Mit dem Herzen tanken

Gesellschaft
SON NABEN D/SON NTAG, 14./15. NOVEM BER 2015
TAZ.AM WOCH EN EN DE
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Eine Tankstelle, das war der Inbegriff von Moderne nach dem Krieg. Tankstellenbesitzer waren Avantgardisten. Davon zehren auch die Nachkommen wie Otto und Gisela Henningsen
In Sterup bei Flensburg hat man Sinn für Nostalgie. Seit über 90 Jahren betreiben
die Henningsens dort die Tankstelle. Sie ist das Ein und Alles des Juniorchefs, der auch schon 74 ist
HAUSBESUCH
Mit dem Herzen tanken
sen in Sterup wissen, dass sie
heute echte Raritäten sind. Und
beide wissen, dass sie in Zeiten
von Rationalisierung und anderen kapitalistischen Feinheiten
einen schweren Stand haben.
„Ich bin eine aussterbende Spezies“, sagt Henningsen.
VON TOBIAS ROMBERG (TEXT)
UND WILLI SCHEWSKI (FOTOS)
Z
u Besuch bei Otto und
Gisela Henningsen in
Sterup in Schleswig-Holstein.
Draußen: In Sterup, nahe der
Ostseeküste, liegt der Hund begraben. Es riecht nach Dung,
der Straßenverkehr hält sich in
Grenzen. Die Häuser sind schmal und alt, in die Jahre gekommener roter Klinker. Otto
Henningsen kann zu jedem
Gebäude eine Geschichte erzählen und Geschichtenerzählen ist
sein Steckenpferd. Ihm und seiner Frau gehört die wahrscheinlich älteste Tankstelle Deutschlands.
Drin: Die Königin der Nacht
hatte im vergangenen Jahr 16
Blüten, erzählt Gisela Henningsen, Ottos Frau. Die Königin der Nacht ist ein Kaktus.
Sie steht, in beachtlichem Ausmaß, auf der Fensterbank des
kleinen Kassenhäuschens der
Tankstelle. Es ist nicht der einzige Kaktus hier. „Dank des grünen Daumens meiner Frau“, lobt
Otto Henningsen. „Leider sehen
wir die Blüten fast nie“, ergänzt
seine Frau. Denn die Königin der
Nacht blüht nur nachts. Da ruht
diese Tankstelle. Ebenso wie der
74-jährige Inhaber und seine
70-jährige Gattin. Sind sie aber
wach, leben sie für die Tankstelle, die kaum konkurrenzfähig ist. Der Sprit ist hier meist
zu teuer, der Shop viel zu klein.
„Doch manchmal tanken die
Menschen auch mit dem Herzen“, sagt Henningsen.
Das Laster: Otto Henningsen
steht in einer Halle neben dem
kleinen Kassenhäuschen, die
So sah die Tankstelle in den 50er Jahren aus
mal als Werkstatt diente, und
raucht eine Zigarette – „mein
einziges Laster“. Er ist kernig,
gesund, mit sich im Reinen.
„Jetzt gehen wir rein und dann
erzähle ich alles“, sagt Henningsen, drückt die Zigarette aus
und geht los, einmal durch das
kleine Kassenhäuschen, seine
Frau grüßend („Moin“), die gerade einen Kunden abkassiert,
durch eine kleine Tür in einen
kleinen Flur.
Die Tankstelle: Otto Henningsen biegt vom Flur links ab und
steht in seinem Wohnzimmer.
Schwere Holzmöbel, ein Sofa
wie man es von Oma und Opa
kennt, tiefe grüne Sitzpolster,
wunderbar bequem. Otto Henningsen serviert Cola und holt
dann sein Fotoalbum. Es wird
ein langer Nachmittag. „Älteste
Tankstelle“ ist die Überschrift eines Artikels aus einer Lokalzeitung: „Seit 1924 gibt es in Sterup
eine Tankstelle. Sie wird noch
immer privat geführt. Die Zapfsäulen sind modern und entsprechen neuestem Standard.
Aber der Kassenraum der Tankstelle in Sterup hat einen nostalgischen Charme und erinnert
an die guten alten Zeit“, steht in
dem Artikel. Otto Henningsen
ist glücklich, wenn er solche Artikel zeigen kann. Dann holt er
weit aus. „Viele inhabergeführte
Kleinbetriebe hier bei uns verschwinden, die Bäckereien, die
Schlachtereien, die Postämter.
