Environmental Exposures and Health Workshop 20. Mai 2015 «Wie können Behörden gesundheitliche Risiken durch Hitzewellen minimieren?» Klima und Gesundheit – Stand der wissenschaftlichen Forschung Martina Ragettli Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit Direkt Klimawandel • Temperatur • Niederschlag • Meeresspiegel Änderung der Ökosysteme Hitzewellen Hitzebedingte Krankheiten und Mortalität Stürme, Überschwemmungen, Massenbewegungen Extremwetter-bedingte Krankheit und Mortalität Pollenproduktion & Allergene Allergien Höhere Schadstoffkonzentrationen (Ozon) Luftbelastungs-bedingte Krankheit & Mortalität Verbreitung Wirte und Vektoren (neuer) Krankheitsüberträger Vektorübertragene Krankheiten Mikrobielle Umwelt Störung von gesellschaftlichen & ökonomischen Systemen 20. Mai 2015 Konflikte, Migration, psychische Gesundheit/Stress Martina Ragettli Infektionskrankheiten Lebensmittelvergiftungen durch verminderte Haltbarkeit Adaptiert von Haines & Patz, 2004, IPCC 2014 2 Warum ist Hitze ein Gesundheitsrisiko? • Der Körper reguliert die Temperatur mittels Schweissproduktion und verstärkter Durchblutung von Haut und Muskeln (Thermoregulation) • Übermässige Belastung und/oder Fehlfunktion dieser Systeme kann zu Überhitzung und Krankheit führen Körpertemperatur 36.1–37.8 ºC Normaltemperatur ab 38°C «Heat Exhaustion» ab 40.6°C «Heat Stroke» Beeinträchtigung physischer und kognitiver Funktionen Zunahme des Risikos für Organschäden, Bewusstlosigkeit, Kreislaufkollaps,Tod IPCC 2014; WHO 2004; WHO 2008 20. Mai 2015 Martina Ragettli 3 Auswirkungen von Hitze auf die Gesundheit (Bevölkerung) Einflussfaktoren Hitze Hitzestress Exposition Hitze (Meteorologie) Hitzebedingte Krankheit Sensibilität gegenüber Hitze Hitze-Tod Zugang medizinische Hilfe «optimales Klima» Gesundheitszustand der Bevölkerung Risikogruppen Adaptiert von Kovats & Hayat 2008 20. Mai 2015 Martina Ragettli 4 Relative Risk (RR) Zusammenhang zwischen Temperatur und Mortalität – Resultate von Zeitreihenstudien «Optimale Temperatur» = Minimum Mortalität ~ obere 25% der Temperaturverteilung Gasparrini et al. 2015, in press; Guo et al. 2014 20. Mai 2015 Martina Ragettli 5 Der Zusammenhang zwischen Temperatur und Mortalität ist regional unterschiedlich Ganzjahresmortalität 1990-2010 (Gasparrini et al. 2015, in press) EU-Studie: Zunahme Mortalität mit Temperatur während Sommermonaten (1990-2000) (Baccini et al. 2008) Mediterrane Städte: 3.1% pro 1°C Zunahme der gefühlten Tagesmaxtemp ab 29.4°C Nordeuropäische Städte: 1.8% pro 1°C Zunahme der gefühlten Tagesmaxtemp ab 23.3°C Zürich: 1.4% pro 1°C Zunahme der gefühlten Tagesmaxtemp ab 21.8°C 20. Mai 2015 Martina Ragettli 6 Die optimale Temperatur und Zunahme der Mortalität ab diesem Grenzwert hängt von verschiedenen Faktoren ab Lokale Jahresdurchschnittstemperatur • Meist höhere Grenzwerte in südlichen Ländern -> Akklimatisierung Sensibilität gegenüber Hitze • Sozioökonomische Faktoren (z. B. Kosten und Verfügbarkeit Klimaanlagen) • Bevölkerungsdichte, Infrastruktur, Demographie Anpassungsreaktionen, Information Bevölkerung • Erfahrung mit Hitze, Public Health Massnahmen Kovats & Hajat 2008; Hajat & Kosatky 2009; Yu et al. 2012, Guo et al. 2014 20. Mai 2015 Martina Ragettli 7 Mit Temperaturen nehmen auch Spitaleinweisungen zu • Betrifft vor allem Personen über 65 Jahre • Atemwegserkrankungen sind die häufigsten Ursachen (EU-Studien) • Weitere Krankheiten: akute Herz-Kreislauf Krankheiten, Nierenkrankheiten • Aber: Nicht alle Studien fanden einen Zusammenhang zwischen Hitze und