strip-Club gehört“, fauchte ich wütend. Tatsächlich trug sie ein Minikleid mit Perlenverzierung und einem Ausschnitt, der bis unter ihren Bauchnabel reichte. Ab ihren Oberschenkeln kamen dann Netz-Strapsen dazu, die es aber auch nicht besser machten und in knallroten Stiefeln mit eifelturmhohen Absatz verschwanden. Wirklich, nicht mal ihre Schuhe sahen normal aus. „Also schön, bis gleich. Aber du solltest wissen, dass dieser Typ weit über deiner Liga spielt“, giftete sie zurück. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rauschte durch die Tür davon. Ich seufzte und sah zum Hamsterkäfig rüber. „Versprich mir, T-Rex, dass du nie ein Wort über Jason und mich verlieren wirst.“ 133 Der Hamster-Dämon tapste zu seinem Futternapf und fing an zu fressen. Dabei beachtete er mich kein Stück. „Danke, Kumpel. Du bist der Beste“, ich zeigte ihm einen aufgerichteten Daumen und machte mich dann daran mir meine heutige Schuluniform aus dem Schrank zu angeln. Mum erzählte mir beim Frühstück, wie Jason mich wirklich nach Hause gebracht hatte. Bei ihr klang es bei weitem nicht so romantisch wie bei Avery, die mich während der ganzen Unterhaltung bei Tisch unentwegt abfällig angrinste. Als wir abräumten, streckte ich ihr unauffällig die Zunge raus. Meine ganzen Schrammen und Verletzungen von meiner Auseinandersetzung mit dem Angreifer waren anscheinend schon verschwunden, bevor Jason mich gefunden hatte, denn alle schienen zu glauben, ich wäre wegen Kreislaufproblemen zusammengebrochen. Das war wirklich seltsam. Hexen besaßen schließlich keine besonderen Selbstheilungskräfte. Dad machte allen eine schlechte Stimmung, in dem er berichtete, dass der Dämonenfürst Samael den Berserkern gestern entkommen war. Sie vermuteten, er hätte nur einen kurzen Abstecher nach London gemacht und die Stadt anschließend schleunigst verlassen. Das hieß aber nicht, dass er nicht jeder Zeit hier wieder auftauchen könnte, was, wie Avery uns amüsiert versicherte, sehr wahrscheinlich war. Meine Eltern und alle anderen Berserker mussten deswegen erstmal in Alarmbereitschaft bleiben, bis man ihn gefunden hatte und in die Hölle zurückschicken konnte. Ich dachte an mein Gespräch mit Luzifer. Er hatte so nett gewirkt und T-Rex war im Grunde auch nicht wirklich bösartig. Natürlich wusste ich, dass Dämonen gefährlich waren. Onkel Carson und Grandma Annie hatten genug Narben, die das bewiesen, aber ich fragte mich trotzdem unwillkürlich, ob Samael nicht auch zu den netten Höllenbewohnern gehörte. Zu welcher Sorte Avery zählte stand außer 134 Frage. Meine Abneigung gegen sie wuchs von Sekunde zu Sekunde, mit jedem bescheuerten Spitznamen den sie von sich gab (Sie hatte Stephen beim Essen als ‚Marzipanrösschen‘ bezeichnet. Sein Gesichtsausdruck war einfach unvergesslich gewesen). Außerdem dachte ich an meine Eltern. An meine richtigen Eltern. Einer von den beiden musste mit Lucinda verwandt sein, sonst wäre ich keine Casterville. Vielleicht machten die zwei gerade eine Weltreise und lernten die verschiedenen Kulturen kennen. Für mich stand fest, dass ich sie trotz Luzifers Worten, ich solle mit meiner Mutter sprechen, nicht suchen würde. Wenn sie mich gewollt hätten, wäre ich jetzt bei ihnen. Also warum sollte ich mir die Mühe machen, die sich die Berserker vor Jahren bereits umsonst bereitet hatten, und versuchen sie zu finden? So oder so, Janice und Daniel waren jetzt meine Eltern. Die beiden hatten