ensemble-netzwerk Newsletter Nr. 2 Juli 2015 I’M GONNA TRY WITH A LITTLE HELP FROM MY FRIENDS … wussten schon die Beatles. -1- INTRO Yes! Der zweite Newsletter des ensemble-netzwerks ist da. DING DONG. Und er ist richtig DICK, denn es ist viel passiert. Aber statt sparsam mit den Neuigkeiten umzugehen und Artikel als Reserve für dünnere Zeiten aufzusparen, haben wir uns für VIEL HILFT VIEL entschieden. Das Ereignis mit der größten Signalwirkung war wohl der Briefwechsel mit der Ministerin für Kultur und Medien, PROF. MONIKA GRÜTTERS. Im Rahmen ihrer Theaterreise im April, organisiert vom Berliner Theatertreffen, hat die Staatsministerin sich bei einigen Ensemblevertreter*innen in Bonn über die Arbeitsbedingungen von Künstler*innen informiert. Wir wurden über das ensemble-netzwerk auf dieses Treffen aufmerksam gemacht und haben eine Argumentationshilfe geschrieben, damit es ein fruchtbares Gespräch wird. Das wäre zwar, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, nicht nötig gewesen, da die Kolleg*innen sehr aufgeschlossen berichtet haben, aber es hat sich dennoch gelohnt, denn unser Brief wurde von unserem Kollegen Sören Wunderlich an sie übergeben. DANKE SÖREN. Nachdem sich Frau Grütters’ Referent bei uns gemeldet und sich für die Infos bedankt hat, haben wir ihr zusätzlich den ersten Newsletter und einen Artikel aus der Bühnengenossenschaft zum Thema „Angst“ geschickt. Ihre Antwort darauf findet ihr auf Seite 28. Ding Dong, die Post ist da – Moni hat geschrieben! Am 11. Mai war Lisa als Vertreterin des ensemble-netzwerks zu der Talkshow „Kana & Ken“ eingeladen – ein neues TalkshowFormat, entwickelt von Student*innen der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Deren erklärtes Ziel es ist, „Fragen stellen, verstehen wollen und vermitteln, mit dem Mut, Stellung zu beziehen. Die Schaffung von mehr Sichtbarkeit und Öffentlichkeit für das Theater und die Kunst. Diese zugänglicher und interessanter für kulturfremde Menschen zu machen. Eine Plattform für jene zu sein, deren Kunst für die Allgemeinheit relevant ist. Das Sprachrohr für jene zu sein, die man nicht hört.“ Das könnte man in jedem zweiten Vorwort eines Spielzeithefts lesen. Bei „Kana & Ken“ funktioniert es tatsächlich. Danke Männer, für diesen schönen Abend! -2- Am nächsten Tag ging es dann zum Theatertreffen nach Berlin. Dort gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema ANGST ESSEN SEELE AUF. Lisa wurde als inoffizieller Gast von DANIEL RIS eingeladen, der als Vertreter von der Initiative ART BUT FAIR dort einen Gesprächstisch leitete. Das ensemblenetzwerk ist nun also auch in Berlinchen angekommen und wir haben etwas später dann auch endlich die art but fairSelbstverpflichtung unterschrieben. Vor dem Haus der Berliner Festspiele. Vom ensemblenetzwerk hatte man hier noch nichts gehört. Art but fair über die Selbstverpflichtung: „Es geht darum, einen eigenen moralischen Kodex zu entwickeln und zu versuchen, diesen auch im beruflichen Alltag umzusetzen. Eine solche Haltung zur beruflichen Tätigkeit ist ein ständig währender Prozess. Daher haben wir in den Texten Prinzipien und Ziele formuliert. Auch wenn man noch nicht in der Lage ist, diese Ziele sofort in allen Punkten in die Praxis umzusetzen, geben sie die Richtung vor.“ Bevor wir zur Beantwortung der am häufigsten gestellten Frage kommen, sei hier noch erwähnt, dass wir mit Kolleg*innen über Pfingsten die KONFERENZ KONKRET in BORGHOLZHAUSEN bei Bielefeld organisiert haben. Die KONFERENZ KONKRET hatte kein geringeres Ziel als das Stadttheater zu retten. Also lehnt euch ruhig zurück – läuft. Siehe Seite 23. GOOD NEWS: Uns ist zu Ohren gekommen, dass am SCHAUSPIEL ESSEN der erste probenfreie Samstag pro Monat zugesagt wurde. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH nach Essen! Und hier die am häufigsten gestellte Frage: WIE KÖNNEN WIR EUCH UNTERSTÜTZEN? Unsere Antwort ist eine Gegenfrage: WER HAT LUST DAS ERSTE BUNDESWEITE TREFFEN ALLER ENSEMBLEVERTRETER*INNEN ZU ORGANISIEREN? Wenn sich ein Organisationsteam findet, schlagen wir den 29. April bis 1. Mai 2016 vor. Am besten in der Mitte Deutschlands – also Göttingen oder Frankfurt am Main, damit es für alle gut zu erreichen ist. Was meint ihr dazu? Bitte meldet euch bei uns: [email protected]. -3- Auf dieser und der nächsten Seite findet ihr die Inhaltsübersicht! Viel Spaß beim Lesen dieser dicken Ausgabe: INHALTSVERZEICHNIS 02 INTRO 06 YOU ARE NOT ALONE Aus den Mails, die uns erreichten 08 DAS EINZIGE HEILMITTEL IST KOMMUNIKATION Ein Interview mit dem Regisseur Malte Lachmann 11 SO I START A REVOLUTION FROM MY BED Und jetzt alle 13 ÜBER DIE GAGE IST STILLSCHWEIGEN ZU BEWAHREN 16 WEGE ZUM GLÜCK: NEUES VOM IMMATERIELLEN WELTKULTURERBE DER UNESCO Das Mitarbeiter*innen-Projekt 18 DAS IST SO AM THEATER „Rumpelstilzchen und der Hexenschuss“ 23 DIE KONFERENZ KONKRET Jetzt wird das Stadttheater gerettet 26 WIR SCHREIBEN DER STAATSMINISTERIN EINEN BRIEF 28 DIE STAATSMINISTERIN ANTWORTET UNS -4- 29 WHAT WOULD YOU SAY Heute: Mindestgage 30 DO IT YOURSELF Dauerbrenner: Kinderbetreuung 31 IN EIGENER SACHE / IMPRESSUM 32 OUTRO 33 OVATION Ovation – von UNSEREINS Druckt den Newsletter aus, legt ihn in die Kantine, hängt ihn ans Schwarze Brett, leitet ihn weiter an ALLE. Ach, nur bitte nicht bei Facebook, weil da – wie so häufig erwähnt – die Energie verpufft. Love to all of you. Lisa und Johanna DING DONG SOMMERSPEZIAL! Der Song OVATION von UNSEREINS hängt an dieser Mail. Passt wie die Faust aufs Auge. -5- YOU ARE NOT ALONE Aus den Mails, die uns erreichten Liebe Kolleg*innen, erst heute habe ich von eurer wunderbaren Initiative gelesen. Ich bin begeistert und möchte euch gerne unterstützen. Als Mitglied der GDBA, Lokalverbandsvorsitzender des Staatstheater Kassel, auch als Mitstreiter der „Zukunftswerkstatt“ der GDBA, aber und vor allem durch meine täglichen Begegnungen und Erfahrungen in den Theatern kann ich nur sagen: GEMEINSAM weiter kämpfen, trommeln, rufen, schreien und singen für einen l(i)ebenswerten und fairen Arbeitsplatz … wusste schon Helmut Schmidt. Theater! Ich bin dabei und freue mich auf euren Newsletter. Den ersten verbreite ich gerade fleißig am Staatstheater Kassel! Liebe Grüße! —— Sebastian Meder … ich lese gerade den ersten Newsletter … ein Gefühl von Zusammenhalt, wie ich es sonst nur aus Gesprächen mit Kollegen kenne, aber da auch nur für kurze Zeit und immer nur für sich in so exklusivem Kreis … Liebe Grüße —— Simon Mantei … jetzt bin ich an einem Punkt, wo ich manches nicht mehr will, weil es schlichtweg zu Mehrarbeit der Dramaturgie oder/und zu „unfreundlichem“ Umgang mit den Künstlern und Theatermitarbeitern führt und auch nicht der Qualität dient: Arbeiten nicht um der Sache willen, sondern um die Eitelkeit/Unsicherheit von Leitungspersonen zu befrieden / kompensieren ein zerstrittenes Leitungsteam schlechte Kommunikation und daraus folgend schlechte Organisation unmögliche Arbeitsbedingungen (z. B. 10 Produktionen in einer Spielzeit betreuen sollen, von denen jeweils 3 parallel laufen und in 2 unterschiedlichen Städten geprobt werden; Landstraße fahren statt Arbeiten) -6- Was ich mir dagegen wünsche und teils auch erlebt habe: hierarchiefreie Kommunikation oder flachhierarchische Kommunikation Durchdenken von Produktionen und Produktionsbedingungen von A bis Z (d. h. von Stückidee darüber, was es im Spielplan soll, über Finanzen, Regieteam, Besetzung (auch hinsichtlich dessen, was die einzelnen Schauspieler sonst zu tun haben in der Spielzeit), Proben- und Vorstellungsdispo, Produktionsbetreuung, Werbung, Nachdenken darüber, wen das Stück ansprechen und wie erreichen sollte plus entsprechender Strategien dafür) Wenigstens 1x pro Jahr Hinterfragen davon, wie das, was man tut, funktioniert und ggf. Entwerfen von neuen Ideen Nachgespräche mit allen betroffenen Abteilungen darüber, wie der Produktionsprozess gelaufen ist und was ggf. verbessert werden müsste (im positiven Fall können die sehr kurz sein). 