Johann Rudolf Meyer Sohn (1768

Peter Genner
Johann Rudolf Meyer Sohn (1768-1825) und die Familie Meyer
Bauherr der Meyerschen Stollen war der Seidenbandfabrikant, Naturforscher, Alpinist
und Falschmünzer Johann Rudolf Meyer Sohn, den wir im Folgenden bei seinem Rufnamen Rudolf nennen. Sein Leben ist erst teilweise erforscht. Vollständig nachgezeichnet werden kann es vermutlich nie, denn wichtige Quellen scheinen vernichtet worden
zu sein, um das wenig rühmliche Ende des einst hochgeachteten Mannes zu vertuschen.
Vater Meyer und seine zweite Frau Marianne Renner. Gemälde von Joseph Reinhart, 1794. Bernisches Historisches Museum, Inv. 31527, Foto Yvonne Hurni.
Rudolf wurde 1768 an seinem Bürgerort
Aarau geboren. Er war der älteste Sohn des
gleichnamigen
Seidenbandfabrikanten
(1739–1813) und der Arzttochter Elisabeth
Hagnauer (1741–1781). Von den fünf
überlebenden Geschwistern aus der ersten
Ehe des Vaters stand ihm Hieronymus genannt Jérôme (1769–1844) am nächsten.
Als Rudolf dreizehn und Jérôme elf waren,
starb die Mutter. Zwei Jahre darauf heiratete der Vater wieder. Seine zweite Frau Marianne Renner (1747–1823) aus Nidau gebar noch den Sohn Samuel Friedrich genannt Fritz (1793–1882). Sie war mit den
aus Hannover stammenden Freiherren von
Schwachheim verschwägert, deren Vater
Bad Schinznach erworben hatte und die
nun in Bayern Karriere machten.
Rudolfs Vater – jenseits der Legende
Manches, was man über Rudolfs Vater lesen kann, ist Legende: Weder wurde »Vater
Meyer« in seinem angeblichen Geburtshaus in der Halde geboren noch war er der
Gründer der Kantonsschule. Anderes wurde unter den Teppich gekehrt, so sein gespanntes Verhältnis zu den Söhnen aus erster Ehe und die Schulden, die er hinterliess.
1771 übernahm Meyer die Seidenbandfabrik Rothpletz & Brutel. Unternehmerische Leistung und günstige Zeitumstände verschafften ihm ein Vierteljahrhundert lang
hohe Gewinne. Die Seide wurde aus Norditalien bezogen und in der Innerschweiz gesponnen. In seiner Fabrik – ab 1787 im heutigen Alters- und Pflegeheim Golatti – liess
Meyer das Garn färben. Das Weben besorgten Heimarbeiter im Baselbiet. Die fertigen
Bänder wurden dann in der Fabrik appretiert (nachbearbeitet). Der Unternehmer wohnte
im Haus Milchgasse 35. Er beschäftigte Hausierer wie den Vater der Schuhfabrikanten
Bally. Am meisten aber verkaufte er auf den Messen von Zurzach und Frankfurt am
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Johann Rudolf Meyer Sohn (1768-1825) und die Familie Meyer
Main. Am letztgenannten Ort unterhielt er sogar eine Filiale. Die ausländischen Handelsplätze, mit denen die Firma Meyer 1802–1804 am häufigsten korrespondierte, waren Mailand, Paris und Augsburg. Es versteht sich also, dass die Familie sprachenkundig war. Namentlich beherrschte sie das Französische.
Dieser 1943 in Rünenberg
BL aufgenommene Bandwebstuhl ist zwar elektrifiziert, entspricht aber in
Funktionsweise und Aussehen noch weitgehend den um
1800 gebräuchlichen. Foto:
Theodor Strübin. Archäologie und Museum Baselland,
Liestal.
