Jenseits der Gegenstände Ein Museum im Kantorhaus 1 Mit diesem Heft möchte ich mich bei allen, die an dem Projekt Jenseits der Gegenstände mitgewirkt und mitgeholfen haben, herzlich bedanken. Die Einladung an die EinwohnerInnen der Stadt Bernau stellte die Frage, inwieweit Menschen zuhause “Museen” betreiben, indem sie Gegenstände, die mit Erinnerungen oder Geschichten behaftet sind, aufbewahren? Im Lauf der Sommermonate sind 27 Menschen ins älteste Wohnhaus Bernaus, ins Kantorhaus, gekommen, um mir ihre Gegenstände und Erinnerungen anzuvertrauen. So ist eine Ausstellung zustande gekommen, entwickelt im Rahmen meines Studiums an der Universität der Künste Berlin und des Kooperationsprojekts Kontext Labor Bernau mit der Stadt Bernau bei Berlin. Dieses Heft versammelt die Geschichten, die in der Ausstellung zu lesen oder zu hören waren, den einleitenden Wandtext, ausgestellte Dokumente und Fotos sowie Ausstellungsansichten. Alexis Hyman Wolff Berlin, Dezember 2014 2 Jenseits der Gegenstände Ein Museum im Kantorhaus 14.9. – 7.11.2014 Bernau bei Berlin ein Projekt von Alexis Hyman Wolff mit Beiträgen von Christel Bailleu, Barbara Forwerk, Dieter Graupmann, Heidi Heidrich, Hansjoachim Hölzel, Achim Kandulla, Dieter Korczak, Elisabeth Kuban-Fürl, Reinhard Mettner, Beate Modisch & Charlotte Lohoff, Sabine Oswald-Göritz, Alfons Pause, Sigrid Pulfer, Eva Maria Rebs, Manfred Schöpe, Friedemann Seeger, Karsten Semmler, Petra Stolle, Michael Thielsch, Gaby Trettin, Heinz Tünge, Christa Wahren, Wolfgang Werner, Klaus Wilke, Heinz Zinke 3 Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Schellackplatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Zöpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Portrait meines Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Familienstammbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Milchkanne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Tulpenbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Taufkleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Hühnerfutterschüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Teppichklopfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Panzerräder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Bilderrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Müllers Handnähmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Plauener Spitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Tischlampe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Holznagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Stühl und Reiseschreibmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Spazierstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Pouva Start . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Biografie in Versen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Klubtagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Denkschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Karteikasten aus der Galerie Bernau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Radleier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Jubiläums-Medaillen und das Klavier des Kantorhauses . . . . . 36 Hochzeitsbräuche und Hochszeitsgeschirr . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Shakespeare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Likörgläser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4 Dieses Projekt basiert auf der Vorstellung, dass Geschichte nur insoweit existiert, wie sie sich mit dem Leben von Menschen überschneidet. Diesem wiederum sind die Hoffnungen und Sorgen unterschiedlicher Lebensetappen eingeschrieben, es ist immer von spezifischen Lebensumständen gefärbt. Im Laufe des Lebens stoßen wir auf Gegenstände, die die Momente, mit denen sie verbunden sind, überleben, und die somit eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen. Welche Gegenstände und welche Erinnerungen sind es, die vor dem Zahn der Zeit, vor der Mode, vor neuen technologischen Entwicklungen, vor dem Vergessen bewahrt wurden? Diese kleinen Lichtinseln in einer dämmerigen und unwiederbringlichen Vergangenheit sind auch Teil des unbewussten Auswählens, mit welchem die Vergangenheit und die eigenen Biografien rekonstruiert werden. Die hier ausgestellten Gegenstände haben keinen inhärenten Wert und keine inhärente Bedeutung. Aber wie ein versammelter Kreis von Ahnen erzählen die Gegenstände die Geschichten ihrer BesitzerInnen. Es ist viel mehr passiert, es wurde viel mehr erzählt als hier gezeigt werden kann. Auf dem Weg von der privaten Erzählung bis hin zum ausgestellten Geschriebenen ist von beiden Seiten ausgewählt und adaptiert worden. In den Räumlichkeiten des Kantorhauses - dem Haus, das die Stadt Bernau vor dem Abriss gerettet hat - fanden diese gesammelten Gegenstände und Geschichten ein temporäres Zuhause : ein Museum im Kantorhaus. 