Jenseits der Gegenstaende

Jenseits der Gegenstände
Ein Museum im Kantorhaus
1
Mit diesem Heft möchte ich mich bei allen, die
an dem Projekt Jenseits der Gegenstände mitgewirkt
und mitgeholfen haben, herzlich bedanken.
Die Einladung an die EinwohnerInnen der Stadt
Bernau stellte die Frage, inwieweit Menschen zuhause
“Museen” betreiben, indem sie Gegenstände, die
mit Erinnerungen oder Geschichten behaftet sind,
aufbewahren? Im Lauf der Sommermonate sind
27 Menschen ins älteste Wohnhaus Bernaus, ins
Kantorhaus, gekommen, um mir ihre Gegenstände
und Erinnerungen anzuvertrauen. So ist eine
Ausstellung zustande gekommen, entwickelt im
Rahmen meines Studiums an der Universität der
Künste Berlin und des Kooperationsprojekts
Kontext Labor Bernau mit der Stadt Bernau bei
Berlin. Dieses Heft versammelt die Geschichten, die
in der Ausstellung zu lesen oder zu hören waren, den
einleitenden Wandtext, ausgestellte Dokumente und
Fotos sowie Ausstellungsansichten.
Alexis Hyman Wolff
Berlin, Dezember 2014
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Jenseits der Gegenstände
Ein Museum im Kantorhaus
14.9. – 7.11.2014
Bernau bei Berlin
ein Projekt von Alexis Hyman Wolff
mit Beiträgen von
Christel Bailleu, Barbara Forwerk, Dieter Graupmann,
Heidi Heidrich, Hansjoachim Hölzel, Achim Kandulla,
Dieter Korczak, Elisabeth Kuban-Fürl, Reinhard Mettner, ­
Beate Modisch & Charlotte Lohoff, Sabine Oswald-Göritz,
Alfons Pause, Sigrid Pulfer, Eva Maria Rebs, Manfred Schöpe,
Friedemann Seeger, Karsten Semmler,
Petra Stolle, Michael Thielsch, Gaby Trettin,
Heinz Tünge, Christa Wahren, Wolfgang Werner,
Klaus Wilke, Heinz Zinke
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Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Schellackplatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Zöpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Portrait meines Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Familienstammbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Milchkanne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Der Tulpenbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Taufkleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Hühnerfutterschüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Teppichklopfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Panzerräder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Bilderrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Müllers Handnähmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Plauener Spitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Tischlampe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Holznagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Stühl und Reiseschreibmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Spazierstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Pouva Start . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Biografie in Versen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Klubtagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Denkschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Karteikasten aus der Galerie Bernau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Radleier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Jubiläums-Medaillen und das Klavier des Kantorhauses . . . . . 36
Hochzeitsbräuche und Hochszeitsgeschirr . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Shakespeare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Likörgläser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
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Dieses Projekt basiert auf der Vorstellung, dass ­Geschichte nur
insoweit ­existiert, wie sie sich mit dem Leben von ­Menschen
überschneidet. Diesem wiederum sind die ­Hoffnungen und
Sorgen unterschiedlicher ­Lebensetappen eingeschrieben, es ist
­immer von ­spezifischen Lebens­umständen gefärbt. Im Laufe des
Lebens stoßen wir auf ­Gegenstände, die die Momente, mit denen
sie verbunden sind, überleben, und die somit eine Verbindung
zur ­Vergangenheit herstellen.
Welche Gegenstände und welche Erinnerungen sind es, die vor
dem Zahn der Zeit, vor der Mode, vor neuen ­technologischen
Entwicklungen, vor dem Vergessen ­bewahrt ­wurden? Diese
kleinen Lichtinseln in einer dämmerigen und unwiederbringlichen
­Vergangenheit sind auch Teil des ­unbewussten Auswählens, mit
welchem die ­Vergangenheit und die eigenen Biografien
rekonstruiert werden.
Die hier ausgestellten Gegenstände haben keinen ­inhärenten Wert
und keine inhärente Bedeutung. Aber wie ein ­versammelter Kreis
von Ahnen erzählen die Gegenstände die Geschichten ihrer
BesitzerInnen. Es ist viel mehr ­passiert, es wurde viel mehr erzählt
als hier gezeigt werden kann. Auf dem Weg von der privaten
Erzählung bis hin zum ­ausgestellten Geschriebenen ist von beiden
Seiten ­ausgewählt und adaptiert worden.
In den Räumlichkeiten des Kantorhauses - dem Haus, das die Stadt
Bernau vor dem Abriss gerettet hat - fanden diese gesammelten
Gegenstände und Geschichten ein ­temporäres Zuhause :
ein Museum im Kantorhaus.
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Schellackplatten
Beitrag von Wolfgang Werner
Es gab in meiner Jugend im RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) eine Sendung,
die nannte sich „Gestatten, alte Platten“. Und da wurden Schellackplatten gespielt. Ich
hörte die Sendung damals gerne. Das war ein solcher Sound, ob es jetzt Foxtrott oder
Swing war, der ist mir einfach ins Ohr gegangen, da ist er dann drin geblieben.
Ab 1939 oder 1940 musste
man, wenn man eine
Schellackplatte kaufte,
zwei andere dafür abgeben. Es war ein unfreiwilliges Recyclingsystem.
Der Zweite Weltkrieg
begann damals und die
Rohstoffe wurden für die
Kriegs-industrie benötigt.
Mit jeder abgegebenen
Platte verschwanden nach
und nach viele Modetänze.
Wie Charleston oder der
amerikanische Swing, politisch unliebsame Musik
halt, auch sozialistische
und jiddische Lieder.
Sogenannte „Entartete
Musik“. Die durfte man
öffentlich nicht mehr
spielen. Später dann auch
nicht einmal mehr privat.
Es gibt auch eine andere Spezies von Musik, die verschwunden ist. Das sind die sogenannten „Gassenhauer“ aus den 1920er Jahren, zum Beispiel “Wir versaufen unsere Oma
ihr klein Häuschen”. Diese Schlager sind in meiner Familie sehr oft gespielt worden und
dann war die Platte irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes platt. Die alten Grammophonnadeln schabten jedes Mal eine Schicht vom Schellack ab. Man konnte eine Platte
eigentlich durchschnittlich nicht mehr als einhundert Mal hören.