Vater Meyer war auch
Philanthrop, Mäzen und
Revolutionär. Zu seinen
gemeinnützigen Unternehmungen
gehörte,
dass er Johann Heinrich
Weiss aus Strassburg unter Mitwirkung von Joachim Eugen Müller aus Engelberg die
Schweizer Alpen aufnehmen und auf der Basis dieser Aufnahmen ein (in Paris verloren
gegangenes) Relief sowie einen Atlas unseres Landes anfertigen liess. In seinem Auftrag porträtierte der Luzerner Maler Joseph Reinhart 140 Schweizer Paare in ihren
Trachten. 1790 erwarb und renovierte Vater Meyer Aaraus Schlössli. Er gab den Anstoss zum späteren Bau des Linthkanals, als er 1792 Präsident der Helvetischen Gesellschaft war. Von 1795 an tagte dieser Zusammenschluss von Kritikern des Ancien
Régime in Aarau.
Mit dem Übergreifen der Revolutionskriege auf Süddeutschland begann 1796 der
Niedergang der Firma. 1798 beteiligte sich die Familie Meyer an der Helvetischen Revolution und trug massgeblich zur Entstehung des Kantons Aargau bei. Rudolfs Vater
vertrat diesen bis 1800 im Senat der Helvetischen Republik. Dort gehörte er der radikalen Partei der »Patrioten« an. Er war tief religiös, doch glaubte er als Deist nicht an die
Heiligkeit der Bibel und an die Göttlichkeit Jesu. Als unser Land 1799 zum Schlachtfeld der Grossmächte wurde, weil die Kaiser in Wien und St. Petersburg die alte Eidgenossenschaft wiederherstellen wollten, unterstützte Vater Meyer die Opfer der Kämpfe.
So nahm er den späteren Gründer der Instrumentenbaufirma Kern als Waisenknaben in
sein Haus auf.
Ausbildung und Heirat
Meyers Söhne Rudolf und Jérôme erhielten die erste Ausbildung durch einen Hauslehrer und im väterlichen Betrieb. Sie sollten ebenfalls Seidenbandfabrikanten werden, der
ältere mit Spezialisierung auf das Färben, der jüngere auf das Kaufmännische. Schon
als Teenager besass Rudolf das Haus Rathausgasse 18 und sein eigenes Laboratorium.
1788 machte er eine siebenmonatige Reise ins Absatzgebiet der Firma Meyer. Diese
führte ihn bis nach Stockholm und nach Riga, das damals zu Russland gehörte. Währenddessen bildete sich Jérôme in Hamburg weiter. Anschliessend hörten die beiden bei
Georg Christoph Lichtenberg an der Universität Göttingen Physik – Rudolf zwei,
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Johann Rudolf Meyer Sohn (1768-1825) und die Familie Meyer
Jérôme ein Semester. Der ältere durfte noch einige Wochen Mineralogie bei Abraham
Gottlob Werner an der Bergakademie Freiberg (Sachsen) anhängen. Dort befreundete er
sich mit dem Berner Johann Samuel von Gruner (1766–1824). Dieser Lieblingsschüler
Werners war ein entfernter Verwandter von Rudolfs Stiefmutter.
Links Johann Rudolf Meyer Sohn, rechts sein Bruder Hieronymus genannt Jérôme. Gemälde von Joseph
Reinhart, um 1790. Sammlung Stadtmuseum Aarau, 2004.11.12.S003, 2004.10.14.S015.
Als Rudolf 1790 nach Aarau zurückkehrte, trat er wie zuvor schon Jérôme in die Familienfirma ein. Im gleichen Jahr heiratete er zur geringen Begeisterung der Eltern seine
verarmte Jugendliebe Margarete Saxer (1769–1805). Während Jérômes 1789 geschlossene Ehe mit der malenden und musizierenden Julie Rothpletz (* 1769) kinderlos
blieb und 1803 geschieden wurde, gebar »Gritli« vier Kinder. Von diesen erreichten
aber nur Johann Rudolf (1791–1833) und Gottlieb (1793–1829) das Erwachsenenalter.