Spitaleinweisungen aufgrund Herz-Kreislauf-Erkrankungen • Zunahme von Spitaleinweisungen mit Temperatur weniger gravierend als Zunahme Sterblichkeit; erhebliche Zunahme erfolgt meist erst bei Extremtemperaturen • Signifikant erhöhte Spitaleinweisungen bis 7 Tage nach extrem heissen Tag EU Studie Michelozzi et al. 2010; US-Studie: Gronlund et al. 2014 20. Mai 2015 Martina Ragettli 8 Hitzewellen verursachen zusätzliche Todesfälle Jahr Land Anzahl Todesfälle Studie 1995 Chicago, USA ca. 750 während 5 Tagen (Semenza et al. 1996) 2003 Gesamteuropa 70’000 (Robine et al. 2008) 2003 Frankreich 15'000 (+60% gegenüber 2000-2002) (Fouillet et al. 2006) 2003 Italien (21 Städte) 3134 (+15% gegenüber 2002) (Conti et al. 2005) 2003 Schweiz 957 (+7%) (Grize et al. 2005) 2003 Niederlanden 1400-2200 (Garssen et al. 2005) 2006 Frankreich 2065 (Fouillet et al. 2008) • Häufigste Todesursachen: Herz-Kreislauf, Atemweg, Zerebrovaskulär • Mortalität = unmittelbarer Effekt oder mit 1 bis 4 Tage Verzögerung Guo et al. 2014; Kinney et al., 2008; D’Ippoliti et al. 2010 20. Mai 2015 Martina Ragettli 9 Definitionen von Hitzewellen in der Literatur • Ungewöhnlich lange Phase von direkt aufeinanderfolgenden heissen Tagen • Es existiert keine allgemein gültige Definition • Verwendete meteorologische Parameter in der Literatur: Temperatur (Minimum, Maximum, durchschnittliche Tagestemperatur) Kombinationen von verschiedenen Parametern (e.g. Heat Index, gefühlte Temperatur) • Bsp. EU-Studie (EuroHeat): Perioden von mindestens zwei aufeinanderfolgenden Tagen, an denen die gefühlte Tageshöchsttemperaturen (°C) und die Temperaturminima (°C) zu den zehn Prozent höchsten des Monats gehören. D’Ippoliti et al. 2010 20. Mai 2015 Martina Ragettli 10 Eigenschaften von Hitzewellen mit Einfluss auf die Sterblichkeit Intensität & Dauer Bis zu 3x höhere Mortalität bei langen und intensiven Hitzewellen Zeitpunkt im Jahr Erste Hitzewelle im Sommer ist meist die gravierendste Hitzewelle Zunahme der Tagesmortalität während Hitzewellen (1990-2004) D’Ippoliti et al. 2010 20. Mai 2015 Martina Ragettli D’Ippoliti et al. 2010; Lee et al. 2014 11 Welche Bevölkerungsgruppen sind am meisten betroffen von Hitzewellen? • Ältere Menschen -> Grösste Risikogruppe Hitzewelle 2003 in Frankreich: >80% der Todesfälle waren Personen >75 Jahre • Kranke Personen (v.a. kardiovaskulär, Atemwegserkrankungen) • Säuglinge und Kleinkinder • Alleinstehende, sozial isolierte Menschen • Spezifische Berufsgruppen (Landwirtschaft, Bau, Transportwesen) Hajat & Kosatky 2009; Basu 2009, Aström et al. 2011 20. Mai 2015 Martina Ragettli 12 Zusammenhang Temperatur und Arbeitsunfälle Beispiel Adelaide (Australien) 2001-2010 • Zunahme der Arbeitsunfällen (Outdoor Industries) schon bei nicht extrem hohen Temperaturen (Fig. A) • Rückgang der Arbeitsunfälle ab Tages-Maximum-Temperatur von 37.7°C Risiko wird reduziert (Massnahmen, Arbeitstopp) Ausnahme in Berufen, wo Arbeit nicht eingestellt werden kann 37.7°C Xiang et al. 2013; Basagaña et al. 2014 20. Mai 2015 Martina Ragettli 13 Interaktion Temperatur – Luftschadstoffe – Mortalität • Luftverschmutzung (Partikel, Verkehrsabgase, Ozon) = Umweltbelastung mit Auswirkung auf Gesundheit der Bevölkerung (SPALDIA-Studie) • Ozon- und Feinstaubkonzentrationen sind oftmals hoch während Hitzewellen - > Zusätzlicher Risikofaktor • Zusammenhang zwischen Temperatur und Mortalität ist unabhängig von Luftschadstoffen, Mortalität kann jedoch durch z. B. hohe Ozonkonzentrationen verstärkt werden (Basu et al. 2009). Hitze Mortalität Ozon 20. Mai 