mich immer wie eine Tochter behandelt und ich hatte sie unglaublich gern. Letztendlich waren sie, Henry und eventuell sogar Stephen, meine Familie (Okay, Stephen war auch ohne das ‚eventuell sogar‘ meine Familie, wenn auch nicht freiwillig). Da Mum und Dad direkt nach dem Frühstück zur Arbeit mussten, fuhr Ash Stephen und mich zur Schule, was für ihn wohl das Maximum an Freundlichkeit war. Er bestand darauf, dass wir uns anständig und in aller Höflichkeit bei ihm bedankten, bevor wir das Auto verlassen durften. Mein Bruder nahm Jasons Nachricht, dass er seine Abschrift der Schulordnung wegen der Beleidigung von Montag abgeben sollte, mit einem nichtssagenden Schulterzucken auf. Er sagte nichts, sondern ging einfach davon. Auch gut. Vor dem Gebäude fing Ivy mich ab und wir gingen gemeinsam zu unseren Spinden, um unsere Bücher zu holen. Angesichts ihrer zerzausten Haare und den tiefen Augenringen schien ihr der gestrige Abend nicht ganz so gut bekommen zu haben wie mir. In dem Gang, in dem unsere Spinde untergebracht waren, herrschte ein riesiger Tu- 135 mult. Alle standen um etwas herum, was ich noch nicht durch die vielen Leute erkennen konnte. Als man meine Ankunft bemerkte, machten viele bereitwillig Platz. Einer aus der Menge rief: „Lasst sie durch, die Mörderin soll es sehen!“ Ich atmete tief durch. Das konnte doch nicht wahr sein! Jemand hatte meinen Spind aufgebrochen. Meine Bücher lagen in Fetzen auf dem Boden verteilt und auf der schiefhängenden Tür stand in roter Schrift, die wohl Blut darstellen sollte: ‚Schlampe des Bösen‘. Fast hätte ich losgelacht, obwohl mir eher nach weinen zumute gewesen war. Ich hatte vergessen, wie charmant manche Leute sein konnten, wenn sie mich beleidigten. Ich meine ‚Schlampe des Bösen‘? Wie unkreativ und sinnlos war das bitte?! „Ariana?“, rief Jason, der in diesem Moment in den Flur einbog. Er drängte sich durch die Schüler, um zu mir zu gelangen. „Was ist geschehen? Ist alles in Ordnung bei dir?“ Ich deutete auf meinen Spind. „Alles bestens! Irgendwer zerschrottet meinen ganzen Schulkram, schreibt ‘ne Beleidigung an die Tür und alle starren mich an, als wäre ich ein gelber Elefant! Aber ja, mir geht’s großartig.“ Mit aller Kraft hielt ich die Tränen zurück und blickte ihn mit aufgerichtetem Kopf an. Ich wandte mich wütend an die Menge. „Wenn ich herausfinde, wer von euch das getan hat, dann ist derjenige tot. Lasst mich gefälligst in Ruhe, oder ihr bereut es“, knurrte ich. Die anderen machten alle einen Schritt zurück. Jason packte mich am Arm. „Komm erstmal wieder runter, ich kümmere mich darum. Möchte irgendwer sich freiwillig stellen?“, fragte er in die Runde. Ich verdrehte die Augen. Wie naiv konnte man nur sein? Niemand würde etwas zugeben, vor allem nicht nach meiner Drohung. Ich befreite mich aus seinem Griff. „Ist jetzt auch egal.“ 136 „Bist du dir da sicher?“ Er sah mich fragend an. Ich schaute zu meinen Mitschülern rüber, die untereinander tuschelten. „Ja, ich bin mir sicher. Ich mach das hier einfach sauber und gehe dann in den Unterricht.“ Er scheuchte die anderen mit einer Handbewegung davon. „Kümmert euch bitte um eure eigenen Angelegenheiten.“ Zu mir sagte er: „Ich helfe dir beim Aufräumen.“ „Das ist nicht nötig, ich krieg das auch alleine hin.