Bau von Villa und Stollen
1792 kaufte Rudolf den Geschwistern seiner Frau Land ausserhalb der Stadt ab. Schon
im Jahr zuvor hatte er damit begonnen, durch den Bau der Meyerschen Stollen einen
versumpften Teil davon zu entwässern. Die nötigen Bergleute fand er im Eisenbergwerk des Staates Bern in Küttigen. Mit dem Bergbau war er unter anderem vertraut,
weil Vater Meyer an der Blei-Silber-Mine Trachsellauenen zu Füssen der Jungfrau beteiligt war. Fachwissen steuerte Gruner bei, der nach Abschluss seines Geologiestudiums 1792 zu Rudolf zog und die Leitung der beiden erwähnten Bergwerke übernahm.
Gruner beriet auch Vater Meyer bei dessen kartografischen Unternehmungen. In Rudolfs Auftrag errichtete Johann Daniel Osterrieth aus Strassburg 1794–1797 auf dem
ehemals Saxerschen Land eine Villa. Sie enthielt Wohnungen für den Bauherrn und für
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Jérôme. Auf der Strassenseite präsentierte sie sich als Bürgerhaus, auf der Gartenseite
hingegen als Schloss mit tempelartiger Giebelfront und zwei Eckpavillons. Im Parterre
des westlichen Pavillons richtete Rudolf sein Laboratorium ein, in den beiden Kellergeschossen des Gebäudes eine Seidenfärberei, die durch die Stollen mit Wasser versorgt
wurde und jene in der Fabrik des Vaters ersetzte.
An der Gründung der Kantonsschule beteiligt war
der Hauslehrer von Rudolfs Söhnen, der bayerische
Pestalozzi-Schüler Andreas Moser. Als Verfechter
eines freien Gottesglaubens wurde er 1802 aus Aarau vertrieben. Bleistiftzeichnung von Johann Ulrich
Schellenberg in dessen Exemplar von Mosers »Gesundem Menschenverstand«, Helvetien ohne Jahr
(St. Gallen 1800). Universitätsbibliothek Basel, Signatur Rb 591.
Nach der Helvetischen Revolution beherbergte Rudolf neben Gruner, der Nationalbuchdrucker der Helvetischen Republik
wurde, auch monatelang Heinrich Pestalozzi. Der Pädagoge war ein begeisterter Anhänger des Einheitsstaats und dessen bekanntester Propagandist. Als Vater Meyer
in den Senat gewählt wurde, übernahm Rudolf die Direktion der Familienfirma. Osterrieth erhielt den Auftrag, den Ausbau Aaraus zur Hauptstadt der Helvetischen Republik zu planen.
Rudolfs begabter Bruder Gottlieb
(1779–1803) fuhr 1801 ohne Wissen des
Vaters nach Amerika, wo er sich zeitweise durchbetteln musste. Zuvor hatte er einen
Chemiekurs in Jena, eine Italienreise und ein Praktikum in Manchester absolviert. Auf
der Rückreise verschwand er – angeblich zum Dienst in der Royal Navy gezwungen –
in England.
Treibende Kraft hinter der Gründung der Kantonsschule
Gruner gehörte seit 1799 der Bergwerksdirektion der Helvetischen Republik an. Zusammen mit ihm gab Rudolf den Anstoss zur Gründung der 1802 eröffneten ältesten
Kantonsschule der Schweiz. An den Vorarbeiten beteiligte sich auch der Hauslehrer
von Rudolfs Kindern, der bayerische Pestalozzi-Schüler Andreas Moser (1766–1806).
Vater Meyer und Jérôme halfen bei der Finanzierung. Seine kleinen Söhne schickte
Rudolf in Pestalozzis Institut in Burgorf. Er selber unterrichtete an der Kantonsschule
unentgeltlich Chemie und Physik. Moser schuf den ältesten Turnplatz der Schweiz, den
Telliring, und einen daran angrenzenden, heute verschwundenen, Schulgarten.