5 Schellackplatten Beitrag von Wolfgang Werner Es gab in meiner Jugend im RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) eine Sendung, die nannte sich „Gestatten, alte Platten“. Und da wurden Schellackplatten gespielt. Ich hörte die Sendung damals gerne. Das war ein solcher Sound, ob es jetzt Foxtrott oder Swing war, der ist mir einfach ins Ohr gegangen, da ist er dann drin geblieben. Ab 1939 oder 1940 musste man, wenn man eine Schellackplatte kaufte, zwei andere dafür abgeben. Es war ein unfreiwilliges Recyclingsystem. Der Zweite Weltkrieg begann damals und die Rohstoffe wurden für die Kriegs-industrie benötigt. Mit jeder abgegebenen Platte verschwanden nach und nach viele Modetänze. Wie Charleston oder der amerikanische Swing, politisch unliebsame Musik halt, auch sozialistische und jiddische Lieder. Sogenannte „Entartete Musik“. Die durfte man öffentlich nicht mehr spielen. Später dann auch nicht einmal mehr privat. Es gibt auch eine andere Spezies von Musik, die verschwunden ist. Das sind die sogenannten „Gassenhauer“ aus den 1920er Jahren, zum Beispiel “Wir versaufen unsere Oma ihr klein Häuschen”. Diese Schlager sind in meiner Familie sehr oft gespielt worden und dann war die Platte irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes platt. Die alten Grammophonnadeln schabten jedes Mal eine Schicht vom Schellack ab. Man konnte eine Platte eigentlich durchschnittlich nicht mehr als einhundert Mal hören. 6 Diese Schellackplatten habe ich von meinem Großvater geschenkt bekommen. Er hatte eine relativ große Plattensammlung damals, aber die ist dann nach und nach auf den üblichen Wegen verschwunden. Er hat viel weggeschmissen oder verschenkt, die Platten waren nicht mehr zeitgemäß. Im Alter von zwölf oder 13 Jahren habe ich einen kleinen Rest von Platten entdeckt. Das waren dann meine ersten zehn Schellackplatten. Da habe ich dann auch das Lied vom “Zickenschulze aus Bernau” entdeckt. Ich kannte Bernau also schon, bevor ich 1997 hierher gezogen bin. Zöpfe Beitrag von Beate Modisch und ihrer Mutter Charlotte Lohoff Irgendwann zwischen den Jahren 1936 und 1940 haben Charlotte und ihre Schwester Ruth ihre lange Zöpfe abgeschnitten. Vielleicht, weil es praktisch war, bestimmt aber auch, weil kürzere Haare damals Mode waren. Ruth war 15 Monate Jahre jünger als ihre Schwester. Die beiden haben viel gemeinsam unternommen. In dieser Zeit trafen sich die in Bernau stationierten Luftnachrichtenfunker mit den jungen Bernauerinnen im Elysium bei der Tanzstunde. Tänze wie Polka und Walzer, aber auch andere Gesellschaftstänze wie Foxtrott oder Tango wurden im kleinen Saal unterrichtet und im größeren Saal zu besonderen Anlässen getanzt. Charlotte und ihre Schwester Ruth tanzten gern: zum Beispiel abends in Gaststätten wie dem Schützenhaus, dem Waldkater, dem Café zum Husitten oder auch bei Sommerfesten, Klassentreffen und Vereinstreffen. Ab 1939 waren die Männer im Krieg und Charlotte beim Arbeitsdienst im Rheinland. 1944 kam Ruth bei einem Bombenangriff in Berlin ums Leben. Die Zöpfe blieben im Schrank in dem Familienhaus in der Siedlung Blumenhag. Als Charlottes Tochter Beate acht Jahre alt wurde, kam ihre Locke dazu. Später dann auch noch die von Beates Kindern Ronny und Robert. Auch zwei Milchzähne von Robert wurden dort verstaut. 7 PORTRÄT MEINES VATERS Beitrag von Klaus Wilke Ich weiß gar nicht viel von meinem Vater. Das Bild ist das Einzige, das übrig bleibt. Er ist in den letzten Tagen des Krieges gestorben, ohne Soldat gewesen zu sein. Er ist zu dem Volkssturm einberufen worden und ist nicht mehr nach Hause zur Familie zurückgekehrt. Er ist irgendwo umgekommen, aber wo, wusste keiner. Am 23.4.2001 informierte mich der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, dass mein Vater Willi Wilke als Zivilgefangener in die Sowjetunion gelangte und dort am 6.6.1945 verstorben ist. Willy Wilhelm Wilke wurde 13.6.1908 in Landsberg-Warthe geboren und starb am 6.6.1945 in der ehemaligen UdSSR. 8 Familienstammbaum Beitrag von Barbara Forwerk Im Mai 2014 sind meine Eltern von Bernau in ein Seniorenheim gezogen. Nun bin ich nach der Wohnungsauflösung im Besitz vieler ihrer Erinnerungsstücke. Abgesehen von vielen Fotoalben sind es die kleinen Dinge, wertlos erscheinend, aber mit einer Geschichte, die weit in die Familienvergangenheit zurückgeht. Ich hatte das Glück, dass ich noch viele Fragen stellen konnte und auch viele Antworten bekam. Meine Neugier und mein Interesse an der Familienvergangenheit ließen mich über die Dinge nachdenken. Ich freue mich über die Gelegenheit, jetzt hier einige Gegenstände einbringen zu können. Erinnerungsstücke, die über Generationen, Kriege und zahlreiche Umzüge aufbewahrt wurden. Ich kann die doch nicht einfach so entsorgen. Ich will nicht verheimlichen, dass sie mir auch eine Last sind und ich nicht alles behalten möchte. Ich hoffe, dass ich diese Dinge an die Heimatmuseen in den Geburtsorten meiner Eltern weitergeben kann. Und die auf diese Weise dann auch für nachfolgende Generationen erhalten bleiben. Kochtopf Zum Abschluss eines Kochlehrgangs bei den Pimpfen erhielt mein Vater im Jahr 1935 diesen Kochtopf, den er auf langen Wanderungen und im Krieg auf seinem Rücken trug und auch bis ins hohe Alter im eigenen Haushalt zum Kochen verwendete. Teppich Im Jahr 1938 war meine Mutti elf Jahre alt. Ihre Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Ihr Vater bezog damals Invalidenrente und sie selbst besorgte den Haushalt und half in einem Kurzwarenladen aus. Dafür erhielt sie die übrig gebliebenen Wollreste. Aus denen hat ihr Vater dann diesen Teppich in Handarbeit angefertigt. Nähtasche Meine Oma (1895-1982) war gelernte Schneiderin. Später, als sie dann Meisterin war, hatte sie eine eigene Nähwerkstatt mit Personal in Neukölln. Diese handgefertigte Tasche, einschließlich eines Stickmusters, ist eines ihrer Lehrstücke. 