DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN KOPFLOHN In Anna Seghers Roman von 1933 wird die Geschichte des jungen Leipziger Arbeiters Johann Schulz erzählt. Bei einem sogenannten Hungeraufmarsch hat er einen Polizisten getötet und ist zu Verwandten in ein Dorf im Rheinhessischen geflohen. - Das ganze spielt am Ende der Weimarer Republik, die deutsche Bevölkerung leidet noch an den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 und die Arbeitslosenzahlen sind auf über sechs Millionen gestiegen. Johann befindet sich in großer Gefahr, da sein Steckbrief in der naheliegenden Kreisstadt hängt: 500 Reichsmark sind für seine Ergreifung ausgeschrieben. Kleinbauern wie Andreas Bastian, bei dem Johann unterkriecht, und quasi als Knecht einzig für Kost und Logis arbeitet, wissen sich kaum über Wasser zu halten. Der Eine kann sich die Wasserpumpe nicht mehr leisten, dem Anderen wird die Zentrifuge abgeholt, weil er die Raten nicht bezahlen kann. Arbeiten bis zum Umfallen und der dauerhafte Hunger machen die Leute hart und mitleidlos. Im Handlungsverlauf wird deutlich wie es den Nazis gelingt, vor allem die Jugend für die SA und dann auch die Bauern von ihrer Ideologie und ihren Versprechungen zu überzeugen. Die ersten Bauern entdecken das Plakat, doch sie zeigen ihn zunächst nicht an, die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. ZU ANNA SEGHERS Seghers geboren 1900 als Netty Reiling wuchs in Mainz auf. Sie studierte u.a. Kunst-und Kulturgeschichte in Heidelberg und lernte dort den Kommunisten Laszlo Radvanyi kennen. Ab 1927 veröffentlichte sie zahlreiche Erzählungen und erhielt für GRUBETSCH und AUFSTAND DER FISCHER VON ST. BARBARA den Kleistpreis. Sie gab sich den Schriftstellernamen Anna Seghers und trat 1928 der KPD bei. Den Roman DER KOPFLOHN hat sie im Exil verfasst, sie emigrierte bereits im Frühjahr 1933 mit ihrer Familie nach Frankreich, da sie als Jüdin und Kommunistin doppelt bedroht war. Sie verbrachte fünfzehn Jahre im Exil, in dem sie fünf Romane und zahlreiche Erzählungen veröffentlichte und sich auch publizistisch am antifaschistischen Kampf beteiligte. 1942 erschien ihr wohl berühmtester Roman: DAS SIEBENTE KREUZ zu diesem Zeitpunkt befand sie sich im Exil in Mexiko aus dem sie 47 nach Deutschland zurückkehrte. Sie zog mit ihrer Familie nach Ost-Berlin und engagierte sich in der DDR für die Förderung junger Schriftsteller. Erst 1962 erschien das 7. Kreuz in der BRD, 1981 wurde Anna Seghers Ehrenbürgerin der Stadt Mainz, 2 Jahre später verstarb sie in Berlin. ZUR BEARBEITUNG Dirk Laucke hat die Struktur des Romans und die sehr unterschiedlichen Figurentypen genau analysiert und anschließend zu einem Drama bearbeitet, ohne groß in die Geschichte und die Handlungsabläufe einzugreifen. Dabei musste er natürlich aus einem ganzen Dorf und vielen Figuren aus den umliegenden Dörfern und der Kleinstadt eine für das Theater machbare Besetzung zusammenfassen. Dabei ist ein Stück für 14 Schauspieler und einer Kinderstatistin entstanden. Interessiert hat ihn bei dem Text hauptsächlich das, was den Menschen entscheiden lässt – wie er sich in Ausnahmesituationen verhält. ZU DIRK LAUCKE Dirk Laucke, Jahrgang 1982, wuchs in Halle auf und lebt heute in Berlin. Er brach sein Psychologiestudium ab, um von 2004 bis 2008 den Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin zu absolvieren. Mit dem Stück alter ford escort dunkelblau wurde er 2007 in der Kritikerumfrage von "Theater heute" zum Nachwuchsautor des Jahres ernannt. Er hat u.a. den Kleistförderpreis