1x pro Jahr Open Space / Bar Camp mit allen Mitarbeitern (hilft enorm für Kommunikation und Motivation, für das Wir-Gefühl am Theater) Mehr Bewusstsein gegenüber der Politik; bessere Lobbyarbeit für die Kultur!!! Gegenseitige Anerkennung Arbeiten in einem Team, mit dem man das Interesse am Theater und warum man da ist, teilt altersdurchmischte Ensembles mehr Qualität statt Quantität Bei manchen Sachen bin ich bereit, Abstriche hinzunehmen, alles geht nicht auf einmal, aber die erstgenannten Punkte, die ich nicht mehr bereit bin zu akzeptieren, führen auch dazu, dass ich jetzt beginne, mich nach anderweitigen Berufsmöglichkeiten umzusehen. Es gibt nicht so viele Teams und Theater, die das alles hinkriegen UND noch eine erfahrene Dramaturgin suchen und auch einigermaßen adäquat bezahlen. Und wenn ich doch so eines finde, freue ich mich sehr, Ein harmonisches Ensemble auf dem Requisitentisch. denn eigentlich arbeite ich verdammt gern am Theater! Soviel dazu, ich freue mich, wenn ich wieder von Euch höre, und wünsche Euch viel Glück und Gehör für Eure Anliegen! —— Geeske Wir sind dabei! LG —— Maske -7- DAS EINZIGE HEILMITTEL IST KOMMUNIKATION Ein Interview mit dem Regisseur Malte Lachmann Der Regisseur Malte Lachmann hat das Ensemble schon vor Beginn der Proben zu „demut vor deinen taten baby“ von Laura Naumann nicht nur zur Bauprobe eingeladen (wird in Oldenburg übrigens öfter gemacht), sondern bat das Ensemble außerdem zu einem kollektiven Brainstorming zum Thema „Fiktive Figuren in der Öffentlichkeit platzieren“ sprich: aktionsorientiertes Marketing. Diese seltene Form der Transparenz und Partizipation war es dringend wert, ein Interview mit Lachmann in einem Bulli mit einem Kaffee am Hauptbahnhof in Oldenburg zu machen. JOPT: Was mir aufgefallen ist, du bist sehr darauf bedacht, dass sich die Produktionsmitglieder mündig machen, sowohl, was private Termine als auch was das MitLachmann mit Törtchen auf dem Kopf. gestalten des Probenprozesses angeht. Du bist ein sehr junger Regisseur, ich hätte eher gedacht, dass so eine Einstellung aus einer gewissen Lässigkeit und Lockerheit von Erfahrungen kommt. Woher kommt das bei dir? LACHMANN: Ich glaube, das kommt aus dem Theater, das ich selber gerne gucke. Ich gucke gerne Leuten auf der Bühne beim Arbeiten und beim „Fehler“ machen zu. Leuten, die wissen, was sie tun und die dabei eine Virtuosität im Moment entdecken. Ich glaube, dass so was gar nicht geht, wenn man Leute in etwas reinzwingt, worauf die keinen Bock haben oder was sie nicht verstehen. JOPT: Wie erklärst du dir, dass es so wahnsinnig viele Theatergeschichten von autoritären Regisseuren gibt, die Usus sind und akzeptiert werden? LACHMANN: Also ich will mir natürlich nicht anmaßen, Arbeitsweisen von anderen Regisseuren infrage zu stellen. Aber ich glaube, dass da Angst eine Rolle spielt. Wenn ich -8- jemanden so lange anschreie, bis er das tut, was ich will, weil er eben Angst hat, liegt darin zwar keine Freiheit, aber er macht auf jeden Fall das, was ich will. Aber wenn ich mich hinsetze und sage: „Lass uns doch mal inhaltlich diskutieren und auch über unsere Arbeitsbedingungen“, dann stelle ich damit ja erst mal meine Position zur Disposition. Das führt auch zu viel mehr Konflikten. Das ist für mich als Regisseur viel anstrengender, weil ein Autoritätsverlust im positiven Sinne stattfindet. Jonas (Dramaturg Oldenburgisches Staatstheater, Anm. d. R.) hat neulich dafür das Wort Richtlinienkompetenz gebraucht: Das heißt eben nicht, dass der Regisseur alles bestimmt und die Schauspieler Knetmasse sind, sondern dass man Kriterien aufstellt und dann alle versuchen, nach diesen Kriterien zu arbeiten. Wenn Leute im Gegensatz dazu bei Regisseuren assistieren oder hospitieren, die sehr autoritär sind, dann werden die das vermutlich auch so weitergeben. Das ist so ein Erbkomplex. Bei uns ist das gerade anders: Ich kann dir sagen: „Wir proben, wie es uns gefällt.“ An einem anderen Haus komme ich vielleicht in Probenwoche zwei auf den Intendanten zu und der sagt mir: Lachmann mit Törtchen auf dem Kopf – Profil. „Du nutzt die Probenzeiten nicht richtig aus.“ JOPT: Also ist das für dich auch eine Erleichterung, wenn du den Druck aus der Produktion rausnimmst und dafür alle hinter der Produktion stehen. Und wenn das Ding crashen geht – egal, aber es haben bis zu einem gewissen Teil alle hinterher mit zu verantworten. LACHMANN: Genau. Das sind die Voraussetzungen dafür. Sobald in diesem Getriebe allerdings ein Rädchen nicht mitspielt und man das Gefühl hat, nicht zusammenzuarbeiten, fliegt dieses Konstrukt extrem schnell auseinander. Das basiert auf Vertrauen. JOPT: Hast du selber hospitiert oder assistiert bei Leuten, die die Hierarchie eher pflegen? LACHMANN: Ich habe nie so eine Assistenzphase von zwei Jahren gemacht, aber hospitiert und assistiert im Rahmen meines Studiums. Ich denke manchmal, es wäre eigentlich cool gewesen zu sehen, wie erfahrene Regisseure das machen. Weil ich das gar nicht weiß. Der Vorteil ist, dass ich meinen Job jetzt gewissermaßen aus Unwissenheit so mache, wie ich es für richtig halte. Der Nachteil ist, dass ich nicht weiß, ob das andere nicht vielleicht anders machen. -9- JOPT: Diana (Schauspielerin, Oldenburgisches Staatstheater, Anm. d. R.) hat neulich folgenden Satz gesagt: „Alle haben gesagt: Das geht nicht. Und dann kam einer, der wusste das nicht. Der hat es einfach gemacht.“ LACHMANN: Das ist ja auch das, was ihr mit dem ensemble-netzwerk macht. Das machen, was andere nicht glauben, dass es möglich ist. JOPT: Eigentlich hat man als Regisseur doch Angst – wenn das Projekt baden geht, dann kannst du diesen Punkt deiner Vita zwar schwarz auf weiß abtippen, aber das war es dann auch, es gibt dann keine Folgearbeit. LACHMANN: Ja, und dann ist das ja auch eine Frage von Lebensunterhalt. Das ist eine ganz existenzielle Angst, die dahinter steckt: Erstens ist es schon während der Arbeit richtig unangenehm und zweitens werde ich nicht mehr so leicht engagiert, weil das merken dann auch ganz viele andere Häuser und ich muss ja von irgendwas leben. Das kannst du eigentlich mit kaum jemandem in der Branche besprechen. JOPT: Ich frage mich, wie spielt das ensemble-netzwerk den Regisseuren zu? LACHMANN: Ich finde die Idee super, weil da was getan und nicht nur rumgeheult wird. Das ist eine Krankheit am Theater, dieses Profilieren darüber, wie man leidet und wie viel Stress man hat. Das nervt mich so, weil wir so privilegiert sind, in diesem Beruf arbeiten zu können. Also ich habe wirklich die Hoffnung, dass sich da was tut. Ich frage mich beim ensemble-netzwerk, welches Ensemble da angesprochen ist? Ein Ensemble an einem Haus? Alle Schauspieler Was ist eigentlich mit einer Schminkpauschale? Diana Ebert im deutschsprachigen Raum? Oder heißt und Agnes Kammerer kurz vor Feierabend. Ensemble: alle Theatermacher? Und wenn das alle Theatermacher heißt, dann fühle ich mich natürlich einbezogen. Diese Frage nach der Perspektive bei allen Überlegungen mitzudenken, finde ich extrem wichtig, damit sich keiner außen vor gelassen fühlt – weil ansonsten Fronten geschaffen werden. Es geht ja nicht darum, dass alle Schauspieler eine Front gegen die böse Theater-Maschinerie bilden. Wir alle sind Teil der Maschinerie und wir wollen das alle zusammen besser