Doch wenige Monate nach Eröffnung der Schule entfesselte Aaraus oberster Pfarrer Johann Jakob Pfleger eine Hetzkampagne gegen Moser, der sich in seinem 1800 in
St. Gallen veröffentlichten Buch »Gesunder Menschenverstand über die Kunst Völker
zu beglücken« nicht nur zur Demokratie, sondern auch offen zum Deismus bekannt
hatte. Damit gab der altgesinnte Geistliche das Signal zum Ausbruch des Stecklikriegs,
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des Aufstands gegen die Helvetische Republik, den Berns Aristokratie von langer Hand
vorbereitet hatte.
Mit dem Tod bedroht, musste Moser nach München fliehen. In der Folge wurden
alle übrigen Kantonsschullehrer der revolutionären Periode entlassen und die meisten
von ihnen aus Aarau vertrieben. Dieses Schicksal erlitten unter anderen der Pestalozzianer Georg Franz Hofmann, welcher die Schule geleitet hatte, und der bekannte Mathematiker Johann Christian Martin Bartels.
Emigration nach Bayern
Erste Station der Emigration war für die Familie
Meyer Schloss Rohrbach an der Ilm bei Ingolstadt.
Aufnahme: Verfasser.
Die Verfolgung von Anhängern der Helvetischen Republik liess Rudolfs Schwager
Johann Gottlieb Hunziker, einen Revolutionär der ersten Stunde, nach Paris auswandern, wo Rudolfs Schwester Susanna Dorothea genannt Suzette (1767–1838) als
Witwe mit den meisten ihrer insgesamt sieben Kinder 1822 die französische Staatsbürgerschaft annahm.
Die Familie Meyer beschloss, die Seidenbandfabrikation von Aarau nach Bayern zu verlegen. Dort führten Kurfürst Max
Joseph und sein Minister Montgelas radikale Reformen durch. Als Fabrikgebäude
mietete Jérôme 1802 von einem Bekannten
der Freiherren von Schwachheim Schloss
Rohrbach an der Ilm bei Ingolstadt. 1803
kaufte die Familie in der Nachbarschaft
von Rohrbach die aufgehobenen Klöster
Geisenfeld und Wolnzach, vertauschte diese aber 1804 gegen diejenigen von Polling,
Rottenbuch und Steingaden im bayerischen Voralpengebiet (Landkreis WeilheimSchongau).
Die Kaufverhandlungen führte Gruner, der zuletzt Oberberghauptmann der Helvetischen Republik gewesen war. 1804 liess er sich definitiv in Bayern nieder. 1805 vermittelte er den Neuenburger Pierre-Louis Guinand nach Benediktbeuern, wo dieser
erstmals in industriellem Massstab optisches Glas herstellte und zum Lehrer Joseph von
Fraunhofers wurde. 1809 gehörte Gruner zu den Gründern des Landwirtschaftlichen
Vereins in Bayern, für den er 1821/22 eine Studienreise in die Niederlande unternahm.
In der Verwaltung der bayerischen Güter – zuerst von Geisenfeld, dann von Polling
aus – wechselten sich Jérôme und Rudolf ab. Vater Meyer hielt sich 1805 eine Zeit lang
in Rottenbuch auf. Gegen 300 Personen wanderten mit der Familie aus. Zuerst bestand
die Kolonie aus Aargauern und Baselbietern. Die Fabrik in Bayern gedieh aber nicht,
weil ihr das Basler Seidenbandkartell die Weber abwarb. Auf der anderen Seite vergrösserte sich die Kolonie durch Teilnehmer am Bockenkrieg von 1804, einem Aufstand gegen die Herrschaft der Stadt Zürich über den Rest des Kantons. Erfolg hatten
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Johann Rudolf Meyer Sohn (1768-1825) und die Familie Meyer
die Auswanderer mit der Zucht von Schweizer Vieh. Zu ihrer seelsorgerischen Betreuung besoldete Vater Meyer 1806–1814 den lutherischen Pfarrer Raiffeisen, einen Onkel
des Bankengründers.
