19.01.2016 Sexualdelikte als Herausforderung für Ermittlungen, Justiz, Beratung und Therapie Internationaler Vergleich Statistische Erhebung Zeitreihen Dr. med. Jan Gysi Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie Sollievo.net 3012 Bern TIEFE ANZEIGEQUOTEN Bericht des Bundesrates zum Postulat Fehr 1 19.01.2016 BERICHT BUNDESRAT 2013 Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr 09.3878 «Mehr Anzeigen, mehr Abschreckung» vom 24. September 2009, vom 27. Februar 2013 BERICHT BUNDESRAT 2013 Anzeigequote in der Schweiz nach sexueller Gewalt: weniger als 20% «Die Anzeigequote soll nicht zulasten der Opfer forciert werden. Dem Bundesrat ist es aber ein Anliegen, Hindernisse, die Opfer von einer Anzeige abhalten, möglichst zu beseitigen und sie so zu ermuntern, Anzeige zu erstatten.» 2 19.01.2016 BERICHT BUNDESRAT 2013 Geplante Massnahmen: Stärkung der Opferhilfe-Beratungsstellen als Erstanlaufstelle Erleichterter Zugang der Opfer zu den Informationen über die Opferhilfe Verbesserte Unterstützung der Opfer während des Strafverfahrens Verbesserung der Daten zur Kriminalität und zur Opferhilfe Evaluation des Opferhilfegesetzes 2016 UNTERSCHIEDLICHE SYSTEME – ÄHNLICHE RESULTATE?: KELLY STUDIE Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern 3 19.01.2016 KELLY STUDIE Gefördert durch das EU-Daphne-Programm Aufbauend auf vorhergehenden Pilotstudien Einbezogen waren Quantitative Zeitreihen: 26 europäische Länder 2001 -2006 Quantitative Aktenanalyse: 11 EU-Länder 2006 Belgien, Deutschland, England & Wales, Frankreich, Griechenland, Irland, Österreich, Portugal, Schottland, Schweden, Ungarn KELLY STUDIE Internationaler Vergleich Statistische Erhebung Zeitreihen Probleme bei den rechtlichen Rahmenbedingungen Unterschiedliche Rechtssysteme Unterschiedliche rechtliche Definitionen von Vergewaltigung Unterschiedliche Prozessordnungen Unterschiede im Status der Zeuginnen 4 19.01.2016 KELLY STUDIE Betroffene: • 96% weiblich, 4% männlich (wird nicht in allen Ländern erhoben) • Durchschnittsalter 29 Jahre (niedriger in Ländern mit hoher Anzeigehäufigkeit) • Behinderung (körperlich, psychisch) 19% KELLY STUDIE Verurteilte Täter: • Durchschnittsalter 35 • Vorstrafen 11% bis 48% 5 19.01.2016 KELLY STUDIE Tatorte: 61% Privatwohnungen (Opfer oder Täter) Opfer-Täter-Beziehung: • 67% dem Opfer bekannt, 25% Partner und Ex-Partner • 33% unbekannt oder weniger als 24 h bekannt KELLY STUDIE Verletzungen • In 30% aller Fälle dokumentiert • 50% bei Vergewaltigung durch Ex-Partner, 40% bei aktuellem Partner, 25% bei Fremden (also häufig Beweise bei Partnergewalt) • Waffengebrauch bei Bekannten und Fremden gleich oft. 6 19.01.2016 KELLY STUDIE Die Anzeigehäufigkeit beeinflussende Faktoren: Fördernd: Erweiterte Definition der Handlung Erweiterte Definition der Betroffenen Hindernd: Vergewaltigungsmythen KELLY STUDIE Mehr Anzeigen = mehr Verurteilungen Je höher die Anzeigerate, desto geringer die Anzahl der Strafverfahren Je weiter die Definition, desto geringer die Anzahl der Strafverfahren Gerichte mit Geschworenen: geringe Verurteilungsquote Wirkung von Vergewaltigungsmythen 7 19.01.2016 KELLY STUDIE Zeitpunkt der Einstellungen von Strafverfahren (alle Länder) 41% Einstellung ohne Anhörung von Opfern und/oder Verdächtigen oder ohne Identifizierung des Verdächtigen 25% Einstellung im weiteren Verlauf und vor Beendigung der Beweisaufnahme (z.B. wegen mangelnder Kooperation der Anzeigenden) 26% Einstellung vor Eröffnung einer Hauptverhandlung (durch Staatsanwaltschaft 8% Einstellung in der Hauptverhandlung (durch