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Deutscher AnwaltSpiegel
6 // Steuerrecht/Umsatzsteuer
Ausgabe 10 // 20. Mai 2015
Auf die objektiven Umstände kommt es an
BFH: Warenbewegte grenzüberschreitende Lieferungen im Reihengeschäft – Gravierende Folgen für die Praxis
Von Peter Fabry und Karl Ober, LL.M.
Die Fälle
© KatarzynaBialasiewicz/Thinkstock/Getty Images
Der BFH hat am 08.04.2015 zwei wegweisende Urteile
zur Ermittlung der warenbewegten Lieferung im Reihengeschäft veröffentlicht (Az. XI R 30/13 und XI R 15/14).
Dabei hat der XI. Senat in der Entscheidung XI R 15/14 im
zweiten Rechtsgang zu der Rechtssache Vogtländische
Straßen-, Tief- und Rohrleitungsbau GmbH Rodewisch
(VSTR, XI R 15/14) entschieden, dass bei Reihengeschäften
die Prüfung, welche von mehreren Lieferungen über ein
und denselben Gegenstand in einen anderen Mitgliedsstaat steuerfrei ist, anhand der objektiven Umstände
und nicht etwa anhand der Absichtsbekundungen der
Beteiligten zu erfolgen hat. Für die Bestimmung der bewegten Lieferung kommt es demnach entscheidend darauf an, wann der erste Abnehmer (mittlere Unternehmer) dem letzten Abnehmer die Verfügungsmacht an
dem Liefergegenstand verschafft. Dies gilt selbst dann,
wenn die Beförderung oder Versendung (Transport)
durch den letzten Abnehmer in der Reihe erfolgt. Die
deutsche Praxis hatte bislang maßgeblich auf den Transportauftrag abgestellt. Dieser verliert durch die jüngste
Rechtsprechung daher an Gewicht. Für grenzüberschreitende Reihengeschäfte haben die Entscheidungen de
facto tiefgreifenden Einfluss und stellen die Praxis auf
eine Bewährungsprobe.
Entscheidend ist der Zeitpunkt, zu dem der letzte Abnehmer
die Verfügungsmacht an der Ware erhält.
Hintergrund
Seit dem Ergehen der EuGH-Entscheidungen in den
Rechtssachen Euro Tyre Holding (C-430/09) und VSTR
(C-587/10) wurde rege über die Frage nach den entscheidenden Kriterien zur Ermittlung der bewegten und steuerfreien Lieferung bei grenzüberschreitenden Reihengeschäften diskutiert. Als Kriterien kamen dabei in Frage:
• Die Mitteilung des ersten Abnehmers an den ersten
Lieferer, dass er die Ware weiterverkauft.
• Die Verwendung einer bestimmten USt-IdNr.
• Der Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht an den letzten Abnehmer.
In der Rechtssache XI R 15/14 hatte der BFH über einen
Fall zu entscheiden, in dem der erste Abnehmer den
Transport der Ware beauftragt hat. Eine deutsche GmbH
(A) verkaufte zwei Maschinen an ein US-amerikanisches
Unternehmen (B). B teilte A auf Anfrage lediglich die
Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-IdNr.) eines
finnischen Unternehmens (C) mit, an das er die Maschinen weiterverkauft habe. Die Maschinen wurden von einer von B beauftragten Spedition bei A abgeholt und zu C
nach Finnland verschifft. Das Finanzamt behandelte die
Lieferung des A nicht als steuerfrei, weil B keine USt-IdNr.
eines Mitgliedstaats der EU verwendet habe. Nach Ansicht des im Rechtsgang – auf Vorlage des BFH – mit dem
Streitfall befassten EuGH (vom 27.09.2014, C-587/10) ist
bei Reihengeschäften regelmäßig die (erste) Lieferung
von A an B steuerfrei, es sei denn, dass B dem C bereits
die Verfügungsmacht an der Ware verschafft hat, bevor
diese das Inland verlassen hat, was anhand aller objektiven Umstände des Einzelfalls und nicht lediglich anhand
der Erklärungen des B zu prüfen sei. Da im Nachhinein
nicht mehr ermittelt werden konnte, wann B dem C die
Verfügungsmacht verschafft hatte, gab das Finanzgericht der Klage (im zweiten Rechtsgang) statt.
Im Urteil XI R 30/13 ging es um einen Fall, in dem der
letzte Abnehmer (C) den Transport der Ware beauftragt
hat. Zu welchem Zeitpunkt C die Verfügungsmacht 
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an der Ware erlangt hat, muss das Finanzgericht noch in
einem zweiten Rechtsgang klären.