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Diese Schellackplatten habe ich von meinem Großvater geschenkt bekommen. Er hatte
eine relativ große Plattensammlung damals, aber die ist dann nach und nach auf den
üblichen Wegen verschwunden. Er hat viel weggeschmissen oder verschenkt, die Platten
waren nicht mehr zeitgemäß. Im Alter von zwölf oder 13 Jahren habe ich einen kleinen
Rest von Platten entdeckt. Das waren dann meine ersten zehn Schellackplatten. Da habe
ich dann auch das Lied vom “Zickenschulze aus Bernau” entdeckt. Ich kannte Bernau
also schon, bevor ich 1997 hierher gezogen bin.
Zöpfe
Beitrag von Beate Modisch und ihrer Mutter Charlotte Lohoff Irgendwann zwischen den Jahren 1936 und 1940 haben Charlotte und ihre Schwester
Ruth ihre lange Zöpfe abgeschnitten. Vielleicht, weil es praktisch war, bestimmt aber
auch, weil kürzere Haare damals Mode waren. Ruth war 15 Monate Jahre jünger als ihre
Schwester. Die beiden haben viel gemeinsam unternommen.
In dieser Zeit trafen sich die in Bernau stationierten Luftnachrichtenfunker mit den
jungen Bernauerinnen im Elysium bei der Tanzstunde. Tänze wie Polka und Walzer,
aber auch andere Gesellschaftstänze wie Foxtrott oder Tango wurden im kleinen Saal
unterrichtet und im größeren Saal zu besonderen Anlässen getanzt. Charlotte und ihre
Schwester Ruth tanzten gern: zum Beispiel abends in Gaststätten wie dem Schützenhaus,
dem Waldkater, dem Café zum Husitten oder auch bei Sommerfesten, Klassentreffen
und Vereinstreffen.
Ab 1939 waren die Männer im Krieg und Charlotte beim Arbeitsdienst im Rheinland.
1944 kam Ruth bei einem Bombenangriff in Berlin ums Leben. Die Zöpfe blieben im
Schrank in dem Familienhaus in der Siedlung Blumenhag. Als Charlottes Tochter Beate acht Jahre alt wurde, kam ihre Locke dazu. Später dann auch noch die von Beates
Kindern Ronny und Robert. Auch zwei Milchzähne von Robert wurden dort verstaut.
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PORTRÄT MEINES VATERS
Beitrag von Klaus Wilke
Ich weiß gar nicht viel von meinem Vater. Das Bild ist das Einzige, das übrig bleibt. Er
ist in den letzten Tagen des Krieges gestorben, ohne Soldat gewesen zu sein. Er ist zu
dem Volkssturm einberufen worden und ist nicht mehr nach Hause zur Familie zurückgekehrt. Er ist irgendwo umgekommen, aber wo, wusste keiner. Am 23.4.2001 informierte mich der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, dass mein Vater Willi Wilke als
Zivilgefangener in die Sowjetunion gelangte und dort am 6.6.1945 verstorben ist.
Willy Wilhelm Wilke wurde 13.6.1908 in Landsberg-Warthe geboren und starb am
6.6.1945 in der ehemaligen UdSSR.
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Familienstammbaum
Beitrag von Barbara Forwerk
Im Mai 2014 sind meine Eltern von Bernau in ein Seniorenheim gezogen. Nun bin ich
nach der Wohnungsauflösung im Besitz vieler ihrer Erinnerungsstücke. Abgesehen von
vielen Fotoalben sind es die kleinen Dinge, wertlos erscheinend, aber mit einer Geschichte, die weit in die Familienvergangenheit zurückgeht. Ich hatte das Glück, dass ich noch
viele Fragen stellen konnte und auch viele Antworten bekam. Meine Neugier und mein
Interesse an der Familienvergangenheit ließen mich über die Dinge nachdenken.
Ich freue mich über die Gelegenheit, jetzt hier einige Gegenstände einbringen zu können.
Erinnerungsstücke, die über Generationen, Kriege und zahlreiche Umzüge aufbewahrt
wurden. Ich kann die doch nicht einfach so entsorgen. Ich will nicht verheimlichen, dass
sie mir auch eine Last sind und ich nicht alles behalten möchte. Ich hoffe, dass ich diese
Dinge an die Heimatmuseen in den Geburtsorten meiner Eltern weitergeben kann. Und
die auf diese Weise dann auch für nachfolgende Generationen erhalten bleiben.
Kochtopf
Zum Abschluss eines Kochlehrgangs bei den Pimpfen
erhielt mein Vater im Jahr 1935 diesen Kochtopf, den
er auf langen Wanderungen und im Krieg auf seinem
Rücken trug und auch bis ins hohe Alter im eigenen
Haushalt zum Kochen verwendete.
Teppich
Im Jahr 1938 war meine Mutti elf Jahre alt. Ihre Mutter
war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Ihr Vater bezog damals Invalidenrente und sie selbst besorgte den Haushalt und
half in einem Kurzwarenladen aus. Dafür erhielt sie die übrig
gebliebenen Wollreste. Aus denen hat ihr Vater dann diesen
Teppich in Handarbeit angefertigt.
Nähtasche
Meine Oma (1895-1982) war gelernte Schneiderin. Später, als sie
dann Meisterin war, hatte sie eine eigene Nähwerkstatt mit Personal in Neukölln. Diese handgefertigte Tasche, einschließlich
eines Stickmusters, ist eines ihrer Lehrstücke.
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Poesiealbum
Das Poesiealbum hat meine Urgroßmutter meiner Oma im
Jahr 1898 zur Konfirmation geschenkt. Für meine Mutti ist es
eine Erinnerung an ihre viel zu früh verstorbene Mutter.
Buch
Das Buch „Reinecke Fuchs“ von Goethe erhielt mein Urgroßvater
als Zehnjähriger am 25. September 1875 als Zeichen der Anerkennung seines Fleißes und guten Betragens. Meinem Großvater und
auch meinem Vater diente es als Kinderbuch. Als „Goethe“ in der
Schule durchgenommen wurde, zeigte mein Vater es mir. Es war sehr
zerfleddert, aber ist – obwohl es nur laienhaft gebunden ist - immer
noch für die nachfolgenden Generationen erhalten.
Tasse
Die Tasse ist ein Taufgeschenk, laut Aufdruck vom 15. Januar
1894 von Luise Krüger an meine Ururgroßmutter. Sie hat die
Tasse dann ihrem Urenkel, also meinem Opa, geschenkt.