Nach seiner Scheidung verheiratete sich Jérôme 1804 oder 1805 mit der Frankfurter Kaufmannswitwe Luise Vinnassa geb. Wagner (1770–1826). Damit deren Kinder
aus erster Ehe die Schulen Aaraus besuchen konnten, kehrte das Paar dorthin zurück.
Nun übernahm Rudolf die Verwaltung der bayerischen Güter. Nachdem er 1805 seine
Frau verloren hatte, heiratete er Gruners uneheliche Tochter Marie. Deren Lebensdaten
sind nicht bekannt, doch war sie kaum älter als ihre Stiefsöhne. Gruner kaufte Rudolf
vier Schwaigen (Viehzuchtbetriebe) ab, die dieser im Gegenzug von ihm pachtete.
Ein ehrgeiziges Buchprojekt und eine neue Fabrik
Titelblatt des ersten Bandes der »Naturlehre«,
die Rudolf dem König von Bayern widmete und
1806–1808 in Aarau herausgab. Nach dem
Erscheinen von vier Bänden musste er das ehrgeizige Projekt aus finanziellen Gründen aufgeben. Bayerische Staatsbibliothek München, BHS
II H 15-1,1.
Rudolfs ganze Leidenschaft aber galt
den Naturwissenschaften. Seit 1790
hatte er einschlägige Bücher zusammengekauft. Nun widmete er dem eben
zum König von Bayern erhobenen Kurfürsten Max Joseph eine Enzyklopädie
der Chemie mit dem Titel »Systematische Darstellung aller Erfahrungen in
der Naturlehre«. Sie wurde von vier
deutschen Wissenschaftlern redigiert,
die beim Schriftsteller Heinrich
Zschokke auf Schloss Biberstein einquartiert waren, und 1806–1808 in Aarau gedruckt.
Als sich auf den bayerischen Gütern Verluste häuften, entzog Vater
Meyer dem Ältesten 1807 deren Verwaltung. Rudolf kehrte darauf nach Aarau zurück,
um das Buchprojekt zu retten. Da das ehrgeizige Unternehmen aber seine finanziellen
Möglichkeiten überstieg, konnten nur vier von zwanzig geplanten Bänden fertiggestellt
werden. Marie scheint schon vorher gestorben zu sein. Ihr Vater Gruner strengte 1808
einen Prozess gegen seinen einstigen Freund an, weil ihm dieser den Pachtzins für die
erwähnten Schwaigen schuldig blieb. Im selben Jahr musste Vater Meyer das Schlössli
verkaufen.
Jérôme hielt in dem Familienstreit zu Rudolf und gab diesem 1809 seine sechzehnjährige Stieftochter Luise Vinnassa (1793–1859) zur Frau. Auch kaufte er ihm die Villa
ab, so dass Rudolf dahinter um 1810 eine neue Fabrik bauen konnte. Diese nutzte mit
Hilfe eines riesigen unterirdischen Wasserrads die Energie des Wassers in den Meyerschen Stollen, doch war der Zufluss dafür oft zu gering.
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Nach der Erstbesteigung der Jungfrau droht der Konkurs
Rudolf, Jérôme und zwei
Walliser Gämsjäger waren
die ersten Menschen, die in
der Schweiz einen Viertausender bestiegen. Die Aufnahme zeigt Bergsteiger mit
historisierender Ausrüstung
anlässlich der Jubiläumsfeiern von 2011. Foto: visualimpact.ch | Thomas Senf.
Rudolf war für seine
Körperkraft
bekannt.
Wie schon ihr Vater gehörten er und Jérôme zu
den Pionieren des Alpinismus.
