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leserbriefe
LEITARTIKEL
Das Ende der Bauchpinselei
Landesrat Philipp Achammer übt Kritik an der Lehrerausbildung durch die Universität
Bozen. Ein offenes Gespräch darüber ist längst schon fällig. Doch ist die Uni überhaupt
imstande, ihre Versäumnisse zu erkennen?
von Georg Mair
Die Politik weiß
seit Längerem,
woran die
Ausbildung
der Grundschullehrerinnen krankt.
Warum hat sie
nichts
unternommen?
L
andesrat Philipp Achammer hat vergangene Woche die Ausbildung der Grundschullehrer und Kindergärtnerinnen an
der Freien Universität Bozen scharf kritisiert. Das ist pikant, denn bisher wurde so getan, als sei die bildungswissenschaftliche Fakultät
der Uni Bozen ein Modell zum Vorzeigen.
Hat man sich etwa jahrelang in den eigenen
Sack gelogen? Durfte nicht sein, was nicht sein
konnte? Wahr ist, dass man in den Uni-Gremien
jede Kritik glatt gebügelt beziehungsweise sich
gegenseitig den Bauch gepinselt hat.
Die Kritik ist auch deswegen brisant, weil die
Universität vor allem deswegen gegründet wurde,
um Kindergärtnerinnen und Grundschullehrer
auszubilden. Das Land Südtirol hat dafür die primäre Zuständigkeit (die gemeinsame Ausbildung
erweist sich längst als höchst fragwürdig, aber das
nur nebenbei).
Die Lehrerausbildung ist also die Existenzgrundlage der Uni, die Studentenzahl der bildungswissenschaftlichen Fakultät liegt weit vor
der der anderen Fakultäten. Entsteht der Uni
Konkurrenz in der Lehrerausbildung, bricht ein
Teil ihrer Geschäftsgrundlage weg.
Zuständig für die Universität ist nicht Philipp
Achammer, sondern ein anderer: Landeshauptmann Arno Kompatscher, Achammer ist für
die deutsche Schule und Kultur verantwortlich.
Achammer muss also ausbaden, was Kompatscher
ihm mit der Lehrerausbildung einbrockt. Also
kann man die Kritik an der Ausbildung der Lehrer
auch als Kritik am Landeshauptmann verstehen.
Wenn Achammer recht hat – und warum
sollte er ins Blaue schießen? –, trifft die Kritik:
erstens den Landeshauptmann, der bisher nicht
durch besonderes Interesse für die Uni aufgefallen ist, zweitens Konrad Bergmeister, den Präsidenten der Universität, drittens den Rektor,
Walter Lorenz, und viertens Liliana Dozza, die
Dekanin der Bildungswissenschaften und ihre
Vorgänger.
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Es wäre eigentlich eine Diskussion, die die
Universität erschüttern müsste. Die Verantwortlichen müssten sich entweder energisch wehren oder Selbstkritik üben. Dass es jetzt kaum
Reaktionen gibt, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch die Regel ist: Die Uni und
ihre Verantwortlichen sitzen Kritik aus.
Freilich müsste die Politik auch ihre Ansprüche klären: Denn das Ansinnen, mehr Lehrer auszubilden, lässt sich kaum mit der Forderung nach
einer besseren Ausbildung vereinbaren.
Die Politik müsste eigentlich schon seit einiger Zeit wissen, dass es an der Lehrerausbildung grundsätzliche Kritik gibt.
Erstens ist die bildungswissenschaftliche Fakultät für gute Schülerinnen (es sind vor allem
Frauen, die in die Grundschule wollen) wenig
attraktiv; die Universität ist dermaßen verregelt,
dass die Studierenden genau nach Plan vorgehen
(lernen sie so Selbstständigkeit?).
Die Studierenden betrachten zweitens die
Uni als Bahnhof – in der Früh hin und am Abend
wieder nach Hause (weitet das den Horizont?).
Das Klima zwischen den Professoren ist drittens vor allem von Konkurrenz bestimmt.
Viertens gibt es zu hohe Noten, damit die
Universität am Ende behaupten kann, wie gut
ihre Abgänger sind.
Die Studierenden werden fünftens zu wenig
gefordert, weil Professoren und Dozenten Angst
vor einer Beurteilung haben, die gegebenenfalls
gegen sie verwendet werden kann.
Und sechstens: der fehlende Praxisbezug.
Schuldirektoren klagen regelmäßig über Junglehrerinnen, die einiges zu lernen hätten und
viel konservativer seien als ihre älteren Kolleginnen.