“ Ich kniete mich hin und sammelte die Überreste meines Englischbuches auf. Keine Ahnung warum ich Jason glauben ließ, dass ich seine Hilfe nicht wollte. Das war einfach so. Nicht alles, was ich tat, ergab für mich selbst auch einen Sinn. Er ging ebenfalls auf die Knie und fing an meine MatheArbeitsblätter zusammen zu suchen. Ivy und Carter, die in diesem Moment zu uns stieß, halfen ebenfalls. Nick, der mit Carter zusammen aufgetaucht war, ging los um den Hausmeister zu holen. Bevor der Unterricht losging, hatten wir das Gröbste schon beseitigt. Jason schlug vor, dass ich alles was noch zu retten war, bei ihm in seinem Büro unterbringen konnte. Da niemand eine bessere Idee hatte, machten wir es dann auch so. Bis zur Mittagspause passierte auch nichts weiter Spannendes, bis auf ein bissiger Kommentar hier und da. Dafür hatte ich aber Nick, der fast die ganze Zeit an mir klebte. Ich hätte es nie gedacht, aber die Leute respektierten ihn. Zwar wussten die Übernatürlichen, dass Nick nicht die Wahrheit kannte, sondern nur die haarsträubende Geschichte ich hätte den Hund von Clary aus dem Fenster geschmissen, als ich vollkommen betrunken gewesen und woraufhin dieser gestorben war. Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich harmloser war als die Tatsache, dass Clary selbst und nicht ihr Haustier von mir umgebracht worden sind. Nick hielt diese Geschichte für ein blödsinniges Gerücht. Er 137 stellte sich jedes Mal beschützend an meine Seite, wenn jemand mich beleidigte. Das Gerede in der Mensa verstummte, kaum dass ich sie betreten hatte. Alle starrten mich an, als hätte ich soeben vor ihren Augen ihre Großmütter erschossen. Es war eine Mischung aus Abneigung und Ungläubigkeit. Ich versuchte nicht auf das Gemurmel zu achten, dass sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten schien. Die häufigsten Wörter die ich hörte waren ‚Annabelle‘, ‚Schlampe‘ und ‚ermordet‘. Witzigerweise konnte man da auch denken, dass Annabelle eine Schlampe gewesen ist und jemanden getötet hatte. Leider war ich mir wirklich sicher, dass meine Mitschüler über eine etwas andere Version eines Mordfalls redeten, in der ich die Schlampe und Annabelle mein Opfer war. Mir persönlich gefiel meine Variante besser, da ich in ihr nicht die Rolle der Bösen besaß. Kurz bevor ich unseren üblichen Tisch in der Mitte erreichen konnte, stolperte ich über den ausgestreckten Fuß eines Typen aus meinem Jahrgang. Wie eine Idiotin aus einem langweiligen Teenie-Film, knallte ich mit voller Wucht auf den Boden. Der Typ lachte. „Hat die kleine Schlampe sich verletzt? Das tut mir aber leid.“ Wütend erhob ich mich und stellte mich vor ihn. „Kannst du mir mal erklären, warum ich jetzt plötzlich eine Schlampe bin?“ Mir fiel sogar sein Name ein. Marc Fisher, er war wie Nick einer der wenigen Menschen hier. Marc wirkte verunsichert und sah abwechselnd von seinen Kumpels zu mir. Zu seinen Freunden gehörte Tyler, der trotz des Vorfalls im Zaubereiunterricht wieder recht früh auf den Beinen war. Dazu kamen noch Logan, den Ivy in Mythologie zu Recht gewiesen hatte, und Stephen. Den letzten, einen Jungen mit dunkler Haut und kahl rasiertem Schädel, kannte ich aus Mathe. Der Typ war ungefähr genauso schlecht wie ich darin Gleichungen zu lösen. 138 „Äh, ein paar Leute haben dich gestern mit Nick Truman gesehen und gleichzeitig verbringst du so viel Zeit mit Mentor Thales...“ „Okay, stopp mal kurz“, unterbrach ich Marc. „Wer behauptet ich hätte was mit Jason?“ „Ach, ist das nicht so?