Gericht) KELLY STUDIE Häufigste Gründe für eine Einstellung von Verfahren (alle Länder): Unzureichende Beweislage (30%) Rückzug/mangelnde Kooperation der Opfer (27%) Falschbeschuldigungen (1% bis 9%) 8 19.01.2016 KELLY STUDIE Faktoren, die zur Verurteilung beitragen: Beim Opfer: • Geschlecht weiblich • Ohne Behinderungen / Beeinträchtigungen • Kein Alkoholkonsum • Nachweisbare Spuren und Verletzungen KELLY STUDIE Faktoren, die zur Verurteilung beitragen: Beim Angeklagten: • Migrationshintergrund • Alkoholkonsum • Vorstrafen • Fremdtäter, kein Partner oder Ex-Partner • Nähe zu Vergewaltigungsmythen 9 19.01.2016 VERGEWALTIGUNGSMYTHEN Mythos: Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen Titan (1505 – 1576): «Sisypus» 10 19.01.2016 VERGEWALTIGUNGSMYTHEN „Vorurteilsbehaftete, stereotype oder falsche Annahmen über Vergewaltigung, Täter und Opfer von Vergewaltigung.“ (Burt ,1980) „Vergewaltigungsmythen sind Überzeugungen, die sexuelle Gewalt verharmlosen, die Täter entlasten und den Opfern eine Mitschuld zuschreiben.“ (Bohner, 1998) VERGEWALTIGUNGSMYTHEN Opferfeindliche Mythen über sexuelle Aggression sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch unter Fachkräften aus dem Bereich Polizei, Justiz, Psychiatrie, Psychotherapie und Beratung weit verbreitet. Opferfeindliche Voreinstellungen beeinflussen, wie wir Informationen verarbeiten welche Informationen wir beachten und an welche Informationen wir uns erinnern. 11 19.01.2016 VERGEWALTIGUNGSMYTHEN • «Sexueller Missbrauch ist ein Ausnahmegeschehen und als solches selten.» • «Von einer Vergewaltigung kann man erst dann sprechen, wenn Gewalt angewendet wurde und eindeutige Gewaltspuren erkennbar sind» • «Wer vergewaltigt wird, ist in irgendeiner Weise immer auch selber schuld» • «Kinder und Jugendliche wollen sexuelle Kontakte mit Erwachsenen und verhalten sich verführerisch oder zumindest leichtsinnig.» VERGEWALTIGUNGSMYTHEN • #1 Es gibt «normale» Vergewaltigungen (und andere) • #2 Anzeigen ist ungefährlich • #3 Die meisten Anzeigen zu sexueller Gewalt sind falsch • #4 Wenn ein Opfer nicht aussagen will, dann kann man nichts machen 12 19.01.2016 PSYCHOTHERAPIE Auch viele Opfer glauben an Vergewaltigungsmythen! 1. Viele dysfunktionale Kognitionen stehen im Zusammenhang mit Vergewaltigungsmythen 2. Vergewaltigungsmythen können eine Traumatherapie erheblich behindern, bis sie aufgedeckt und geklärt werden. 3. Bei der Arbeit mit Innenanteilen: Innenanteile sind in der Regel speziell stark überzeugt von Vergewaltigungsmythen (speziell Kampf-EPs und kindliche Anteile). «ES GIBT NORMALE VERGEWALTIGUNGEN» Mythos #1 13 19.01.2016 MYTHOS «NORMALE VERGEWALTIGUNG» Opfer und Täter kennen sich nicht Vergewaltigung an dunklem Ort Opfer vorher psychisch gesund Opfer hat deutliche Gewaltspuren am ganzen Körper Opfer war nüchtern Opfer zeigt Gewalttat sofort an Opfer berichtet mit Angst und Schrecken vom Erlebten 14 19.01.2016 MYTHOS «NORMALE VERGEWALTIGUNG» Opfer und Täter kennen sich nicht Vergewaltigung an dunklem Ort Opfer vorher psychisch gesund Opfer hat deutliche Gewaltspuren am ganzen Körper Opfer war nüchtern Opfer zeigt Gewalttat sofort an Opfer berichtet mit Angst und Schrecken vom Erlebten Je mehr eine Anzeige von diesen stereotypen «Idealvorstellungen» abweicht, desto tiefer sind Anzeige- und Verurteilungsraten DIE REALITÄT Opfer und Täter kennen sich Keine Waffe und keine Anwendung körperlicher Gewalt Es gibt keine/wenige Beweisspuren Opfer erstatten Anzeige mit zeitlicher Verzögerung (zT Jahre) Viele Opfer haben Glaubwürdigkeitsprobleme: Alter, körperliche oder psychische Erkrankung, Alkohol, Drogen, Migration Scham beeinflusst Aussagefähigkeit Täter entsprechen nicht Bild eines «normalen Vergewaltigers» 15 19.01.2016 «ANZEIGEN IST UNGEFÄHRLICH» Mythos #2 «ANZEIGEN IST UNGEFÄHRLICH» Mögliche Folgen einer Anzeige: Innerpsychische Konflikte Psychosoziale Folgen: Ausschluss aus Familie & sozialem Umfeld Psychische Folgen: Verstärkung posttraumatischer Symptomatik Gefahr durch Täter: Drohungen, mehr Gewalt Akute Suizidalität nach Einvernahme, im Verlaufe der Ermittlungen, nach Urteil 16 19.01.2016 Täter vom Landgericht Köln zu lebenslanger Haft verurteilt wegen: • versuchten Mordes • Vergewaltigung • schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern Sicherungsverwahrung Brucher Talsperre (NRW, BRD) PSYCHOTHERAPIE Äussere Sicherheit ist wichtige Grundvoraussetzung für Traumakonfrontation. Speziell bei Opfern schwerer Gewalt (Kinderprostitution, Kinderpornographie, rituelle Gewalt) wird Sicherheitsfrage manchmal unterschätzt. Bei «Profi-Tätern» und nach sehr schwerer Gewalt: Aktivieren von hochgefährlichen Innenanteilen beim Nennen von Namen und Orten Betroffene werden im Anschluss an eine Therapiesitzung unvermittelt hochsuizidal. 17 19.01.2016 «DIE MEISTEN ANZEIGEN BEI SEXUELLER GEWALT SIND UNBEGRÜNDET» Mythos #3 Sara Naomi Lewkowicz: «Shane and Maggie» 18 19.01.2016 Sara Naomi Lewkowicz: «Shane and Maggie» Sara Naomi Lewkowicz: «Shane and Maggie» 19 19.01.2016 FALSCHANZEIGEN Definition gemäss «International Association of Chiefs of Police» (2005, 2006): «Eine Falschanzeige kann bewiesen werden» Keine Falschanzeigen (Beispiele): Opfer widerruft Aussagen Mangel an Beweisen Opfer zum Tatzeitpunkt unter Einfluss von Drogen, Alkohol, Medikamente, u.a. FALSCHANZEIGEN 1992 British Home Office Study (302 Anzeigen): 8,3% 1999 Britisch Home Office Study(483 Anzeigen): 10,9% 2005 Britisch Home Office Study(2643 Anzeigen): 2,5% 2005 Australian Study (850 Anzeigen): 2,1% 2008 «Making A Difference Study» (2059 Anzeigen): 6.8% 2009 Kelly Study: 1-9% 20 19.01.2016 ERHÖHTES RISIKO FÜR VORWURF DER FALSCHANZEIGEN Alkohol Drogen Traumatisierungen in der Vorgeschichte Psychische Erkrankungen (speziell Selbstverletzungen) Migrationshintergrund (Lisak et al, 2010) KREISLAUF DES MISSTRAUENS Befrager, Berater, Therapeut misstraut dem Opfer Befrager, Berater, Therapeut kommuniziert Misstrauen verbal/nonverbal dem Opfer Befrager, Berater, Therapeut wird (noch) misstrauischer Opfer zieht sich zurück, wird unkooperativ 21 19.01.2016 «WENN EIN OPFER NICHT AUSSAGEN WILL, DANN KANN MAN NICHTS MACHEN» Mythos #4 WENN EIN OPFER NICHT AUSSAGEN WILL… ... dann gibt es viele Interventionsmöglichkeiten. 2 Speziell: Beziehungsaufbau und –gestaltung Angepasstes Vorgehen bei der Exploration der erlittenen Gewalt 22 19.01.2016 BEZIEHUNGSAUFBAU & -GESTALTUNG «Vernehmungsarbeit ist Beziehungsarbeit» Mohr, Schimpel & Schröder (2006) Durch Beziehungsaufbau und –gestaltung kann die Aussagequalität erhöht werden 3 HAUPTSTRATEGIEN VON TÄTERN Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (Macht, Dominanz, u.a.) Reduktion der Gegenwehr des Opfers (Ziel u.a. Reduktion der Schuldgefühle des Täters) Aufforderung zum Schweigen (Verhindern, dass Opfer sich an Drittpersonen wendet, zB Angehörige, Beratung, Polizei, Therapie) Verbale, körperliche, sexuelle Gewalt Drohungen (wenn Du Dich wehrst dann…) Mehr Gewalt bei Gegenwehr (Würgen) Drohungen Weitere Gewalt (verbal, körperlich, sexuell) Isolation des Opfers 23 19.01.2016 3 HAUPTSTRATEGIEN VON