Südtirol gibt für die Universität viel Geld aus
– zu Recht. Aber genau deshalb braucht es eine
ehrliche Debatte darüber, was sie in der LehrerQ
Ausbildung leistet und was nicht.
No. 13 / 2016
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Das Ende der Bauchpinselei
Die Kritik an der Lehrausbildung. Universitätsprofessor
Edwin Keiner antwortet auf
den Leitartikel in ff 13/16
In den letzten Tagen ist wieder einmal Kritik an der Bildungswissenschaftlichen
Fakultät „hochgekocht“. Abwägendes Urteil und Wertschätzung kann ich in der
Kritik kaum finden. Der
„Schuss vor den Bug“, die
„Rute“, die Zensur, das
„Ende der Bauchpinselei“
verweisen eher auf eine Perspektive von Zuchtmeistern
in einer hierarchisch-autoritären Struktur, die Folgsamkeit und Gefolgschaft erwartet und undifferenzierte
Kritik als Machtinstrument
nutzt. Sie trägt wenig zur
Klärung der Inhalte und ihrer
Weiterentwicklung bei; Sie
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No. 14 / 2016 Ein-Spruch: „Abwägendes Urteil und Wertschätzung kann ich
in der Kritik an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät kaum
finden.“
Edwin Keiner, Universitätsprofessor, Brixen
bringt zugleich die „Opfer“
in die Defensive und in den
Zwang zur Rechtfertigung,
der Muster nur reproduziert
und Dialog blockiert.
Dabei gibt es in der Tat einige Probleme:
a) mangelnde Wertschätzung
der Lehrerbildung – mit
Folgen für die Attraktivität
des Studiums;
b) der hohe Ersatzbedarf von
pädagogischen Fachkräften
in Südtirol;
c) das „verschulte“ Studium der Bildungswissenschaften;
d) geringe Planungssicherheit
in Bezug auf die universitären Berufsbildungskurse;
e) geringe Autonomie und
Flexibilität aufgrund römischer Vorgaben.
Man wird, wertschätzend,
deutlich festhalten müssen, dass die Fakultät für Bil-
dungswissenschaften – trotz
mancher Schwächen – eine
sehr gute Ausgangsposition
bietet, deren internationale
Bedeutung unterschätzt wird:
Wo gibt es eine fünfjährige
Ausbildung auf universitärer
und Master-Ebene mit einem
international anerkannten
Abschluss? Wo gibt es eine
gemeinsame Ausbildung für
Kindergarten und Grundschule? Wo gibt es integrierte
Mehrsprachigkeit und Interkulturalität? Wo gibt es „Inklusion“ in einem weiten
Sinne? Wo gibt es eine solche
Vernetzung von Theorie und
Praxis?
Damit ist die Fakultät konzeptionell, strukturell und
praktisch deutlich besser aufgestellt als andere Formen der
Lehrerbildung für Kindergarten und Grundschule im
deutschsprachigen, aber auch
im europäischen Raum.
Zugespitzt gesprochen, zeigen die gegenwärtigen Diskussionen zwei Schwerpunkte
in Bildungs- und Hochschulpolitik in Südtirol, die verbunden werden müssen: eine
eher „provinzbezogene“ Autonomie und eine eher „europabezogene“ Autonomie.
Erstere ist primär in und für
Südtirol gültig und begründet, Letztere bewegt sich im
Rahmen italienischer Regeln,
ist international anerkannt
und nutzt zugleich extensiv
die moderne politische Autonomie als Gestaltungsautonomie. In Verbindung dieser
beiden Perspektiven lohnt es
sich, an einem „Leuchtturm“
für die Lehrerbildung für
Kindergarten und Schule und
einem autonomen Bildungssystem zu arbeiten, die sowohl für die Provinz als auch
für Europa bedeutsam sind.
Unproduktive Kritik, mangelnde Differenzierung, Verunsicherungen und Legitimationszwänge sind der falsche
Nährboden für die Entwicklung solcher Perspektiven.
Wertschätzung, Sicherheit,
Vertrauen, Dialog, aber auch
Evaluation, Kritik und Rechenschaftspflicht sind demgegenüber die Grundlagen,
auf denen sich die Lehrerbildung in Südtirol weiterentwickeln kann – dem einen
zu langsam, dem anderen zu
schnell, aber: „Sie bewegt sich
doch!“
Edwin Keiner, Prodekan der Fakultät
für Bildungswissenschaften und
­Studiengangsleiter von Bildungs­
wissenschaften für den Primarbereich
(Deutsche Abteilung)
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