Hoffmanns Verbrennung - ETA Hoffmann

Hoffmanns
Verbrennung
Schauspiel von
Wolfgang Held
1
Wolfgang Held
Hoffmanns Verbrennung
Schauspiel
Text
Dieser Band enthält den Text des Schauspiels. Die zugehörigen Collagen sind
bereits 2013 unter dem Titel Hoffmanns Verbrennung – 25 Collagen publiziert
worden (mit Vorwort, Synopsis und Erläuterungen von Wolfgang Held).
An den entsprechenden Textstellen wird mit römischen Ziffern auf diese
Collagen hingewiesen.
Herausgeber: Bernhard Schemmel
Umschlag-Reproduktion (Nr. XXI): Gerhard Schlötzer, Bamberg
Gestaltung: Sigrid Strauß-Morawitzky, Stegaurach
Druck: Safner, Priesendorf
Bamberg 2015
2
(Museumshalle nach einem Brand: verrußte Wände; Möbel und Hausrat der
Hoff­mannzeit, z. T. mit Tüchern abgedeckt. Zentral vor der Rückwand, zwischen
schwärzlich klaffendem Türloch (links) und zerbrochenem Eckfenster (rechts) ein
Roll­stuhl, über dem frontal ein mannshoher Bildrahmen lehnt (abgedeckt); links vor
der Seitenwand ein Malergerüst; rechts, nach vorn zu gestaffelt, ein Wandschirm,
ein Punschtopf über Brennuntersatz, eine Wiege (abgedeckt). Im Vordergrund (links),
unter Bedeckung unkenntlich, eine kauernde Figur und Hausrat. Im Proszenium
(rechts) ein kanzelähnliches Stehpult, darauf eine Petroleumlampe, dahinter,
provisorisch abgestellt, ein Kantinenkühlschrank, Marke BOSCH. Unter der Decke
schwingt ein verhängter Vogelkäfig im Luftzug. Über dem Rollstuhl eine bekränzte
Gedenkplatte:
E.T.W. Hoffmann | geb. Königsberg in Preußen | den 24. Januar 1776 | gest. Berlin den
25. Juni 1822. | Kammer Gerichts-Rath | ausgezeichnet | im Amte | als Dichter | als
Tonkünstler | als Maler | Gewidmet von seinen Freunden
I. Akt
Szene 1
(Trübes Licht – Petroleumlampe.
Der Raum scheint menschenleer.)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
(fern) Hoffmann! (näher) Hoffmann?
STIMME HITZIGS/HIPPELS
Hoffmann ist verbrannt.
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Hoffmann – v e r b r a n n t?
STIMMEN JOHANNAS/CHIARAS
Hoffmann ist verbrannt.
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Hoffmann?
STIMME HITZIGS
Er hat sich selbst verbrannt.
STIMME HIPPELS
Der Brand in seiner Brust.
STIMME KOREFFS
Das Feuer in seinen Eingeweiden.
STIMMEN HITZIGS/HIPPELS/
KOREFFS
Die Hölle. Die Zeit. Der Krieg.
STIMME JOHANNAS
Nein! Nein!
STIMME CHIARAS
Die Ärzte haben ihn ins Feuer
gestoßen. Die Bürger. Die Büttel.
STIMME JOHANNAS
Wir müssen ihn herausholen!
ALLE STIMMEN
W i r h o l e n i h n h e r a u s.
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
(sich entfernend)
Hoffmann! Hoffmann?
(Kurzschluss behoben – helles,
kaltes Licht aus einer Glühbirne an
verschmortem Kabel; hinter dem
Stehpult steigt Kustos Kratzer auf.)
3
4
KRATZER (mit Skript)
Als Kustos dieses noch jungen
Museums ist es mir denn auch
eine besondere Ehre, an diesem
Tage, in dieser Nacht den
Bundespräsidenten, den Reichs­
minister für Volks­aufklärung und
königlich kaiserlichen Hofkaplan
der Hoffmanngesellschaft Bam…
(schrilles Läuten)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
(gellend) Das Theater fängt an!
KRATZER (die Störung ignorierend)
… in Bamberg und Bank­
direk­tor Schachweltmeister
Honorarprofessor Primaballerina
und Verteidigungsminister …
PAPAGEI
Bravo! Bravissimo!
KRATZER (jetzt ohne Skript)
Hoffmann zu ehren. Hier an der
historischen Stätte seines Wirkens,
dem früheren Kammergericht, jetzt
neu geschaffenen Stadtmuseum, ist
uns daher und seit jeher …
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Kratzer, du bist ja schon lange tot.
KRATZER (irritiert)
Ich muss mich zunächst für die
kleine Verspätung entschuldigen
– Kurzschluss, ich musste die
Sicherung nachstellen, dann bin
ich auf dem Korridor aufgehalten
worden: unsere Toilettenfrau – hä
hä ulkige Type, hockte da auf der
Schwelle, stopfte ihre Pfeife, Türkin
aus Tokat, und krächzt: ‚Hast
D u die Schlüssel‘ – Ja, natürlich
habe ich die Schlüssel, das ist eine
geschlossene Veranstaltung für
geladene Gäste, und hinter dem
letzten wird abgeschlossen!
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Ich hab dich nur tot gekannt!
KRATZER (lauter)
Wenn einer austreten muss, bitte,
dann schließ ich ihm auf, ‚jaʻ, sagt
sie, ‚Du hast die Schlüssel – dann
schließ uns auf!‘ Hä, hä, schließ uns
auf! U n s! Wer ‚uns‘? Was ‚unsʻ?
Das ist hier eine Gedenkstunde für
Hoffmann – mal was von Hoffmann
gehört? Gespenster-Hoffmann,
Operetten-Hoffmann?
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Die Brühlschen Comödianten …
KRATZER
‚Stecken Sie sofort Ihre Pfeife weg,
Rauchen strengstens verboten!ʻ Und
damit hab ich das Weibchen endlich
verscheucht, wo waren wir stehen
geblieben? Richtig – Hoffmann! Er
bleibt, wie eh und je, der denkbar
beste Patron dieses nun einer
musea­len Bestimmung gewidmeten
Gebäudes …
(Der Strom fällt aus.)
Schon wieder! Nun nur keine Panik,
meine Damen und Herren! Wir
hatten hier gestern ein Schadenfeuer,
ein ersatzpflichtiges Brandunglück
– wir sind zum Glück versichert!
Ich war gerade dabei, (reguliert
die Petroleumlampe) Hoffmanns
Bildnis zu reinigen – das kostbare
Ölbild, von 1820, in dem der reife
Richter und Dichter sich selbst, im
charakteristischen braunen Frack,
auf die fachmännisch grundierte
Leinwand gebannt hat – der Kopf
mit den Karfunkelaugen wächst aus
weiß gefälteltem Jabot …
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
UND DER JOHANNA EUNIKE
Die Brühlschen Comödianten …
KRATZER (wütend)
Hören Sie nicht auf diese Störer!
Das sind Eindringlinge, die sind von
der Abortfrau hier einge­schleppt
worden! ‚Brühlsche Comö­dianten‘!
Ich kenne keine Brühl­schen
Comödianten! Das sind Freizeit­
chaoten, die hier Allotria treiben
wollen. Straßentheater, oder so ähn­
lich, Agitation vom Lastwagen, Kel­
ler­revue, Porno­schau – alles fein!
Zur rechten Zeit! Am rechten Ort!
Aber nicht hier! Dafür hat das dem
Staat, dem Steuerzahler zu viel Geld
gekostet! Das ist hier kein Theater,
wir sind hier ein Museum! Früher
zwar das Kammergericht! Aber
ein Gericht ist ja auch kein Theater,
und ein Theater ist kein Gericht!
PAPAGEI
Bravissimo!
KRATZER
Wo waren wir stehen geblieben?
Richtig – Schadenfeuer! Ich
trug also all den Mauldunst und
Mückenschiss mit meinem Lappen,
Schicht für Schicht, Jahrzehnt um
Jahrzehnt, Epoche um Epoche, ab!
Hob das Antlitz des Verstorbenen
– Hoffmanns! – aus dem trüben
Tümpel des Vergessens – ein
Brunnen ohne Nixen hä hä …
PAPAGEI
Brr! Brr!