9 Poesiealbum Das Poesiealbum hat meine Urgroßmutter meiner Oma im Jahr 1898 zur Konfirmation geschenkt. Für meine Mutti ist es eine Erinnerung an ihre viel zu früh verstorbene Mutter. Buch Das Buch „Reinecke Fuchs“ von Goethe erhielt mein Urgroßvater als Zehnjähriger am 25. September 1875 als Zeichen der Anerkennung seines Fleißes und guten Betragens. Meinem Großvater und auch meinem Vater diente es als Kinderbuch. Als „Goethe“ in der Schule durchgenommen wurde, zeigte mein Vater es mir. Es war sehr zerfleddert, aber ist – obwohl es nur laienhaft gebunden ist - immer noch für die nachfolgenden Generationen erhalten. Tasse Die Tasse ist ein Taufgeschenk, laut Aufdruck vom 15. Januar 1894 von Luise Krüger an meine Ururgroßmutter. Sie hat die Tasse dann ihrem Urenkel, also meinem Opa, geschenkt. 10 Milchkanne Beitrag von Michael Thielsch Ich weiß nicht, wo die Kanne herkommt. Für mich gibt es die einfach schon immer. Ich habe damit früher das Bier für meinem Vater aus der Kneipe geholt. Er saß dann im Garten und trank genüsslich sein Feierabendbier. Wenn mein Vater nicht da war, dann holte ich Fassbrause aus der Kneipe. Und wenn der Bäcker des Ortes im Urlaub war, dann hat man auch Milch von der Kuh damit geholt. Als ich 23 Jahre alt war und ausgezogen bin, habe ich die Kanne angesehen und gedacht: Die wird mal verschwinden. Und dann habe ich sie mitgenommen. Und seitdem ist sie immer mitgewandert. Wenn ich die Kanne jetzt anschaue, dann kommen mir sofort die Kneipe, der Garten, die Kuh, mein Bruder, mein Vater in den Sinn. Also alles. So, als ob es gerade erst passiert wäre. 11 Der Tulpenbaum Beitrag von Reinhard Mettner In dem kleinen Dorf Warchau-Rosenau, in dem ich 1952 in einem Fachwerkschloss geboren wurde, steht im Schlosspark an der Tanzwiese ein etwa 25-30m hoher Tulpenbaum, der um 1800 gepflanzt wurde. Seine Blätter haben eine eigenartige Form, die ich schon als Kind bewundert habe. Ich lebe seit vielen Jahren in Bernau und habe erst jetzt diesen seltenen Baum hinter dem ältesten Fachwerkhaus von Bernau, dem Kantorhaus in der Tuchmacher Straße, entdeckt. Er ist zwar noch sehr klein, aber wenn ich dort an der Stadtmauer spazieren gehe, erinnert er mich an meine Kindheit und an meinen Geburtsort. Mit meiner kurzen Geschichte über den Tulpenbaum, der im Frühjahr gelbe Blüten in Form von Tulpen mit orangenem Rand trägt, soll er das Kantorhaus noch viele Jahre beschützen und mit dem Blätterkleid Schatten spenden sowie mit seinen Blüten noch sehr lange Freude bringen. 12 Taufkleid Beitrag von Eva Maria Rebs, nacherzählt von Alexis Hyman Wolff Seitdem das Kleid im Jahr 1879 genäht wurde, sind 49 Mitglieder der Familie Wendt-Jakobson darin getauft worden. In dem Taufbuch, das immer zum Kleid gehört, werden alle Getauften eingetragen. Jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird, schreiben oder telefonieren die Familienmitglieder miteinander. Auch, um herauszufinden, bei wem sich das Kleid gerade befindet. Das Kleid wird dann der Familie des Neugeborenen geschickt oder direkt zur Taufe mitgebracht. HühnerfutterSchüssel Beitrag von Sigrid Pulfer Ich wurde 1952 in Herzberg/Elster geboren und bin direkt am Waldrand groß geworden. In der Nähe unseres Hauses gab es ein altes Bauerngehöft mit Ställen und Scheunen und allem, was dazugehört. Als Kinder haben wir immer in diesen Scheunen gespielt und da haben wir dann im Stroh ganz viele alte Gegenstände gefunden. Vielleicht wurden sie in der Kriegszeit dort vergraben. In der Nachkriegszeit wurden gute Dinge auch als Gebrauchsgegenstände benutzt, zum Beispiel auch diese Schale mit den kleinen Griffen. Der Bauer hat immer gesagt: „Sie ist genau richtig für Hühnerfutter.“ Und weil wir als Kinder noch kleine Hände hatten, waren wir stolz darauf, dass die so gut zu uns gepasst hat und wir sie so gut tragen konnten. Ich habe immer aufgepasst, dass die Schüssel nicht kaputt ging. Je älter ich wurde, desto öfter sprach ich mit der Bäuerin. Ich sagte dann: „Ich möchte die Schale mit den Disteln wieder haben.“ Obwohl es gar keine Disteln waren, sondern Wildrosen. Sie sagte dann immer: „Das alte Ding!“ Aber ich durfte die Schüssel immer haben und mit Körnern füllen und die Hühner füttern. 13 Als ich 18 Jahre alt war, heiratete ich und bin dann nach Bernau gezogen. Von der alten Bäuerin verabschiedete ich mich und sie wünschte mir alles Gute für die Zukunft. Eines Abends vor der Hochzeit klingelte sie bei meinen Eltern. Sie sagte: „Sigrid bekommt die Hühnerfutterschüssel.“ Alle haben gelacht, sie kannten ja den Zusammenhang nicht. Das ist eine der Erinnerungen an meine Kindheit. Als wir da in dieser Scheune gespielt haben. Manchmal liege ich nachts wach und dann kommen die Erinnerungen: Wie wir da rumgetobt sind. Ich mit meinen Geschwistern und den Nachbars kindern. Wie wir uns davor fürchteten, den Strohberg herunter zu springen. Die Scheune und den Bauernhof gibt es jetzt nicht mehr. Dort ist inzwischen eine neue Straße entstanden. Die war wichtiger als ein einsam gelegener Bauernhof. Aber die Schüssel mit den Wildrosen, die wird es noch eine Weile geben. Nur nicht mehr für Hühnerfutter. Teppichklopfer anonymer Beitrag, nacherzählt von Alexis Hyman Wolff In meiner Kindheit gehörte zu jedem Haushalt ein Teppichklopfer. Der wurde vom Korbmacher angefertigt. Einmal im Jahr, beim Frühjahrsputz, kam er zum Einsatz. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Vater den Teppich zusammenrollte. Mein Vater hob das Sofa hoch und ich rollte den Teppich zusammen. Gemeinsam trugen wir den Teppich dann nach draußen, hängten ihn auf die Stange und klopften ihn aus. Den Teppichklopfer habe ich als Erinnerungsstück an meine Eltern aufgehoben. Und auch als Erinnerung an eine Zeit, in der Hausarbeit mit der Hand erledigt wurde und ein Teppich ein Leben lang halten sollte. 14 15 Panzerräder Beitrag von Alfons Pause Anfang der 1980er Jahre wurden die hohe Wände und Decken der katholischen Kirche gereinigt und neu gestrichen. Die waren ganz grau vom Heizen. Es war damals in der DDR undenkbar, ein Gerüst über eine Firma zu bekommen. Wir haben dann zunächst eines aus Schrottmaterial zusammengeschweißt. Also die Hauptstützen, mit denen man man dann eine Verbindung zu normalem Gerüstmaterial herstellen konnte. Diese Teile haben wir aus dem Privatbesitz der Gemeinde zusammenbekommen. Es waren 101 Personen beteiligt – Leute aus der Gemeinde und auch deren Freunde. Das Gerüst hatte eine Grundfläche von 4x13,5 Metern und reichte etwa 14 bis 16 Metern in die Höhe. Und es war sechs Tonnen schwer. Für die Fahrbarkeit der Rüstung brauchten wir nun Räder. Es ergab sich, dass auf dem ehemaligen Rangierbahnhof Rüdnitz, der hier seit dem Ende der 40er Jahre von der Roten Armee als Fahrschulgelände genutzt wurde, Militärfahrzeuge fast aller Art standen, so auch Panzer. Das waren nicht die schweren Kampfpanzer, sondern die Ausbildungspanzer und eines Tages ist einer dieser Panzer defekt stehen geblieben. Und da dieses Gelände nicht eingezäunt war, haben sich die Kinder des Panzers bemächtigt. Alles, was innen an Elektrik eingebaut war, war kaputt geschlagen, so dass der Panzer eine ganze Weile keine Perspektive hatte, von seinem Platz wegzukommen. Ich war damals oft im Wald spazieren. Vielleicht habe ich nach Pilzen gesucht oder so. Und dann habe ich den Panzer entdeckt und ihn mir angeguckt. Ich war der Meinung, dass 16 die alten Rollen genau richtig wären, um unser Gerüst zu transportieren. Ich bin dann mit entsprechendem Werkzeug hin, aber leider war es dann so, dass sich die Muttern immer mitgedreht haben, wenn ich versucht habe, die Rollen zu lösen. Ich musste dann meine Tochter holen und die hat dann mit einem entsprechenden Schlüssel dagegen gehalten. Meine Tochter war damals elf oder zwölf Jahre alt. Wir haben dann sechs Rollen abgeschraubt und haben die hier für unser Gerüst verwendet. Und die haben sich gut bewährt. Eines Tages war dann der Panzer weg, aber die Rollen sind bei uns geblieben. Bilderrahmen Beitrag von Petra Stolle In der Bernauer Innenstadt waren im April 1980 viele der alten Häuser demoliert. Die sind geplündert worden und wurden teilweise auch zerstört. Aber in einigen Räumen lagen noch lauter private Dinge herum. Ein Brief zum Beispiel, der noch auf dem Tisch lag und in dem stand, dass jemand eine Strafe antreten muss. Überall lagen alte Briefe und Fotos. Alles private Dinge, einfach verstreut. Und man wusste nicht, ob die Person vielleicht zurückkommt. Wir haben uns gewundert, dass nichts davon sicher gestellt wurde, sondern einfach so der Öffentlichkeit überlassen wurde. Einerseits bedauert man es dann, dass diese Häuser abgerissen wurden. Andererseits hat man auch gesehen, dass zu der Zeit keine Chance bestand, die zu restaurieren oder zu modernisieren. Wie gesagt, die Baustoffe waren einfach damals nicht da. Und die Rahmen, die habe ich aus einer alten Schranktür und einem Gaze-Fensterrahmen gebastelt. Die hatte ich auf einem Spaziergang in einem der halbdemolierten Bernauer Häuser gefunden. Rahmen waren eben auch Mangel. So haben wir nach Möglichkeiten gesucht, die Dinge aufzuarbeiten und zu nutzen und die Wohnungen eben schöner zu gestalten. Bei mir war es auch die Freude am Werkeln. Ich habe meinem Vater hin und wieder beim Arbeiten zugeschaut. Und es war mir wirklich ein Vergnügen das Holz abzuschleifen, eine Farbe aufzutragen und zu beizen und zu lackieren. Und das auch mit Freunden zu besprechen. Zu fragen, ob die Tips haben oder auch Farbreste. 17 Ich war dann in den Jahren 1979 – 1981 in Berlin-Buch auf der Rheumastation. Da hieß es auch, kreativ zu werden. Ich habe dort - vielleicht auch wegen meiner Traurigkeit, dass ich nicht mehr tanzen konnte - in meiner Freizeit einfach ein Bild komponiert. Die Stoffe, die ich dafür benutzte, sind Stoffreste aus den Dingen, die ich für mich geschneidert hatte, die ich zentimeterweise gekauft hatte, weil alles sehr teuer war. Das war eine Fantasielandschaft, obwohl bestimmte Stofffetzen da auch dann die Formen vorgegeben haben, und der Rahmen bot auch die Möglichkeit das dorthin zu bringen. Müllers Handnähmaschine Beitrag von Christa Wahren Meine Mutter hatte früher eine Tretnähmaschine. Durch die Bewegung mit dem Fuß wurde die Nadel transportiert. Das faszinierte mich sehr. Ich war damals drei oder vier Jahre alt, als ich das so wahr genommen habe. Da war ein grosses Schwungrad an der Seite. Ich habe immer die Riemen entfernt und dann nur dieses Schwungrad drehen lassen. So schnell konnte man die Füße gar nicht bewegen. 