Alpenvereinswege, Wirtschaftswege, Premiumwege, Holzwege… Gedanken zum AV-Hüttenfachsymposium 2016 In seinem Grundsatzprogramm (verabschiedet 1977, überarbeitet 1994, novelliert 2011) verpflichtet sich der DAV, keine neuen Wege zu bauen. Heute betreuen der DAV rund 30.000 km, der OeAV 26.000 km und der AVS 6.500 km Wege – ungefähr die gute Hälfte des Bergwegenetzes in Bayern, Österreich und Südtirol. Andere wichtige Akteure: ÖTK (ca. 20.000 km) und die Naturfreunde (ca. 15.000 km). Wir erleben derzeit in den Alpen (und davor) eine dreifache Krise: eine Krise der Landschaft, der Wege und des Gehens 1. Die Landschaft Die alpine Kulturlandschaft hat sich im Lauf von nur zwei Generationen vollständig verändert. Die frühere Armut hat einem Wohlstand Platz gemacht, der sich in nichts von dem unterscheidet, der auch die großstädtischen Speckgürtel prägt. Bestimmend sind ungeplante Wucherungen von Wohn-, Gewerbe- und Verkehrsinfrastrukturen und ausgeräumte Agrarsteppen. Wohlstand und Schönheit vertragen sich offenbar nicht. Sagen Bergsteiger und Wanderer, sie fahren ins Zillertal oder ins Stubaital, dann heißt das, sie fahren nach Ginzling oder gleich zum Breitlahner – oder nach Ranalt. Sie steigen zu Hause ins Auto, steigen ein paar Stunden später auf einem Parkplatz aus und gehen los. Der Raum zwischen Haustür und Parkplatz verschwindet hinter Scheuklappen. Doch auch die Verbauung und Asphaltierung, die Verkünstlichung und Banalisierung ganzer Alpentäler scheint Besucher nicht zu stören. Im Zehn-Jahres-Vergleich erzielen bekannte Skigebiete im Sommer oft weitaus stärkere Nächtigungszuwächse als »sanfte« Regionen: Serfaus-Fiss-Ladis (+75%), Paznaun-Ischgl (41%), Tux-Finkenberg (+35%), Kitzbühel und Zillertal Arena (beide +33%), Erste Ferienregion im Zillertal (29%). 2. Die Wege Jede Landschaft hat ihre Wege, in denen sich ihre Wahrnehmung durch die Menschen, ihr »Nutzen«, spiegelt. Nachdem die alte Wirtschaft und Kulturlandschaft Vergangenheit sind, braucht man auch die alten Wege nicht mehr. Welche Optionen haben Fußgänger in den Alpen? Eine Bestandsaufnahme: Talwege: Wo nicht mehr gesäumt wird, braucht man auch keine Saumwege mehr. Wo Autos fahren können, braucht man Straßen. In der Realität geht man hier fast nur zu Fuß, um den Hund Gassi zu führen oder den Nachwuchs im Kinderwagen lüften. Zu Trainingszwecken wird noch gejoggt oder geradelt. Sonst ist man mit dem Auto unterwegs, die Einheimischen als Pendler zur Arbeit, die Besucher als Freizeitkonsumenten zum letzten Parkplatz oder zur Talstation der Seilbahn. Mancherorts führen Kulturwege und museale Themenwege (z.B. Mühlenwege) durch die vorstädtischen Hybridlandschaften. Interessant ist das Bundesinventar der historischen Verkehrswege in der Schweiz, das weit mehr als 3000 Objekte erfasst, darunter alte Passübergänge wie über den Grimselpass und Saumwege im Wallis. Sie verlaufen heute oft in unmittelbarer Nähe zu modernen Infrastrukturen. Wald- und Almwege: Auch das alpine »Zwischengeschoss« ist längst autogerecht umgestaltet worden. In der Folge müssen Bergwanderer häufig die Wege der Forst- und Almwirtschaft benutzen: breite Forststraßen mit weiten Kehren – eine Zumutung für Fußgänger und immerhin ein gutes Trainingsgelände für Mountainbiker. Hüttenwege: Hier beginnt der Zuständigkeitsbereich des Alpenvereins. Die aufwendige Bewirtschaftung von Berghütten verlangt nach laufender Versorgung. Früher zu Fuß und mit Pferden, dann mit Seilbahnen und heute, wo immer möglich, durch Fahrstraßen, die zugleich von Bergsteigern und -wanderern genutzt werden müssen. In der Praxis hält die Entwertung der Hüttenzustiege schon seit Jahrzehnten an; was zählt, sind die Höhen- und Gipfelwege. Oft ist man auf öden Fahrstraßen unterwegs. Wo immer möglich, wurden »Talhatscher« durch möglichst hoch gelegene Parkplätze und/oder Taxidienste verkürzt. In den langen Tauerntälern, immerhin Nationalpark- oder Naturschutzgebiet, sind Fußgänger arm dran: Im Krimmler Achental verkehren vier Taxiunternehmen, im Obersulzbachtal zwei. Anspruchsvolle Bergwanderer werden so schnell wie möglich ins Allerheiligste geleitet. Ein anderes Beispiel ist der Zustieg zur Franz-Senn-Hütte in den Stubaiern: Von Milders, 1026 m, fährt man zum Parkplatz auf 1750 m bei der Oberissalm und hat nur noch knapp 1.30 Std. bis zur Hütte. Auf der Website der Hütte wird unter »Anreise« gar nicht mehr erwähnt, dass man von Milders auch gehen könnte (insges. 