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Milchkanne
Beitrag von Michael Thielsch
Ich weiß nicht, wo die Kanne herkommt. Für mich gibt es
die einfach schon immer. Ich habe damit früher das Bier für
meinem Vater aus der Kneipe geholt. Er saß dann im Garten
und trank genüsslich sein Feierabendbier. Wenn mein Vater
nicht da war, dann holte ich Fassbrause aus der Kneipe. Und
wenn der Bäcker des Ortes im Urlaub war, dann hat man auch
Milch von der Kuh damit geholt. Als ich 23 Jahre alt war und
ausgezogen bin, habe ich die Kanne angesehen und gedacht:
Die wird mal verschwinden. Und dann habe ich sie mitgenommen. Und seitdem ist sie immer mitgewandert. Wenn ich die
Kanne jetzt anschaue, dann kommen mir sofort die Kneipe,
der Garten, die Kuh, mein Bruder, mein Vater in den Sinn.
Also alles. So, als ob es gerade erst passiert wäre.
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Der Tulpenbaum
Beitrag von Reinhard Mettner
In dem kleinen Dorf Warchau-Rosenau, in
dem ich 1952 in einem Fachwerkschloss
geboren wurde, steht im Schlosspark an der
Tanzwiese ein etwa 25-30m hoher Tulpenbaum, der um 1800 gepflanzt wurde. Seine
Blätter haben eine eigenartige Form, die ich
schon als Kind bewundert habe. Ich lebe seit
vielen Jahren in Bernau und habe erst jetzt
diesen seltenen Baum hinter dem ältesten
Fachwerkhaus von Bernau, dem Kantorhaus
in der Tuchmacher Straße, entdeckt. Er ist
zwar noch sehr klein, aber wenn ich dort
an der Stadtmauer spazieren gehe, erinnert
er mich an meine Kindheit und an meinen
Geburtsort. Mit meiner kurzen Geschichte
über den Tulpenbaum, der im Frühjahr gelbe
Blüten in Form von Tulpen mit orangenem
Rand trägt, soll er das Kantorhaus noch viele
Jahre beschützen und mit dem Blätterkleid Schatten spenden sowie mit seinen Blüten noch
sehr lange Freude bringen.
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Taufkleid
Beitrag von Eva Maria Rebs,
nacherzählt von Alexis Hyman Wolff
Seitdem das Kleid im Jahr 1879 genäht
wurde, sind 49 Mitglieder der Familie
Wendt-Jakobson darin getauft worden. In
dem Taufbuch, das immer zum Kleid gehört,
werden alle Getauften eingetragen. Jedes
Mal, wenn ein Kind geboren wird, schreiben
oder telefonieren die Familienmitglieder miteinander. Auch, um herauszufinden, bei wem
sich das Kleid gerade befindet. Das Kleid
wird dann der Familie des Neugeborenen
geschickt oder direkt zur Taufe mitgebracht.
HühnerfutterSchüssel
Beitrag von Sigrid Pulfer
Ich wurde 1952 in Herzberg/Elster geboren und bin direkt am Waldrand groß geworden.
In der Nähe unseres Hauses gab es ein altes Bauerngehöft mit Ställen und Scheunen und
allem, was dazugehört. Als Kinder haben wir immer in diesen Scheunen gespielt und da
haben wir dann im Stroh ganz viele alte Gegenstände gefunden. Vielleicht wurden sie in der
Kriegszeit dort vergraben. In der Nachkriegszeit wurden gute Dinge auch als Gebrauchsgegenstände benutzt, zum Beispiel auch diese Schale mit den kleinen Griffen. Der Bauer hat
immer gesagt: „Sie ist genau richtig für Hühnerfutter.“ Und weil wir als Kinder noch kleine
Hände hatten, waren wir stolz darauf, dass die so gut zu uns gepasst hat und wir sie so gut
tragen konnten. Ich habe immer aufgepasst, dass die Schüssel nicht kaputt ging. Je älter
ich wurde, desto öfter sprach ich mit der Bäuerin. Ich sagte dann: „Ich möchte die Schale
mit den Disteln wieder haben.“ Obwohl es gar keine Disteln waren, sondern Wildrosen.
Sie sagte dann immer: „Das alte Ding!“ Aber ich durfte die Schüssel immer haben und mit
Körnern füllen und die Hühner füttern.
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Als ich 18 Jahre alt war, heiratete ich und bin dann nach Bernau gezogen. Von der alten
Bäuerin verabschiedete ich mich und sie wünschte mir alles Gute für die Zukunft. Eines
Abends vor der Hochzeit klingelte sie bei meinen Eltern. Sie sagte: „Sigrid bekommt die
Hühnerfutterschüssel.“ Alle haben gelacht, sie kannten ja den Zusammenhang nicht.
Das ist eine der
Erinnerungen
an meine
Kind­heit.
Als wir da in
dieser Scheune
gespielt haben.
Manchmal
liege ich nachts
wach und dann
kommen die
Erinnerungen:
Wie wir da
rumgetobt sind.
Ich mit meinen
Geschwistern
und den
Nachbar­s­
kindern. Wie
wir uns davor
fürchteten,
den Strohberg
herunter zu
springen. Die
Scheune und den Bauernhof gibt es jetzt nicht mehr. Dort ist inzwischen eine neue Straße
entstanden. Die war wichtiger als ein einsam gelegener Bauernhof. Aber die Schüssel mit
den Wildrosen, die wird es noch eine Weile geben. Nur nicht mehr für Hühnerfutter.
Teppichklopfer
anonymer Beitrag, nacherzählt von Alexis Hyman Wolff
In meiner Kindheit gehörte zu jedem Haushalt ein Teppichklopfer. Der wurde vom
Korbmacher angefertigt. Einmal im Jahr, beim Frühjahrsputz, kam er zum Einsatz.
Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Vater den Teppich zusammenrollte. Mein Vater
hob das Sofa hoch und ich rollte den Teppich zusammen. Gemeinsam trugen wir den
Teppich dann nach draußen, hängten ihn auf die Stange und klopften ihn aus. ­Den
­Teppichklopfer habe ich als Erinnerungsstück an meine Eltern aufgehoben. Und auch als
Erinnerung an eine Zeit, in der Hausarbeit mit der Hand erledigt wurde und ein Teppich
ein Leben lang halten sollte.