KRATZER
Da kam der Herr von der Creditbank, ganz unangemeldet, fuchtelte mit seiner Zigarre herum, und
eh ich michs versah, hatte er die
Terpen­tinflasche umgestoßen, und
hui Funken­flug und Feuerkreis! Es
sprühte und loderte und explodierte
ringsum, und ich rannte zur Tür,
die war verriegelt, und aus dem
Treppenhaus hörte ich ein hämisches Lachen – ‚hä hä, hä hä‘! – und
rings – ein wahrer Holo­caust! In
meiner Not besann ich mich auf die
zwei Küchenjungen, die in Chicago
den Hotelbrand im Kühl­schrank
überleb­ten, ich zwängte mich also
hinein – die Häppchen für die heutige Gedenkstunde waren schon darin
aufgeschichtet! – und überlebte!
(Pause)
KRATZER
Morgen bekommen wir einen
neuen – dieser war eh nicht groß
genug!
(Pause)
Das Inventar konnte zum Glück
großenteils gerettet werden – sein
Pariser Hammerflügel, gebaut von
Erard, achtzehnhundert und vier,
sein Wandschirm mit den fliegenden Katzen, seine Punschterrine,
seine Callotschen Stiche, der geräderte Krankenstuhl, die Partituren, Relationen, Eigenschriften,
Strick­strümpfe, Hüte, Handschuhe,
Laternen, Perspektive, Tintenfässer,
5
Bild I |
| Bild II
6
und nicht zuletzt – dieses Richtpult
(klopft drauf ), von dem aus er über
allerlei Diebe, Notzüchtiger und
Betrüger den Stab brach – Hoffmann selber ist uns leider verbrannt!
(Pause)
Das einzig authentische, uner­setz­
liche, das exotisch zigeunerhaf­te
und doch auch manierlich steif­
leinene – das wohlgetroffene Kon­
ter­fei von eigener Hand – verbrannt!
STIMMEN ALLER COMÖ­DIAN­
TEN
Die B rühlsc he n C o m ö d i an t en
…
STIMME DER JOHANNA EUNIKE
(ruhig)
Wir holen ihn heraus.
KRATZER (brüllt)
Ruhe hier! (geht drohend zum
Türloch, schwenkt die Lampe; Schatten
an den Wänden; keine Eindringlinge
zu sehen; Kratzer wieder ins Publikum).
Ich gehe nur rasch, die Sicherungen
nachstellen! (verhält vor dem Bilder­
rahmen) Hier sehen Sie selbst, was
die Mordbrenner angerichtet haben!
(reißt das Tuch herab). Leergebrannt!
Ein schwarzes Loch!
KRATZER
Der Rahmen wenigstens ist
noch erhalten, vielleicht dass ein
geschickter Restaurator …?
(zieht ein paar Leinwandfetzen herauf,
dann aber resigniert)
Nein – Hoffmann ist v e r b r a n n t !
(Kratzer ab. Hinter dem Rahmen,
aufdämmernd im Krankenstuhl sitzt
HOFFMANN.)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Du kommst der Wahrheit nahe,
Kratzer! Verpuppt im Feuer liegen
wir, bis Psyche sich erhebt, die
Schmach des Irdischen zurücklässt,
und die Töne, die im Blut des
Schmerzes erstarrten, leben auf
und regen sich und sprühen wie
funkelnde Salamander blitzend
empor, und er vermag sie zu
fassen, zu binden, dass sie, wie in
einer Feuergabe zusammenhaltend,
zum flammenden Bilde werden.
(Ein Luftzug fährt in die Tücher über
den Gegenständen; im offenen Käfig
wird der Papagei, links im Vordergrund
eine kauernde Frauengestalt freigelegt,
die auf einer Kiste, umgeben von
ein paar Küchenutensilien, kauert:
Mischa.)
(Schrilles Läuten)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Das Theater fängt an!
Szene 2
(Mischa hebt das Gesicht und beginnt
an einem Strumpf zu stricken.)
MISCHA (monoton)
Gemahl meiniges, nämlich der
Kammer­gerichtsrat Hoffmann,
der Ernst, war mir immer eine
Stütze gewesen, seit nun bereits
zwanzig Jahren haben wir in
einer fortdauernden, wahrhaft zu­
friedenen, glücklichen Ehe gelebt …
PAPAGEI (diskret)
Bravo! Bravo!
MISCHA
… wenn auch lange ohne Bett,
auf Matratze wanziges, hat uns
Gott doch Freude geschenkt und
ein Kind wunderschönes, hat uns
aber auch mit harten, schweren
Lei­den geprüft, und Kind wieder weggenom­men, Cäcilia liebes, im kalten polnischen Winter
eintausend­achthundertsieben ist es
uns weggestorben am Katarrhal­
fieber, wo ich allein bei den Verwandten war in Posen, derweil
Gemahl meiniges lag bei Weibstück
verdammichtes, süß schwatzendes,
im honetten Berlin, hat nichts zu
fressen gehabt und auf den Straßen
Bildchen schmutzige verkauft …
PAPAGEI
Brr! Brr!
MISCHA
… haben wir alle dieses Prüfungen
mit standhaftem Mute ertragen,
auch das viele Umherreisen mit
Vorreiter vor unserem Wagen, der
die Laterne am Rock angebunden
trug, und doch wurden wir umge­
schmissen und schlug es mir Loch
schreckliches im Kopf, aber steht
uns immer der heilige Antonius beiseite, der von Padua, nicht der in der
Wüste, mit nackte Weiber abscheuliche und fliegende Katzen und Teufel
furchtbare, wie sie all­samt der Ernst
hat auf sein Wand­schirm gepinselt,
dass es die Nachbarskinder graust,
wenn sie meine Blumen gießen! Hat
er auch selber sich immer geängstigt
mit seine Gedanken und Visionen, in
der Nacht, wenn er nach mir schrie
und hat geschlottert und geschrien
…
(Hinter dem Stehpult ist der Polizei­
direktor von Kamptz bedrohlich auf­
gestiegen, Hoffmann, darüber entsetzt,
stößt den Bildrahmen von sich.)
HOFFMANN
Mischa! Mischa! da ist er wieder,
der Erzfeind, der Kamptz, und
will mich aufs Rad flechten, der
verfluchte Knarrpanti, ruf mir den
Hippel, wo ist er, der Erzfreund,
hockt er denn immer auf seinen
Gütern, bei seinen Bullenbeißern?
Mischa! Mischa!
MISCHA (ohne Emotion)
So rief er nach mir, des Nachts, und
stand ich auf und setzt’ mich zu ihm
an den Wandschirm und hab gestrickt bis zum Morgengrauen, wo
Gemahl meiniges mit Wuschelkopf
seiniges war gesunken auf Papier,
hat schwarz Klacks gemacht und
Märchen wunderschönes.
Bild III |
Szene 3
(Aus dem Türloch herein: Staatsrat von
Hippel, hohe Stiefel, Umhang, schreitet
pompös zum Pult, wo ihn Polizei­
direktor von Kamptz bereits unge­duldig
erwartet; beide tragen auffällig den roten
Adlerorden.)
KAMPTZ (scharf, bei Erregung stotternd)
Sie sind spät, Herr von Hippel,
ich müsste längst einer Sitzung
des Censur-Collegiums
p- p- p- präsidieren!
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HIPPEL
Halten zugute, Herr von Kamptz, ich
bin trotz meiner langen Beine, im
polnischen Schnee, im preußischen
Schlamm, im Weltenrauch und
Straßenkot und in den Korridoren
Ihres Kammergerichts verschütt’
gegangen!
KAMPTZ (in den Akten)
Was nun den Antrag der Witwe
Hoffmann betrifft und Ihre in dem
mir gütigst mitgeteilten Pro Memoria ausgesprochene Ansicht, dass
eine nachträgliche und zusätzliche
Vergütung für das Wirken des verstorbenen … (rülpst) Pardon!
HIPPEL (ins Publikum)
Ich wusste, dass ich den Freund
nicht wiedersehen würde, es waren
bittere Momente!
KAMPTZ
… des Hoffmann; dass der
Hoffmann, dass die Hoffmann
eine Aufbesserung ihrer Rente
wegen des Wirkens des Hoffmann
in der königlichen ImmediatUntersuchungs-Comission wegen
demagogischer Umtriebe nach der
Ermordung des Geheimen Staatsrats
K- K- K-K–
PAPAGEI
Kotzebue! Da Capo! Kotzebue!
KAMPTZ (außer sich)
Ruhe hier im Gerichtssaal! Ich
lasse räumen, wenn hier nicht Ruhe
herrscht!
