Gesichter des Wandels Fotografien 1989/1990 von Regina Schmeken und Ulrike Schamoni Bundesministerium der Finanzen 27. August bis 11. November 2015 Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 öffnete sich die innerdeutsche Grenze, die 28 Jahre Ost- und Westdeutschland teilte. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei. Die DDR hatte sich aufgelöst. Die Ausstellung – mit teilweise bisher unveröffentlichten Fotografien – zeigt historische Augenblicke und Szenen des Alltags, dichte Einbild-Erzählungen in Schwarz-weiß der Künstlerinnen Regina Schmeken und Ulrike Schamoni, aufgenommen zwischen dem 10. November 1989 und dem Herbst 1990, dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung. Durch die jeweilige Perspektive der Fotografinnen entstanden zwei Bildserien aus einer Zeit der Umbrüche und des Wandels, die sich deutlich voneinander unterscheiden und sich in ihrer Verschiedenheit ergänzen. Regina Schmekens Fotografien zeigen die Ereignisse jener Tage in einer ihren Bildfindungen eigenen, dichten Dramaturgie. Ulrike Schamoni lässt in ihren vielschichtigen Portraits die Menschen aus Ost-Berlin zu Wort kommen. Die Ausstellung ist all jenen gewidmet, die die friedliche Revolution bewirkt haben. Fotografien von Regina Schmeken Die Fotografien von Regina Schmeken geben die Atmosphäre dieser Monate wieder, zeigen Volkspolizisten zwischen Mauerelementen am Potsdamer Platz, Menschenmassen auf dem Kurfürstendamm, aber auch Ansichten Ostberliner Straßen und Momente des Alltags. Ihr Blick auf das historische Geschehen ist subjektiv eigenwillig, jenseits des offiziellen Pathos. „…sofort, unverzüglich“ – das war die zögernde Antwort des SED-Politbüromitglieds Günter Schabowski auf der Pressekonferenz in Berlin am 9. November 1989 gegen 19 Uhr. Ein Journalist stellte die Frage, die die DDR-Bürger damals am meisten bewegte: das Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Neuigkeit über den Presseticker lief. Bereits am nächsten Abend fotografiert Regina Schmeken das Brandenburger Tor von Osten aus: die Atmosphäre ist unwirtlich, noch steht das Wahrzeichen mitten im Sperrgebiet, bewacht von ratlosen Volkspolizisten. Die hellen Verkehrspfeile im Bildvordergrund weisen schon in beide Richtungen, gleißendes Licht von Westen erhellt die Quadriga und die Pfeiler des Tores, die Quadriga scheint sich mit wehender Fahne in Gang zu setzen. Menschen stehen dicht an dicht, bedrängen einander, strecken ihre Arme weit aus, möchten etwas ergreifen. Die ausgeklappte Eisenrampe eines Lastwagens hält sie auf Distanz. Automatisch denkt man an die heutige Situation der Flüchtlinge. Doch das Bild ist zwei Tage nach dem Fall der Mauer am Kurfürstendamm, der LuxusEinkaufsmeile im Westen Berlins aufgenommen. Keiner bemerkt die Fotografin, die von oben die Situation festhält. Berlin, 10.11. 1989, Brandenburger Tor (von Osten) © Regina Schmeken Berlin, 11.11.1989, Auf dem Kurfürstendamm © Regina Schmeken Regina Schmeken, geboren 1955, fotografiert Schwarz-Weiß seit 1976. Von 1980 an stellt sie ihre Arbeiten regelmäßig aus und erhielt nationale und internationale Preise: Unter anderem 1978 den Prix de la Critique der „Rencontres Internationales de la Photographie“ in Arles, Frankreich, und 1996 den Erich-Salomon Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie. Seit 1986 dokumentiert sie das Zeitgeschehen für die Süddeutsche Zeitung. Ihre Fotoarbeiten befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen wie der Bibliothèque Nationale in Paris, dem Museum of Modern Art in New York, der Pinakothek der Moderne und dem Lenbachhaus in München, sowie dem Museum für Fotografie in Berlin. Ein Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit sind Bewegungsstudien. Der Werkzyklus "Unter Spielern - Die Nationalmannschaft" wurde 2012 im Martin-Gropius-Bau in Berlin und 2014 im Museum Villa