18 Diese Handnähmaschine war schon alt, als ich sie 1956 von meinen Eltern geschenkt bekommen habe. Ich war vier Jahre alt. Die Maschine stammt aus der Jahrhundertwende, funktioniert aber immer noch. Ich erinnere mich noch daran, auf welche Weise ich mit der kleinen Maschine eine Federtasche aus grauem Igelit genäht habe. Als ich dann das Abitur mit Berufsausbildung begann, kam ich in eine Schneiderklasse. Aber komischerweise gab es da keinen Arbeitsplatz für mich. Später habe ich mich gefragt, ob das so war, weil meine Eltern beide selbständig waren. Meinen Berufsabschluss machte ich dann im Gesundheitswesen. Einige Jahre später, nach meinem Studium und eigener Lehrtätigkeit, habe ich dann ein dreijähriges Fernstudium in Textilgestaltung absolviert. Und dann habe ich mich doch noch entschlossen, ein eigenes Textilatelier zu eröffnen. Von 1981 bis 1993 stellte ich also in Bernau handgefärbte Textilien her und entwarf Unikate: Sowohl Modestücke als auch Lampenschirme und Einrichtungsgegenstände. Nach der Wende war es aber ökonomisch nicht mehr möglich, den Laden zu halten. Die Suche nach neuer Arbeit führte mich wieder in den Gesundheitsbereich. Nun steht die kleine Nähmaschine bei mir zu Hause als Erinnerung an die ganzen Geschichten, die ich mit dem Nähen verbinde und die sich durch mein Leben ziehen. 19 Plauener Spitze Beitrag von Heidi Heidrich HH: Zu den Gardinen im Kantorhaus muss ich noch etwas sagen. Die Gardinen hängen hier vielleicht seit 1986. Die erste Gardine wurde bei mir im Leiterbüro angebracht. Es war Plauener Spitze. Plauener Spitze ist etwas sehr wertvolles. Irgendjemand hatte eine solche Gardine besorgt und mir ins Zimmer gehängt. Dann habe ich mir das Haus von draußen angeguckt: oben im Fenster hing das eine Stück Gardine und in den anderen Fenstern nichts. Ich dachte, das geht überhaupt nicht. Also was hab ich gemacht? In der DDR war es nicht so einfach Dinge zu kaufen, die man wollte. Plauener Spitze wurde zwar in der DDR produziert, aber sie wurde nur in das „nicht sozialistische Ausland“, also in kapitalistische Länder, exportiert. Also ich habe einen netten Brief an die Firma nach Plauen geschrieben, dass ich hier die Musikschule im Kantorhaus leitete, dass ich dafür ein Stück Gardine bekam, aber dass es so nicht geht und sie mögen mir doch bitte behilflich sein. Ich habe nicht damit gerechnet, dass so ein staatstragender Betrieb auf den Brief einer kleinen Musikschulleiterin antwortet. Aber die Gardinen kamen und Sie sehen, sie hängen immer noch. AHW: Aber die Gardine, die hier hängt, sieht doch anders aus als alle anderen? HH: Ich habe es zwar aufgemalt, wie meine Gardine aussah, aber inzwischen waren zwei, drei Jahre vergangen und dann hatten die einfach ein neues Muster und das Alte gab es nicht mehr. 20 tischLampe Beitrag von Hansjoachim Hölzel 21 Holznagel Beitrag von Dieter Grauppmann, Zimmermann bei der VEB Bau Bernau Hier waren alles meist alte Häuser. Die wurden ja alle abgerissen. Das hier war das älteste Haus von Bernau und man wollte es dann doch erhalten. Das Haus stand auch leer eine Weile, sah dann herunter gekommen aus, und dann hieß es, ja, wird gemacht. Der Holznagel wurde beim Ausbauen hier gefunden. Aus dem alten Haus habe ich den ganz vorsichtig rausgehauen und sagte, „Den nimmst du mit, den hebst du dir auf, als Erinnerung.“ Stuhl und Reiseschreibmaschine Beitrag von Heinz Tünge Ein Gaststättenstuhl ist an sich nichts Beachtenswürdiges. Dieser aber hat trotz seiner Einfachheit einen eindrücklichen Bezug zu meiner „persönlichen” Geschichte. Meine Eltern bauten sich 1935 ein Einfamilienhaus, im Souterrain mit einem Versammlungsraum für die Evangelisch-methodistische Kirche, der sie angehörten. Für die Ausstattung kauften sie – je nach Vorhandensein der finanziellen Mittel – in Zehn-Stück Sendungen von der „Deutsche Bugholz-Stuhl GmbH Berlin” die Stühle der „Marke Bombenstabil.” 22 Als ich 1946 auf die Geschwister-SchollSchule nach Bernau kam, war die Schule gerade aus der Breitscheidstraße (jetzt Künstlerhof) in den Backsteinbau in der Mühlenstraße (jetzt Johannaschule) gezogen. Es fehlte an Mobiliar für die neue Schule und wir wurden dazu aufgerufen, nach Möglichkeit unsere eigene Sitzgelegenheit mitzubringen. Meine Eltern gaben mir diesen Stuhl mit. Mein Stuhl hat die fünf Jahre Schulzeit als einziger schadlos überstanden. Trotz Kippeln. Und er leistet mir immer noch gute Dienste im privaten Bereich. 23 24 Spazierstock Beitrag von Dieter Korczak Mein Vater konnte immer gut gehen. Mit 85 ist er noch mit mir zusammen im Allgäu auf 2000 Meter hohe Berge geklettert. Er hatte da natürlich den Stock dabei. Die Männer früher hatten ja ihre Gardestöcke, ihre Spazierstöcke. Es war ein Zeichen des Herrn. An den Orten, an denen er mit meiner Mutter zum Wandern war, hat er sich immer Plaketten gekauft und diese dann an seinem Stock befestigt und gesammelt. Da er handwerklich sehr geschickt und genau war, hat er diese Plaketten dementsprechend ordentlich angebracht. Die Sorgfalt, die Liebe zum Detail und auch das Interesse an neuen Dingen, am Reisen, das handwerkliche Geschick und dieses Knorrige, dieses Feste, Bestimmte... Das ist alles in diesem Stück behämmertem Holz verdichtet. Das Spannende an der Geschichte ist auch, dass er viele Jahre – zwanzig, dreißig Jahre – bei seiner Arbeit auch gehämmert hat. Er war Maschinenschlosser. Er war am Brückenbau beteiligt und auch an solchen Sachen wie dem blauen Gasometer hier in Bernau. Er ist herumgelaufen und hat die einzelnen Blechteile mit großen Nieten angeschweißt oder mit dem Hammer befestigt. Den Stock haben wir als Kinder natürlich bewundert und oft angeschaut. Wir haben unseren Vater auch gefragt: Ja, zeig mal, Vater, gibt es was Neues? Das war dann ein Anlass, um über die Dinge zu reden und Geschichten zu erzählen. Der Stock lehnt nun bei mir zuhause an meinem Schreibtisch. Mein Vater ist im Januar gestorben und ich habe eine Art kleinen Hausaltar, auf dem seine Brille liegt, ein paar Utensilien, ein Bild, eine Kerze und der Stock. 