TÄTERN Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (Macht, Dominanz, u.a.) Reduktion der Gegenwehr des Opfers (Ziel u.a. Reduktion der Schuldgefühle des Täters) Aufforderung zum Schweigen (Verhindern, dass Opfer sich an Drittpersonen wendet, zB Angehörige, Beratung, Polizei, Therapie) Verbale, körperliche, sexuelle Gewalt Drohungen (wenn Du Dich wehrst dann…) Mehr Gewalt bei Gegenwehr (Würgen) Drohungen Weitere Gewalt (verbal, körperlich, sexuell) Isolation des Opfers 3 HAUPTSTRATEGIEN VON TÄTERN Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (Macht, Dominanz, u.a.) Reduktion der Gegenwehr des Opfers (Ziel u.a. Reduktion der Schuldgefühle des Täters) Aufforderung zum Schweigen (Verhindern, dass Opfer sich an Drittpersonen wendet, zB Angehörige, Beratung, Polizei, Therapie) Drohungen (wenn Du Dich wehrst dann…) Mehr Gewalt bei Gegenwehr (Würgen) Drohungen Weitere Gewalt (verbal, körperlich, sexuell) Isolation des Opfers Dekompensation droht Verbale, körperliche, sexuelle Gewalt 24 19.01.2016 ARBEIT MIT OPFERN Befriedigung der eigenen Bedürfnisse (Macht, Dominanz, u.a.) Reduktion der Gegenwehr des Opfers (Ziel u.a. Reduktion der Schuldgefühle des Täters) Aufforderung zum Schweigen (Verhindern, dass Opfer sich an Drittpersonen wendet, zB Angehörige, Beratung, Polizei, Therapie) Verbale, körperliche, sexuelle Gewalt Drohungen (wenn Du Dich wehrst dann…) Mehr Gewalt bei Gegenwehr (Würgen) Drohungen Weitere Gewalt (verbal, körperlich, sexuell) Isolation des Opfers PSYCHOTHERAPIE Wenn Opfer sich nicht wehren können oder unter Druck stehen: 1. Aufarbeiten der Schweigegebote und der Traumatisierungen im Zusammenhang mit Schweigegeboten 2. Aufarbeiten der Gewalt, die angewendet wurde, damit Betroffene sich nicht oder nicht mit voller Kraft wehren konnten (inkl. Arbeit an in diesem Zusammenhang stehenden Insuffizienz-, Schuld- und Schamgefühlen) 3. Aufarbeiten der «Kerntraumatisierungen»: emotionaler, körperlicher, sexueller Missbrauch 25 19.01.2016 WAS IST ZU TUN? QUINTESSENZ Anzeigequote nach sexueller Gewalt: 20% (eher tiefer) Davon Gerichtsverfahren (EU): 20% Verurteilungen davon (EU): 77% Verurteilungsquote von Vergewaltigungen: ca. 3% 26 19.01.2016 AKTUELLE SITUATION Verlauf von Anzeige, Ermittlungen, Verfahren, Urteil, Beratung & Therapie hängen ab von: • Ort der Gewalttat (v.a. welcher Kanton) • Auf welche Professionelle Betroffene treffen • Wie zeitnah Betroffene adäquate Unterstützung erhalten WAS IST ZU TUN? Interventionsprogramme zur Reduktion von Vergewaltigungsmythen: Öffentlichkeit Psychiatrie & Psychotherapie Beratung Polizei & Justiz (inkl. Gerichte) Rechtliche Vertreter der Opfer Sozialarbeit & Sozialpädagogik Journalismus Screening auf Vergewaltigungsmythen von Fachkräften 27 19.01.2016 WAS IST ZU TUN? Verbesserte interdisziplinäre Zusammenarbeit Psychotraumatherapie: mehr Schulung zu Täterstrategien, Ermittlungen & Justiz Spezialisierung in Psychotraumatologie: Beratung, Psychiatrie und Psychotherapie Ermittlungen Justiz Gerichte ESTD Kongress 9. – 11. 11. 2017 Kursaal Bern 1. Internationaler interdisziplinärer Fachkongress für Spezialisten aus Psychiatrie, Psychotherapie, Prävention, Justiz, Polizei, und viele andere www.estd2017.org 28 19.01.2016 SEXUALDELIKTE: OPTIMALES INTERDISZIPLINÄRES VORGEHEN (ESTD SYMPOSIUM 18.1.2016) Therese Burri: Aus Sicht der Opferberatungsstellen Christine Bartsch: Aus Sicht der Forensik Angela Ohno: Aus Sicht der Polizei Myriam Ernst: Auch Sicht der Justiz Regula Schwager: Aus Sicht der Therapie Podium unter Leitung von Peter Rüegger 29
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