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Panzerräder
Beitrag von Alfons Pause
Anfang der 1980er Jahre wurden die hohe Wände und Decken der katholischen Kirche
gereinigt und neu gestrichen. Die waren ganz grau vom Heizen. Es war damals in der
DDR undenkbar, ein Gerüst über eine Firma zu bekommen. Wir haben dann zunächst
eines aus Schrottmaterial zusammengeschweißt. Also die Hauptstützen, mit denen man
man dann eine Verbindung zu normalem Gerüstmaterial herstellen konnte. Diese Teile
haben wir aus dem Privatbesitz der Gemeinde zusammenbekommen. Es waren 101
Personen beteiligt – Leute aus der Gemeinde und auch deren Freunde.
Das Gerüst hatte eine Grundfläche von 4x13,5 Metern und reichte etwa 14 bis 16 Metern
in die Höhe. Und es war sechs Tonnen schwer.
Für die Fahrbarkeit der Rüstung brauchten wir nun Räder. Es ergab sich, dass auf dem
ehemaligen Rangierbahnhof Rüdnitz, der hier seit dem Ende der 40er Jahre von der Roten
Armee als Fahrschulgelände genutzt wurde, Militärfahrzeuge fast aller Art standen, so
auch Panzer. Das waren nicht die schweren Kampfpanzer, sondern die Ausbildungspanzer
und eines Tages ist einer dieser Panzer defekt stehen geblieben. Und da dieses Gelände
nicht eingezäunt war, haben sich die Kinder des Panzers bemächtigt. Alles, was innen an
Elektrik eingebaut war, war kaputt geschlagen, so dass der Panzer eine ganze Weile keine
Perspektive hatte, von seinem Platz wegzukommen.
Ich war damals oft im Wald spazieren. Vielleicht habe ich nach Pilzen gesucht oder so.
Und dann habe ich den Panzer entdeckt und ihn mir angeguckt. Ich war der Meinung, dass
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die alten Rollen genau richtig wären, um unser Gerüst zu transportieren. Ich bin dann mit
entsprechendem Werkzeug hin, aber leider war es dann so, dass sich die Muttern immer
mitgedreht haben, wenn ich versucht habe, die Rollen zu lösen. Ich musste dann meine
Tochter holen und die hat dann mit einem entsprechenden Schlüssel dagegen gehalten.
Meine Tochter war damals elf oder zwölf Jahre alt. Wir haben dann sechs Rollen abgeschraubt und haben die hier für unser Gerüst verwendet. Und die haben sich gut bewährt.
Eines Tages war dann der Panzer weg, aber die Rollen sind bei uns geblieben.
Bilderrahmen
Beitrag von Petra Stolle
In der Bernauer Innenstadt waren im April 1980 viele der alten Häuser demoliert. Die sind
geplündert worden und wurden teilweise auch zerstört. Aber in einigen Räumen lagen noch
lauter private Dinge herum. Ein Brief zum Beispiel, der noch auf dem Tisch lag und in
dem stand, dass jemand eine Strafe antreten muss. Überall lagen alte Briefe und Fotos. Alles
private Dinge, einfach verstreut. Und man wusste nicht, ob die Person vielleicht zurückkommt. Wir haben uns gewundert, dass nichts davon sicher gestellt wurde, sondern einfach
so der Öffentlichkeit überlassen wurde.
Einerseits bedauert man es dann, dass diese Häuser abgerissen wurden. Andererseits hat
man auch gesehen, dass zu der Zeit keine Chance bestand, die zu restaurieren oder zu
­modernisieren. Wie gesagt, die Baustoffe waren einfach damals nicht da.
Und die Rahmen, die habe ich aus
einer alten Schranktür und einem
Gaze-Fensterrahmen gebastelt. Die
hatte ich auf einem Spaziergang in
einem der halbdemolierten Bernauer
Häuser gefunden. Rahmen waren
eben auch Mangel. So haben wir nach
Möglichkeiten gesucht, die Dinge
aufzuarbeiten und zu nutzen und die
Wohnungen eben schöner zu gestalten. Bei mir war es auch die Freude am
Werkeln. Ich habe meinem Vater hin
und wieder beim ­Arbeiten zugeschaut.
Und es war mir wirklich ein Vergnügen das Holz abzu­schleifen, eine
Farbe aufzutragen und zu beizen und
zu lackieren. Und das auch mit Freunden zu besprechen. Zu fragen, ob die
Tips haben oder auch Farbreste.
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Ich war dann in den Jahren 1979 – 1981 in Berlin-Buch auf der Rheumastation. Da hieß
es auch, kreativ zu werden. Ich habe dort - vielleicht auch wegen meiner Traurigkeit,
dass ich nicht mehr tanzen konnte - in meiner Freizeit einfach ein Bild komponiert. Die
Stoffe, die ich dafür benutzte, sind Stoffreste aus den Dingen, die ich für mich geschneidert hatte, die ich zentimeterweise gekauft hatte, weil alles sehr teuer war. Das war eine
Fantasielandschaft, obwohl bestimmte Stofffetzen da auch dann die Formen vorgegeben
haben, und der Rahmen bot auch die Möglichkeit das dorthin zu bringen.
Müllers Handnähmaschine
Beitrag von Christa Wahren
Meine Mutter hatte früher eine Tretnähmaschine.
Durch die Bewegung mit dem Fuß wurde die Nadel
transportiert. Das faszinierte mich sehr. Ich war
damals drei oder vier Jahre alt, als ich das so wahr­
genommen habe. Da war ein grosses Schwungrad
an der Seite. Ich habe immer die Riemen entfernt
und dann nur dieses Schwungrad drehen lassen. So
schnell konnte man die Füße gar nicht bewegen.
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Diese Handnähmaschine war schon alt, als ich sie 1956 von meinen Eltern geschenkt
bekommen habe. Ich war vier Jahre alt. Die Maschine stammt aus der Jahrhundertwende,
funktioniert aber immer noch. Ich erinnere mich noch daran, auf welche Weise ich mit
der kleinen Maschine eine Federtasche aus grauem Igelit genäht habe.
Als ich dann das Abitur mit Berufsausbildung begann, kam ich in eine Schneiderklasse.
Aber komischerweise gab es da keinen Arbeitsplatz für mich. Später habe ich mich gefragt, ob das so war, weil meine Eltern beide selbständig waren. Meinen Berufsabschluss
machte ich dann im Gesundheitswesen.