25 Beitrag von Achim Kandulla 26 27 Biografie in Versen von richard gustav fürl Beitrag von Elisabeth Kuban-Fürl Mein lieber Großvater! Nun bin ich, Deine älteste Enkelin, ungefähr so alt, wie Du warst, als Du mit den Aufzeichnungen begannst, die jetzt in vier Diarien – eng beschrieben mit Deiner ordentlichen deutschen Schrift – vor mir liegen. Zumindest denke ich, Du müsstest etwas über 70 Jahre alt gewesen sein, als Du Dich hinsetztest und dann über Jahre hinweg Dein Leben Revue passieren ließest. Leider warst Du sehr sparsam mit irgendwelchen Zeitangaben, und ich habe jetzt die Arbeit damit, herauszufinden, wann denn was geschehen ist. Zum Glück hast Du uns zu Deinen Lebzeiten aber immer gern und viel aus Deinem Leben erzählt, und Du hast auch gern fabuliert. Das merkt man beim Lesen, Deine Reimereien sind alles andere als trockene Aufzählungen. Ja, alter Herr, es wäre schön, wenn ich Dich zu diesem oder jenem befragen könnte. Doch dann würde unsere Familiengeschichte bestimmt ein mehrbändiges Werk werden, und das wollen wir unseren Nachfahren ja auch nicht zumuten. Aber ich werde mich trotzdem oft genug mit Dir unterhalten und Dir Fragen stellen….um mir die Antworten dann doch aus anderen Quellen zu holen. Das werden lustige Gespräche! Übrigens – „erlaub mal eins“ hättest Du jetzt gesagt! – habe ich versucht, beim Abschreiben Deine Orthographie und Grammatik beizubehalten ( die erstaunlich gut ist, in der Rixdorfer Volksschule hast Du ordentliche Grundlagen mitgekriegt!) 28 Manchmal hat allerdings der Computer korrigiert. Aber wortgetreu ist alles, schließlich ist uns Deine ganz persönliche Sicht der Familiengeschichte und die darin widergespiegelte Zeitgeschichte wichtig und interessant. Los geht`s also, im Jahre 1881 irgendwo in Berlin, vermutlich Schöneberg. Du hattest Dir den Arm gebrochen, als Du in der Wohnung von der Schaukel (angebracht am Türrahmen) gefallen warst... Kindheit Der rechte Arm wurd eingegipst, ich lag in der Stube. Das Schönste war bei der Geschicht, ich brauchte nicht zur Schule. Als der Arm dann wieder heil, wurden wir gekündigt. Hatten mit der Schaukelei wohl zu schwer gesündigt. Unter uns wollt keiner nicht im ganzen Hause wohnen. Hatten Angst, die Decke bricht ein von unserm Toben! Endlich dann im letzten Haus fand sich noch ein Keller. Keinen Pfennig Geld im Haus, nicht einen roten Heller. Und da kam dann auf die Welt ohne Schuh und Strümpfe wieder mal so`n kleiner Held, damit wieder Fünfe……. (Gustav, geb. 1.September 1881) Die Folge war, nun wieder ziehn weiter hin nach Süden! Dort, wo die Kartoffeln blühn. Wir haben „Hurra!“ geschrien! Nun weitab bis dort hinaus wo Schöneberg zu Ende. Das war für uns `ne Kleinigkeit, wir waren ja behände……… Vater zog mit mir ins Feld, nicht in fremde Lande. In Tempelhof für wenig Geld, `ne Pacht kam da zustande. Ein ganzer Morgen braches Land wurd` uns zugewiesen. Dort wurden von uns angepflanzt Kartoffeln und Gemüse. 29 Klubtagebuch Beitrag von Heinz Zinke 30 31 32 Denkschriften anonymer Beitrag, nacherzählt von Alexis Hyman Wolff Vor ungefähr zehn Jahren habe ich einem älteren Herrn, einem Freund meiner Nachbarin, geholfen, seine Denkschriften abzutippen, weil er im Sinn hatte, diese zu veröffentlichen. Er wuchs in der Zeit des Dritten Reiches auf, ging in die Hitlerjugend und wurde dann in den Krieg eingezogen. Diese Erfahrungen wollte er in seinem späteren Alter reflektieren und niederschreiben. Das hatte er, als ich ihn kennenlernte, handschriftlich getan. Ich fand es spannend, seine Lebensgeschichte zu erfahren: Wie es damals war im Krieg. Auch mal in ein anderes Leben zu gucken und auch irgendwie ein Teil davon zu sein - wenn auch nur durch das Niederschreiben - fand ich wunderbar. Es gab Stellen im Text, die noch nicht fertig waren, und ich habe dann nachgehakt. Und so war es schon ein bisschen Teamarbeit und auf jeden Fall ein Austausch. Als das Buch fertig war, haben wir versucht, es über einen Verlag zu veröffentlichen. Aber es war eben schwierig und am Ende hat er die Publikation selber finanzieren müssen und es wurde dann eine dementsprechend kleine Auflage. Ich habe ein Exemplar und auch das Manuskript, was mich an diese Erfahrung erinnert - an dieser Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte teilgenommen zu haben und seinen Aufschrei gegen Krieg und Gewalt in seiner Veröffentlichung zu unterstützen. 