Wir aber nicht.“
Wie es anfing: Die Tankstelle
mit Werkstatt wurde 1924 von
Otto Henningsen senior, geboren 1904, gelernter Maschinenbauer, gegründet. „Den Beruf des Automechanikers gab
es damals noch gar nicht“, erzählt Otto Henningsen. Pferdeschmiede und Landmaschinenmechaniker hätten sich um die
ersten Fahrzeuge gekümmert.
Kaum jemand konnte sich ein
Auto leisten. „Mein Vater hatte
damals auch immer einen Eimer Wasser draußen stehen“,
erzählt er. Nicht, um es Kunden
zu ermöglichen, Scheiben oder
das Fahrzeug zu säubern, sondern um den Durst von Pferden einer Kutsche zu stillen.
Die Henningsens hielten sich
mit solchen Kniffen irgendwie
über Wasser, auch in den Kriegsund Nachkriegsjahren, als Ottos
Und so sie sie heute aus
Vater an der Front und in Gefangenschaft war.
Auf in den Süden: Otto Henningsen junior ist in Sterup geboren. Eine Zeitlang wohnte er
aber auch in der Schweiz. Kaum
vorzustellen, dass das „Nordlicht“ dort klar gekommen ist.
Klingt so, als würde man die
Königin der Nacht aus dem
warmen Kassenhäuschen holen
und in die Kälte und den Wind
stellen. Und irgendwie war es
auch so. Henningsens Mutter
hatte die Tankstelle während
der zehnjährigen Abwesenheit
seines Vaters geführt. Nach der
Rückkehr des Vaters 1949 ist die
familiäre Situation dann nicht
immer einfach. Auch deswegen sucht Otto Henningsen, als
er volljährig wird, das Weite. Er
zieht in die Schweiz und arbeitet für AMAG, die Auto Montage Aktien Gesellschaft in Bad
Schinznach im Kanton Aargau.
Eine schöne Zeit, sagt er und erzählt von heiteren Fahrten mit
fescher weiblicher Begleitung
durch Schweizer Landschaften.
Zurück in den Norden: In der
Heimat boomt währenddessen
aufgrund der Mobilisierung
und Motorisierung das Tankstellengeschäft. Nicht nur das
von Otto Henningsen senior – in
den 1950er Jahre gibt es in dem
beschaulichen Ort Sterup zeitweise bis zu fünf Tankstellen. Als
Otto Henningsen senior stirbt,
kehrt der Sohn in die Heimat zurück. Ihm ist klar, dass er nun
das Ruder übernehmen muss.
So wird er 1968 Chef der „ältesten Tankstelle Deutschlands“.
Stets wird er dabei von seiner
Frau Gisela unterstützt, die er
nach seiner Rückkehr an die Ostsee beim Tanzen kennenlernte.
Der Konkurrent: Vielleicht
muss sich Henningsen den Titel
„Älteste Tankstelle in Deutschland“ doch mit Manfred Milz teilen. Der betreibt in einem Hinterhof in Essen eine Tankstelle,
die ebenfalls 1924 gegründet
wurde. Ein Schild prangt dort an
der Einfahrt mit der Aufschrift
„Älteste Tankstelle Deutschlands“, ein Banner mit selbiger
Ansage überragt die Einfahrt.
Manfred Milz ist der Adoptivsohn des Sohnes des Gründers
der Essener Tankstelle. Manfred
Milz in Essen und Otto Henning-
Beständigkeit: Viele im Ort halten Henningsen und seiner Frau
dennoch die Treue. Zahlreich
waren die Gratulationen zum
90-jährigen Tankstellenjubiläum. Stolz zeigt der Tankwart
ein Schreiben von Freunden
aus Italien und weitere historische Fotos aus seinem Album.
Die Fotos zeigen die Tankstelle
in ihren unterschiedlichen Outfits. Standard war die Marke vor
dem Krieg, dann kam das Kleid
von Esso. „Als ich die Tankstelle
von meinem Vater übernommen habe, haben wir erst einmal einen Schnitt gemacht. Unter meinem Vater war es normal,
dass ein Motorradfahrer nachts
klingelte, meine Mutter aus dem
Bett sprang und den Kunden mit
Kraftstoff versorgte. Das haben
wir geändert“, erzählt er. Feste
Öffnungszeiten habe er damals
eingeführt. Heute hat die Tankstelle täglich von 7 bis 19 Uhr geöffnet. Danach ist Königin-derNacht-Zeit.
Was macht Otto Henningsen
wirklich glücklich? „Meine
Frau und freundliche Kunden.“
Und was hält er von Merkel?
„Als Frau oder als Politikern?“
er lacht. „Im Ernst: Ich finde sie
überwiegend sehr gut, bin ja
auch konservativ angehaucht,
war jahrelang in der CDU.“
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