Einige Jahre später, nach meinem Studium und eigener Lehrtätigkeit, habe ich dann ein
dreijähriges Fernstudium in Textilgestaltung absolviert. Und dann habe ich mich doch
noch entschlossen, ein eigenes Textilatelier zu eröffnen. Von 1981 bis 1993 stellte ich
also in Bernau handgefärbte Textilien her und entwarf Unikate: Sowohl Modestücke als
auch Lampenschirme und
Einrichtungsgegenstände.
Nach der Wende war es
aber ökonomisch nicht
mehr möglich, den Laden
zu halten. Die Suche nach
neuer Arbeit führte mich
wieder in den Gesundheitsbereich. Nun steht die kleine
Nähmaschine bei mir zu
Hause als Erinnerung an die
ganzen ­Geschichten, die ich
mit dem Nähen verbinde
und die sich durch mein
Leben ziehen.
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Plauener Spitze
Beitrag von Heidi Heidrich
HH: Zu den Gardinen im Kantorhaus muss ich noch etwas sagen. Die Gardinen hängen
hier vielleicht seit 1986. Die erste Gardine wurde bei mir im Leiterbüro angebracht. Es
war Plauener Spitze. Plauener Spitze ist etwas sehr wertvolles. Irgendjemand hatte eine
solche Gardine besorgt und mir ins Zimmer gehängt. Dann habe ich mir das Haus von
draußen angeguckt: oben im Fenster hing das eine Stück Gardine und in den anderen
Fenstern nichts. Ich dachte, das geht überhaupt nicht. Also was hab ich gemacht? In der
DDR war es nicht so einfach Dinge zu kaufen, die man wollte. Plauener Spitze wurde
zwar in der DDR produziert, aber sie wurde nur in das „nicht sozialistische Ausland“,
also in kapitalistische Länder, exportiert.
Also ich habe einen netten Brief an die Firma nach Plauen geschrieben, dass ich hier die
Musikschule im Kantorhaus leitete, dass ich dafür ein Stück Gardine bekam, aber dass es
so nicht geht und sie mögen mir doch bitte behilflich sein. Ich habe nicht damit gerechnet, dass so ein staatstragender Betrieb auf den Brief einer kleinen Musikschulleiterin
antwortet. Aber die Gardinen kamen und Sie sehen, sie hängen immer noch.
AHW: Aber die Gardine, die hier hängt, sieht doch anders aus als alle anderen?
HH: Ich habe es zwar aufgemalt, wie meine Gardine aussah, aber inzwischen waren zwei,
drei Jahre vergangen und dann hatten die einfach ein neues Muster und das Alte gab es
nicht mehr.
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tischLampe
Beitrag von Hansjoachim Hölzel
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Holznagel
Beitrag von Dieter Grauppmann, Zimmermann bei der VEB Bau Bernau
Hier waren alles meist alte Häuser. Die
wurden ja alle abgerissen. Das hier war das
älteste Haus von Bernau und man wollte
es dann doch erhalten. Das Haus stand
auch leer eine Weile, sah dann herunter
gekommen aus, und dann hieß es, ja, wird
gemacht.
Der Holznagel wurde beim Ausbauen hier
gefunden. Aus dem alten Haus habe ich
den ganz vorsichtig rausgehauen und sagte,
„Den nimmst du mit, den hebst du dir auf,
als Erinnerung.“
Stuhl und Reiseschreibmaschine
Beitrag von Heinz Tünge
Ein Gaststättenstuhl ist an sich nichts
Beachtenswürdiges. Dieser aber hat trotz seiner
Einfachheit einen eindrücklichen Bezug zu
meiner „persönlichen” Geschichte.
Meine Eltern bauten sich 1935 ein Einfamilienhaus, im Souterrain mit einem Versammlungsraum für die Evangelisch-methodistische
Kirche, der sie angehörten. Für die Ausstattung
kauften sie – je nach Vorhandensein der finanziellen Mittel – in Zehn-Stück Sendungen
von der „Deutsche Bugholz-Stuhl GmbH Berlin” die Stühle der „Marke Bombenstabil.”
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Als ich 1946 auf die Geschwister-SchollSchule nach Bernau kam, war die Schule
gerade aus der Breitscheidstraße (jetzt
Künstlerhof) in den Backsteinbau in der
Mühlen­straße (jetzt Johannaschule)
gezogen. Es fehlte an Mobiliar für die
neue Schule und wir wurden dazu aufgerufen, nach Möglichkeit unsere eigene
Sitzgelegenheit mitzubringen. Meine Eltern
gaben mir diesen Stuhl mit. Mein Stuhl
hat die fünf Jahre Schulzeit als einziger
schadlos überstanden. Trotz Kippeln. Und
er leistet mir immer noch gute Dienste im
privaten Bereich.
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Spazierstock
Beitrag von Dieter Korczak
Mein Vater konnte immer gut gehen. Mit 85 ist er noch
mit mir zusammen im Allgäu auf 2000 Meter hohe Berge
geklettert. Er hatte da natürlich den Stock dabei. Die Männer
früher hatten ja ihre Gardestöcke, ihre Spazierstöcke. Es war
ein Zeichen des Herrn.
An den Orten, an denen er mit meiner Mutter zum Wandern
war, hat er sich immer Plaketten gekauft und diese dann an
seinem Stock befestigt und gesammelt.
Da er handwerklich sehr geschickt und genau war, hat er
diese Plaketten dementsprechend ordentlich angebracht. Die
Sorgfalt, die Liebe zum Detail und auch das Interesse an neuen Dingen, am Reisen, das
handwerkliche Geschick und dieses Knorrige, dieses Feste, Bestimmte... Das ist alles in
diesem Stück behämmertem Holz verdichtet. Das Spannende
an der Geschichte ist auch, dass er viele Jahre – zwanzig,
dreißig Jahre – bei seiner Arbeit auch gehämmert hat. Er war
Maschinenschlosser. Er war am Brückenbau beteiligt und auch
an solchen Sachen wie dem blauen Gasometer hier in Bernau.
Er ist herumgelaufen und hat die einzelnen Blechteile mit
großen Nieten angeschweißt oder mit dem Hammer befestigt.
Den Stock haben wir als Kinder natürlich bewundert und oft angeschaut. Wir haben unseren Vater auch gefragt: Ja, zeig mal, Vater, gibt es was Neues? Das war dann ein Anlass,
um über die Dinge zu reden und Geschichten zu erzählen.