International
bekannt wurden die beiden Brüder, als sie 1811 mit zwei Walliser Gämsjägern die
Jungfrau und damit als erste Menschen in der Schweiz einen Viertausender bestiegen.
Im erwähnten Jahr verkaufte Vater Meyer dem Ältesten Warenlager, Guthaben, Fabrikgerätschaften und Webstühle. Auf Rudolfs künftiges Erbe Rottenbuch und Steingaden
aber nahm er eine Hypothek auf, die den Wert der Güter überstieg.
1812 veräusserte Vater Meyer sein bisheriges Wohnhaus sowie seine ehemalige
Fabrik und erwarb als Alterssitz und als künftiges Erbe des Sohnes Fritz das Haus Pelzgasse 15. Mit Rudolfs Zustimmung trat er Polling an Jérôme ab, der dorthin zurückkehrte und auch die Führung des Prozesses mit Gruner übernahm.
1813 starb der Vater. Um der Familienehre willen beglich Rudolf die auf Rottenbuch und Steingaden lastenden Schulden. Vom Vater übernahm er auch die Sorge um
Joséphine (1806–1881), die uneheliche Tochter seines missratenen Bruders Johann
Heinrich genannt Henri (1774–1809), der 1809 in Bordeaux gestorben war. Rudolfs
gleichnamiger Sohn, den wir fortan Dr. Meyer nennen, promovierte mit einer mineralogischen Dissertation an der Universität Tübingen zum Doktor der Medizin. Gleichzeitig
veröffentlichte er ein anderes Buch, in dem er den politischen Ansichten des Vaters und
des Grossvaters entgegengesetzte Auffassungen vertrat. Sein Bruder Gottlieb ergriff
den Kaufmannsberuf und erhielt später – wohl als vorgezogenes Erbe – die Firma.
Jérôme wurde für seine Verdienste um die bayerische Landwirtschaft 1814 in den
erblichen Adelsstand erhoben. Fritz, der einige Zeit bei seiner Schwester Suzette Hunziker in Paris verbracht hatte, wurde Sekretär der aargauischen Regierung. 1815 heiratete
er die sechzehnjährige Aarauerin Luise Reift (1799–1831). Im gleichen Jahr erschien
eine Biografie Vater Meyers. Darin stilisierte Kantonsschulrektor Ernst August Evers
den Verstorbenen zum Tugendhelden. Was nicht den Idealvorstellungen der Restaurationszeit entsprach, liess er weg. Auch Meyers Kinder erwähnte er mit keinem Wort.
1816 verlor Jérôme den Prozess gegen Gruner. Vom Konkurs bedroht, musste Rudolf Rottenbuch und Steingaden unter dem Wert verkaufen. Trotzdem unterstützte er im
Hungerjahr 1817 die Armen. Dr. Meyer verheiratete sich unter Verzicht auf sein Bürgerrecht mit einer Tante – genauer gesagt einer Halbschwester seiner Mutter – und liess
sich in Konstanz nieder. Jérôme verkaufte Polling 1818 einem Neffen seiner Stiefmutter, Major Samuel Abraham von Renner. Dieser Vetter des Dichters Eduard Mörike
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hatte wie Frau Meyers Halbbruder General Sigmund Freiherr von Renner dem Hause
Österreich gedient. Er war ein Musterlandwirt, musste Polling aber 1843 einem Gläubiger überlassen. Die Villa in Aarau veräusserte Jérôme 1818 an Rudolfs Sohn Gottlieb.
Gleichzeitig erwarb er Ammerland am Starnberger See (in der Nähe von München).
Auf diesem einsam gelegenen Schlossgut hatte sich zuvor ein zum Tod verurteilter Getreuer Napoleons, Graf Lavallette, versteckt. Wollte Jérôme dort dem verschuldeten
Rudolf Zuflucht gewähren, so wie Gruner 1812 Vater Meyer Asyl auf seinen Schwaigen angeboten hatte? 1819 beabsichtigte Fritz, dem Halbbruder Ammerland abzukaufen
und mit seiner Familie sowie seiner Mutter dorthin zu ziehen. Doch der Erbonkel seiner
Frau, Stadtammann Reift, verbot ihm dies.
