Hans Wocken: Rolle von Sonderpädagogen

Hans Wocken
Zur Aufgabe von Sonderpädagogen in integrativen Klassen
Eine theoretische Skizze
Wenn Sonderpädagogen in integrativen Maßnahmen mitwirken, ist am Anfang ihrer Tätigkeit
vieles unklar: das pädagogische Konzept, die Zusammenarbeit mit der Klassenlehrerin oder
dem Klassenlehrer, die besonderen Förderbedürfnisse und -möglichkeiten der Kinder und
anderes mehr. Offen ist insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen Regel- und
Sonderpädagogen: Wer macht was und wer ist für was zuständig. Im folgenden wird ein
theoretisch begründeter Vorschlag angeboten, welche Rolle dem Sonderpädagogen in
integrativen Klassen zukommt.
1. Klassifikation von Pädagogen-Rollen
Pädagogen können in Lerngruppen verschiedene Rollen haben. Um diese verschiedenen
Rollen systematisch zu ordnen, ist ein zweidimensionales Schema hilfreich.
Die erste Dimension des Schemas wird durch die Frage strukturiert, für wieviele Aufgaben
oder Unterrichtsfächer ein Pädagoge in einer Lerngruppe zuständig ist. Die extremen
Ausprägungen auf dieser 'Aufgabendimension' stellen einerseits Pädagogen dar, die nur ein
einziges Fach in einer Lerngruppe unterrichten, sowie andererseits Pädagogen, die samt und
sonders für alle Belange und Aufgaben in der Klasse verantwortlich sind.
Die zweite Dimension des Feldes repräsentiert die Anzahl der Kinder, die einem Pädagogen
zugeordnet sind. Die Extreme auf der 'Personendimension' sind jener Pädagoge, der nur mit
einem einzigen Schüler befaßt ist, und jener Pädagoge, dem ausnahmlos alle Kinder einer
Gruppe anvertraut sind.
In dieses zweidimensionale Feld können vier idealtypische Pädagogen-Rollen eingetragen
werden (Abbildung 1):
Der Fachlehrer unterrichtet alle Kinder einer Lerngruppe in einem Fach. Für alle andere
Aufgaben fühlt er sich unzuständig.
Der Klassenlehrer ist "der Mann für alle Fälle"; er ist für alle Kinder da, unterrichtet sie in
allen Fächern und kümmert sich auch ansonsten um alles, was "seine" Kinder angeht.
Der Nachhilfelehrer bzw. der Therapeut sind im Extremfall Pädagogen, die sich lediglich mit
einem einzigen Problem eines einzelnen Kindes befassen. So bemüht sich etwa der
Sprachheilpädagoge in der Therapiestunde um die Artikulationsprobleme eines bestimmten
Kindes.
Der Privatlehrer schließlich ist für alle pädagogischen Belange, ja für die gesamte Erziehung
und Unterrichtung eines jungen Menschen zuständig. Der Hauslehrer früherer Tage oder auch
die Mutter eines kleinen Kindes kommen dieser idealtypischen Rolle recht nahe.
2. Die Rolle des Sonderpädagogen
Wo ist nun in diesem Feld denkmöglicher Pädagogen-Rollen der Ort des Sonderpädagogen?
In Abbildung 2 umreißt das schraffierte Feld das Rollen- und Aufgabenspektrum von
Sonderpädagogen in integrativen Klassen. Thesenhaft kann die Frage nach der Verortung des
Sonderpädagogen so beantwortet werden:
Der Sonderpädagoge ist in seinem Kern ein Pädagoge für besondere Aufgaben und für
besondere Kinder, obwohl er dies möglichst nicht ausschließlich und nicht längerfristig sein
sollte. Er steht damit seinem originären Auftrag nach der Therapeuten-Rolle näher als der
Klassenlehrer-Rolle.