(Pause)
HIPPEL
Es waren bittere Momente, schon
mehrere Abende hintereinander
hatte ich den kranken Freund mit
der Absicht besucht, ihn mit der
Nähe meines Scheidens bekannt
zu machen.
HOFFMANN
Hippel, Erzfreund, sprich für sie!
Steh ihr bei!
HIPPEL
Er warf sich im Bette hin und her in
schweren Krämpfen, als habe ihm
der Schmerz die verlorenen Kräfte
wiedergegeben. ‚Du darfst nicht
reisen!‘ rief er und verweigerte mir
die halb erstorbene Hand.
KAMPTZ
Gegen den Antrag der Witwe
Hoffmann, um es k- k- kurz
zu machen, würde ich mich
unbedenklich und aufs bestimmteste
erklären müssen. Der Satz ‚De
mortuis nihil nisi bene‘ kann hier
nicht in Anwendung gebracht
werden. Der Antrag ist abgelehnt!
HIPPEL
Über diesen Toten, meinen ver­
storbenen Freund, haben nicht
S i e mehr zu richten, das wird der
Weltgeist, die Welt –
PAPAGEI
Bravo!
HIPPEL (irritiert)
Eine harte und gänzlich
unbegründete Zurückweisung!
KAMPTZ
Eine angemessene und völlig
gehörige Entscheidung!
HIPPEL
Der Verstorbene opferte seine Kräfte
und Gesundheit im Dienste des
Vaterlands!
KAMPTZ
Defunctus war als Anhänger auf­­
rührerischer Verleger und Beschützer von Terroristen bekannt!
HIPPEL
Als Criminalrichter hat er alle
Untersuchungen mit Umsicht und
Scharfsinn durchgeführt!
KAMPTZ
Als Inquirent hat er verwilderte
Professoren und verführte Studenten
haufenweise exkulpiert!
HIPPEL
Er hat unnötige Tortur verhindert,
wie es das preußische Landrecht
vorschreibt!
KAMPTZ
Er hat unter Verletzung seiner
Amtspflicht und der gebotenen
Verschwiegenheit Institutionen und
Persönlichkeiten des Staates zum
Gespött gemacht!
HIPPEL
Alles nur ausgelassene Laune,
erhöhter Nervenreiz im ersten
Anfang seiner Krankheit! Er war
sich keiner Schuld bewusst!
KAMPTZ
Keiner Schuld bewusst? Der
schmutzige Säufer hat dies alles
doch zur Unterhaltung seiner
Weinhausgenossen in Szene gesetzt!
HIPPEL
Was meinen Euer Exzellenz?
KAMPTZ
Sie wissen sehr wohl, was ich
meine – die Flohgeschichte, mit
der er mich persönlich verleumdet
hat! Hat er doch gar behauptet, ich
stinke!
HIPPEL (ungläubig)
Euer Hochwohlgeboren stinken?
PAPAGEI
Brr! Brr!
KAMPTZ
Man halte sich die Nasen zu, wenn
man in meine Nähe komme! (rülpst)
Pardon!
HIPPEL (vorsichtig nähertretend und
schnüffelnd)
Mir scheint, Sie haben sich die
gute Nase meines abgeschiedenen
Freundes doch zu sehr – zu Herzen
genommen, und keinesfalls, so
dünkt mir, sollten Sie die arme
Witwe diese leidige Nasenaffaire
noch entgelten lassen!
KAMPTZ
Nasenaffaire? Sind Sie von
Sinnen? Eine Staatsaffaire, eine
Verratsaffaire, eine Hochverrats­
affaire, die nicht nur in bösem
Geruche, sondern im V-v-vverruche steht! Was nämlich seine
Majestät von der Staatsdienerschaft
erwarten kann, ist pflichtgemäße
Treu und Ehrfurcht! Den Inculpaten
Hoffmann aber hatten Leichtsinn
und Eitelkeit, Schreibsucht und
Gewinnsucht selbst um den
geringen Grad von öffentlicher
Achtung, den er noch genossen
haben mochte, gebracht, ganz
durch sein eigenes Verschulden!
Die moralische Anrüchigkeit dieses
Mannes unterliegt keinem Zweifel!
Bild IV |
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HIPPEL (geht auf Distanz)
Ich gebe zu, dass es den leitenden
Oberen pflichtwidrig erscheinen
musste, wenn ein Criminalrichter im
Weinhaus aus seinem Wirkungskreis
plaudert, doch hatte er mir – schon
auf dem Totenbette! – in die Hand
versprochen, dass er der Welt durch
einen anderen Wandel beweisen
würde, welche Kraft über sich selbst
noch in ihm wohnte – hätte es nur
der Vorsehung gefallen! Freilich –
zum roten Adlerorden hätt’s dann
wohl doch nicht mehr gereicht!
KAMPTZ
Eben! Und was die so bedürftige
Witwe angeht, so hat sie nach
den mir hier vorliegenden
Rechnungsbelegen noch vom
Juli bis September achtzehn­
hundertzweiundzwanzig den vollen
Gehalt ihres Gatten eingesteckt,
danach wurde auf I h r Betreiben
die Justizoffizianten-Witwenkasse
angewiesen, der Hinterbliebenen
jährlich zweihundert Reichstaler
Witwenpension aufs pünktlichste
auszuzahlen.
HIPPEL
Kärglich genug bestellt der
Tisch, an Sonntagen gewiss kein
Krammetsvogel im Topf!
(Zwei Packer sind mit einem Karren
erschienen, verladen Mischas Habe.
Sie selbst sitzt hinten auf und wird
hinaus­gerollt.)
KAMPTZ
Wohin zieht die Frau?
HIPPEL
Nach Polen, dort lebt ihre Nichte,
dort ist auch das Grab Cäcilias,
ihrer Tochter, hier in Berlin wär sie
nur den Pressionen der Gläubiger
ausgesetzt, den Gerüchten über
den Wandel ihres Gatten.
(Ein Feuerschein dringt aus dem
Türloch.)
KAMPTZ
Und wo. zum Teufel, b-b- brennt
es hier?
HIPPEL (starr vor sich hinsehend)
Atlantis, sein Atlantis …
KAMPTZ
Was? Wo?
HIPPEL (sachlich)
Warschau. Warschau brennt. Das
Palais Mnischek, Hoffmanns
Kultur­­palast, er hatt’ es nach dem
Schadenfeuer achtzehnhundertsechs
auf Kosten der Aktionäre und seiner
Majestät des Königs mit eigenen
Händen renoviert und ausgemalt –
die Flammen sind schon immer um
ihn her gezüngelt – und e r, auf
glü­henden Balken balancierend,
hatte seine Trickkiste stets gerettet,
leider nicht sich selbst – er ist kein
Salamander.
PAPAGEI
Bravissimo!
KAMPTZ (ungeduldig)
Schon damals ist er jedenfalls durch
freche Caricaturen seiner Oberen
übel aufgestoßen (rülpst), Pardon!
Jetzt hat ihn nur der Tod vorm Zorn
des Königs, vor der Strafversetzung
nach Insterburg bewahrt, die Akte
muss nun leider repo-po- poniert
werden. (schlägt unwillig den Aktendeckel zu und versinkt hinter dem Pult.)
PAPAGEI
Bravissimo!
Szene 4
HIPPEL (starr wie oben)
Als ich ihn endlich von der Not­­
wendig­keit des Scheidens überzeugt,
reicht er mir doch noch seine Hand
und sprach vom Wiedersehen und
weinte bitterlich. Wir träumten
ja, auch ohne viele Briefe zu
wechseln, von einer Zukunft, die an
e i n e m Orte uns vereinigt hätte –
unzertrennlich!
HOFFMANN (blickt, wie erwachend,
auf )
Ist es wahr, dass meine Fresken
verbrannt sind im Palais Mnischek?
HIPPEL (starr)
Im Concertsaal brachen die
Wände, im Bibliothekszimmer die
Regale, und die Bronzereliefs und
Blattgeschlinge, Teufelsmonstren,
Meerjungfrauen krümmten sich in
der Glut, und mich selbst, auf einem
Hunde reitend, sah ich, samt dem
Adlerorden schwarz verkohlen –
(sieht an sich hinunter) neckisches
Conterfei!
HOFFMANN
Als ich Dich sehen wollte, auf
Deinen Gütern, in Leistenau,
fielen mich Deine blutgierigen
Bullenbeißer an, zerrissen mir die
Hosen, wenn nicht gar die Haut!