Als Falschmünzer im Zuchthaus
Falsche Sechskreuzerstücke
des Grossherzogtums HessenDarmstadt, wie Rudolf sie
herstellte. Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main.
Aufnahme: Uwe Dettmar.
Irgendwann
zwischen
1807, als der Kanton
Aargau
neben
dem
Schlössli eine Münzstätte einrichtete, und 1820
begann Rudolf, Geld
süddeutscher Fürsten zu
fälschen. Neben finanziellen könnten dabei auch
politische Motive eine Rolle gespielt haben. Der Familie kann Rudolfs Tun nicht unbekannt geblieben sein.
Unter welchen Umständen Rudolf starb, hielt man aus falsch verstandenem Lokalpatriotismus fast 200 Jahre lang geheim. Wie ich 2011 nachweisen konnte, wurde er
1820 in Karlsruhe der Falschmünzerei überführt und verhaftet. Ein Fluchtversuch blieb
erfolglos. In die Hauptstadt des Grossherzogtums Baden war Rudolf wohl übersiedelt,
um seinen Gläubigern zu entfliehen. Die in der Schweiz herrschende Zensur unterdrückte die Nachricht von der Verhaftung. In ausländischen Zeitungen dagegen wurde
darüber berichtet, am detailliertesten vom Stadtamt Karlsruhe und vom württembergischen Ministerium des Innern. Die entsprechenden Akten sind verschollen, mögliche
Sekundärquellen wie Privatbriefe Dritter noch nicht ausgewertet.
Dr. Meyer kehrte 1821 nach Aarau zurück und wurde Kantonsschullehrer. Jérôme
verkaufte Ammerland und lebte fortan in München. Rudolf wurde 1822 zu drei Jahren
Zuchthaus verurteilt. Seine junge Frau zog zu ihrer Mutter nach München. Damit sie ihr
Vermögen nicht verlor, liess sie sich scheiden. Sie behielt aber den Namen ihres Mannes und heiratete nicht wieder. Gruner kam 1824 auf dem Weg zu seinen Schwaigen
ums Leben – offiziell war es ein Verkehrsunfall, doch gab es auch Indizien für einen
Mord. Der Bauherr der Meyerschen Stollen starb laut seinem Zeitgenossen Staatsarchivar Franz Xaver Bronner 1825, also im Jahr, in dem er freigekommen wäre. Sein
Freund Ludwig Thilo schrieb 1829: »Dieser tugendhafte und enthaltsame Mann war
voller Begeisterung für die Wissenschaften und glaubte, das geltende Recht sei nichts
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anderes als das Recht des Stärkeren; vielleicht wurde er das Opfer dieser Meinung?«
(Aus dem Französischen.)
Das Schicksal der Nachkommen und der Hinterlassenschaft
Als Grundlage seiner »Naturlehre« hatte Rudolf gegen 40 000 Bücher erworben. Der abgebildete Katalog umfasst 458 Seiten und erschien erstmals 1827 in
Aarau. Dr. Meyer musste die Bibliothek seines Vaters
1831 in Schaffhausen versteigern lassen. Aufnahme:
Verfasser.
Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1823
verkaufte Fritz das Haus an der Pelzgasse
und zog nach Bern, wo er von seinem Vermögen lebte und sich Hobbies wie dem Entwerfen von Stickmustern widmete. Von seinen Kindern wurde Friedrich (* 1816) Arzt
und wanderte nach Chicago aus. Luise
(1818–1855) und Leonore (1819–1838) blieben unverheiratet. Cécile (1820–1855) heiratete den Berner Kaufmann König. Fritz starb
1882 in Zofingen. Über die Familie König
gelangte der Nachlass Vater Meyers teilweise in die Bundeshauptstadt.