Die Entscheidungen
In der Sache XI R 15/14 bestätigte nun der BFH, dass bei
Reihengeschäften die bewegte Lieferung anhand der
objektiven Umstände und nicht anhand der Verpflichtungen und Absichtsbekundungen der Beteiligten zu
bestimmen ist – trotz der für die Praxis existierenden
Schwierigkeiten; allerdings können abweichende Erklärungen des Erwerbers im Rahmen der Prüfung des Vertrauensschutzes (§ 6a Abs. 4 Satz 1 UStG) von Bedeutung
sein.
Ganz zentral stellt sich daher die Frage nach dem
Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht an
den letzten Abnehmer (C). Die bewegte Lieferung ist
somit anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls zu
bestimmen. Entscheidend ist der Zeitpunkt, zu dem der
letzte Abnehmer (C) die Verfügungsmacht an der Ware
erhält. Erfolgt dies bereits im Inland, ist die Warenbewegung der zweiten Lieferung (B an C) zuzuordnen. Geht
die Verfügungsmacht erst im Anschluss an die grenzüberschreitende Warenbewegung – also im Ausland –
über, ist die erste Lieferung (A an B) die bewegte Lieferung. Eine Mitteilung des ersten Abnehmers B an den
ersten Lieferer (A), die Ware weiterverkauft zu haben, ist
aus Sicht des XI. Senats irrelevant.
Dies soll selbst dann gelten, wenn der letzte Abnehmer (C) den Transport der Ware vornimmt oder beauftragt. Auch hier ist entscheidend, wann dem letzten
Abnehmer die Verfügungsmacht verschafft wurde. Der
Transportauftrag ist nicht allein entscheidend. Dies steht
im Gegensatz zu Abschnitt 3.14 Abs. 8 Satz 2 Umsatzsteu-
er-Anwendungserlass (UStAE), welcher einzig auf den
Transport abstellt. Transportiert der letzte Abnehmer die
Ware, ist die Warenbewegung – nach Verwaltungsauffassung – der zweiten Lieferung (B an C) zuzuordnen.
Nach Auffassung des BFH ist diese Regelung nicht mit
der EuGH-Rechtsprechung vereinbar.
Für den Fall, dass der Transport durch den mittleren
Unternehmer (B) erfolgt und nicht aufklärbar ist, wann
der letzte Abnehmer (C) die Verfügungsmacht an der
Ware erlangt hat, greift die Vermutungsregelung des § 3
Abs. 6 Satz 6 Umsatzsteuergesetz (UStG). Danach gilt die
erste Lieferung (A an B) grundsätzlich als die bewegte
Lieferung. Die gesetzliche Vermutung gilt laut dem XI.
Senat auch dann, wenn der Transport durch den letzten
Abnehmer (C) erfolgt und nicht aufklärbar ist, wann diesem die Verfügungsmacht verschafft wurde.
sondere der Umstand, dass der BFH eine umfassende
Würdigung aller Umstände des Einzelfalls fordert, sollte
die Praxis auf die Probe stellen. Denn nach Einschätzung
des BFH soll dabei auch relevant sein, was die Parteien vertraglich vereinbart und später tatsächlich gelebt
haben. So ist es bei der Prüfung eines möglichen Vertrauensschutzes – nach Auffassung des BFH – ein Indiz,
wenn alle Beteiligten fremde Dritte sind und übereinstimmend eine der Lieferungen als warenbewegt behandeln. Nicht zuletzt deshalb sollten Unternehmer bereits
heute ihre Verträge und andere Dokumentationen überprüfen und gegebenenfalls unter Berücksichtigung der
F
jüngsten Rechtsprechung anpassen.
Anmerkungen
Die praktischen Folgen aus den beiden Urteilen sind
gravierend. Die Steuerfreiheit der zweiten Lieferung
wurde in der Praxis häufig dadurch herbeigeführt, dass
der Transport durch den letzten Abnehmer erfolgt ist.
Diese Handhabung dürfte nach Auffassung des XI. Senats hinfällig sein. Die bisherige Verwaltungsauffassung
gilt zwar vorerst weiter. Allerdings wird hier sicherlich
demnächst eine entsprechende Anpassung notwendig
werden. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass Gerichte
an diese nicht gebunden sind; dies trägt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit bei.
Das Hauptkriterium zur Ermittlung der warenbewegten Lieferung sollte künftig die Verschaffung der Verfügungsmacht an den letzten Abnehmer darstellen, also
die Verschaffung von Substanz, Wert und Ertrag. Insbe-
Peter Fabry,
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht,
­Steuerberater, Partner,
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, München
[email protected]
www.luther-lawfirm.com
Karl Ober, LL.M.,
Steuerberater, Dipl.-Betriebswirt (FH),
Senior Associate,
Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, München
[email protected]
www.luther-lawfirm.com