HIPPEL (unbehaglich lachend)
Oh einziger Freund, Du hörst
doch noch, wie scharf ich sie
zurückgepfiffen!
HOFFMANN
Ja, oben an der Treppe standest
Du auf Deinen langen Beinen, ich
hätte Stelzen gebraucht, um Dir und
Deinen Rüden zu entwachsen!
HIPPEL
Dann aber lagen wir einander
hochaufatmend in den Armen!
HOFFMANN
Keineswegs, ich musste, da Dein
Pfeifen nichts gefruchtet hatte, mit
meinem dicken Stocke um mich
schlagen, und war dann wohl zu mit­
genommen, um in Deinem häus­lichen
Zirkel mich noch einzudrängen.
HIPPEL
Gewiss doch habe ich Dich damals
meiner Braut vorgestellt!
HOFFMANN
Die ich aufs innigste hochachte
und der Du nicht zumuten wolltest,
meine Hosen zu flicken.
HIPPEL (erregt)
Ich hätte Dich nicht immer gastlich
empfangen?
HOFFMANN
Die Fenster waren erleuchtet, aber
Du hast die Lücke mir nicht gezeigt,
wo ich, nachdem ich mich durch
zwanzig grimmige Schlosshunde
geschlagen, hätte stehen können.
HIPPEL (kopfschüttelnd)
Ich erinnere mich genau, wir
hielten uns auf der Treppe umarmt!
Minutenlang!
11
| Bild V
12
HOFFMANN
Genau für fünf Minuten – aber nach
I t a l i e n, nach I t a l i e n bist Du
nicht mit mir gereist!
HIPPEL
Italien, ja, Italien, Venezia, Roma,
Napoli, morire, vino rosso, tutti
frutti – ah, zu spät! Finito! Es hat
nicht sollen sein!
PAPAGEI
Da Capo! Da Capo! (krallt sich in
Hoffmanns Schulter fest.)
HOFFMANN
Da Capo, Freund! Es fängt von
neuem an! Zu spät ist nie! Spät ist
es, ja, so spät, dass ich die Hähne
krähen höre, den roten Hahn auf
unserm Dach in Warschau, ich will
den Malerschurz umbinden, das
Gerüst besteigen – d i e s m a l soll
kein F e i n d mir das Konzept
verderben, und kein Feuer, kein
Minister darf mir heut ins Handwerk
pfuschen: Feuerfest das Glück, das
Paradies, in dem für alle Platz ist,
die noch wünschen können. Und
selbst D u, trotz dicken Nebels um
den Blick, wirst die Flamme sehn,
die leuchtet, ohne zu verzehren,
mein Atlantis hier im Hause!
HIPPEL (perplex)
Aber – Du bist an Händen und
Füßen doch gelähmt und – tot dazu!
Zum Glück – sonst schickt der
Kamptz Dich ja nach Insterburg!
HOFFMANN
Der Kamptz, der Bluthund, der
kann lange bellen – der Mond zieht
weiter, nein – der Vicemond, denn
bin ich noch verpuppt im Tod,
so will doch schon ein schöner
Schmetterling heraus und über
schwarze Gründe rasen – ein
Vicekopf, ein Vicekönig, und – sieh
da! Ich hab’ vier Hände plötzlich
wie der Floh! und kann mich mit
mir selbst sehr fröhlich unterhalten!
(Der Doppelgänger wächst aus
Hoffmanns Schulter: es scheint, als
säße im Rollstuhl ein Hoffmann mit
zwei Köpfen.)
HOFFMANN
Da Capo, Theodor!
DOPPELGÄNGER
Al Fine, Ernst!
HOFFMANN
Vom Anfang
DOPPELGÄNGER
Bis zum Ende!
HOFFMANN
Die Schlussakkorde
DOPPELGÄNGER
Erinnern an die ersten Schläge des
Allegros!
HOFFMANN
Wie ein gedämpftes Feuer!
DOPPELGÄNGER
Immer wieder in die Höhe lodert!
HOFFMANN
Das Verhängnis des Ahasver!
DOPPELGÄNGER
Das Geschick des ewigen Juden!
HOFFMANN
Lauf schon
DOPPELGÄNGER
Durchs Gewühl der Welt
HOFFMANN
Ohne Freude
DOPPELGÄNGER
Ohne Hoffnung
HOFFMANN
Ohne Schmerz
DOPPELGÄNGER
Ohne Bedauern
HOFFMANN
Da Capo
DOPPELGÄNGER
Al Fine
HOFFMANN
Durch diese unwirtbare
DOPPELGÄNGER
Trostlose
HOFFMANN
Einöde.
(In diesem Vexierspiel löst sich der
Doppel­gänger von Hoffmann ab,
ersteigt das Malgerüst vor der
linken Seitenwand.
Hoffmann bleibt, im Stuhl
zusammengesunken, sitzen.)
DOPPELGÄNGER (zu Hippel,
während es tagt)
Hier – Warschau achtzehn­hundert­
sechs, h i e r fängt es an, Du
musst jetzt mit mir kommen, wir
wollen aufs Dach steigen unter die
Wetterfahne, die ein lustig Brautlied
spielt, weil der Uhu Hochzeit macht.
Dort wollen wir ringen miteinander
und wer den anderen hinabstößt,
ist König und darf Blut trinken.
HIPPEL
Aber, Freund, ich kann nicht lang
verweilen, denn ich bin es ja, der
Hochzeit macht, die Braut sie
wartet schon auf Leistenau, sechs­
hundertzwanzig Hektar wollen
bewirtschaftet, die schweren
Trakehner­pferde gestriegelt, die
Schafe geschoren und sechstausend
Hühner gefüttert werden, auch muss
ich den Ertrag der Roggenfelder
verdoppeln, die mäßig rentable
Schnapsbrennerei anheizen und
nicht zu vergessen – die Jagd!
mit meinen treuen Knechten und
Hunden, sonst nehmen die Wölfe
und Eber in den Föhrenwäldern
überhand …
DOPPELGÄNGER (bedeckt die
Wand mit Graffitis und Krakeln
aus der Sprühdose)
… und zu Königs Geburtstag Frei­
bier für die Knechte und Sekt für
die Hunde, und deine pausbäckige
Gattin kocht die Brombeeren ein, oh
Freund! Das kann dein Ernst nicht
sein! Hier ist der wahre Meierhof!
Hier im Palais Mnischek! Wir
müssen nur neue Fenster und Türen
einsetzen und die Fassungen der
Wandregale vergolden, sieh: die
ägyptischen Vogelgötter, Phönix,
die Meerfrau und Warschaus
Wappen, und hier – du selbst,
wie du auf einem Köter durch die
Palmenwälder reitest, das Nashorn
und den Tiger jagen …
HIPPEL
Großartig, Freund, du malst ja wie
der Teufel mit dem Sauschwanz,
doch auch ich bin kreativ! Wenn ich
überm Dampf der Braupfanne stehe,
dass mir im Dunst und Wohlgeruch
die ganze Welt im Morgennebel
steht …
13
14
DOPPELGÄNGER
Der dicke Nebel um den Blick –
Schnaps und keine Ideen! Erhabener
Krautjunker, vaterländischer
Wolfs­­jäger, komm nach Warschau,
lass uns Königs Geburtstag im
Konzertsaal feiern, ich dirigiere eine
Beethovensche Symphonie! Und an
den Wänden werden die Feuerlilien
ihre Kelche öffnen, die Affen wer­
den mit den Salamandern um die
Wette tanzen!
HIPPEL
Luftschlösser alles, Blendwerk!
DOPPELGÄNGER
Nein, vom Staate subsidiert, ein
öffentlich verbriefter Kunstverein,
das Sinnenglück, das Geisterglück
befördernd.
HIPPEL
Du weißt, ich bin nicht musikalisch,
die schmachtenden Pinseleien
am Clavier, sie machen mich
schwindlicht und krank.
DOPPELGÄNGER
Du siehst es nicht – das Reich
der Poesie!
HIPPEL
Mehr doch ein Spielcasino …
DOPPELGÄNGER
Ein Spielcasino, wo die großen
Toten Einkehr halten: Der Ritter
Gluck mit seinem Degen, Mozart
mit dem Glockenspiel, der Böhme
mit der weißen Lilie, der Novalis
mit der blauen, und Jaques Callot
und Bosch mit allen Kreaturen des
Antonius … (der Kühlschrank öffnet
sich: die Versuchung des Antonius in
phosphorischem Licht)
HIPPEL
… ein Mausoleum also!