machen. JOPT: Ich hatte den Eindruck, dass man erst mal von unten anfangen muss, und das sind nun mal die Schauspieler, die seit Jahren schlecht bezahlt werden, die in Konzepte reingepackt werden, die funktionieren, erfüllen, Angst haben und feige sind. Und das mal zu formulieren und zu zeigen ist ja auch eine Information. Ich glaube, dass viele Regisseure gar nicht wissen, dass ich als Schauspielerin Angst vor Auseinandersetzung hatte. Dass es unangenehm ist zu formulieren: „Ich habe da einen Drehtag, kann ich da bitte freihaben, mimimi„. Auch bei Regisseur*innen, die gesagt haben: „Ey, ist kein Problem“. Diese Angst wird von uns Schauspielern performt, obwohl das nie von der Regie ausgestrahlt wurde. - 10 - LACHMANN: Das einzige Heilmittel dagegen ist Kommunikation. Das Problem ist aber, dass Kommunikation nicht einfach so entsteht, sondern du musst Platz dafür schaffen. Du musst es in so einem großen Getriebe sogar institutionalisieren. Du musst Feedback-Gespräche machen – du musst eine Plattform anbieten. Sonst macht man das nicht, weil man so viel andere Sachen zu tun hat. JOPT: Wäre für dich als Regisseur von Vorteil, wenn die Schauspieler zwischen Premiere und Konzeption ein bisschen Zeit haben runterzukommen … LACHMANN: Auf jeden Fall. JOPT: … sich vorzubereiten, motiviert oder zumindest genullt auf eine Konzeptionsprobe zu kommen? LACHMANN: Wenn ich die Möglichkeit habe, verhandele ich das mit den Häusern gleich aus, wenn wir über die Zeit-Slots sprechen. Ich habe das jetzt schon öfter so gemacht, dass ich gesagt habe: „Lasst uns doch eine Woche weniger Proben machen und den Schauspielern dafür eine Woche freigeben und dann davon ausgehen, dass sie wenigsten mal ins Stück reingeguckt haben. Es macht einfach keinen Spaß eine Konzeptionsprobe zu machen, wenn Leute am Samstag Premiere hatten. JOPT: Es ist sehr angenehm, dass wir gerade das Textlernen in die Probenzeit verlagert haben. LACHMANN: Das ist tatsächlich gerade ein Experiment. Aber ich glaube grundsätzlich, wenn man mit Ruhe rangeht, dann geht das alles besser. JOPT: Das bringt’s total. Ich hoffe, dass du damit andere Ensembles und andere Leitungen anstecken kannst. Ich denke, wenn du Leute angeilen willst, dann gib ihnen frei, lass sie Text in der Probenzeit machen und dafür hast du einen motivierten Haufen – diese Positiv-Beispiele muss man auch mal in die Welt rausposaunen. Danke. SO I START A REVOLUTION FROM MY BED Und jetzt alle - 11 - - 12 - ÜBER DIE GAGE IST STILLSCHWEIGEN ZU BEWAHREN - 13 - Solche Klauseln sind rechtlich nicht haltbar. - 14 - LET’S TALK ABOUT GAGE, BABY … not about you and me - 15 - Neues vom immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO: Das Mitarbeiter*innen-Projekt Bier und Bionade in Freiburg. Seit der Spielzeit 2013/14 haben wir am Theater Freiburg den sogenannten „Ensemblesamstag“ eingeführt. Dieser probenfreie Samstag (ausgenommen sind Bühnenproben) entstand aus dem dringenden Bedürfnis des Ensembles, eigene Projekte, Ensembleversammlungen und Vorbereitungstreffen organisieren zu können und das nicht mehr (wie an den meisten Theatern sonst üblich) in der Ruhezeit, zwischen zwei Proben oder in der freien Zeit am Wochenende. Dieser Vormittag oder genauer gesagt die ZEIT an diesem Vormittag steht uns jetzt als Ensemble sowie jedem Einzelnen eigenverantwortlich zur Verfügung. Diese Zeit soll ein Platzhalter für Inhalte sein, die mit dem Theater zu tun haben und die während des normalen Theaterbetriebs nicht stattfinden können. Die Zeit am Samstag zwischen 10:00 und 14:00 ist also keine Freizeit. Der „Ensemblesamstag“ ermöglicht schon jetzt einen spürbar besseren Austausch innerhalb des Ensembles als auch mit anderen Abteilungen wie der Dramaturgie und der Theaterleitung. Zugleich hat er für einen größeren Freiraum für den Einzelnen gesorgt. Im Rahmen des „Ensemblesamstags“ sind zum Beispiel die Filmserie „Welcome To Blackwood Hills“ und die Reihe „Ensemblejam“ entstanden. Natürlich gehört zu der Möglichkeit, selbst entscheiden zu können, was das Ensemble und was jeder Einzelne für sich braucht, auch das Organisieren eines Privatlebens, das selbstverständlich auch dazu beiträgt, wieder künstlerisch inspiriert und produktiv arbeiten zu können. Das „Mitarbeiterprojekt“ und das Projekt „Leben und Arbeiten“ mit der freien Gruppe „Turbo Pascal“ waren in der Spielzeit 2013/14 eine Art Bestandsaufnahme der Arbeitsbedingungen und der Arbeitssituation hier am Theater Freiburg und am Theater im Allgemeinen. Wir stellten fest, dass grundsätzlich an den Theatern eine Art Gewohnheitsrecht existiert und dass dieses Gewohnheitsrecht, wie der NV-Bühne, in vielen Punkten Auslegungssache ist und dass sich diese Tatsache nicht immer positiv auf die Ressource Schauspiel auswirkt. Überarbeitung, fehlende Freiräume und stagnierende Gagen sind nur ein paar Themen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. - 16 - Listening to the (he)art of the city In der aktuellen Spielzeit haben wir deswegen zusammen mit der Theaterleitung in sehr konstruktiven Gesprächen eine sogenannte „Festlegung zu bestehenden Arbeitsverträgen“ entworfen, in der wir den „Ensemblesamstag“ und andere Punkte unter der Frage: „Unter welchen Bedingungen wollen wir hier arbeiten?“, schriftlich festgehalten haben. Diese Vereinbarung gilt bis zum Ende der Intendanz Mundel und betrifft auch die Regieassistent*innen. Wir sind bei verschiedenen Themen, die wir mit der Theaterleitung besprochen haben auch an Grenzen gestoßen und haben gemerkt, dass man gewisse Dinge nur gemeinsam anpacken kann, indem wir uns als Schauspieler*innen landesweit solidarisieren. Das betrifft vor allem unseren veralteten Tarifvertrag sowie ein gerechteres und transparenteres Gagensystem. Am Ende der Spielzeit 2013/14 haben wir auf einem sogenannten „Strukturtag“ über ein mögliches anderes Gagenmodell diskutiert. Eines, dass den Schauspieler*innen erst einmal einen Basisvertrag garantiert, der beinhaltet, dass man z. B. drei Stücke pro Spielzeit macht, mit einer festen monatlichen Gage über die gesamte Spielzeit – ähnlich wie die Idee eines Grundeinkommens. Der Rest, also alle Arbeiten, die hinzukommen würden, wären Verhandlungssache und würden extra bezahlt werden. Ein möglicher Vorteil wäre, dass wir ganz anders über unsere Zeit verfügen könnten und sich das Theater um die Schauspieler*innen bemühen müsste und nicht umgekehrt. Die Schauspieler würden eher dazu herausgefordert sich zu Angeboten zu verhalten, ohne alles abnicken zu müssen, für das sie gerade eingesetzt werden sollen. Es wäre eine andere inhaltliche Auseinandersetzung möglich. Es wäre auch denkbar mit anderen Theatern zusammenarbeiten und kooperieren zu können, da man nicht für eine Spielzeit fest an ein einziges Haus gebunden sein müsste. Diese Diversität würde sowohl den Häusern als auch den Spielern gut tun. Das klingt verlockend in der Theorie, ist aber in der Realität nicht ohne Weiteres umsetzbar, da vorher viele Fragen beantwortet werden müssen: Wie hoch muss die Mindestgage eines Basisvertrags sein, um gut leben zu können? Nach welchem Maßstab beurteilt man das? Alter, Berufserfahrung, Kinder? Wer soll das zahlen? Wie koordiniert man das? Wer hat überhaupt Interesse an so einem Modell? Sind wir Schauspieler*innen dann wirklich unabhängiger oder doch noch stärker abhängig von der Gunst des Arbeitgebers in Zeiten des Neoliberalismus? Wir haben in dieser Debatte mit der Theaterleitung und der Dramaturgie sehr kontrovers diskutiert und konnten auch innerhalb des Ensembles zu keinem Konsens kommen. Es bleibt die Frage offen, wie ein gerechteres und transparenteres Gagenmodell aussehen könnte und wie es sich verwirklichen ließe. Aber es wäre dringend notwendig! —— Martin Weigel - 17 - DAS IST SO AM THEATER Rumpelstilzchen und der Hexenschuss Eine autobiographische Anekdote aus meiner Zeit bei Claus Peymann am Berliner Ensemble – die ebenso wie die Praxisgebühr, die hier noch eine Rolle spielt, zum Glück längst verjährt ist. „NEEIIIIN!!!