33 Karteikasten aus der Galerie Bernau Beitrag von Sabine Oswald Ich habe im Januar 1990 in der Galerie Bernau angefangen. Sie war gerade vier Monate geöffnet und trotzte nun der Wende. Es ging drunter und drüber. Die Existenz der Galerie war infrage gestellt, auch unser ganzes bisheriges Leben war infrage gestellt. In der Galerie lernte ich Gunda kennen, Gunda Ihlow. Sie war eine mächtige Frau, in Statur und Wesen. Sie hatte alle Fäden in der Hand und war der Zeit immer drei Schritte voraus. Wenn ich mich noch immer über all diese Veränderungen wunderte und versuchte zu begreifen, hatte sie die Vision parat und eine Strategie dazu, um das Räderwerk am Laufen zu halten. So hat sie die Galerie über die Wende gerettet. Es gibt die Galerie heute noch. Gunda brachte eines Tages diesen Karteikasten in die Galerie. Es musste eine Adresskartei angelegt werden – Künstleradressen, Mitgliederadressen des gerade gegründeten Kunstvereins, Firmenadressen. Wir hatten noch einige alte Karteikarten – DDR-Kartei karten mit ausgewiesenem EVP (Einzelverkaufspreis). Sie waren natürlich grau. Wenig später gesellten sich die „West“- Karteikarten dazu. Sie waren natürlich farbig. Ost und West hat sich nun gemischt und manchmal hatte man Mühe, ein System zu finden. Es war einer von den vielen kleinen Versuchen, ein wenig Ordnung in den Alltag zu bekommen. Bis 1998, als die Galerie den ersten Computer angeschafft hat, haben wir diese Adressenkartei benutzt. Dieser Karteikasten ist ein Stück Erinnerung aus der Wendezeit und an Gunda, ohne die die Galerie die Wende nicht geschafft hätte und auch nicht das Weiterleben. 34 Radleier Beitrag von Friedemann Seeger Als Student der Kunsthochschule in Halle Burg Giebichenstein wohnte ich zunächst im Internat. Aus dem Nachbarzimmer hörte ich häufig Renaissancemusik, die auf einer Laute gespielt wurde. Meist in den Abendstunden. Mit dem Lautenisten bin ich dann in Kontakt gekommen und kurz darauf gründeten wir den Spielkreis für Alte Musik in Halle. Das war im Jahr 1973. Da dieses Musikfeld erst im Entstehen war und man sich bemühte, die alten Klänge auf historischen Instrumenten zu erforschen, blieb es nicht aus, dass wir uns auch selber an das Nachbauen und die Rekonstruktion alter Instrumente machten. Das Original dieser hier nachgebauten Radleier befindet sich im Musikinstrumentenmuseum Markneukirchen. Ich habe das damals ausgemessen und dann mehrere Exemplare davon nachgebaut. 1976 bin ich als Absolvent an die Bauakademie der DDR gegangen. Unter anderem auch, um an der Planung der Umgestaltung des Stadtkerns in Bernau mitwirken zu können. Nach sieben Jahren bin ich in die Freiberuflichkeit gegangen. Da lag es nahe, die neu errungenen Freiräume auch für die verdrängten Leidenschaften zu nutzen. Da in der Stadt viel mittelalterliche Bausubstanz abgerissen wurde, stand viel von dem alten Holz der alten Dachstühle zur Verfügung. Ich ging auf die Suche nach geeigneten Stücken und fand am Angergang eine zusammengebrochene Scheune. Aus der rettete ich dann einige feinjährige, astfreie Balkenstücke. Damit stand mir trotz Materialmangelwirtschaft altes Holz zur Verfügung und ich baute daraus mehr als zehn Instrumente. Auch wenn viel der mittelalterlichen Stadt untergegangen ist, so wird durch dieses Instrument ein kleines Stück der alten Stadt hörbar. 35 Jubiläums-Medaillen Beitrag von Heidi Heidrich Das Kantorhaus trägt seinen Namen, weil es über mehrere Jahrhunderte den Kantoren der St. Marienkirche als Wohnsitz diente. 400 Jahre nach dem Hausbau wurde diese Verbindung zur Musik nochmals hergestellt. Im Jahr 1983 zog das neugegründete Musikunterrichtskabinett Bernau so hieß das damals - ins renovierte Kantorhaus. Zu diesem Anlass wurden diese Medaillen gestaltet und produziert. Musikunterrichtskabinette gab es nur in der DDR. Sie wurden als Ergänzung und Alternative zu den Musikschulen gegründet und sollten das Musizieren von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fördern. Im Gegensatz zur Musikschule wurde man in den Kabinetten meist zu zweit unterrichtet. Positiv war die variable Handhabung der Musikschullehrpläne. Es gab keine Bindung an vorgegebene Zielvorstellungen. So war es möglich, sich auf die Bedürfnisse der Schüler und des sozialen Umfeldes einzustellen. Der Unterricht begann 1983 mit den Fächern Klavier, Akkordeon, Gitarre und Blockflöte. In den Jahren bis zur Wende gab es dann viele Erweiterungen. Sowohl das Angebot des Instrumentalunterrichts wurde ausgeweitet, als auch die Möglichkeiten für das gemeinschaftliche Musizieren. So wurden zum Beispiel ein Kammerorchester, eine Kammermusikgruppen und eine Jugend-Big-Band gegründet. Die gibt es immer noch. 1990 erhielt das Musikunterrichtskabinett dann den Status der „Kreismusikschule Bernau“. So bereichert die Musikschule das musikalische Leben in und um Bernau und pflegt die musikalische Tradition des Kantorhauses. Das Klavier des Kantorhauses Als hier umgebaut wurde, war die Rückwand dieses Raumes noch ausgebaut. Im Februar des Jahres 1983 stand das Klavier unten, eingeschweißt in Folie. Instrumente sollten eigentlich in gleichmäßiger Temperatur gehalten werden, damit sie sich nicht verstimmen. Aber hier war es eben... eiskalt. Und dann hat man das Klavier mit dem Seilzug hier herein geschwenkt. Hier wurde es dann abgestellt und dann wurde die Wand zugemauert. Die zwei Flügel und dieses Klavier waren die ersten Instrumente, die es hier gab. Die Leute, die dann zu den Führungen kamen, fragten, „Wenn Sie mal nicht mehr hier drin sind, was machen Sie denn dann mit dem Klavier?“ Ich sagte dann immer: „Wir machen gar nichts. Das wird hier immer stehen bleiben.