DOPPELGÄNGER
Ein Paradies, wo brünstige Sylphen,
Nymphen, Schlangen Dich
umschlingen und erleuchten!
HIPPEL
Ein Bordell, mir wird ganz
schwulicht …
DOPPELGÄNGER
Eine Bibliothek, die flüsternd Dich
wie Waldesdämmer einschließt!
Und in der Mitte auf dem
Marmortisch ein Punschtopf!
HIPPEL
Ja, ein Weinhaus!
DOPPELGÄNGER
Nein, ein Tempel. Und falls der
Schnapsdunst jemals von Dir
weicht, wirst Du die weiße Lilie
schauen, die aus Schmerz und Blut
und Weltenfeuer mir erwachsen ist!
HIPPEL
Du täuschest Dich, mein teurer
Freund, die zügellose Phantasie wird
Dich noch ganz vergaloppieren!
DOPPELGÄNGER
Und wenn Du nicht das Fürchten
lernst und Staunen, nicht hören,
sehen, fühlen, schmecken willst,
dann wird der graue Papagei auf
Dich herunterfahren und Dir’s
Genick zerhacken, dass das feurige
Blut aus Deinem Halse stürzt!
PAPAGEI (flatternd)
Bravo! Bravissimo! Mordio!
HIPPEL (zurückweichend)
Eine Folterkammer! Dein Atlantis?
Ich bin ja Deine seltsamen Launen
gewöhnt! Ach, einziger Freund, Du
musst mehr Würde zeigen, Deinen
Wandel ändern! Komm zu mir nach
Leistenau, wenn nächstens Dich der
Weg vorbeiführt, und wenn Du meinen Rat brauchst, oder Geld, schreib
mir getrost, adieu, der Postillion
bläst schon zum dritten Mal!
(HIPPEL ab.)
DOPPELGÄNGER
Ah, wär ich nur ein Wolf in Deinen
Föhrenwäldern, ich würd in
Deinen Schafsstall fahren! Deine
rotznäsigen Erben das Fürchten
lehren! (schreit ihm nach)
Wann fahren wir nach I t a l i e n ?
HOFFMANN (sich aufrichtend,
mechanisch)
Du kannst mich nicht verlassen,
das kannst Du nicht, mein einziger
Freund.
(Der Kühlschrank schließt sich.)
Szene 5
(Von draußen, von der Straße, höhnische
Rufe der Gassenjungen:)
NICHT SO HITZIG, ITZIG! ITZIG,
NICHT SO HITZIG!
(Durchs Türloch herein der Collegien­
assessor Itzig, Zylinder, Zeitung, Schirm;
er wischt sich die Stirn, etwas kurzatmig,
aber nicht verstört; er gewahrt sofort
den Doppelgänger auf dem Gerüst, sieht
aber nicht Hoffmann im Krankenstuhl.)
ITZIG
Puh, es regnet schon wieder, und die
Preußen haben die Schlacht bei Jena
verloren, Sie aber malen da oben,
als stünde nicht Napoleon vor den
Toren!
DOPPELGÄNGER
Die Franzosen werden uns nicht
fressen, Itzig, die wollen uns ja
befreien!
PAPAGEI
Hoch Napoleon!
ITZIG
Wirst du wohl …! Stopfen Sie doch
dem Unglücksraben den Schnabel,
die Preußen sind ja noch nicht
abgezogen, und wollen gefälligst
erinnern, Herr Collega, den Schluss­
termin in der Mordsache des Tabak­
spinnergesellen Schmolinsky!
PAPAGEI
Nicht so hitzig!
(Pause)
HITZIG (hat sich geduckt)
Es ist der Pöbel auf den Straßen,
den ich fürchte, jetzt in der Zeit des
Übergangs, der grausamen Stille!
Sie bewerfen uns mit Schlamm,
die Kaufläden sind geschlossen,
die anständigen Leute bleiben auf
ihren Stuben, die Wachen sind schon
abgezogen mit Sack und Pack, und
die Pragaer Brücke brennt!
DOPPELGÄNGER
Unter Napoleon können Sie auch
Ihren honetten Namen ablegen,
wenn er Ihnen zu eng um den Hals
wird, Itzig!
ITZIG
Ach Hoffmann, im Namen meiner
Väter, wie soll ich mich denn
nennen?
| Bild VI
15
16
DOPPELGÄNGER
Wir können ja tauschen, oder Sie
nennen sich Schnellpfeffer?
ITZIG
Schnell …?
DOPPELGÄNGER (schneidet mit
einem Messer ein fenstergroßes Loch
in die Wand)
Ja, die Mordtat des Schmolinsky
ist mir gegenwärtig, er hatte
unter der Brücke seine Geliebte
mit einem frisch geschärften
Messer angefallen, ihre eine tiefe
Stichwunde beigebracht, wobei die
Haupteingeweide und besonders die
Leber bedeutend verletzt …
ITZIG
Was machen Sie denn da oben?
DOPPELGÄNGER
… und absolute Tödlichkeit
herbeigeführt wurde – ich schaffe
mir Luft, Herr Collegienassessor,
Sie lesen die Zeitung und lassen
sich mit Schlamm bewerfen, ich
will von sicherer Warte erspähen,
was auf den Straßen Warschaus
in Rauch und Regen sich heute
tummelt! (zieht ein Perspektiv aus
der Rocktasche.)
ITZIG
Aber das Messer, Hoffmann, das
Messer. Das ist ja das Corpus delicti
in der Mordsache Schmolinsky!?
DOPPELGÄNER
Ja, mit diesem schönen Horngriff,
nicht wahr, und eine ganz
ausgezeichnete Klinge!
ITZIG
Sie durften eigentlich das
instrumentum criminis nicht
einfach an sich nehmen!
DOPPELGÄNGER
Es regnet draußen in der Welt, wir
werden bald mit Gondeln durch
die Straßen fahren – Sie natürlich
nicht, Itzig. Das wäre Ihnen
zu exotisch, und die Scheu vor
dem Ungewöhnlichen ist stärker
auch als Ihre Furcht, grausam zu
ersaufen, obwohl wir mit dem Pöbel
besser fertig würden – Sie mit
der Ruderstange und ich mit dem
Schlachtermesser in der Faust – da
schnopert ja auch schon eine ganze
Herde Schweine im Schlamm, und
sieh! was kommt denn da? zierlich
angetrippelt? zwei Colombinen,
Carneval ist heut, und es spritzt aus
den Pfützen, die kleine mit dem
Trödelkarren und die andre mit
dem Regenbaldachin, und beide
kugelbrüstig …
ITZIG
Herr Regierungsrat, es wird nun
aber allerhöchste Zeit für den
Termin! Das Urteil, das wir zu
fällen haben, ist heikel, diese Causa
geht schon in die zweite Instanz,
es geht um Leben und Tod!
DOPPELGÄNGER (Commedia
dell’Arte-Figuren – mit phallischen
Attributen wie in Callots ‚Balli di
Sfessania‘ – paarweise auftauchend)
… stracks herein, Ihr Schönen, Zeit
für den giocosen Maskenball, für
Fleischeslust und Trommelwirbel,
so kommt nur in mein Schloss, naht
Euch, Ihr phallischen Gestalten mit
euren reizenden Gespielinnen –
Cucorogna, Mestolino, Cerimonia,
Smaraolo, Scaramucia und Fricasso
…
ITZIG (erregt)
Hoffmann, steigen Sie sofort
herunter, wann werden Sie endlich
zum gesetzten Manne? Nehmen Sie
Ihre Pflichten wahr!!
DOPPELGÄNGER (wie in Trance)
… Pulciniello e Lucretia, Spessa
Monti, Bagattino, Bombardon und
Cocodrillo – hier! (lässt das Messer
fallen) das Corpus delicti, schneiden
Sie sich nicht in den Finger damit!
(Während Itzig sich nach dem Messer
bückt und der Doppelgänger über ihm in
seinem Singsang fortfährt, ist Hoffmann
plötzlich von hinten herangetreten und
schlägt Itzig auf die Schulter.)
DOPPELGÄNGER
Bello Sguardo e
Coviello,
Cucurucu
Fritinello,
Franca Trippa e
Fracasso –
HOFFMANN
Gehen wir,
Itzig, es ist
nun einmal
die Strafe für
meine vielen
Sünden,
dass ich in
den Kerker
zurückmuss,
wie der
verwöhnte
Stubenvogel,
der im Freien
seine Atzung
nicht mehr zu
finden weiß.