“, kreischt es von unten. „Dein Puppentheater kannste woanders machen! Hier spielen wir MENSCHEN!“ Ein tollwütiger Intendant hüpft vor der Bühne herum, auf der er mich seit einer Stunde foltert, und lamentiert mit rollenden Augen meinen Text vor sich hin. Verwirrt wiederhole ich ihn. „NEEIIIN!!“, schreit es von Neuem. „HÖR DOCH ZUU! ICH HAB’S DOCH GANZ ANDERS VORGESPIELT!“ Ich versuche es ein weiteres Mal. Ich komme gerade bis zum Einatmen. „DAS IST DOCH EIN MENSCH!“, brüllt er mir ins Gesicht und rudert mit den Armen wie Rumpelstilzchen auf Ecstasy. „DAS IST DOCH KEINE MASCHINE!“ Dann beruhigt er sich. Doch nur scheinbar: Er nimmt mich ins Visier. „Du kommst hier nicht eher raus“, giftet er, „bis das, was du da von dir gibst, mich ansatzweise interessiert!“ Das wird also noch Kollege Kopetzki mit Kappe. länger dauern. Mein Selbstvertrauen schrumpft. Doch ich habe keine Chance. Ich muss da jetzt durch. Obwohl es von nun an immer furchtbarer werden wird … Ich schrecke auf. Die Bilder der letzten Probe meiner Zwei-Satz-Rolle, bei der ich seit Wochen nicht über den ersten Satz hinauskomme, ziehen wie ein Splattermovie an meinem geistigen Auge vorbei, als ich mit starrem Blick den Probenplan für den kommenden Tag betrachte. Morgen ist es also wieder so weit. Meine Angstszene steht zwei Stunden lang auf dem Programm. Zwei Stunden, nach denen ich malträtiert, gefoltert, kreidebleich und kein Stückchen weitergekommen aus dem Proberaum wanken werde – und das, obwohl ich weniger als eine Boten-Rolle spiele. Aber so funktioniert die Welt nun mal: wer unten liegt, den tritt man noch. Schon gar, wenn man einen tobsüchtigen Regisseur hat, der nicht nur Regisseur ist, sondern auch das Theater leitet – und über Wohl und Übel meines Vertrags entscheidet. Ich stiere auf die entsetzlichen Zeilen an der Pinnwand und plötzlich fährt ein Stich durch meine - 18 - Schulter, als würde mich jemand von hinten aufschlitzen. Sofort probiere ich meinen Kopf zu drehen, ein Test, ob ich mir was verrenkt habe, aber weit kommt er nicht. „Scheiße“, denke ich „jetzt werde ich den ganzen Tag mit eingeklemmtem Nerv herumlaufen, und das nur, weil ich so blöd war, auf den Probenplan zu schauen.“ Verspannungen sind – seit ich an diesem Theater spiele – bei mir an der Tagesordnung. Und das liegt nicht unbedingt an den körperlichen Herausforderungen, eher an den psychischen – der Chef kriecht hier halt manchmal in die Seele. Doch in der Regel gehen diese Verspannungen zurück, wenn ich nach Hause radle, und spätestens, wenn es mir gelingt, einigermaßen zu schlafen, sind sie am nächsten Tag verschwunden. Wie heißt es doch so schön bei Brecht: „Das Gedächtnis für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.“ Aber nicht in diesem Fall. Ich erwache ruckartig und habe das Gefühl, ans Bett geschraubt zu sein. Ich kann mich weder zur einen noch zur anderen Seite drehen. Ich versuche mich aufzurichten und knalle brüllend zurück in die Liegeposition. Aber auch dort kann ich es vor Schmerzen kaum aushalten. Sobald ich auch nur daran denke, mich zu bewegen, beginnt es zur Strafe an Muskeln zu ziehen, von denen ich bisher nicht einmal wusste, dass ich sie besitze. „Keine Chance“, stöhne ich. Keine Chance, heute ins Theater zu kommen. Völlig unmöglich. Nun mag man denken, dass mir das gelegen kommt. Aber so wäre das bei normalen Menschen. Ein Schauspieler tickt da anders: Er sieht den Rattenschwanz vor sich, der seinem Fehlen hinterherschlurft. Er sieht den tobenden Regisseur, der die Szene, auf die er sich vorbereitet hat, nicht proben kann. Er sieht ihn im Geist den Premierentermin verschieben und dem kranken Schauspieler die Schuld dafür geben – um ihn bei nächster Gelegenheit „aus künstlerischen Gründen“ zu feuern. Er sieht die Regieassistentin in stundenlanger Panik herumtelefonieren, um die Dispo noch im letzten Moment umzuändern. Er sieht die Kollegen, die ersatzweise eine Szene spielen müssen, die sie noch nicht einmal auswendig gelernt haben – obwohl sie sich doch über einen freien Vormittag gefreut hatten. Und er sieht die Wut in ihrem Gesicht, die ausschließlich ihm gilt, und die er am nächsten Tag zu spüren bekommen wird. Das alles geht dem malträtierten Schauspieler durch den Kopf, wenn er todkrank im Bett liegt und kurz davor ist, das Theater von seinem Versagen zu informieren. Aber in meinem Fall gilt es erst mal, andere Hindernisse zu überwinden. Momentan bin ich in einem Zustand, in dem das Handy, das zwei Meter vor mir auf einem Sessel liegt, so unerreichbar scheint wie die Spitze vom Mount Everest. Ich richte mich auf, strecke meinen Arm, stolpere Oberkörper voran von der Bettkante, schiebe die Beine nach und lande rücklings wie ein besoffener Käfer auf dem Holzboden. Ich liege fest. Aber ich ergebe mich nicht. Ein letzter Versuch: in einem Anfall von Todesmut wuchte ich meinen Arm nach oben – ein Blitzschlag im unteren Rücken dankt es mir – ziehe vorsichtig den Sessel in meine Richtung, der prompt nach vorne auf mein Gesicht kippt, und taste anschließend nach meinem Handy, das ein paar Zentimeter neben die Brust geplumpst ist. Ich wähle in Zeitlupe die Nummer der Regieassistentin. „Ich kann nicht zur Probe kommen“, stöhne ich. Sekunden lang ist überhaupt nichts zu vernehmen. Dann hektisches Schnaufen, das anschwillt, als würde mein Gegenüber gerade ersticken. „Wiiie?“, piepst es endlich. „Ich kann nicht …“, wiederhole ich. „Du musst!“ Die Stimme in der Leitung beginnt zu beben. „Du musst kommen!“ Ich seufze: „Ulla, nu sei doch nich so! Wenn du wüsstest, wie ich hier liege! Ich hab Rücken, Arm, Beine – alles zusammen!“ „Einen Hexenschuss?“ „Einen? Diese verfluchte Hexe hat mich von oben bis unten durchlöchert!“ Einen Augenblick bleibt es still, doch ich spüre, wie es am Ende der - 19 - Leitung rotiert: „Pass auf, ich ruf dich gleich wieder an. Ich besorg dir einen Orthopäden. Da fährst du dann mit dem Taxi hin. Der lässt dich vor und verpasst dir ‘ne Spritze!“ „Verdammt“, rufe ich, „ich will kein Gift im Körper! Außerdem komme ich ja noch nicht mal bis zur Zimmertür …!“ „Ich ruf dich gleich zurück!“, wiederholt sie, als hätte ich überhaupt nichts gesagt. Damit legt sie auf. Als sie zurückruft, muss ich bloß noch die grüne Taste drücken, denn ich habe es in der Zwischenzeit nicht geschafft, den Hörer vom Ohr wegzubewegen. Ulla nennt mir einen Orthopäden in der Friedrichstraße und verspricht mir, ein Taxi zu bestellen. Ich kann noch nicht mal protestieren, so erschöpft bin ich allein vom Gespräch mit ihr. Aber nachdem sie aufgelegt hat, mache ich mich fluchend daran, meine Klamotten zusammenzusuchen und sie vorsichtig über den geschundenen Körper zu streifen. Ich habe mich mal wieder breitschlagen lassen und bin wütend auf mich. Ich hasse mich für meine Weicheiexistenz – selbst dann noch, als ich aus der Haustür humple, deren Griff mir in meiner Zwangshaltung bis zur Stirn reicht. Anschließend kraxele ich die Treppenstufen in den Hof hinunter. Zum Glück steht das Taxi zwei Schritte von der Haustür entfernt. Zwischendurch ruft Ulla an. „Bist du schon fertig?“, flötet sie. „Ich bin noch nicht mal da!“ „Dann sag Bescheid, wann du fertig bist. Der Alte fängt schon an zu toben!