4–4.30 Std.). Wo aber erst mal Autos fahren, geht keiner mehr zu Fuß. Man ist ja nicht blöd. Gipfel- und Höhenwege Zusammen mit den Hütten sind sie die USP des Alpenvereins – und nach wie vor äußerst attraktiv. Auch wenn das Grundsatzprogramm des Alpenvereins keine Neuerschließungen vorsieht, werden tatsächlich neue Wege an- bzw. bestehende Wege umgelegt. Gründe dafür sind meist veränderte Geländeverhältnisse (oft infolge des Klimawandels, Steinschlag, Permafrost etc.). Auch über jüngst ausgeaperte Passübergänge werden Steige markiert (z.B. Rotgratscharte im Stubaier Hauptkamm). Die Zugänge zu den beliebtesten Höhenwegen werden oft durch Seilbahnen oder Taxi-Zubringer verkürzt. »Neue« Bergwege – die der Alpenverein nicht betreut, die ihn aber mittelbar betreffen: Seit einigen Jahren betätigen sich auch viele Seilbahngesellschaften und Tourismusgemeinden im alpinen Wegebau. Ihre Sorge gilt dem Sommer-, besser: dem neu zu gestaltenden Ganzjahrestourismus in Zeiten des Klimawandels. So entstehen viele bequem zugängliche neue Klettersteige, inszenierte Themenwege, Aussichtsplattformen. Marketing-Apps bieten Mitmachfunktionen, Verbindungen zu Social Media, Bonus- und Rabattsysteme, Gewinnspiele (z.B. MAPtoHIKE). »Neue« Fern- und Weitwanderwege… …wie Jakobswege oder verschiedene Transalp-Varianten. Auch bei anderen Angeboten wie z.B. dem Adlerweg quer durch Tirol und dem KAT Walk rund um Kitzbühel handelt es sich um alte Wege im neuen Marketinggewand. Premiumwege… …wie der 2015 eröffnete Salzalpensteig vom Chiemsee zum Hallstätter See (18 Etappen), vier Tagestouren rund um Reit im Winkl oder die Leitzachrunde bei Fischbachau. Grundlage der Zertifizierung ist ein Katalog von 34 Kriterien, die das Deutsche Wanderinstitut für die deutschen Mittelgebirge festgelegt und seit 2001 kontinuierlich zu einem Geschäftsmodell entwickelt hat. Zertifizierungen kosten Geld und gelten drei Jahre lang. Danach muss man die Zertifizierung erneuert werden. Premiumwege sind exakt dokumentiert und zuverlässig »schön«. Die Zertifizierung hilft dabei, sich die Rosinen aus dem Angebot herauszupicken. Sie zeigt im Nebeneffekt, dass die allermeisten Wanderwege in Deutschland alles andere als premium sind. Auch viele Wege in den Alpen – vor allem in den unteren und mittleren Bereichen – würden bei der Zertifizierung durchfallen. Spott oder Arroganz können darüber nicht hinwegtäuschen. Ein weiterer Nebeneffekt: »Nicht-Premiumwege« gelten nun noch weniger. 3. Das Gehen Premiumwandern ist schizophren: Man legt – meist mit dem Auto – weite Strecken zurück, um von Autos und allen Infrastrukturen, die laut Kriterienkatalog zur Abwertung führen und auf die man im Alltag niemals verzichten würde, verschont zu bleiben. Premiumwandern ist die marktkonforme Reaktion auf die Krise der Landschaft in den Zeiten des Wohlstands. Es beinhaltet die Einladung bzw. Aufforderung zum Weggehen und Wegsehen. Premiumwanderer suchen ein Alibi. Sie sind dort unterwegs, wo sie zwei Dinge so schön vergessen können: 1. dass ihr Premiumalltag oft in einer Landschaft stattfindet, die das Wegschauen und Drinbleiben nahelegt; 2. dass sie sich damit einverstanden erklären, indem sie ihre Freizeit zu Fuß am besten in den dafür ausgewiesenen und zertifizierten Fluchträumen konsumieren. Gehen und Wandern sind heute zwei sehr unterschiedliche Sachen. Gewandert wird viel. Gegangen wird kaum noch. Fazit Wir verlangen Premiumqualität im Bereich der eigenen Vier Wände und in den Gebieten der (alpinen) Freizeitnutzung. Den Raum dazwischen haben wir als automobile Transitzone zur No-go-Area gemacht. Wer sich aber erst mal mit der fortschreitenden Wohlstandsverwahrlosung des öffentlichen Raums abgefunden hat, wird feststellen, dass die vorgeblichen »Premium«-Reservate für die Freizeit immer kleiner werden. Nötig ist eine neue Kultur des Gehens – ohne touristische Markenbildung. Axel Klemmer
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