ITZIG (verwirrt)
Da sind Sie ja herabgestiegen,
wie ein flinkes Wiesel, doch ist es
ja wirklich ein unaufschiebbares
Geschäft!
(Sie gehen nach links ab.)
Szene 6
DOPPELGÄNGER
– – Babeo e Cucuba, Scapino,
Zerbina, Cicho Sgarra e Francisco
Riciulina e la Vita – –
(Comedia-Figuren ab. Von rechts zwei
Columbinen, schwarze Masken; die
Kleinere zieht einen von alten Kleidern
überquellenden Karren hinter sich her;
der Doppelgänger springt vom Gerüst.)
DOPPELGÄNGER
Stracks herein, Ihr Schönen! Wo
ist Euer Arlecchino, habt Ihr ihn
begraben unter Euren Röcken?
(Er wühlt in den Kleidern.)
CHIARA
Begraben und erstickt!
DOPPELGÄNGER
Erstickt? Den Salamander unterm
Rock? Da atmet der erst auf!
Und Du hast ihn gefangen und
willst ihn nicht mehr freilassen
(hascht nach ihr, sie erklimmt das
Gerüst.)
MISCHA (die Maske abreißend)
Ernst, gleich hörst du auf mit
Possen mickrige, ist doch die
Mamsell Chiara aus der
Fretagasse!
17
Bild VII |
18
DOPPELGÄNGER (ernüchtert)
Ah, D u bists, Mischa, und was soll
der Aufzug? Mamsell Chiara, kenn
ich nicht.
MISCHA
Die Putzmacherin –
DOPPELGÄNGER
Sie sieht mir mehr wie ein Torpedo
aus, ein Zitterrochen!
CHIARA (die Graffiti studierend)
Pass auf, er ist galvanisch, teilt
elektrische Schläge aus und lähmt
den Salamander!
DOPPELGÄNGER
Nur wenn der Fisch den Lurchen
fressen will, Mamsell!
MISCHA (leise)
Sie stammt von die Zigeuner her,
wie D u !
DOPPELGÄNGER
Und kennt sich mit den Fischen aus
wie eine Wasserfrau –
CHIARA
Fressen? Gerne, ja, im kühlen
Wasser der Weichsel unter der
Pragaer Brücke!
MISCHA
Sie brennt die Brücke große, Ernst,
hast Du gesehn, und Preußen,
Russen all verschwunden!
CHIARA
Madame, hat Ihnen Ihr Gemahl
nicht etwas Glück versprochen?
MISCHA
Du hast mir neues Kleid
versprochen, heut ist die
Masquerad’, Redout, und Mischa
all in Lumpen!
DOPPELGÄNGER
Was soll die Columbine kosten?
MISCHA
Dreißig Gulden – Kleid und
Stiefeln –
DOPPELGÄNGER
Dreißig Gulden? Hab ich
ein Fortunatussäckel? Welch
verwünschter Hochmutsteufel ist in
Dich gefahren, ich muss ins Gericht!
MISCHA
Hast du auch Kindchen gefüttert,
Cäcilia kleines?
DOPPELGÄNGER (wirft sich entsetzt
in Chiaras Karren)
Hier liege ich – erstickt, erschlagen
und begraben unter achtundzwanzig
Voluminibus Conkursakten,
von dem Totschläger ganz zu
schweigen – und Du kommst mir
mit dem Kindskram!
MISCHA (hat die Wiege aufgedeckt;
Quäken.)
Ah, du Monstrum, du Vampir! hast
Kindchen deiniges verdarben lassen!
(Holt die Milchflasche aus dem Kühl­
schrank, steckt sie in den Punsch­topf
und facht die Flamme darunter an)
CHIARA (stopft ihr Pfeifchen)
Darben lassen, Amadeus? Darf man
Kindchen darben lassen?
DOPPELGÄNGER (sich aufrappelnd)
Ich muss zum Gericht, ich heiße
Ernst Theodor Wilhelm, bitte, sich
das Passende auszusuchen!
MISCHA (das Kind fütternd)
Willst du nicht füttern Kindchen,
kannst du wohl zahlen dreißig
Gulden –
DOPPELGÄNGER (schreit)
Ich bin ans Treibrad der Justiz
gefesselt, ich hab keine Hand zum
Zahlen frei, da wartet schon ein
Mörder –
CHIARA
Mörder spielen, Messerstecher unter
der Brück’ ans Rad gefesselt!
DOPPELGÄNER
Dir stehen Masken nicht, und das
Gezwitscher und Gezwacke auf den
Bällen, dazu bist du zu real, und
überhaupt – ich selbst vergnüge
mich nur auf Lumpenbällen. Und
wenn Dir Deine Lumpen nicht genügen, drapier Dich aus dem Karren
da, mit den gestohlenen Fetzen!
CHIARA
Die Fetzen, ja, Madame, die Fetzen!
DOPPELGÄNGER
Die können ja nicht teuer sein, wenn
man den Polizeischutz abzieht, den
ich hier gewähre?
CHIARA
Drehn Sie sich vor ihm, es wird ihn
so erhitzen, dass ihm das Geld wie
eine Feuergarbe aus dem Beutel
sprützt!
(Hinter dem Stehpult steigen Hoffmann
und Itzig in Richterrobe herauf; wäh­rend
sie (rechts) den Mordfall Schmo­linsky
beraten, wird (links) der Dop­pel­gänger,
schon im Abgehen begriffen, durch
Mischas Anproben fest­gehalten: sie hat
den Bildrahmen als ‚Spiegel‘ an die Wand
gestellt und wechselt die Kleider hinter
dem Wand­schirm; Chiara, rauchend,
scheint den Doppelgänger hypnotisch
fern­zusteuern.)
MISCHA
Willst nicht den Casper spielen, bin
ich auch nicht Colombine –
HOFFMANN (das Messer betrachtend)
Ging also zu der Brücke und
schärfte unterwegs das Messer an
einem Feldstein.
DOPPELGÄNGER
Ich geh jetzt aufs Gericht.
ITZIG
Steckt’ es in seinen Rockärmel, um
es bei bequemer Gelegenheit zur
Hand zu haben.
MISCHA (hinter dem Wandschirm
hervor in engem Kleid und Federhut)
Spanisch –
(Sie blättern in den Akten.)
CHIARA
Atlasseide!
MISCHA
Ärmel geschlitztes, Spitzen
wunderschöne!
HOFFMANN
Als Kind hat er die Blattern
überstanden –
ITZIG
Später bekam er einen venerischen
Tripper –
HOFFMANN
Nervenfieber, Krätze,
Hämorrhoiden –
(Der Doppelgänger sieht zu, wie sich
Mischa vor dem Spiegel dreht.)
DOPPELGÄNGER
Ich hör ihn schreien, den Strauß,
dem diese Federn entrupft!
ITZIG
Von blindem Trieb, von
automatischem Drang besessen –
19
20
DOPPELGÄNGER
Ganz recht, der Casper braucht nur
e i n e Colombine!
(Mischa, hinter dem Wandschirm, mit
neuem Aufputz hervor.)
HOFFMANN
Und nach vollbrachter Tat ganz
reuelos und ruhig.
ITZIG
Wollust und Ausschweifung haben
sein Nervensystem geschwächt und
abgestumpft.
MISCHA (im Empirecostume)
Lange Schlepp’ wie die Frau
Bankdirektor –
CHIARA
Feines Musselin?
HOFFMANN
Das Motiv der Tat ist nicht
ermittelt –
DOPPELGÄNGER (gehässig)
Bleibst ja nur an allen Möbeln
hängen –
ITZIG
Sie war schwanger.
DOPPELGÄNGER
– Madame Recamier mit Entenfüßen!
HOFFMANN
Und er hatte Schulden –
CHIARA (stößt mit nacktem Fuß auf
seinen Kopf hinunter)
Still, Du Lurch, Du mordest sie!
(DOPPELGÄNGER zuckt zusammen,
kommt nach vorn, greift sich mit
beiden Händen ins Haar)
HOFFMANN
– konnte auch nicht schlafen, und
versichert wiederholt, dass er die
Getötete aufs Zärtlichste geliebt!
DOPPELGÄNGER
Will der (sie blättern in den Akten.)
Arlecchino eine a n d r e
Colombine, und aus hundert
Gründern der Alltäglichkeit seiner
Lieb’ den Garaus machen!
(Er schleicht katzenhaft zum Wand­
schirm, hinter dem Mischa, wieder als
Colombine hervorkommt.)