“ Ich drücke die Aus-Taste, ohne mich von ihr verabschiedet zu haben. Der Wagen stoppt vor einem Block in der Friedrichstraße. Ich quäle mich umständlich aus der Tür und taste mich Schritt für Schritt ins Treppenhaus. Vor dem Lift empfängt mich ein aufgeklebter Zettel: Defekt. Ich Die Gewerke kommunizieren mit liebevollen Nachrichten. kann nicht anders, ich muss jetzt einfach losprusten: Das war ja klar. Die orthopädische Praxis befindet sich im fünften Stock. Ich schleppe mich also hinauf, und in der Zwischenzeit klingelt mal wieder mein Handy. Zornig fummele ich es hervor und frage mich, warum ich eigentlich so blöd bin, dranzugehen. Ulla piepst: „Wir vermissen dich! Bist du fertig?“ Ich würge sie ab, diesmal ohne zu sprechen, das sollte ihr Zeichen genug sein. Ich habe ohnehin keinen Atem für sie. Endlich, mit einem letzten Stoß verbliebener Kraft, schlage ich schnaufend die Tür der Praxis auf. Ich kann kaum auf den Empfangstresen blicken. Dahinter lächelt mir eine füllige Blondine entgegen. Ich reiche ihr meine Krankenkassenkarte. „Und einmal zehn Euro bitte“, singt sie, ohne mich anzublicken. „Wofür?“ Sie verdreht die Augen. „Praxisgebühr!“„Ah, ja …„ Ich wühle in meinem Portemonnaie, und der Supergau wird Wirklichkeit. „Ich kann nur sechs Euro finden“, beteuere ich. „Kann ich mit EC-Karte?“ „Tut mir leid!“ Die Blondine setzt einen Mitleidsblick auf – oder zumindest das, was sie dafür hält. „Das geht bei uns nicht.“ „Ja, und nun?“ „Dann müsste ich Sie zum nächsten Automaten schicken“. „Waaas?“ „Etwa dreihundert Meter auf der - 20 - linken Seite ist die nächste Bank …„ „Aber … das können sie doch nicht machen!“, stammele ich. Die Blondine zieht eine Schnute: „Wir haben leider unsere Pflichten.“ Ich ächze also wieder die Treppe runter, fluche vor mich hin, schleppe den malträtierten Leib endlose dreihundert Meter verregneten Berufsverkehr entlang – und Ulla ruft an. „Der Alte kriegt sich gar nicht mehr ein. Wo steckst du denn?“ „Verdammt noch mal, auf der Friedrichstraße!“, keuche ich in den Hörer. „Auf der Friedrichstraße? Ich dachte, du bist in der Praxis! Was erzähl ich ihm denn jetzt?“ „Von mir aus, dass ich auf die Malediven ausgebüxt bin! Scheiße, ich hab grad andere Probleme!“ Als ich endlich im Behandlungszimmer sitze, läutet das Telefon. Diesmal bin ich zu beschäftigt, um dranzugehen: Ich hocke mit hochgezogenem Pullover und heruntergelassener Hose mehr schlecht als recht auf einem Plastikstuhl. Der Orthopäde, ein pickeliger Schnurrbartträger mit Halbglatze, tastet gerade meinen Rücken ab. „Tut’s HIER weh? „Ja.“ „Tut’s HIER weh?“ „Aua … Ja!“ „Tut’s HIER weh?“ „Oh, mein Gott: Ja !!!“ Er rollt im Schreibtischsessel zurück zu seinen Unterlagen. „Ich gehe davon aus“, raunt er, ohne mich anzuschauen, „dass Sie sich für den heutigen Tag freigenommen haben.“ „Freigenommen?“ Ich muss grinsen. „Wenn ich mir freigenommen hätte, wäre ich nicht mehr am Leben! Ich muss gleich zur Probe! Deswegen hab ich mich ja hierher geschleppt! „Hmm„, macht er. „Dann pumpen wir Sie mal mit Kortison auf.“ „Kortison?“ Ich erschrecke. „Aber … Aber ich will kein Gift in meinem Körper! Ich hab gehört, davon geht’s einem nachher noch schlechter als zuvor! Und Magenschmerzen kriegt man auch noch!“ „Quatsch“, wiegelt er ab. „Das ist vollkommen unbedenklich. Das beste Mittel, wenn Sie schnell nach oben kommen wollen.“ Er lächelt. „Im wahrsten Sinn des Wortes.“ Anschließend reicht er mir die Hand und schiebt mich in den Nebenraum. „Frau Wegmann wird sich gleich um Sie kümmern. Legen Sie sich schon mal hin.“ Dann läutet wieder das Handy. Ich kann es nur greifen, weil es in meiner linken Hosentasche steckt. Zu meiner Überraschung ist es diesmal nicht Ulla, sondern ein Kollege aus der Nachbarproduktion. „Wo bist du denn?“, ruft er empört. „Was geht denn dich das an? Beim Arzt natürlich!“ „Na, dann sag doch mal deiner Produktion Bescheid!“ „Ich verstehe nicht …„, „Ich sitz hier im Hof und ständig kommen irgendwelche Lautsprecherdurchsagen: Herr Kopetzki, bitte schnellstens zur Bühne!“ Ich fasse mir mit dem Handy an den Kopf. Das heißt, Ulla hat der Inspizientin, die dafür zuständig ist, die Schauspieler zur Bühne zu rufen, überhaupt noch nichts von meinem Fehlen mitgeteilt! Vermutlich geht gerade das ganze Theater – außer Ulla, die mit mir telefonieren muss – auf die Suche nach dem verschollenen Kopetzki! Sofort wähle ich ihre Nummer. „Verdammt noch mal, bevor du mich mit deinen Anrufen kränker machst, als ich ohnehin schon bin: kannst du der Inspizientin bitte mitteilen, wo ich mich aufhalte? Sonst gibt die bald noch eine Vermisstenanzeige bei der Polizei auf!“ „Ja, schon gut“, piepst sie kleinlaut. „Hab halt geglaubt, du würdest es noch pünktlich schaffen …„ „Aber ich bin jetzt eine Stunde in Verzug!“ „Das ist es ja!“, findet sie in ihren alten Ton zurück. „Wann kommst du endlich?“ „Verdammt, ich häng hier am Tropf. Sie stöhnt. „Also, wann können wir jetzt mit dir rechnen?“ „SCHEISSE, ICH WEISS ES NICHT!“, brülle ich, und wuchte meinen Daumen auf die rote Taste. Plötzlich beginnt die Suppe zu tropfen – und ich sinke erleichtert zurück. Ohne, dass es möglich ist, bereits etwas zu spüren, habe ich den Eindruck, dass meine Schmerzen von Sekunde zu Sekunde einer Gelassenheit weichen, die ich - 21 - seit Jahren nicht erlebt habe. Vielleicht ist es ja eine Trotzreaktion, aber irgendwie kann mir gerade niemand was. Das Handy läutet – von Ferne her, in meinem Paralleluniversum. Natürlich gehe ich nicht ran. Ich komme gar nicht auf den Gedanken. Ich liege da und lächle und lasse mich vom Saft durchfluten, der meinen Organismus wie einen gebrochenen Staudamm in Beschlag nimmt. Und beschließe, mir diesen Zustand von nichts und niemandem mehr nehmen zu lassen – zumindest nicht an diesem Tag. „GLAUB JA NICHT, ICH HÄTTE NICHT GEMERKT, DASS DU NUR DER PROBE AUS DEM WEG GEHEN WILLST!“, versucht es der Intendant. „ABER KEINE SORGE: ICH LEIDE MEHR UNTER DEINER PRÄPOTENZ ALS DU!“ Mittlerweile stehe ich eine halbe Stunde auf der Bühne. Doch was heißt hier stehen: schweben wäre der bessere Ausdruck, und Kopetzki, zweiter von links, bleich vor Glück.: „Kortison wenn ich gehe, wandle ich. Nichts schmerzt, macht mich immer so blass.“ nichts ist krumm, ich bin ein Astronaut auf einem Planeten namens „Proberaum“ und begutachte einen Alien, der eigenartige Tänze vollführt: Stammesrituale in der Welt der „Theaterregisseure“. Das kann doch nicht mehr Leben sein, was mich da durchfährt, das muss sich doch irgendwo im Himmel abspielen! Ich schaue mir selbst zu, meinem Treiben, weiß nicht, was ich auf diesen Hölzern eigentlich mache, lächle Ulla und dem Rumpelstilzchen ins Gesicht, die mit immer bleicher werdender Miene mein Spielchen belauern, als würden sie sich gleich übergeben müssen. „GRINS NICH SO BLÖD!“, keift der Intendant. „DIE SACHE IST ERNST GENUG! ICH SCHWITZ HIER JA SCHON!“ Meine Trance ist wohl schuld, dass ich seinem Befehl, meinen Miniauftritt ein weiteres Mal anzugehen, nicht Folge leiste. „Wie wär’s denn, wenn ich von der LINKEN Bühnenseite komme?“, höre ich mich reden. „WAS IST LOS?“, herrscht es mich an. „Seit zwei Wochen komme ich von der rechten Seite, und ich schaff nicht mal den ersten Satz. Vielleicht komm ich einfach mal von der linken – möglicherweise krieg ich dann ja auch den zweiten hin!“ Einen so prall gefüllten Sack eigenes Denken habe ich Rumpelstilzchen noch nie entgegengeschleudert. Eine ganze Weile bin ich noch baff über mich, als der Intendant ihn mir schon mit heißer Gülle zurück über den Kopf stülpt: „WENN HIER EINER VORSCHLÄGE MACHT, DANN BIN ICH DAS!“ Doch dann, völlig ruhig, als hätte er sich das lange überlegt: „Kopetzki, kommst du mal von der LINKEN Seite?