2015 Martina Ragettli 14 Vergleich hitze- und kältebedingte Sterblichkeit • Zunahme der Durchschnittstemperatur = mehr heisse und weniger kalte Tage • IPCC 2014: Zunahme hitzebedingter Mortalität überwiegt Abnahme der kältebedingten Sterblichkeit • Effekt von Hitze ist stärker als von Kälte (v.a. bei älteren Menschen) • Meta-Analyse von 15 Studien (weltweit, Personen >65 Jahre ) (Yu et al. 2012): 2-5% Zunahme der Mortalität pro 1°C Temperaturzunahme während Hitzeperioden 1-2% Zunahme der Mortalität pro 1°C Temperaturabnahme während Kälteperioden WHO 2004 20. Mai 2015 Martina Ragettli 15 Anpassung – Ja oder Nein? PRO Temperatur-Moralitätskurven variieren zwischen klimatischen Regionen = angepasstes Verhalten, technologische Anpassung, langfristige physiologische Anpassung CONTRA Weitere Faktoren erhöhen das Mortalitätsrisiko bei Hitzewellen: • Bevölkerungsdichte in Städten nimmt zu (Wärme-Insel Effekt) • Zunahme von Personen über 65 Jahre (chronisch Kranke) • Zunahme Alleinstehende (ältere) Personen • Hitzewelle = Extremereignisse mit Extremtemperaturen Wie schnell sich Bevölkerungen an höhere Temperaturen, zunehmende Temperaturvariabilität und Zunahme von Hitzewellen (=Extremereignisse) anpassen können ist Hajat & Kosatky 2010; Kinney et al. 2008 unklar. 20. Mai 2015 Martina Ragettli 16 Hitzewelle = Verlagerung der Todesfälle? (Harvesting) Anzahl Todesfälle im Juli & August 1970-2005 in Frankreich ? Toulemon & Magali 2008 20. Mai 2015 Martina Ragettli 17 Harvesting Effect • Mögliche Ursache: Schwache und kranke Personen sterben früher • ABER: Abnahme der Sterblichkeit kann auch andere Ursachen haben • Auftreten eines Harvesting Effekts hängt von verschiedenen Faktoren ab: Temperatur, Dauer Hitzewelle, Anzahl Hitzewellen während Sommer, Gesundheitszustand der Bevölkerung, Interaktionen mit Luftverschmutzung, etc. Beispiel Hitzewelle 2003 in Frankreich: Harvesting Effekt ist für einen kleinen Anteil der «missing deaths» im Sommer 2004 verantwortlich ►Mögliche Ursache für weniger Todesfälle im Sommer sind diverse Public Health Massnahmen (z. B. Registrierung von alleinstehenden Personen) (Toulemon & Magali 2008; Basu et al. 2009, IPCC 2014). 20. Mai 2015 Martina Ragettli 18 Resultate von Evaluationen Massnahmenpläne (Bsp.) • 11.-28. Juli 2006 Hitzewelle in Frankreich • Hitze-Notfallplan in Kraft gesetzt • Prognosemodell basierend auf Sterblichkeit und Sommertemperatur 19752003 Geschätzte zusätzliche Todesfälle: 6‘452 beobachtet: 2‘065 = ca. 4‘400 weniger als erwartet 20. Mai 2015 Martina Ragettli 19 Zusammenfassung • Es besteht ein Zusammenhang zwischen Temperatur und Mortalität • Die Mortalität nimmt ab einer gewissen Temperatur naturgemäss zu • Dieser Grenzwert (optimale Temperatur) ist abhängig vom lokalen Klima sowie weiteren Faktoren (sozio-ökonomische, demographische, Infrastruktur) • Hitzewellen verursachen zusätzliche Todesfälle • Zunahme der Extremereignisse wie Hitzewellen (Intensität, Dauer, Häufigkeit) wird erwartet -> Zunahme der hitzebedingten Todesfälle & Spitaleinlieferungen • Die Mortalität nimmt mit Zunahme der Temperatur stark zu -> grosses Potential für Public Health Massnahmen • Die Forschung zeigt einheitlich: ältere, alleinstehende und pflegebedürftige Personen sind die grösste Risikogruppe 20. Mai 2015 Martina Ragettli 20 Danke für Ihre Aufmerksamkeit [email protected] Quellen Åström DO, Bertil F, Joacim R. 2011. Heat wave impact on morbidity and mortality in the elderly population: A review of recent studies. 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