ITZIG
Fleischeslust in Mordlust
übergegangen!
HOFFMANN
Oder amentia occulta, der partielle
Wahnsinn, den eine fixe Idee
erzeugt?
ITZIG
Man könnte den Inquisiten bei
ausgemachter Schwärmerei unter
besondere Aufsicht stellen und
zu bestimmten Zeiten öffentlich
züchtigen lassen –
HOFFMANN
Dies kann hier nicht in Anschlag
kommen, vielmehr muss wider den
Inculpaten die ordentliche Strafe
des Mordes eintreten: Paragraph
achthundertsechsundzwanzig:
Das Rädern von oben herab –
DOPPELGÄNGER (fährt herum und
zerreißt die Parallelität)
Ha, Brüderlein, aufs Rad willst Du
mich flechten, die Knochen mir im
Leib zerbrechen, die Leber, Nieren,
Hoden mir zerquetschen, den
Brustkorb, dass die Augen mir blutig
aus den Höhlen springen – das wirst
Du mir bereuen, Brüderlein, das
wird Dir leid tun!
(Pause.)
(Hoffmann und Itzig haben nichts
gehört und stoßen ihre Akten
zusammen; der Doppelgänger jagt
das Gerüst hoch, zieht seinen Beutel
und schüttet den Münzinhalt in
Chiaras Schoß)
DOPPELGÄNGER
Dreißig Gulden, Mademoiselle,
zählen Sie’s nach, wir nehmen Kleid
und Stiefel.
CHIARA (erhebt sich wie im Traum –
die Münzen fallen herab – und ruft zu
Mischa hinunter)
Madame, die Befreiung ist nahe!
ITZIG
Das wär’s für heute. Gehen wir?
HOFFMANN
Ich muss wahrhaftig noch an Hippel
schreiben, doch meine Frau wird
darauf brennen, Ihnen ihr neues
Kleid zu zeigen für den Maskenball,
es hat mich dreißig Gulden gekostet,
mit den Stiefeln!
ITZIG
Immer spendabel, immer splendid,
der Herr Regierungsrat –
(versinkt.)
Szene 7
(Chiara ist jetzt vom Gerüst geklettert
und sammelt die Münzen auf; der
Doppelgänger kauert oben und nimmt
tiefe Schlucke aus einer Taschenbouteille;
das Kind schreit, und Mischa, um es zu
beruhigen, singt ein Lied zur Guitarre;
Hoffmann schreibt am Stehpult einen
Brief an Hippel.)
MISCHA
Cilska, hörst du, Befreiung! Brüll
nicht! Geh ich sing Dir was vom
Burra, Burra, Burra. Burra Burra
Burra dort, Wagen und schön Schuh
sind fort, Stecken tief im Sumpf,
Pferde all ertrunken, Burra, Burra,
Reiterknecht, Warum fährst Du auch
so schlecht –
(ferner Kanonendonner)
HOFFMANN (schreibt)
Teurer, einziger Freund, wann
reisen wir, hier bricht der Krieg aus,
aber in Italien wird es ruhig sein –
(Chiara hat ihre Münzen aufgelesen;
der Doppelgänger hebt fragend die
Flasche, reicht sie ihr hinunter; sie
hebt fragend die Pfeife, klettert zu
ihm aufs Gerüst zurück; sie sitzen
etwas erloschen, Seit bei Seit, reichen
einander wechselseitig Pfeife und
Flasche. Eintritt Itzig.)
ITZIG
Ei, wie herrlich – wie prächtig!
Das n e u e Kleid – ganz nach
Ihrem Wuchse geschnitten – ehm –
fast hätte ich Sie nicht erkannt,
Columbine mit Musike, ja, wo ist
denn unsre kleine Cäcilia?
Tsi, tsi, tsi!
Hier von Onkel Isaak! Tsi, tsi, tsi!
(Hält eine Puppe in die Wiege; das Kind
schreit)
Zu hart gewickelt, liebe Frau, das
Kind kann ja nicht atmen!
MISCHA (nimmt es auf den Arm)
Puhh! Puhh, hat ja nur die Hosen
voll –
21
22
ITZIG (sich abwendend)
Ganz die Mama, nicht wahr? Es
kränkt ihn hoffentlich nicht?
MISCHA
Mein Mann hat’s darben lassen.
Ungeheuer vergessliches, malt
an die Wände Tag und Nacht und
scharmutziert mit die Weibsbilder.
(Erst jetzt sieht Itzig betroffen das stille
Paar auf dem Gerüst.)
ITZIG
Da ist er doch noch vor mir aus dem
Amte zurück –? Ich hatte nur die
neue Zeitung – (entfaltet sie) so weit
sind wir ja nun vom Kriegstheater
nicht mehr entfernt!
(rollt sich den Stuhl an die Rampe.)
Die Franzosen haben die Schlacht
bei Jena und Auerstädt gewonnen,
der General Tauentzien hat ja seit
dem Alten Fritz nichts mehr dazu
gelernt, er treibt noch immer seine
Grenadiere in geschlossener Staffel
vor, der General Grawert tut dasselbe, und die Sachsen bleiben müßig
auf dem Flohberge stehn! Werden
natürlich umgangen und gefangen!
PAPAGEI (erwachend)
Bravo!
DOPPELGÄNGER
Potz Tausend, mon ami, Napoleon
wird Sie zum General machen,
trotz Ihrer krummen Nase, général
Schnellpfeffèr!
ITZIG
Statt incohärente Späße zu machen,
sollten Sie daran denken, wie Sie Ihre
Familie durch diese verhängnisvolle
Zeit navigieren wollen!
DOPPELGÄNGER
Das gibt sich alles – die Napoleons
kommen und gehen –
ITZIG (noch in der Zeitung)
Da hat er tatsächlich schon eine
Schlacht verloren (kichernd) –
gegen Mälzels Schachautomaten,
der hölzerne Türke schlug ihn in
dreizehn Zügen.
CHIARA
Er hätte mir das Schlachtfeld
überlassen sollen.
DOPPELGÄNGER
Noch ein verhinderter General –
général Torpedo!
(Kanonendonner, ferne Tanzmusik.)
ITZIG (weiter in seiner Zeitung)
Berlin ist schon besetzt, der König
ist geflohn, und die Milhaudsche
Avantgarde, der Vortrab der
Muratschen Reiterei hält auf die
Weichsel zu, die Preußen haben die
Pragaer Brücke in Brand gesteckt!
(Die Packer rollen den Hammerflügel
herein.)
1. PACKER
Ihre Drahtkommode, Herr
Regierungsrat!
2. PACKER
Der Hammerflügel aus Paris!
1. PACKER
Solides Mahagoni (klopft dagegen –
dröhnendes Echo)
2. PACKER
Klingt himmlisch! (hackt ein paar
Akkorde)
1. PACKER
Und macht höllisch durstig –
nämlich das Geschlepp!
(Der Doppelgänger erhebt sich
sprachlos)
ITZIG (faltet die Zeitung zusammen)
Wussten Sie, dass die Guillotine
eigentlich von einem deutschen
Klavierbauer konstruiert wurde?
Aber was schwatze ich –
MISCHA (am Kühlschrank)
Weißbier, berlinisches, Schinken
polnisches, hat schon so lang darauf
gewartet!
ITZIG
Schade, dass meine Frau nicht hier
ist –
CHIARA
Amadeus! Amadeus, spiel uns was!
Schließ uns den Orkus auf, geh uns
voraus, mach uns lebendig, dass
wir an unsren Schöpfen uns aus
diesem Sumpf herausziehn, diesem
Schlamm, beweg die Hebel des
Entsetzens und der Lust und lass uns
nicht ersticken in den Kammern, in
den Folterkammern der Philister,
nicht verderben und in unserm Durst
verbrennen!