Der Stock lehnt nun bei mir zuhause an meinem Schreibtisch. Mein Vater ist im Januar
gestorben und ich habe eine Art kleinen Hausaltar, auf dem seine Brille liegt, ein paar
Utensilien, ein Bild, eine Kerze und der Stock.
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Beitrag von Achim Kandulla
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Biografie in Versen von richard gustav fürl
Beitrag von Elisabeth Kuban-Fürl
Mein lieber Großvater!
Nun bin ich, Deine älteste Enkelin, ungefähr so alt, wie Du warst, als Du mit den Aufzeichnungen begannst, die jetzt in vier Diarien – eng beschrieben mit Deiner ordentlichen
deutschen Schrift – vor mir liegen.
Zumindest denke ich, Du müsstest etwas über 70 Jahre alt gewesen sein, als Du Dich
hinsetztest und dann über Jahre hinweg Dein Leben Revue passieren ließest. Leider
warst Du sehr sparsam mit irgendwelchen Zeitangaben, und ich habe jetzt die Arbeit
damit, herauszufinden, wann denn was geschehen ist. Zum Glück hast Du uns zu
Deinen Lebzeiten aber immer gern und viel aus Deinem Leben erzählt, und Du hast
auch gern fabuliert. Das merkt man beim Lesen, Deine Reimereien sind alles andere als
trockene Aufzählungen.
Ja, alter Herr, es wäre schön, wenn ich Dich zu diesem oder jenem befragen könnte.
Doch dann würde unsere Familiengeschichte bestimmt ein mehrbändiges Werk
werden, und das wollen wir unseren Nachfahren ja auch nicht zumuten. Aber ich
werde mich trotzdem oft genug mit Dir unterhalten und Dir Fragen stellen….um mir die
Antworten dann doch aus anderen Quellen zu holen. Das werden lustige Gespräche!
Übrigens – „erlaub mal eins“ hättest Du jetzt gesagt! – habe ich versucht, beim
Abschreiben Deine Orthographie und Grammatik beizubehalten ( die erstaunlich gut
ist, in der Rixdorfer Volksschule hast Du ordentliche Grundlagen mitgekriegt!)
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Manchmal hat allerdings der Computer korrigiert. Aber wortgetreu ist alles, schließlich
ist uns Deine ganz persönliche Sicht der Familiengeschichte und die darin widergespiegelte
Zeitgeschichte wichtig und interessant.
Los geht`s also, im Jahre 1881 irgendwo in Berlin, vermutlich Schöneberg. Du hattest
Dir den Arm gebrochen, als Du in der Wohnung von der Schaukel (angebracht am
Tür­­rahmen) gefallen warst...
Kindheit
Der rechte Arm wurd eingegipst,
ich lag in der Stube.
Das Schönste war bei der Geschicht,
ich brauchte nicht zur Schule.
Als der Arm dann wieder heil,
wurden wir gekündigt.
Hatten mit der Schaukelei
wohl zu schwer gesündigt.
Unter uns wollt keiner nicht
im ganzen Hause wohnen.
Hatten Angst, die Decke bricht
ein von unserm Toben!
Endlich dann im letzten Haus
fand sich noch ein Keller.
Keinen Pfennig Geld im Haus,
nicht einen roten Heller.
Und da kam dann auf die Welt
ohne Schuh und Strümpfe
wieder mal so`n kleiner Held,
damit wieder Fünfe…….
(Gustav, geb. 1.September 1881)
Die Folge war, nun wieder ziehn
weiter hin nach Süden!
Dort, wo die Kartoffeln blühn.
Wir haben „Hurra!“ geschrien!
Nun weitab bis dort hinaus
wo Schöneberg zu Ende.
Das war für uns `ne Kleinigkeit,
wir waren ja behände………
Vater zog mit mir ins Feld,
nicht in fremde Lande.
In Tempelhof für wenig Geld,
`ne Pacht kam da zustande.
Ein ganzer Morgen braches Land
wurd` uns zugewiesen.
Dort wurden von uns angepflanzt
Kartoffeln und Gemüse.
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Klubtagebuch
Beitrag von Heinz Zinke
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Denkschriften
anonymer Beitrag, nacherzählt von Alexis Hyman Wolff
Vor ungefähr zehn Jahren habe ich
einem älteren Herrn, einem Freund
meiner Nachbarin, geholfen, seine
Denkschriften abzutippen, weil er im
Sinn hatte, diese zu veröffentlichen. Er
wuchs in der Zeit des Dritten Reiches
auf, ging in die Hitler­jugend und wurde
dann in den Krieg eingezogen. Diese
Erfahrungen wollte er in seinem späteren
Alter reflektieren und niederschreiben.
Das hatte er, als ich ihn kennenlernte,
handschriftlich getan. Ich fand es
spannend, seine Lebensgeschichte zu
erfahren: Wie es damals war im Krieg.
Auch mal in ein anderes Leben zu gucken und auch irgendwie ein Teil davon zu sein
- wenn auch nur durch das Niederschreiben - fand ich wunderbar. Es gab Stellen im
Text, die noch nicht fertig waren, und ich habe dann nachgehakt. Und so war es schon
ein bisschen Team­arbeit und auf jeden Fall ein Austausch. Als das Buch fertig war,
haben wir versucht, es über einen Verlag zu veröffentlichen. Aber es war eben schwierig
und am Ende hat er die Publikation selber finanzieren müssen und es wurde dann eine
dementsprechend kleine Auflage. Ich habe ein Exemplar und auch das Manuskript, was
mich an diese Erfahrung erinnert - an dieser Auseinandersetzung mit der deutschen
­Geschichte teilgenommen zu haben und seinen Aufschrei gegen Krieg und Gewalt in
seiner Veröffentlichung zu unterstützen.
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Karteikasten aus der
Galerie Bernau
Beitrag von Sabine Oswald
Ich habe im Januar 1990 in der
Galerie Bernau angefangen. Sie
war gerade vier Monate geöffnet
und trotzte nun der Wende. Es
ging drunter und drüber. Die
Existenz der Galerie war infrage gestellt, auch unser ganzes
bisheriges Leben war infrage gestellt. In der Galerie lernte ich Gunda kennen, Gunda
Ihlow. Sie war eine mächtige Frau, in Statur und Wesen. Sie hatte alle Fäden in der Hand
und war der Zeit immer drei Schritte voraus. Wenn ich mich noch immer über all diese
Veränderungen wunderte und versuchte zu begreifen, hatte sie die Vision parat und eine
Strategie dazu, um das Räderwerk am Laufen zu halten. So hat sie die Galerie über die
Wende gerettet. Es gibt die Galerie heute noch.