Jérôme heiratete als 58jähriger Witwer
1828 die 22jährige Arzttochter Sophie Tanner (1806–1872) von Aarau. Das Paar hatte
die Töchter Sophie (* 1829) und Franziska
(* 1831). 1838 investierte Jérôme – möglicherweise im Zusammenhang mit einem frühen Eisenbahnprojekt – in das Gut Unkundenwald bei Uffing. 1844 starb er in München. Seine Tochter Sophie verlor ihren Mann Major Rudolf von Esenwein 1870 im
Deutsch-Französischen Krieg. Franziskas Gatte, der nicht mit ihr verwandte Pfarrer
Matthias von Meyer, wurde als Oberkonsistorialpräsident Oberhaupt der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern.
Rudolfs Söhne überlebten den Vater nicht lange. Nachdem Gottlieb 1829 gestorben
war, gelangten Fabrik und Villa in den Besitz seines Associés Friedrich Heinrich Feer,
eines Sohnes des Brugger Revolutionsführers Jakob Emanuel Feer. Dr. Meyer musste
die naturwissenschaftliche Bibliothek des Vaters, die mit 40 000 Bänden die drittgrösste
im deutschen Sprachraum gewesen sein soll, 1831 in Schaffhausen versteigern lassen.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1833 veröffentlichte er noch mehrere literarische Werke.
Rudolfs Papiere – zum Beispiel seine Korrespondenz mit Gelehrten – und das Firmenarchiv sind bis auf geringe Reste verschollen. Die Familie Meyer verliess Aarau.
Der letzte männliche Nachkomme Vater Meyers, ein bescheidener Hausarzt, starb 1930
in Zürich.
1939 wurde im Park der Villa die Kirche Peter und Paul errichtet und das Gebäude
selber zum römisch-katholischen Pfarramt umgebaut. Dabei kamen Papiere zum Vorschein, die der Hausherr in der Revolutionszeit versteckt hatte, doch sind diese bis heute nicht vollständig ausgewertet. Beim Umbau mauerte man die tempelartige Giebelfront der Villa zu. Im unteren Kellergeschoss wurde teilweise Bauschutt eingebracht.
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Rudolfs Fabrik schliesslich samt der unterirdischen Radstube musste in den 1980er Jahren dem Erweiterungsbau der Hauptpost weichen.
Die Erhaltung der verbliebenen Untertagebauten stellt ein Gebot der Pietät gegenüber einem aussergewöhnlichen Aarauer dar. Um die Öffentlichkeit auf sie aufmerksam
zu machen, wurde 1999 die Interessengemeinschaft Meyersche Stollen gegründet. Die
Stollen können auf Anfrage besichtigt werden. Zudem betreibt und unterhält das Stadtmuseum Aarau im Auftrag der Stadt den 2010 eröffneten »Aufschluss Meyerstollen«
im neuen Bahnhofsgebäude.
Hinweis
Ergänzende Informationen sowie Quellen- und Literaturangaben finden sich in meinen
nachstehenden Aufsätzen:
Von Aarau nach Bayern, Auswanderung und Niedergang der Unternehmerfamilie Meyer, in: Aarauer Neujahrsblätter, 2011, S. 36–69, 2012, S. 97–143.
Die Gastgeber der Helvetischen Gesellschaft, Die Familie Schwachheim-Renner als
Besitzerin von Bad Schinznach und ihre Auswanderung nach Bayern, in: Argovia,
2012, S. 126–179.
Nach dem Ende der Klosterherrschaft – Schweizer Revolutionäre im Pfaffenwinkel, in:
Der Welf (Schongau), 2013, S. 69–192 (am ausführlichsten), Aargauer Kantonsbibliothek AKB AG 2465, Staatsarchiv des Kantons Aargau STA Ah MEY 15.
Zürich, 14. September 2015
Kontakt: [email protected]
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