Stuck in München gezeigt. Die ausgestellte Werkgruppe ist Teil der Ausstellung "Geschlossene Gesellschaft“, die 1994 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen war, sowie in Frankreich, Japan und den Niederlanden. Der gleichnamige Katalog erschien im Verlag Antje Kunstmann. Ulrike Schamoni Wer ist, wer war das Volk? Dieser Frage geht Ulrike Schamoni in ihrem Fotografiezyklus "Portraits aus Ostberlin" nach, der von Januar bis März 1990 entstand. Es sind überwiegend Menschen von nebenan, die sie auf der Straße angesprochen hat und die sich von ihr portraitieren ließen: Ein Kohlenhändler, der sein Auto repariert, eine Zigarettenverkäuferin im Palast der Republik, ein Junge auf dem Weg zur Sekundärrohstoffannahmestelle in Marzahn, ein junger PDS-Fan, die mit Glanz in den Augen zu seiner Überzeugung steht, ein ehemaliger Töpfermeister, der sein Leben skizziert. Entstanden sind Annährungen und eigentlich Kurzfilme. Sie lassen den Menschen durchscheinen und erzählen von Stolz, Hoffnung und vom Abwarten. Licht, Raum und Komposition sind wichtige stilistische Mittel zur Gestaltung eines guten Bildes. Doch für eine kurze Weile beim Betrachten einer Fotografie, die Nähe und Vertrautheit des Gegenübers zu spüren, öffnet für tiefere Einsichten. "...was die geschichtliche Stunde jetzt möglich macht", eine Art Werbeplakat steht am Kopfende des Tisches an die Wand gelehnt im Bauwagen. Auf der Bank daneben sitzt ein Straßenarbeiter. Das Plakat wirbt für die Beteiligung an der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Erstmals können über zwölf Millionen wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger zwischen 19 Parteien statt nur einer entscheiden. Der Wahlkampf wurde von vielen westdeutschen Politikern begleitet. Der Ausgang der Wahl urteilt über die Zukunft der DDR. Der Straßenarbeiter schaut entspannt in die Kamera. Sein Blick ist optimistisch-abwartend. Was passiert in den nächsten Monaten? Wie geht es weiter? Der Fall der Mauer als Scheitelpunkt der Geschichte und als Wendepunkt im eigenen Leben? Wer wird gewinnen, wer wird verlieren? Straßenarbeiter im Bauwagen, Schöneweide/Adlergestell, März 1990 © Ulrike Schamoni Die ältere Frau, sie mag zwischen 70 und 80 Jahre alt sein, trägt einen Wintermantel mit Pelzkragen und eine kecke Strickmütze, der Mantel stammt möglicherweise aus den 1950er Jahren. Der Kleidung nach könnte sie ebenso aus Westdeutschland sein. Doch sie hält ein Zeitungsblatt in der einen und zwei Einkaufsbeutel in der anderen Hand. Indizien, dass sie am Prenzlauer Berg zuhause ist. Schamonis Aufnahme zeigt uns eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen Ost- und Westdeutschen und erinnert uns an unsere gemeinsame Geschichte, die mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 rund 50 Jahre lang einen anderen Verlauf nahm. Am U-Bahnhof Eberswalder-Strasse, Prenzlauer Berg, Januar 1990 © Ulrike Schamoni Ulrike Schamoni, 1966 in Berlin geboren, arbeitet vor allem als Portraitfotografin für internationale Magazine wie US-VOGUE und THE NEW YORKER und für nationale Zeitschriften und Zeitungen wie STERN, ZEIT, ZEIT-Magazin und GEO. Seit 1993 stellt sie deutschlandweit aus. Seit 2001 ist sie Mitglied der Fotoagentur FOCUS. Von 2007-2011 arbeitet sie das filmische Tagebuch ihres Vaters auf, dem Regisseur Ulrich Schamoni, der 1998 an Leukämie verstarb. Mit dem daraus entstandene Film "Abschied von den Fröschen" debütierte sie 2011 auf den Hofer Filmtagen. 2012 wurde er auf der Berlinale gezeigt. Ihr Erstlingswerk wurde in der Kategorie "Bester Dokumentarfilm" für die Deutsche Oscar Auswahl 2013 nominiert. Die Fotografie-Serie "Portraits aus Ostberlin" ist erstmals zu sehen. Sie entstand wenige Monate nach ihrem absolvierten Studium an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München.
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