Ron Winkler - Aargauer Literaturhaus Lenzburg

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Die kleinen Dinge.
Die wichtigen Dinge. Schauen, ob sich die Meise, die das in Sprengeln durch die Hecke
fallende Sonnenlicht einsammelt, an den nach dem Sturm wieder aufgestellten Stühlen stößt.
Überlegen, was passieren könnte, wenn eine Amsel sich mit meinem schwarzen Schirm deckt,
den die Fensterscheibe als Irrung nach außen auf die Terrasse projiziert.
Fliegt der Schirm weg? Spannt sich die Amsel auf?
In der Lyrik würde sich die Amsel an sich selbst stoßen, unerzählt und schwarz wie ein
Waldrapp.
Ich schaue mit geschlossenen Lidern in die untergehende Sonne.
Besser: Ich schaue vor die Sonne. Und ich bin in einem Pink, das aus einem Höchstpink
abstrahlt. Und ich sehe ein Orange, das viele Orange findet. Und ich fächere mit einer Hand
vor den Augen hin und her, dass es dunkler wird im Lidraum. Eine infraviolette Doppelsonne
nimmt ihn ein, diagonal von hellen Ganglien durchzogen, Adern eines Flussdeltas, das bei
Ebbe Licht führt.
Die Meise macht sich in der Hecke breit. Macht sich schmal und bestimmt doch meine
Nachrichten zwischen sieben und acht Grad.
Vögel der Kategorie »Sonstige« machen sich auf mir merkwürdige Weise im Kieselbett des
merkwürdigerweise den Garten querenden Wegs zu schaffen.
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Der Gärtner kommt, sobald das Nachtblut der Vögel wieder warm wird.
Er setzt noch Reif an.
Greift in den Teich, der leise Frosch bleibt leise.
Andere Pflanzen kenne ich nicht.
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Ich rufe mich selbst auf, zum Schreiben. Aber eine ganze Stunde verfällt, bevor ich reagiere.
Der Komposthaufen dafür ist groß wie eine Schweiz.
Es hilft auch nicht, die gespreizten Hände vor den Augen hin und her zu fächern.
Aber es hilft auch nicht, es nicht zu tun.
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Ich weiß jetzt, der Gärtner wollte die Fische füttern, die es seit einem Jahr schon nicht mehr
gibt.
Durch ein Blatt Papier betrachtet seh ich ihn einen kleinen Nebel vom Grundstück laufen.
Den halben Tag lang senden Elstern ihr Schwarzweißprogramm.
Die Finken, die sich in derselben Satzkonstruktion befinden, müssen das mit ansehen.
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Sollte der Gärtner wiederkommen: Ich werde ihm ein Schneckchen schlagen.
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Ich werde. Ich will. Ich wollte. Texte aufschlagen. Sie aus der Fremde ins Verformte tragen.
Sie einnorden und mich selber umsüden dabei, nicht versündigen, jedoch verfremdlichen,
samt Berg und Tal. Ich habe. Ich hatte. Ich konnte. Das.
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Manchmal konnte ich auch nicht, aber manchmal konnte ich. Die Schiebetür öffnen und
frisches Gedicht atmen. Den Garten zu einer schönen Schriftart redigieren. Mit dem in einem
Zug gefundenen Regenschirm durch ein metaphorisches Tief laufen. Und hochkommen bis
zum Ende eines Textes. Das immer das Datum ist.
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1. April und 6. April. Und der 5. ebenso, als Materialbeschaffungspfad
15. und 17.
Und dann der Mai, und dann der Juni
Der 12. Juni, nur zum Beispiel
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Machen, mokieren, monieren.
Und dann noch ein »Lenzburg« neben dem Tag errichten, in der Datei, die zu mir führt und
von mir weg. Lenzburg des »Manche baden in den Taxis in den Tränen / der zu weit
Gereisten.«
Ich bin das nicht. Der Gärtner ist es nicht. Aber von mir taxiert bekam der Garten plötzlich
Taxis.
Taxis der Kategorie »Taxi«. In Texten der Kategorie »vielleicht.« In denen es um Orte ging
und geht. Mir und sich selbst vielleicht auch.
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Also: Orte sind wichtig. Sie formen, verformen sich, bleiben in all ihrer Präsenz gleichwohl
zumeist recht vage.
Seit über einem Jahr fasziniert mich die Idee von Texten, die im Kern so funktionieren wie
Karten, die man schreibt.
Wo sich ein Ich, das selbst hoch instabil erscheint, der Welt annimmt.
Im Ansatz unschuldig und wahrnehmungsgestimmt, kann das Festgehaltene extreme
Haltungen einnehmen.
Notathaft oder blühend wie ein vom Stipendiaten verlassener Garten. Der Blick kann quasi
ethnologisch sein oder verspielt und privatistisch.
Das Unverstandene kann aufs Schönste blühen und zugleich kann einem das Korrumpierte
den Atem nehmen.
Und obwohl die Karten simulieren, einen Ort zu haben, die Welt zu verstehen,
sind sie doch oft nur Resultate von Ortlosigkeit und Ortediffusion.
Mich reizt das Hybride sehr: das Beschreibungsoffene, wo sich Emphase und Naivität,
Kulturenkonflikte und Kolonialisationsromantik miteinander verschränken.
Süßlichkeit und Daseinswucht, Cluburlaub und Aleppo.
Es ist ein Stöbern und Postulieren, das zugleich das Wunder innigen Erlebens
und Fasziniertseins wie auch das Brutale bestimmter Gegenwart erfahrbar macht.
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Lenzburg hat seinen Teil dazu beigetragen. Seinen Garten. Berg und Tal.
Ron Winkler, 2015