“ Muss ich erwähnen, dass ich, nachdem ich von der linken Seite gekommen bin, das erste Mal ohne Unterbrechung meinen Text sprechen darf? Wochenlang habe ich mir den Kopf zermartert, wieso ich eigentlich zu blöd sei, diesen Popel-Monolog zu spielen. Und, jetzt unter Drogen, wird auf einmal klar: Ich war ja gar nicht schuld, dass es nicht geklappt hat! Die Bühnenseite war schuld! Und dieser dämliche Intendant, der auch von alleine darauf hätte kommen können! Mit tiefer innerer Befriedigung verlasse ich nach Probenende meine Angstszene und falle anschließend sogar der verdutzten Ulla um den Hals: „Gut, dass du mich zur Probe gepeitscht hast! Gut, wirklich sehr gut! Ich werd dir ewig dankbar sein!“ Zu Hause, am wohlverdienten - 22 - Feierabend, verfluche ich sie allerdings wieder. Das Kortison zieht sich zurück, auch Schmerztabletten wirken nicht, und die schadenfreudige Hexe schießt langsam wieder mit scharfen Geschützen. Außerdem beschließe ich diesen eigenartigen Tag mit furchtbaren Magenkrämpfen – hätte ich bloß nicht auf den pickeligen Orthopäden gehört. „Scheißegal“, stöhne ich, „Hauptsache, ich kann morgen wieder zur Probe kommen.“ —— Mathias Kopetzki DIE KONFERENZ KONKRET Jetzt wird das Stadttheater gerettet xxx Unbedingt hier noch Bildunterschrift xxx Ich kenne ja nicht nur das ständige Gemotze und Gejammer aus der Kantine, der Kneipe oder der Garderobe über Besetzungspolitik, Unterbezahlung, Überlastung und Hierarchien. Ich kenne auch die vielen Artikel und Veranstaltungen kluger Leute, die sich auf intellektuell hohem Niveau über die schwierige Situation des Stadttheaters äußern. Eines haben alle gemeinsam: Sie sehnen sich nach mehr Freiraum für KUNST und MUßE, der derzeit von zu kurzen Produktionszeiten, Erwartungen an die Auslastungszahlen, zu wenig Mut usw. eingeengt wird. Wer aber hat wirklich Lösungsansätze, ob auf Podien oder in den Kantinen? Wer hat KONKRETE Ideen, was man im Kleinen und Großen verändern könnte, um dem Ziel näher zu kommen, sich mehr mit Kunst zu beschäftigen? Diese Menschen muss man finden und deswegen planten Johanna Lücke (Regisseurin, Mitbegründerin des ensemble-netzwerks), Laura Kiehne (Schauspielerin und Dramaturgin), mein Kollege Sascha Kölzow (Dramaturg) und ich die KONFERENZ KONKRET, die nichts Geringeres zum Ziel hatte als das Stadttheater zu retten. Jawohl. Wir setzten unsere eigenen Prioritäten: 1. Zur Teilnahme war keine sexy Vita notwendig – Herzblut zählte. 2. Gemütlich soll es sein. Gutes Essen soll es geben. Liebevoll muss es sein, denn ein gutes Umfeld macht bessere Inspiration. Das haben die Holländer schon längst für sich entdeckt. Die Germans haben Nachholbedarf. 3. Es sind konkrete Ideen zu entwickeln. Jede/r muss die Konferenz mit einem Rucksack an Ideen und Motivation verlassen. - 23 - 4. Auf der KK darf ausgepackt werden, so, dass Ross und Reiter ein Gesicht bekommen. ABER: Was in Borgholzhausen besprochen wird, bleibt in Borgholzhausen. Getroffen haben sich dann etwa 25 Menschen im Gästehaus „Alte Liebe“ im ostwestfälischen Borgholzhausen bei Bielefeld mit dem Ziel, eine Bande zu bilden. Wer nicht kommen konnte, wurde zur Big Band erklärt und war mit Grußbotschaften per Video oder Mail vertreten. Die „Alte Liebe“ ist ein altes Haus mit großem Garten am Rande des Waldes, gegenüber ein Rapsfeld. Drinnen gibt es einen Kamin und am Abend Lagerfeuer. Eine schöne Köchin und ein attraktiver Küchenjunge kochten phantastisch für uns. Eine Arbeitsgruppe beschäftige sich mit dem NV-SOLO. BEINHARTER KERN dieser Arbeitsgruppe waren Ludwig von Otting, ehemaliger Kaufmännischer Direktor des Thalia Theaters und ich. Und wir wurden von vielen Kolleg*innen unterstützt. Dabei ist ein etwa drei Seiten langes Papier rausgekommen, in dem aufgelistet ist, welche Veränderungen wir für nötig erachten, da der NV Solo nicht ausreichend Regelungen enthält. Hier nur ein paar Punkte, genauer können wir erst im dritten Newsletter werden: Einführung einer GAGENTABELLE, die mindestens Berufsjahre berücksichtigt; Unterscheidung der BERUFSGRUPPEN in KBB, Dramaturgie, Schauspiel, Assistenz; Erhöhung der EINSTIEGSGAGE; Assistent*innen haben nach zwei Jahren ANSPRUCH auf eine eigene Arbeit, der/die erste Ensemblesprecher*in ist während der Amtszeit und ein Jahr danach NICHT KÜNDBAR; GDBA-Obmänner und-frauen ebenfalls, zwischen Premieren und Konzeptionsproben sollten mindestens fünf PROBENFREIE Tage liegen, Einführung eines Ensemble-BEIRATS für künstlerische Fragen, Sonderbelastungen, wie z. B. Körperschminke, sind gesondert zu vergüten. Dies waren nur einige grobe Punkte. Diese Wir besorgen es dem NV-Solo-Naivvertrag. Liste wird jetzt ausgearbeitet, verfeinert und dann schicken wir sie EUCH, um ein Meinungsbild zu bekommen. Hinweise werden ab sofort gerne entgegen genommen. Außerdem war ich in der INTENDANT*INNENGRUPPE, in der besprochen wurde, was das Theater unserer Träume so bräuchte. Als erstes wurde über den Begriff „Hierarchie“ diskutiert, bis man sich darauf einigen konnte, dass Hierarchie im Sinne von Verantwortung übernehmen gar nicht so schlimm ist. Es folgt eine Liste der Ideen der Intendantengruppe: Es müssen sich mehr Leitungs-TEAMS an den Häusern bewerben, weniger einzelne Personen - 24 - Jedes Theater braucht eine/n Hauspsycholog*in Und eine/n Hausphilosoph*in Außerdem Hausmusiker, die den Künstler_innen nah stehen und kooperieren Eine Residenz für bildende Künstler*innen für Fotokünstler_innen, die sich mit Theater-Fotografie auseinandersetzen. Möglicherweise auch Zeichner*innen, Fotos gibt, sondern nur Theater-Zeichnungen? Ausstellungsräume noch offensiver genutzt werden. ein Jahr. Zum Beispiel und inszenierter Fotografie so dass es ein Jahr lang keine Die Foyers könnten als Im Spielplan sollten „Freiräume“ kalkuliert und ordnungsgemäß disponiert werden, die sowohl vom Haus als auch vom Publikum als diese wahrgenommen werden. So können die Künstler*innen aktuellen Impulsen freien Lauf lassen ohne, dass eine Disposition sie zu etwas zwingt. Ein Autor*innen-Labor, das die ultimative Erzählung produziert Jedes Theater-Café sollte W-LAN haben und bis aufs Blut mit den Künstler*innen kooperieren. Es ist uns doch aufgefallen, dass in vielen Theatern die Pächter*innen der Theatergastronomie ein Problem sind, weil sie die Vorteile, dass sie ans Theater angebunden sind, nicht für sich entdecken. Wir denken, dass gerade die Theatergastronomie ein anziehender Ort sein sollte, wo sich Volk und Künstler*innen treffen. Sehr viele Künstler*innen empfinden die Zusammenarbeit mit der Öffentlichkeitsabteilung (ÖA) als unzureichend bis frustrierend – warum läuft das nicht? Sehr gute Partys generieren ein jüngeres Publikum. Matineen abschaffen. Es ist eine Werbeveranstaltung für Menschen, die eh ins Theater gehen. Ensemble-Reisen durchführen zur Fortbildung, Teambildung und Inspiration. Es gab noch weitere Arbeitsgruppen und wir werden in den nächsten Newslettern darauf zurückkommen. Der Autor Wolfram Lotz hinter einem selbstentworfenen Theatermodell. Er ist Teil der Big Band. Ich habe nach der KONFERENZ KONKRET die ART BUT FAIRSelbstverpflichtung unterschrieben, wo ich auch erste Schritte formulieren musste, was ich tun werde, um zu gewährleisten, dass ich mich für faire Produktionsbedingungen einsetze. Zum Beispiel diesen Newsletter herstellen. - 25 - —— LJ WIR SCHREIBEN DER STAATSMINISTERIN EINEN BRIEF Im Rahmen ihrer Theaterreise im April hat die Staatsministerin Monika Grütters sich bei einigen Ensemblevertreter*innen in Bonn über die Arbeitsbedingungen von Künstler*innen informiert. Wir wurden über das ensemble-netzwerk auf dieses Treffen aufmerksam gemacht und haben der Staatsministerin einen Brief