Gunda brachte eines Tages diesen Karteikasten in die Galerie. Es musste eine Adresskartei angelegt werden – Künstleradressen, Mitgliederadressen des gerade gegründeten
Kunst­vereins, Firmenadressen. Wir hatten noch einige alte Karteikarten – DDR-Kartei­
karten mit ausgewiesenem EVP (Einzelverkaufspreis). Sie waren natürlich grau. Wenig
später gesellten sich die „West“- Karteikarten dazu. Sie waren natürlich farbig. Ost und
West hat sich nun gemischt und manchmal hatte man Mühe, ein System zu finden. Es war
einer von den vielen kleinen Versuchen, ein wenig Ordnung in den Alltag zu bekommen.
Bis 1998, als die Galerie den ersten Computer angeschafft hat, haben wir diese Adressenkartei benutzt. Dieser Karteikasten ist ein Stück Erinnerung aus der Wendezeit und an
Gunda, ohne die die Galerie die Wende nicht geschafft hätte und auch nicht das Weiterleben.
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Radleier
Beitrag von Friedemann Seeger
Als Student der Kunsthochschule
in Halle Burg Giebichenstein
wohnte ich zunächst im Internat.
Aus dem Nachbarzimmer hörte
ich häufig Renaissancemusik, die
auf einer Laute gespielt wurde.
Meist in den Abendstunden. Mit
dem Lautenisten bin ich dann
in Kontakt gekommen und kurz
darauf gründeten wir den Spielkreis für Alte Musik in Halle. Das war im Jahr 1973.
Da dieses Musikfeld erst im Entstehen war und man sich bemühte, die alten Klänge auf
historischen Instrumenten zu erforschen, blieb es nicht aus, dass wir uns auch selber an
das Nachbauen und die Rekonstruktion alter Instrumente machten. Das Original dieser
hier nachgebauten Radleier befindet sich im Musikinstrumentenmuseum Markneukirchen. Ich
habe das damals
ausgemessen und
dann mehrere
Exemplare davon
nachgebaut.
1976 bin ich als
Absolvent an die
Bauakademie der
DDR gegangen.
Unter anderem
auch, um an
der Planung der
Umgestaltung des
Stadtkerns in Bernau mitwirken zu können. Nach sieben Jahren bin ich in die Freiberuflichkeit gegangen. Da lag es nahe, die neu errungenen Freiräume auch für die verdrängten Leidenschaften zu nutzen. Da in der Stadt viel mittelalterliche Bausubstanz abgerissen wurde, stand viel von dem alten Holz der alten Dachstühle zur Verfügung.
Ich ging auf die Suche nach geeigneten Stücken und fand am Angergang eine zusammengebrochene Scheune. Aus der rettete ich dann einige feinjährige, astfreie Balkenstücke. Damit stand mir trotz Materialmangelwirtschaft altes Holz zur Verfügung und
ich baute daraus mehr als zehn Instrumente.
Auch wenn viel der mittelalterlichen Stadt untergegangen ist, so wird durch dieses Instrument ein kleines Stück der alten Stadt hörbar.
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Jubiläums-Medaillen
Beitrag von Heidi Heidrich
Das Kantorhaus trägt seinen Namen, weil es über mehrere Jahrhunderte den Kantoren der St. Marienkirche als
Wohnsitz diente. 400 Jahre nach dem Hausbau wurde diese
Verbindung zur Musik nochmals hergestellt. Im Jahr 1983
zog das neugegründete Musikunterrichtskabinett Bernau so hieß das damals - ins renovierte Kantorhaus. Zu diesem
Anlass wurden diese Medaillen gestaltet und produziert.
Musikunterrichtskabinette gab es nur in der DDR. Sie
wurden als Ergänzung und Alternative zu den Musikschulen gegründet und sollten das Musizieren von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen fördern. Im Gegensatz
zur Musikschule wurde man in den Kabinetten meist zu
zweit unterrichtet. Positiv war die variable Handhabung der
Musikschullehrpläne. Es gab keine Bindung an vorgegebene
Zielvorstellungen. So war es möglich, sich auf die Bedürfnisse der Schüler und des
sozialen Umfeldes einzustellen. Der Unterricht begann 1983 mit den Fächern Klavier,
Akkordeon, Gitarre und Blockflöte.
In den Jahren bis zur Wende gab es dann viele Erweiterungen. Sowohl das Angebot des
Instrumentalunterrichts wurde ausgeweitet, als auch die Möglichkeiten für das gemeinschaftliche Musizieren. So wurden zum Beispiel ein Kammerorchester, eine Kammermusikgruppen und eine Jugend-Big-Band gegründet. Die gibt es immer noch.
1990 erhielt das Musikunterrichtskabinett dann den Status der „Kreismusikschule
Bernau“. So bereichert die Musikschule das musikalische Leben in und um Bernau und
pflegt die musikalische Tradition des Kantorhauses.
Das Klavier des Kantorhauses
Als hier umgebaut wurde, war die Rückwand dieses Raumes noch ausgebaut. Im
­Februar des Jahres 1983 stand das Klavier unten, eingeschweißt in Folie. Instrumente
sollten ­eigentlich in gleichmäßiger Temperatur gehalten werden, damit sie sich nicht
­verstimmen. Aber hier war es eben... eiskalt. Und dann hat man das Klavier mit dem
Seilzug hier herein geschwenkt. Hier wurde es dann abgestellt und dann wurde die
Wand ­zugemauert.
Die zwei Flügel und dieses Klavier waren die ersten Instrumente, die es hier gab.
Die Leute, die dann zu den Führungen kamen, fragten, „Wenn Sie mal nicht mehr hier
drin sind, was machen Sie denn dann mit dem Klavier?“ Ich sagte dann immer: „Wir
machen gar nichts. Das wird hier immer stehen bleiben.“
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Hochzeitsbräuche
Beitrag von Karsten Semmler
1984 hatten meine Großeltern ihre goldene
Hochzeit. Drei Tage lang wurde gefeiert. Es war
sonst nicht üblich, dass wir so ausgiebig feierten.
Der ganze Ort
wurde einbezogen
und alle Verwandten
wurden eingeladen.