“ 36 Hochzeitsbräuche Beitrag von Karsten Semmler 1984 hatten meine Großeltern ihre goldene Hochzeit. Drei Tage lang wurde gefeiert. Es war sonst nicht üblich, dass wir so ausgiebig feierten. Der ganze Ort wurde einbezogen und alle Verwandten wurden eingeladen. Es wurden Fichten vor die Tür gesetzt. Die gleichen Bäume wie bei einer grünen Hochzeit. Das ist ein Brauch in den Dörfern in Thüringen, wenn jemand heiratet. Alle ledigen Männer des Orts beteiligen sich daran. Frauen binden einen Kranz und basteln Verzierungen. Und dann gibt es einen Polterabend. Der Polterabend ist am Abend vor der Hochzeit. Dabei wird Geschirr vor die Tür des Brautpaares geworfen und zerschmettert. Man nimmt nur Porzellan, weil Porzel37 lan Glück bringen soll. Die Gäste bringen dieses aus dem eigenen Bestand mit. Eine silberne Hochzeit wird auch gefeiert, aber dann setzt man keine Fichten. Doch bei einer goldenen Hochzeit setzen alle verheirateten Männer des Ortes die Fichten. Und vor den Bäumen macht man dann üblicherweise Familienfotos. Hochzeitsgeschirr Das ist das Hochzeitsgeschirr meiner Großeltern. Es stammt aus dem Jahr 1934. Damals haben die Frauen des Dorfes Geld gesammelt und dann das Hochzeitsgeschirr bestellt. Es wurde handbemalt und extra für diesen Anlass angefertigt. Ich habe viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. Dieses Geschirr wurde nicht für den täglichen Gebrauch genutzt. Nur, wenn große Feiern anstanden, wurde das gute Geschirr heraus geholt. Das Geschirr habe ich dann zu mir geholt, damit es nicht verloren geht. Nach dem Tod meiner Großeltern haben wir viel entsorgen müssen, haben das Haus und das ganze Grundstück verkauft. Für besondere Anlässe, zum Beispiel zur Hochzeit eines meiner Kinder, würde ich dieses Geschirr gern weitergeben. Zum Gebrauch oder möglicherweise auch zum Poltern. Ich würde dann sagen: „Du heiratest jetzt. Das ist das Geschirr deiner Urgroß eltern. Das ist was ganz besonders.“ Dann würde ich zum Beispiel sechs Teller nehmen und ihnen vor die Tür werfen. 38 Shakespeare Beitrag von Manfred Schöpe 39 Likörgläser Beitrag von Christel Bailleu Von 1946 bis zu meiner Heirat im Jahr 1958 wohnte ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in diesem Kantorhaus. Die hier ausgestellten Gläser sind „Fundstücke“, welche die vorherigen Mieter, ein Elternpaar und zwei Mädchen, zurück gelassen haben, als sie vor dem Einmarsch der Russen geflohen sind. Wir Kinder fanden die Gläser auf dem oberen Dachboden, der unser Abenteuerspielplatz war. Hinter dem Haus befand sich ein sehr schöner, großer Garten mit Obstbäumen, Rosen und vielen bunten Blumen. Natürlich wurden in der „Hungerzeit“ auch Gemüse und Kartoffeln angebaut. Trotz aller Widrigkeiten der Nachkriegszeit haben unsere Eltern uns eine schöne Kindheit beschert. Meine Mutter hat zum Beispiel des öfteren Maskenbälle für uns Kinder veranstaltet. Wir haben uns Kostüme angezogen und uns angemalt. Sogar einen Kuchen hat sie gebacken, zu dem alle Eltern ein wenig Mehl, Zucker, Fett und so weiter beigesteuert haben, denn es gab Lebensmittel nur auf Zuteilung. Herr Herman Reincke war Bernauer Fotograf und hat das Leben vieler Bernauer begleitet. Er hat Fotos von meinen Eltern gemacht, als sie noch junge Leute waren. Und auch ihre Hochzeitsbilder und viele Familienfotos. Sein letztes Foto ist eben von diesem Kantorhaus. Das Foto war ein Hochzeitsgeschenk an meinen Mann und mich. So wie hier auf dem Foto sah das Haus im Jahr 1958 aus. 40 41 Die Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Jenseits der Gegenstände : Ein Museum im Kantorhaus 14.9.-7.11.2014 Kantorhaus Bernau Tuchmacherstr. 13 16321 Bernau-bei-Berlin Projektbeteiligte: Christel Bailleu, Barbara Forwerk, Herr Graupmann, Heidi Heidrich, Hansjoachim Hölzel, Achim Kandulla, Dieter Korczak, Elisabeth Kuban-Fürl, Reinhard Mettner, Beate Modisch und Charlotte Lohoff, Sabine Oswald-Göritz, Alfons Pause, Sigrid Pulfer, Eva Maria Rebs, Manfred Schöpe, Friedemann Seeger, Karsten Semmler, Petra Stolle, Michael Thielsch, Gaby Trettin, Heinz Tünge, Christa Wahren, Wolfgang Werner, Klaus Wilke, Heinz Zinke Ausstellungstexte: Alexis Hyman Wolff und Projektbeteiligte Korrektur: Jana König Ausstellungsgestaltung: Alexis Hyman Wolff Technik/Aufbau: Stadt Bernau-bei-Berlin/Bauhof, Achim Kandulla, Hansjoachim Hölzel, Karsten Semmler, Alexander Wolff Projektbetreuung: Kristina Leko, Universität der Künste Berlin; Stadt Bernau bei Berlin Dank an: Zviad Mikeladze, Heiko Schwichtenberg, Lotte Thaa, Micha Winkler Publikation Gestaltung: Alexis Hyman Wolff Bildnachweis: Fotos aus dem persönlichen Besitz der Projektbeteiligten, Ausstellungsansichten und Objektfotos von Alexis Hyman Wolff und Micha Winkler Auflage: 150 Stück Berlin, 2015 Jenseits der Gegenstände : Ein Museum im Kantorhaus ist eins von acht Teilprojekten, die im Rahmen des Projekts KONTEXT LABOR BERNAU 2014 und des Studiums am Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin entwickelt wurden. http://www.kontext-labor-bernau.de KONTEXT LABOR BERNAU ist ein gemeinsames Projekt der Stadt Bernau-bei-Berlin und des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin. Gefördert wird es vom Land Brandenburg / Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur und vom Landkreis Barnim. Unterstützt von der BeST Bernauer Stadtmarketing GmbH. www.bernau-bei-berlin.de www.kunstimkontext.udk-berlin.de 42 43 44
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