Tango gegen das Vergessen

General-Anzeiger vom 14.10.2015
Autor:
Julia Bernewasser/epd
Ausgabe:
Seite:
Ressort:
16
RHN
Gattung:
Auflage:
Rubrik:
Bonn
Reichweite:
General-Anzeiger - Bonner Stadtanzeiger Bonn,
Hardtberg, Hauptausgabe
Tageszeitung
22.129 (gedruckt) 20.370 (verkauft)
20.744 (verbreitet)
0,07 (in Mio.)
Tango gegen das Vergessen
An den Theo aus Lodz erinnern sie sich: Tanzkurse für Demenzkranke in Köln und Witten
Von Julia Bernewasser
Köln/Witten. Erich hat sich schick
gemacht: rotes Hemd, schwarze Hose
und Sakko. Irene will endlich "Viva
España" singen. Und Veronika träumt
sich zu ihrem ersten Tango vor mehr als
60 Jahren. Doch die Beine und Arme
machen heute noch nicht so recht mit:
Ein bisschen antriebslos und müde
hocken die drei Senioren auf ihren Stühlen. "Ich will die Beine sehen", ruft
Tanzlehrerin Sabine Hartmann. "Auf
geht's! Wir tanzen." Kurz darauf
erklingt die Liedzeile "Steh auf, du faules Murmeltier" aus den Boxen - nach
dem Evergreen "Theo, wir fahr'n nach
Lodz" von Vicky Leandros.
Erich, Irene und Veronika gehören keiner gewöhnlichen Tanzgruppe an. Sie
alle haben die 80 Jahre längst überschritten - und sie sind an Demenz
erkrankt. Als Bewohner des Altenzentrums "Schwesternpark Feierabendhäuser" der Diakonie Ruhr in Witten kommen sie alle zwei Wochen mit sieben
anderen Senioren zusammen, um zu tanzen.
Wer gerade zu Besuch war oder was
zum Mittag auf dem Tisch stand, daran
können sich die alten Leute nicht immer
erinnern. Ganz anders ist das mit Liedern wie Peter Alexanders "Die kleine
Kneipe". Die Hände wandern nach
links, nach rechts, die Füße nach vorne
und nach hinten. Die Senioren fassen
sich an den Händen und schunkeln im
Wörter:
© 2015 PMG Presse-Monitor GmbH
578
Takt - manche zögerlich, andere beherzter. Jürgen streckt die Arme in die Höhe,
als wolle er die Gruppe dirigieren. "Dort
in der Kneipe in unserer Straße, da fragt
dich keiner, was du hast oder bist", tröpfelt es im Hintergrund aus dem Lautsprecher.
Sabine Hartmann, Chefin einer Tanzschule, leitet den Kurs gemeinsam mit
Manuela Söhnchen, die für den Sozialdienst im Altenzentrum zuständig ist.
Anfang dieses Jahres wagten es die beiden Frauen zum ersten Mal, mit den
Senioren zu tanzen. "Wir haben versucht, einfach Bewegungsmuster einzubauen: den Wiegeschritt, die Arme kreisen lassen", berichtet Hartmann. "Vor
allem wollen wir ihnen eine Freude
machen."
Die Reihenfolge der Lieder bleibt in
jeder Tanzstunde gleich. "Mit Demenzpatienten zu tanzen, ist im Vergleich zu
anderen Senioren leichter, sie sind noch
sehr mobil", erläutert Altenheimseelsorgerin Söhnchen. "Und hier brauchen sie
keine besonderen kognitiven Fähigkeiten." Die Musik spreche vor allem die
Gefühlsebene an.
Tanzen macht den älteren Menschen
aber nicht nur Freude. Es fördere auch
die Gesundheit, sagt der Sport- und
Bewegungsgerontologe Tim Fleiner.
Für seine Doktorarbeit an der Deutschen Sporthochschule in Köln untersucht der Wissenschaftler die Effekte
eines selbst entwickelten Bewegungs-
trainings für Menschen mit Demenz.
"Wer aktiv ist, erkrankt entweder gar
nicht an Demenz oder die Krankheit
verzögert sich", betont Fleiner. Er empfiehlt 150 Minuten Bewegung pro
Woche - egal ob durch Tanzen oder
einen anderen Sport.
Mit Patienten, deren Krankheit weit
fortgeschritten ist, macht Fleiner in einer
Klinik Kraft-, Ausdauer- und Koordinationsübungen. "Häufig leiden Demenzpatienten sowieso schon an einer Rastlosigkeit", sagt der Experte. "Es ist wichtig, mit ihnen den Sport zu machen, der
sie ruhiger macht."
Bei Veronika weckt das Tanzen vor
allem alte Erinnerungen. Jedes Wochenende habe sie früher getanzt, erzählt die
81-Jährige. "Am liebsten mochte ich
den Tango. Der war so schön und auch
ein bisschen erotisch." Veronika kichert.
"Wenn ich noch mal so jung wäre,
würde ich wieder Tango tanzen."
Während die Senioren in Witten unter
sich bleiben, bevorzugt Stefan Kleinstück die Tanzschule. Der Koordinator
eines Demenz-Servicezentrums in Köln
rief 2007 das Projekt "Wir tanzen wieder!" ins Leben, bei dem Menschen mit
und ohne Demenz zusammen tanzen.
"Paare können hier aus der Pflegebeziehung rein in eine Tanzbeziehung", sagt
Kleinstück. "Wir wollen ihnen Normalität bieten. Die Krankheit sollte nicht im
Mittelpunkt stehen." epd