geschrieben. Sehr geehrte Frau Grütters, wir sind sehr dankbar, dass sie sich über die Arbeitsbedingungen der Theaterschaffenden ein umfangreiches Bild verschaffen wollen. Die Einsparungen der letzten Jahre sind hauptsächlich auf dem Rücken der Künstler*innen ausgetragen worden, da ihre Verträge es schlicht und einfach zulassen. Wir werden immer wieder mit ernüchternden Erlebnissen und Erkenntnissen in unserem sogenannten „Traumberuf“ konfrontiert: Krankheiten können nicht auskuriert werden, die Gagen reichen hinten und vorne nicht, Unterwürfigkeit gegenüber Regisseur*innen, Angst vor der Leitung, Resignation gegenüber dem Betrieb und dem Beruf, Verschuldung, Burn-out und Depression – auch schon bei Berufsanfänger*innen. Dabei herrscht ein Fatalismus, der schon jungen Künstler*innen signalisiert, man könne eh nichts ändern. Die Mindestgage beträgt in allen Regionen 1.650 Euro, sprich 1.100 netto – davon können die Theaterschaffenden noch nicht mal regelmäßig in der betriebseigenen Kantine essen. In unseren Verträgen sind keine Arbeitszeiten festgelegt, dass bedeutet, es greift das Arbeitszeitengesetz, somit dürfen wir 48 Stunden pro Woche arbeiten. Damit liegt die Mindestgage unter dem gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Vertraglich geregelt sind allein unsere Nachtruhe von 11 Stunden und 4 Stunden vor Beginn einer Vorstellung. Textlernen zählt nicht zu unserer Arbeitszeit, wir machen es in unserer Freizeit. Es gibt keine Unterstützung beim Thema Kinderbetreuung am Abend. Viele Schauspieler- oder Dramaturgenpaare haben an verschiedensten Häusern somit ein großes finanzielles extra Loch. Frauen und Männer werden ungleich bezahlt. Sowohl an großen als auch an kleinen Häusern. Es gibt keinen Gagen-Spiegel, sodass man ungefähr in eine Gehaltsgruppe eingestuft werden kann, die sich auf den sozialen Stand, die Ausbildung oder die Berufserfahrung bezieht. Ein Gagenbeispiel: Lisa Jopt, Oldenburgisches Staatstheater, Diplomierte Schauspielerin, verdient im 5. Berufsjahr 2.050 Euro brutto, es bleiben 1.300 netto. Das liegt aber nicht an der Theaterleitung, sondern daran, dass das Theater Schulden hat und einfach nicht mehr bezahlt werden kann. Aufgrund der finanziellen Situation werden die Ensembles immer kleiner und jünger. Zukunftsperspektiven bietet der Beruf, wenn es so weiter geht, nicht mehr. - 26 - Deswegen bitten wir sie, Frau Grütters, uns zu helfen, dass die Schauspieler*innen, ohne die die weltweit einzigartige deutschsprachige Theaterlandschaft nicht existieren würde, ohne die jedes Theater geschlossen werden müsste, angemessen bezahlt werden. Und zwar so, dass sie davon leben und eine Familie ernähren können. Das kann nur über die Politik kommen. Wir möchten, dass die deutschsprachige Theaterlandschaft, die erst vor fünf Monaten zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO ernannt wurde, nicht seine Schauspieler*innen auffrisst, sondern dass das Theater selbstbewusst für sein Publikum und seine Mitarbeiter dasteht und den gesellschaftlichen Wert nicht nur nach außen, sondern auch nach innen vermittelt. Des Weiteren, liebe Frau Grütters, nun ein kleiner Blick in unser Nähkästchen: Die meisten Schauspieler*innen haben Angst vor Regisseur*innen und Leitungen. Emotionale Erpressung und andere Druckmittel sind an der Tagesordnung. In Zeiten von Unternehmensethik kann man hier nicht mehr von schrulliger Theaterfolklore sprechen, sondern von tradierten, feudalen Machtstrukturen. Unsere Verträge verlängern sich immer nur um ein Jahr – wer unbequem wird, wird schlecht besetzt oder nicht verlängert. Zum Glück gibt es Leitungen und Regisseur*innen, die sich für die Belange der Schauspieler*innen interessieren und mit Achtung und Respekt den Umgang pflegen, aber auch ihnen sind die Hände gebunden, wenn es um das Thema Auslastungszahlen und zu kurze Probenzeiten geht. Liebe Frau Grütters, wir haben eigentlich den schönsten Beruf der Welt, aber wir brauchen jetzt Hilfe. Mit vielen lieben Grüßen Lisa Jopt und Johanna Lücke vom ensemble-netzwerk. … und die Staatsministerin hat geantwortet! - 27 - - 28 - WHAT WOULD YOU SAY Heute: Mindestgage Die Mindestgage steigt auf 1.765 € – was für ein Trauerspiel. Ein Zwischenruf von Sören Fenner. Der Deutsche Bühnenverein ist stolz: Die Erhöhung der Mindestgage „zeige, dass trotz angespannter Finanzlage der Theater die Notwendigkeit gesehen wird, gerade Künstler, die weniger verdienen, besser zu bezahlen.“ In Wirklichkeit geht es aber darum, den Theatern Mindestlohn-Klagen zu ersparen. Sören Fenner, Mitbegründer von art but fair und Geschäftsführer von theaterjobs.de Die momentane Mindestgage von 1.650 Euro entspricht nicht einmal mehr dem gesetzlichen Mindestlohn. Denn der Tarifvertrag „NV-Bühne“ enthält keine geregelte Wochenarbeitszeit. Und damit gilt das deutsche Arbeitszeitgesetz. Das sieht eine Arbeitszeit von maximal 48 Stunden pro Woche vor. Was an vielen Häusern auch der Realität entsprechen dürfte, z. B. für Regieassistenten. Bei einer 48-Stunden-Woche kommt ein*e Theaterschaffende*r auf 208 monatliche Arbeitsstunden. Teilt man diese Stundenzahl durch die alte Mindestgage von 1.650 Euro, erhält man einen Stundenlohn von 7,93 Euro – weniger, als das deutsche Mindestlohngesetz erlaubt. Man könnte also als Theaterschaffende*r mit Mindestgage sein Theater verklagen. Die Beweisführung wäre aber kompliziert (Stundenzettel nachweisen, usw.). Doch ein Gericht könnte das beklagte Theater dazu verdonnern, zukünftig Arbeitszeitkonten für jede*n NV-Bühne-Mitarbeiter*in im niedrigen Lohnbereich zu führen und eine detaillierte Dokumentation der geleisteten Arbeitszeiten zu gewährleisten. Damit garantiert sei, dass das Mindestlohngesetz eingehalten würde. Genau das ist der Grund für die Mindestgagen-Erhöhung. Die Umstellung auf ArbeitszeitDokumentation wäre ein aufwendiger und teurer Verwaltungsakt für die Theater. Zusätzlich wäre eine öffentliche Debatte schädlich. Denn welche kommunale SPD-Regierung möchte schon gern in den Medien lesen, dass sie im eigenen Theaterbetrieb den politisch hart erkämpften Mindestlohn selbst nicht bezahlt? Zum Beweis für meine These sollten wir die Rechnung von oben erneut mit der neuen Mindestgage machen: 1.765 Euro geteilt durch 208 monatliche Arbeitsstunden. Da ergibt sich Überraschung - ein Stundenlohn von 8,49 Euro. Das ist zwar immer noch 1 Cent unter dem gesetzlichen Mindestlohn, aber jetzt wollen wir mal nicht kleinlich werden … Die Erhöhung der Mindestgage auf 1.765 Euro hat also nichts mit einem Verständnis des Deutschen Bühnenvereins für die prekäre Situation der Theaterschaffenden zu tun. Sie ist schlicht rechtlich notwendig, um nicht durch die Missachtung des gesetzlichen Mindestlohns in - 29 - eine unkalkulierbare juristische Situation zu geraten. Oder auf peinliche Weise zu offenbaren, dass man die eigenen politischen Ziele und moralischen Ansprüche in der praktischen Arbeit umgeht. Sie geht keinen Schritt weiter, als sie muss - und ist damit keine Erhöhung, sondern eine notwendige Anpassung an die bestehende Gesetzeslage. Es ist traurig, dass die Gewerkschaften nicht in der Lage waren, die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns besser zu nutzen, um die Mindestgage auf ein Niveau hoch zu verhandeln, die für Theaterschaffende würdig wäre. Die GDBA fordert 1.900 Euro, was immer noch, auch im gesamtgesellschaftlichen Vergleich, skandalös wenig ist. Der öffentliche Dienst hat ein Einstiegsgehalt von 1.671 Euro – allerdings in der untersten Entgeltgruppe E 1, für „einfache Tätigkeiten, An- und Ungelernte“, genauer gesagt: für Küchenhilfen und Boten. —— Sören Fenner Übrigens: Theaterjobs.de