Der Sonderpädagoge mag ein qualifizierter Fachlehrer sein, er wäre in der Fachlehrerrolle
gleichwohl mißfordert. Man stelle stelle sich etwa vor, eine Schule erhielte im Zuge
integrativer Maßnahmen einen Sonderpädagogen als zusätzliche Kraft. Dieser würde nun
erhebliche Anteile seines Stundendeputats mit der Erteilung von Sportstunden verbringen. Die
Schulbehörde müßte wohl der betreffenden Schule raten, wenn sie denn in Wahrheit einen
Sportlehrer suche, möge sie auch einen Sportlehrer annoncieren. Wohlgemerkt: Es geht hier
nicht um die Frage, ob ein Sonderpädagoge die Aufgabe eines Fachlehrers aufgrund seiner
Kompetenzen wahrnehmen könnte, sondern um die Frage, ob er im eigentlichen Sinne für
dieses Amt da ist.
Nicht anders steht es um die Rolle des Klassenlehrers. So mancher Sonderpädagoge kann auf
eine überzeugende und nachahmenswerte Art und Weise Unterricht mit der ganzen Klasse
gestalten und eine Lerngruppe führen. Es drängt sie in die Rolle des Klassenlehrers. Sie
möchten gleichsam ein zweiter Klassenlehrer sein, nichts weiter und nichts sonst. In diesem
Falle müßte man sich fragen, warum denn der zweite Klassenlehrer ausgerechnet ein
Sonderpädagoge sein muß mit anderen Ausbildungsqualifikationen und mit anderer
Bezahlung. Sofern man nur einen zweiten Lehrer wünscht, tut es auch ein anderer
Regelschullehrer. Wozu sollte man in diesem Falle einen Sonderpädagogen anheuern? Wenn
die Sonderpädagogen nichts weiter und nichts anderes sind und sein wollen als die
Klassenlehrer, machen sie sich als Sonderpädagoge überflüssig und gänzlich ersetzbar durch
andere Regelschulpädagogen.
Die Privatlehrerrolle verträgt sich mit integrativer Pädagogik ganz und gar nicht. Ein
Sonderpädagoge, der ein einziges Kind oder auch eine kleine Kindergruppe ganz und gar
unter seine Fittiche nehmen möchte, schließt damit seine Kinder automatisch auch von dem
gemeinsamen Lernen mit anderen Kindern aus. Er konstituiert quasi eine eigene Klasse, die
sich zufälligerweise an einer integrativen Schule befindet. Der Privatlehrer vollzieht
Segregation in dem Schulhaus der Integration.
Was bleibt, ist mithin die Rolle des Therapeuten bzw. des Nachhilfelehrers. Hier liegt der
Aufgabenschwerpunkt eines Sonderpädagogen, um dessentwillen er in erster Linie berufen
wurde. Wenn es in einer integrativen Lerngruppe keine besondere Lernsituationen geben
sollte, deren Bewältigung die Mitwirkung eines Pädagogen mit anderen, gemeinhin nicht
zuhandenen, besonderen Kompetenzen erforderlich macht, dann löst sich das
Sonderpädagogische in Nichts auf.
Und dennoch würde der Sonderpädagoge seinen Auftrag verfehlen, wenn er ganz und gar in
der Therapeutenrolle aufgehen wollte. Denn die besondere Förderung der besonderen Kinder
darf sich niemals in der der völligen Abgeschlossenheit vollziehen - (siehe Privatlehrer),
sondern sollte sich in Verbindung und im Zusamenhang mit den Lernprozessen der
zugehörigen Lerngruppe ereignen. Die besondere Förderung soll eben integriert erfolgen - das
macht den Unterschied zur Nachhilfestunde oder zum therapeutischen Setting aus.