Es wurden ­Fichten
vor die Tür gesetzt. Die gleichen Bäume wie bei einer
grünen Hochzeit. Das ist ein Brauch in den Dörfern in
Thüringen, wenn jemand heiratet. Alle ledigen Männer des
Orts beteiligen sich daran. Frauen binden einen Kranz und
basteln Verzierungen. Und dann gibt es einen Polterabend.
Der Polterabend ist am Abend vor der Hochzeit. Dabei
wird Geschirr vor die Tür des Brautpaares geworfen und
zerschmettert. Man nimmt nur Porzellan, weil Porzel37
lan Glück bringen soll. Die Gäste bringen dieses aus dem eigenen Bestand mit. Eine
silberne ­Hochzeit wird auch gefeiert, aber dann setzt man keine Fichten. Doch bei einer
goldenen Hochzeit setzen alle verheirateten Männer des Ortes die Fichten. Und vor den
Bäumen macht man dann üblicherweise Familienfotos.
Hochzeitsgeschirr
Das ist das Hochzeitsgeschirr meiner Großeltern. Es stammt aus dem Jahr 1934. Damals
haben die Frauen des Dorfes Geld gesammelt und dann das Hochzeitsgeschirr bestellt.
Es wurde handbemalt und extra für diesen Anlass angefertigt.
Ich habe viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht. Dieses Geschirr wurde nicht für
den täglichen Gebrauch genutzt. Nur, wenn große Feiern anstanden, wurde das gute
Geschirr heraus geholt.
Das Geschirr habe ich dann zu mir geholt, damit es nicht verloren geht. Nach dem Tod
meiner Großeltern haben wir viel entsorgen müssen, haben das Haus und das ganze
Grundstück verkauft.
Für besondere Anlässe, zum Beispiel zur
­Hochzeit eines meiner Kinder, würde ich
dieses Geschirr gern weitergeben. Zum
­Gebrauch oder möglicherweise auch zum
Poltern. Ich würde dann sagen: „Du heiratest
jetzt. Das ist das Geschirr deiner Urgroß­
eltern. Das ist was ganz besonders.“ Dann
würde ich zum Beispiel sechs Teller nehmen
und ihnen vor die Tür werfen.
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Shakespeare
Beitrag von Manfred Schöpe
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Likörgläser
Beitrag von Christel Bailleu
Von 1946 bis zu meiner Heirat im Jahr 1958 wohnte ich mit meinen Eltern und ­meiner
Schwester in diesem Kantorhaus. Die hier ausgestellten Gläser sind „Fundstücke“,
welche die vorherigen Mieter, ein Elternpaar und zwei Mädchen, zurück gelassen haben,
als sie vor dem Einmarsch der Russen geflohen sind. Wir Kinder fanden die Gläser auf
dem oberen Dachboden, der unser Abenteuerspielplatz war.
Hinter dem Haus befand sich ein sehr schöner, großer Garten mit Obstbäumen, Rosen
und vielen bunten Blumen. Natürlich wurden in der „Hungerzeit“ auch Gemüse und
Kartoffeln angebaut. Trotz aller Widrigkeiten der Nachkriegszeit haben unsere Eltern
uns eine schöne Kindheit beschert. Meine Mutter hat zum Beispiel des öfteren Maskenbälle für uns Kinder veranstaltet. Wir haben uns Kostüme angezogen und uns angemalt.
Sogar einen Kuchen hat sie gebacken, zu dem alle Eltern ein wenig Mehl, Zucker, Fett
und so weiter beigesteuert haben, denn es gab Lebensmittel nur auf Zuteilung.
Herr Herman Reincke war Bernauer Fotograf und hat das Leben vieler Bernauer
begleitet. Er hat Fotos von meinen Eltern gemacht, als sie noch junge Leute waren. Und
auch ihre Hochzeitsbilder und viele Familienfotos. Sein letztes Foto ist eben von diesem
Kantorhaus. Das Foto war ein Hochzeitsgeschenk an meinen Mann und mich. So wie
hier auf dem Foto sah das Haus im Jahr 1958 aus.
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Die Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung
Jenseits der Gegenstände : Ein Museum im Kantorhaus
14.9.-7.11.2014
Kantorhaus Bernau
Tuchmacherstr. 13
16321 Bernau-bei-Berlin
Projektbeteiligte: Christel Bailleu, Barbara Forwerk, Herr Graupmann, Heidi Heidrich,
Hansjoachim Hölzel, Achim Kandulla, Dieter Korczak, Elisabeth Kuban-Fürl,
Reinhard Mettner, Beate Modisch und Charlotte Lohoff, Sabine Oswald-Göritz,
Alfons Pause, Sigrid Pulfer, Eva Maria Rebs, Manfred Schöpe, Friedemann Seeger,
Karsten Semmler, Petra Stolle, Michael Thielsch, Gaby Trettin, Heinz Tünge,
Christa Wahren, Wolfgang Werner, Klaus Wilke, Heinz Zinke
Ausstellungstexte: Alexis Hyman Wolff und Projektbeteiligte
Korrektur: Jana König
Ausstellungsgestaltung: Alexis Hyman Wolff
Technik/Aufbau: Stadt Bernau-bei-Berlin/Bauhof, Achim Kandulla, Hansjoachim
Hölzel, Karsten Semmler, Alexander Wolff
Projektbetreuung: Kristina Leko, Universität der Künste Berlin; Stadt Bernau bei Berlin
Dank an: Zviad Mikeladze, Heiko Schwichtenberg, Lotte Thaa, Micha Winkler
Publikation
Gestaltung: Alexis Hyman Wolff
Bildnachweis: Fotos aus dem persönlichen Besitz der Projektbeteiligten,
Ausstellungsansichten und Objektfotos von Alexis Hyman Wolff und Micha Winkler
Auflage: 150 Stück
Berlin, 2015
Jenseits der Gegenstände : Ein Museum im Kantorhaus ist eins von acht Teilprojekten, die im
Rahmen des Projekts KONTEXT LABOR BERNAU 2014 und des Studiums am Institut
für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin entwickelt wurden.
http://www.kontext-labor-bernau.de
KONTEXT LABOR BERNAU ist ein gemeinsames Projekt der Stadt Bernau-bei-Berlin
und des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin. Gefördert wird
es vom Land Brandenburg / Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur und
vom Landkreis Barnim. Unterstützt von der BeST Bernauer Stadtmarketing GmbH.
www.bernau-bei-berlin.de
www.kunstimkontext.udk-berlin.de
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