hat einen „Künstlerischen Initiativ Bewerbungs Almanach“ zusammengestellt: http://www.theaterjobs.de/kiba_2015.pdf DO IT YOURSELF Fragen und Wege. Dauerbrenner: Kinderbetreuung. Schreib uns dein Problem und wir – das Netzwerk – versuchen, mit geballter Netzwerk-Power Tipps zu geben, an wen man sich wenden könnte. Das wird vermutlich eine Schnitzeljagd, man fragt sich durch, findet Hinweise, stößt auf Hindernisse, Sackgassen, unerwartete Hilfe, interessante Gedanken, neue Menschen. Nachdem im letzten Newsletter die Frage nach der Kinderbetreuung am Abend gestellt wurde, hat das ensemble-netzwerk drei weitere Betroffene miteinander verknüpft. Liebe Lisa, leider kann ich noch kein positives Ergebnis vermelden. Ich habe meiner Gleichstellungsbeauftragten vorgetragen, dass ich die abendlichen Babysitterkosten für meine nun siebenjährige Tochter nicht mehr alleine wuppen kann. Sie will sich nach ihrem Urlaub der Sache annehmen und bat mich, einen Kontakt zu Ämtern herzustellen, die in vergleichbaren Fällen schon helfen konnten. Ich habe mich dann mit den beiden Kollegen in Koblenz und Bonn kurzgeschlossen. Bei David aus Koblenz ist die Situation aber nicht wirklich mit meiner vergleichbar: Er brauchte damals dringend einen Betreuungsplatz für sein zweijähriges Kind für tagsüber und kämpfte um die Aufnahme in eine Kita. Mit Unterstützung der Gleichstellungsbeauftragten war er erfolgreich. - 30 - Sören aus Bonn ist wie ich auf der Suche nach Unterstützung für die abendliche Betreuung seine Kinder. Die Stadt Bonn versteift sich jedoch darauf, dass diese Aufgabe durch eine „qualifizierte“ Person erledigt werden muss. In persönlichen Gesprächen zeigt sich die Stadt Bonn wohl wahnsinnig verständnisvoll, gelöst ist das Problem bisher allerdings noch nicht. Er wird seinen Antrag nun als Nächstes schriftlich einreichen, weil er hofft, die Behörde damit in Zugzwang zu setzen. Das gleiche werd ich jetzt auch tun. Drück mir die Daumen! Liebe Grüße —— Iris Hochstätter vom Theater Bamberg Liebe NetzwerkerInnen, Zum Thema „Vereinbarkeit Familie und Beruf“ aus dem letzten Newsletter unter DIY: Idee 1: Hat der Kollege Sören Wunderlich mal an Au-pair gedacht? Ich weiß, ist auch teuer und man braucht ein extra Zimmer, ist aber evtl. günstiger als immer Babysitter? Idee 2: Unser Theaterförderverein fördert auch konkrete Projekte, z.B. einen SprecherzieherWorkshop fürs Ensemble. Vielleicht gibt es da ne Möglichkeit, einen Zuschuss zu erlangen? Idee 3: Mein Freund und ich sind gerade auf der Suche nach einer*m Leih-Oma*Opa, weil wir auch keinerlei Verwandtschaft hier haben. Das ist bei mehreren Kindern wie in der besagten WG natürlich auch nicht so einfach, aber man könnt ja mal nen Aushang machen? Im Theaterfoyer ;-) ? Wahrscheinlich kann sich der Kollege vor Ratschlägen nicht retten, aber ihr könnt es ja trotzdem gern weiterleiten. Liebe Grüße —— Annika Herbst vom Theater Erlangen In eigener Sache: Das ensemble-netzwerk-Archiv Ab sofort könnt ihr die vergangenen Newsletter-Ausgaben auf der ensemble-netzwerkWebseite nachlesen. Ihr findet sie unter http://www.ensemble-netzwerk.de/archiv Der Zugang ändert sich mit jeder Ausgabe und ist diesmal: Benutzername: archiv Passwort: bierfahrrad Impressum Newsletter Nr. 2 —— Juli 2015 Verantwortlich im Sinne des Presserechts: Ensemble-Netzwerk, Bogenstraße 43, 26123 Oldenburg. Redaktion: Johanna Lücke (JL), Lisa Jopt (LJ) —— Gestaltung: Timo-Hakim Djebrallah [email protected] http://www.ensemble-netzwerk.de © Ensemble-Netzwerk 2015 - 31 - OUTRO So, liebe Kolleginnen und Kollegen, Lass dich fallen, lerne Schlangen zu beobachten. Pflanze unmögliche Gärten. Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein. Mache kleine Zeichen, die „ja“ sagen und verteile sie überall in deinem Haus. Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit. Freue dich auf Träume. Weine bei Kinofilmen. Schaukle so hoch du kannst mit einer Schaukel bei Mondlicht. Pflege verschiedene Stimmungen. Verweigere dich, verantwortlich zu sein – tu es aus Liebe! Mache eine Menge Nickerchen. Gib Geld weiter. Mach es jetzt. Es wird folgen. das war der zweite Newsletter. Der dritte erscheint vermutlich im Oktober unter dem selben Motto wie dieser hier: Es wird ihn garantiert geben und er kommt garantiert zu spät. Verlasst euch drauf. Der Grund für die Unregelmäßigkeit liegt daran, dass es im NV-Solo eben noch ein paar Reglementierungen braucht. Denn dann würde es z. B. für Assistent*innen mehr Freiräume geben, um sich um andere Dinge als Beleuchtungsproben, Probenpläne, Requisitenlisten und Kaffeepulver zu kümmern. Für die, die sich vorgenommen haben, in den Ferien in den Text zugucken: Hiermit erteilt das ensemblenetzwerk ein offizielles „Text-anguck-Verbot“. Geil, jetzt gibt es sogar schon Verbote. Im nächsten NL wird es dann auch das „BingoBongo-Buden-Manifest“ geben. Jedes Ensemble sollte seine eigene Premieren-Bude haben. Denn wer arbeiten will, sollte auch feiern müssen. Glaube an Zauberei, lache eine Menge. Bade im Mondschein. Träume wilde, fantasievolle Träume. Zeichne auf Wände. Lies jeden Tag. Schöne Ferien für die, die sich am Ende der Spielzeit befinden. Schöne Ferien für die, die schon weg sind und schöne neue Spielzeit für die, die den Newsletter erst lesen, wenn sie wieder zurück sind! Vielen Dank an alle, die sich formuliert haben in den vielen, vielen Mails, die wir bekommen haben. Und vielen Dank an die Kolleg*innen, die Texte geschrieben haben. Stell dir vor, du wärst verzaubert. Kichere mit Kindern, höre alten Leuten zu. Öffne dich, tauche ein. Remember: Der Newsletter schreibt sich durch seine Mitglieder und nur nach Absprache werden Texte veröffentlicht. Wir freuen uns über Texte, Fotos, Feedback und Anregungen. Sei frei. Preise dich selbst. Lass die Angst fallen, spiele mit allem. Unterhalte das Kind in dir. Du bist unschuldig. Wir verabschieden uns mit einem freundlichen Verfluchen und einem lauten Baue eine Burg aus Decken. Werde nass. Umarme Bäume. Schreibe Liebesbriefe… YOU ARE NOT ALONE. Johanna, Lisa & Timo Joseph Beuys - 32 - OVATION Ovation – von UNSEREINS Unsere große Bühne wächst mit jedem Schritt. Die Bretter, die die Welt bedeuten, bringen wir selber mit. Ein bisschen Größenwahn ist selten ganz verkehrt. Nur der, der sich nicht traut, ist auch der, der sich beschwert. Schmeiß die Hände in die Luft, die Zweifel über Bord. Das Leben schreibt Geschichten, Wort für Wort. Wir sind die Standing Ovation, das ausverkaufte Haus. Wir sind der Running Gag, Pointe. Du bist mein Szenenapplaus. Weil wir können, weil wir wollen, weil wir wissen wie es geht Weil wir selber entscheiden, wer sich hier um was dreht. Dieses Stück schreiben wir mein Schatz. Wir sind die Besetzung, führen hier Regie, treffen die Entscheidung ohne Aber ohne Nie. Ein bisschen viel gewollt, ist oft auch viel erreicht und der, der das nicht will, der lässt es dann vielleicht. Schmeiß die Hände in die Luft, die Zweifel über Bord. Das Leben schreibt Geschichten, Wort für Wort. Wir sind die Standing Ovation, das ausverkaufte Haus. Wir sind der Running Gag, Pointe. Du bist mein Szenenapplaus. Weil wir können, weil wir wollen, weil wir wissen wie es geht Weil wir selber entscheiden, wer sich hier um was dreht. Dieses Stück schreiben wir mein Schatz. Und wenn Du mal den Text vergisst, die Zeilen schwimmen, die Augen erwartend gucken, die Knie zittern, die Schultern zucken: Souffliere ich dir die Worte, die Dir fehlen ganz leise in Dein Ohr. Wir sind die Standing Ovation, das ausverkaufte Haus. Wir sind der Running Gag, Pointe. Du bist mein Szenenapplaus. - 33 -
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