“, spottete Stephen. „Du warst absolut hackdicht, als du nach Hause gekommen bist, und wer hat dich noch gleich zu uns gefahren? War es nicht Mentor Thales? Ein bisschen übereifrig für einen normalen Lehrer, findest du nicht?“ Carter knallte ihre Handtasche vor meinen Bruder und seinen Freunden auf den Tisch. Sie funkelte Stephen zornig an. „Sie ist deine Schwester! Zeig mal ein bisschen Respekt! Oder willst du, dass wir das draußen auf andere Weise klären?“ Stephen schaute sie finster an. „Du drohst mir, Carter? Echt jetzt? Du hast Glück, dass ich keine Mädchen schlage.“ Er warf einen kurzen Blick auf mich. „Ich würde dir am liebsten an Ort und Stelle den Kopf abreißen, weil du dich auf die Seite dieser Verräterin stellst, aber das Töten überlasse ich nun mal ihr.“ Ich trat vor, direkt neben Carter. „Tatsächlich, Stephen? Du …“ Die Türen des Speisesaals flogen auf. Ich drehte mich um. Jason und Ash betraten Seite an Seite den Raum. Es fehlte nur noch ein Ventilator, der ihre Haare im Wind fliegen ließ, dann wäre ihr Auftritt reif fürs Fernsehen gewesen. „Aria Grey!“ Rief Ash, „Was ist hier los?“ Natürlich nannte er mich zuerst, ich war schließlich jedermanns Lieblingssündenbock. Die Mentoren stellten sich neben Carter und mich und sahen uns alle der Reihe nach an. Zumindest Ash sah alle an, Jasons Blick lag die ganze Zeit auf mir. Mein Bruder, dieser feige Mistkerl, deutete auf Carter. „Sie hat mich erst beleidigt und dann wollte sie, dass wir uns draußen prügeln.“ Ash blickte zweifelnd zu Carter rüber. „Stimmt das?“ 139 Sie nickte. „Ja, aber nur weil die Jungs hier etwas ziemlich Beleidigendes zu Aria gesagt haben!“ Ash seufzte und wandte sich an Jason. „Ich kümmere mich darum. Halte du diese Meute davon ab die Killer-Prinzessin umzulegen. Bring sie am besten weg.“ „Nein danke“, widersprach ich. „Die Killer-Prinzessin braucht keinen blöden Babysitter.“ Jason ignorierte mich und versuchte mich wegzuführen. „Ich bin nicht dein Babysitter, ich bringe dich nur weg.“ Ich blieb stehen. „Nein! Ich will hier bleiben! Ich will nicht, dass jeder mich hier herumschubsen kann, wie es ihm gefällt!“ In diesem Moment war es mir egal, dass alle zusahen. Ich würde mich doch nicht wie eine Verbrecherin aus der Mensa führen lassen, nur weil die anderen meinten blöde Kommentare abgeben zu müssen. Jason war der Ansicht, er würde mir helfen, aber das stimmte nicht. Man konnte nicht immer vor seinen Problemen weg laufen. Jason stöhnte und flüsterte: „Komm jetzt einfach mit, Ariana. Es wäre besser, wenn du in nächster Zeit nicht weiter auffällst. Denk an deine Zukunft.“ Ich hob eine Augenbraue. „Wegen Lucinda? Wir beide wissen, dass ich keine Prinzessin bin“, erwiderte ich ebenso leise. „Nein, weil da draußen ein Irrer rumläuft, der schon zweimal versucht hat dich zu töten. Vielleicht findet er dich nicht, wenn du für mindestens einen Tag nicht der Mittelpunkt eines skandalösen Aufruhrs bist“, zischte er zurück. „Lass die Leute reden. Sie glauben, du hättest jemanden umgebracht, doch das kann dir egal sein.“ Ich grinste. „Falsch. Sie glauben es nicht nur, sie wissen ich habe jemanden umgebracht. Deswegen vermutet jeder, dass ich auch noch Annabelle ermordet habe. Oh, und sie glauben zwischen uns läuft etwas.“ 140 Ende der Leseprobe von: Götterzorn - Die Chroniken des Olymp I Iris S. Kriese Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch können Sie bestellen unter: http://epub.li/1RDAs5W
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