gewonnen und ist in diesem Jahr zum 3. Mal für MÜHLHEIMER DRAMTIKERPREIS nominiert. DRAMATURGEN DES STAATSTHEATERS MAINZ ERLÄUTERN DER WEG ZUM STÜCK Die Themen Nationalsozialismus, Gruppendynamik und Ausgrenzung beschäftigen Dirk Laucke in seinen Theaterstücken schon sehr lange. Seine bisherigen Arbeiten sind von einer sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen geprägt: auf der einen Seite entwickelt er seine Stücke aus den Ergebnissen einer intensiven Recherche zu unterschiedlichen Themen heraus, er bearbeitet dokumentarisches Material, wobei ihn das Thema Faschismus schon sehr lange begleitet. Auf der anderen Seite verfasst er auch rein fiktionale Romane und Stücke. Als Kind der ehemaligen DDR war ihm Anna Seghers natürlich ein Begriff. Dass die antifaschistische Autorin aus Mainz stammt, war ihm gar nicht so bewusst. Im gemeinsamen Gespräch mit dem Theater entstand die Idee, dass Anna Seghers und er doch eine ganz spannende Symbiose ergeben könnten. Beides politische Autoren, die sich jeder in seiner Zeit mit dem Faschismus auseinandersetzen. Bei Kopflohn faszinierte ihn vor allem das soziale Miteinander der Figuren. Seghers war eine genaue Beobachterin ihrer Zeit. Für den Roman sprach sie viel mit dem Kindermädchen ihrer Kinder, das aus einem rheinhessischen Dorf kam und ihr die Verhältnisse und die große Armut die dort herrschte, schilderte. Ihre fast hellseherischen Fähigkeiten, wie in der Landbevölkerung der Nationalsozialismus Fuß fassen konnte und welche inneren und äußeren Umstände die Menschen in die Katastrophe getrieben hat, faszinierten Laucke bei der Bearbeitung. Des Weiteren wird ein gewisses Versagen der Linken in der Geschichte gezeigt, was Anna Seghers von der kommunistischen Seite einige Kritik einbrachte. Die im Roman geschilderten Absprachen der KPD mit der NSDAP hat es teils tatsächlich gegeben, ebenso die furchtbaren Straßen- und Saalschlachten. Dirk Laucke fand für die Bearbeitung des Romans klare Bilder. Es entstand eine spannende Mischung aus Anna Seghers Sprache und Dirk Lauckes heutigen Blick aus unserer Gegenwart heraus. Geprägt ist dieser Blick natürlich von dem Wissen, das die Entscheidung der Mehrheit der Deutschen für die Politik der NSDAP in die Katastrophe führten musste. Seine zeitgenössische Dramaturgie, die von schnellen Schnitten geprägt ist, verstärkt diesen Blick. INSZENIERUNGSANSATZ In seiner Inszenierung sucht Kade Schmidt nach den einzelnen Entscheidungsmotivationen der Figuren. Werden sie Johann verraten oder nicht. Es geht darum eine historische Momentaufnahme Deutschlands am Ende der Weimarer Republik zu zeichnen, dementsprechend bleibt die Ästhetik der Bühne und die der Kostüme in der Zeit von 1932, auch wenn es Irritationsmomente gibt, wie etwa Möbel, die schief geraten sind und sinnbildlich dafür stehen, dass die Welt aus den Fugen gerät. In Kopflohn wird die Geschichte eines ganzen Dorfes erzählt und dies ist absolut auf heute übertragbar. Eine Gruppe von Menschen neidet einander, steckt in gesellschaftlichen Umbrüchen und arbeitet hart. Dann kommt ein Fremder ins Spiel. Wie gehe ich mit diesen, in der Situation in der er steckt, in die er mich vielleicht bringt, um? Ein Stoff, der auch heute noch als Parabel gelten kann für die Entstehung von Diskriminierung und Gewalt. Seghers und Lauckes Blick auf unsere Gegenwart ist – 70 Jahre nach Kriegsende – maßgeblich. Der Abend dauert ca. 2 Std, es gibt keine Pause Juni 2015 Patricia Nickel-Dönicke Staatstheater Mainz
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