Ferner kann sich der Sonderpädagoge nicht aus der Mitverantwortung für die gesamte
Lerngruppe und für den Unterricht überhaupt verabschieden - siehe Fachlehrer. Denn in einer
integrativen Lerngruppe soll ja der allgemeine Unterricht nicht wie üblich und wie gehabt
abrollen, sondern sonderpädagogisch durchdrungen sein und möglichst so gestaltet sein, daß
er auch für die besonderen Kinder Teilnahme- und Lernchancen beeinhaltet. Integrativer
Unterricht ist eben nicht die bloße Addition von Regel- und Sonderpädagogik, sondern eine
veränderte allgemeine Pädagogik für heterogene Lerngruppen. Aus diesem Grunde kann sich
der Sonderpädagoge niemals mit einer Plus-Pädagogik, mit der Addition von Therapie
bescheiden, sondern ist gehalten, an der Gestaltung des allgemeinen Unterrichts mitzuwirken.
Keine der beschriebenen Pädagogen-Rollen - Fachlehrer, Klassenlehrer, Therapeut,
Privatlehrer - ist mithin der professionelle Ort eines Sonderpädagogen in einer integrativen
Lerngruppe. Das schraffierte Feld in Abbildung 2 deutet an, daß der Sonderpädagogen sehr
wohl Anteile an allen Rollen hat, aber in keinem der 4 Extreme aufgehen sollte. Es ist mithin
das "Schicksal" des Sonderpädagogen, daß seine Verortung relativ unbestimmt und diffus ist.
Diese relative Unbestimmtheit und Diffusität ist ein Umstand, der zur Verunsicherung und
Identitätsproblemen führt und an dem manche Sonderpädagogen leiden. Die relative
Offenheit der Rolle eines Sonderpädagogen kann aber auch als Chance zu einer konstruktiven
Gestaltung der Selbstrolle begriffen werden. In dem zweidimensionalen
Klassifikationsschema umreißt "das Ei des Kolumbus" lediglich das Feld denkmöglicher
Rollen von Sonderpädagogen in integrativen Klassen.
Als allgemeiner "Lehrsatz" läßt sich formulieren:
Ein integrative sonderpädagogische Förderung wahrt die Balance zwischen gemeinsamen
und individualisierenden Lernsituationen sowie zwischen unterrichts(mit)gestaltenden und
unterrichtsunterstützenden Funktionen.
Sowohl die Aufspaltung der Kinder (meine Kinder - deine Kinder) als auch die Aufspaltung
der Inhalte (meine Fächer - deine Fächer) als auch die Aufspaltung der Aufgaben
(Unterrichtsgestaltung hier - Unterrichtsunterstützung dort) zwischen Grundschul- und
Sonderpädagoge sind als problematische Rollen von Sonderpädagogen in integrativen
Lerngruppen zu charakterisieren.
Wo diese Balance zwischen gemeinsamen und individualisierenden Lernsituationen sowie
zwischen unterrichts(mit)gestaltenden und unterrichtsunterstützenden Funktionen in der
konkreten Praxis liegt, das kann nicht theoretisch am grünen Tisch entschieden werden,
sondern ist jeweils in Ansehung einzelner Kinder und einzelner Klassen zu bestimmen. Das
Schema denkmöglicher Rollen von Sonderpädagogen kann behilflich sein, daß der
Sonderpädagoge seinen Platz und seine Aufgabe in seiner Klassen- und Teamkonstellation
findet.
Literatur
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Sörensen, Bernd: Zur Problematik der Berufsrolle des Sonderpädagogen an der Grundschule.
In: Zeitschrift für Heilpädagogik 41 (1990), H. Beiheft 17, S. 234-237
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Zielke, Gitta: Einsatz von Sonderpädagogen/innen in integrativ arbeitenden Grundschulen. In:
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Zielke, Gitta: Aufgaben und Tätigkeiten der Sonderpädagogen. In: Heyer, Peter /PreussLausitz, Ulf /Zielke, Gitta (Hrsg.): Wohnortnahe Integration. Abschlußbericht der
Wissenschaftlichen Begleitung der Uckermark-Grundschule in Berlin-Schöneberg. Berlin
1989, S. 145 - 155
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In: Behindertenpädagogik 35 (1996), S. 372-376