(Der Doppelgänger geht zum Flügel,
schlägt den Deckel auf, zieht einen
Stimm­schlüssel und windet eine
abgeschnurrte Saite auf –)
HOFFMANN (an Hippel schreibend)
– inzwischen ist mein Atlantis
hier komplett, die Fresken sind
vollendet, die Fenster werden
morgen eingesetzt, und am
Himmelfahrtstage habe ich mir
den neuen Hammerflügel ins
Bibliothekszimmer stellen lassen,
die unaufgelösten Dissonanzen
in meinem Inneren schrien nach
Erlösung, und schlangenzüngige
Septimen, ein Eldorado freundlicher
Terzen wallten auf – was sonst in
mir verschlossen, geht, wenn ich
für meine Freunde phantasiere, stark
und mächtig wie ein Feuerstrom
aus mir heraus –
(Der Doppelgänger setzt sich zurecht
und spielt – z. B. das Allegretto aus der
Sonate F-Dur, op. 54, von Beethoven –
Rückansicht der Lauscher-Gruppe
à la Caspar David Friedrich; durchs
Eckfenster schauen Bürger und Masken
herein; auf Zehen­spitzen treten Tänzer
der fernen Redoute hinzu; für ein,
zwei Minuten – bis etwa zum ersten
Doppel­strich – herrscht nur der warme
und volle Ton des Hammerflügels.)
HOFFMANN (an Hippel)
– bald wurde ich aber in die Lage
von Hogarths zornigem Musicus
versetzt; denn dicht unter meinem
Fenster entstanden zwischen drei
Mehlweibern, zwei Karrenschiebern
und einem Schifferknechte
erkleckliche Differenzen –
(Stimmen)
– wozu, von mächtigem Instinkt
getrieben, die Hunde der ganzen
Nachbarschaft bellten und heulten –
(Hundegebell – Und in der Folge
erhebt sich in mächtigem Crescendo
der STURM DER GESCHICHTE:
Glockengeläut, Pauken, Tanzmusik
von der Redoute, Schweinequiecken,
Pferdegetrappel, Geschrei: ‚Die
Franzosen!‘ – Die Franzosen kommen!‘
Gewehrfeuer, Kanonendonner, Rufe:
Bild VIII |
23
‚Allons!‘ – ‚En avant‘ – ‚L’ennemi!‘ – ‚Vive
l’Empereur!‘,
Stuka-Heulen, Bombeneinschläge,
Panzerrasseln, Marschtritt,
Hetzstimmen politischer Führer,
der PAPAGEI wird hysterisch: ‚Hoch
Napoleon!‘ – ‚Da Capo!‘- ‚Bravo!‘‚Heil!‘ ‚Heil Hitler!‘-‚Bravissimo!‘‚Mordio!‘- ‚Heil Napoleon!‘ Verstörte
Passanten und Masken nehmen
im Palais Mnischek Zuflucht; dann
bricht plötzlich die Soldateska der
Milhaudschen Avantgarde herein:
Panik – Mischa rettet ihr Baby, Chiara
ihren Karren, alle fliehen, der Raum
wird leergefegt, der Doppelgänger wird
von zwei Grenadieren gepackt und
nach vorne hinweggestoßen. Danach:
Stille, in der man nur das ferne Prasseln
der im Feuer zusammenstürzenden
Pragaer Brücke hört.)
Szene 8
(Hoffmann, vom STURM DER
GESCHICHTE unberührt, schließt
den Brief an Hippel ab.)
24
HOFFMANN
Warschau, den vierzehnten Februar
achtzehn hundert und sieben.
Ewig Dein
Hoffmann (Sand und Siegel.)
(Mit hallenden Schritten herein der
Generalquartiermeister Napoleons.)
DARU
Ah, voilà! Monsieur –?
HOFFMANN
Hoffmann.
DARU
Eh bien – Berüf?
HOFFMANN
Regierungsrat am preußischen
Gericht.
DARU
Ah, non! Non-non-non! Preußen
ist perdu, die Regierung bin ich,
das Gericht ist aufgelöst. Er ist
entlassen.
HOFFMANN (bestürzt – und erfreut)
Dann kann ich ja die Conkursakten
verbrennen! Sind die Kerker schon
geöffnet?
DARU
Ist Er Pole?
HOFFMANN
Nein.
DARU
Voilà! Das neue Gericht besteht aus
Polen! Calmüque? Zigeunähr?
HOFFMANN
Aus Königsberg, Herr –? Wie war
der Name?
DARU
Darü!
HOFFMANN
Beruf?
DARU
Nanü! Nanü! Was hat Er hier
überhaupt zü süchen? Das Palais
ist für den Kaiser requiriert! Ich
zeige Ihm die Tür mit meiner
Stüfelspütze – d a s ist mein Berüf!
(Ein Luftzug erhebt sich, Hoffmann
schauert zusammen.)
HOFFMANN
Sie haben den Horaz übersetzt, nicht
wahr – im Nebenberuf?
DARU (geschmeichelt)
Abstrüs, abstrüs – für einen Freund
des Volkes und Revolütionär!
Horace – das ist nicht für den Pöpel.
Aber in dieser großen Zeit kann
man nicht nur den Müsen dienen!
Der Bauch fühlt auch sein Recht!
HOFFMANN
Der Bauch?
DARU
Die Grande Armee will speisen,
gürgeln, Kühe, Hühner, Fässer,
Kisten. Gülden, Dükaten,
Contribütionen, Contribütionen,
Contribütionen!
Absürd – ein Mann von meiner
Statür, von meiner Cültür – Odi
profanüm vülgüs! – und müss
dem Imperator seine Steuern
eintreiben!
HOFFMANN
Das ist Ihr – Hauptberuf?
DARU
Ein F l ü c h ist das! Die Sachsen,
Preußen, Polen – sie verflüchen
mich!
HOFFMANN
Ihr Kaiser wird es Ihnen lohnen!?
DARU
Er ist zü ünrühig – er lässt mich nie
in Rühe! Kaum ist er im Quartier –
schon müss ich arrangieren,
arrangieren!
HOFFMANN
Und – was arrangieren Sie?
DARU
Paraden, Amouren, Soireen.
HOFFMANN (aufmerkend)
Soireen? Musikalische Soireen?
DARU
Naturellement – Soirees musicaux.
HOFFMANN (vorsichtig)
Dieser Palast war exklusive
musischen Zwecken gewidmet.
DARU (um sich blickend)
Deliziös! Die Decoration! Confüs,
bizarre! Wer ist der Artiste?
(auf die ‚Fresken‘ zeigend)
HOFFMANN
Ich selbst –
DARU
Er dilettiert auch in den schönen
Künsten, spielt Er auch das
Clavecin?
(hinüberdeutend)
HOFFMANN
Bevor Ihre gefräßigen Grenadiere
mich dabei störten – –
DARU
C’est la guerre, Monsieur Offmahn!
Krüg ist Krüg! Er participiert dafür
an der Historie! Weltgeschüchte!
Global! Der Kaiser befreit Europa!
Auch Zigeunähr und Jüden!
Gloire! Victoire! Welch Spectacle!
Die Schlacht von Jena! Napoleon,
le petit Corporal, recongnosziert
seine Garden! Fatal! Phänomenal!
Kennt Er Monsieur Göht?
HOFFMANN
Goethe, doch ja!
DARU
‚Monsieur Göth!‘ ruft der Kaiser,
‚Monsieur Göth, was haben Sie es
immer mit dem Schücksal?
die Politüque ist das Schücksal!‘
HOFFMANN
Und was hat Goethe gesagt?
| Bild IX
25
26
DARU (beiläufig)
Monsieur Göth? Er hat sein
Compliment gemacht. Die Politüque
i s t das Schücksal, und der Kaiser
ist die Politüque! Ünd nach der
Parade, beim Cognac rüft Monsieur
Egel aus Jena: ‚Wünderbare
Empfündung, sölch Individüüm
zü sehen, hier, auf einem Pünkte
concentriert: Napoleon – er ist
der Weltgeist zü Pferde!‘
HOFFMANN
Und wer ist der Herr Hegel?
DARU (beiläufig)
Ein Philosoph aus Stüttgart, der
an die Vernünft in der Geschüchte
glaubt.
(Pause)
HOFFMANN (leise, aber bestimmt)
Als ich vorhin auf dem
Hammerflügel spielte, war mir, als
spannten sich die Saiten unsichtbar
durchs Universum, die innere
Stimme weckend in jedes Freundes
Brust, mir war, als rührte der Welt­
geist selbst die Saiten – nicht der zu
Pferde, gewiss, nicht der historische!
Aber – was ist eine Welt­geschichte
wert, die eine Sonate unterbricht?
(Pause.)
DARU
Eh bien, Er kann seine Sachen
nehmen und in die Mansarde ziehen.
Ich werde meine Füttiche über
ihn halten. Und abends – auf der
Soiree, wenn dann der Kaiser dazü
Ordre gibt – wird da der Weltgeist
dem Weltgeist die innere Stümme
wecken?
HOFFMANN
Napoleons innere Stimme? Ich
würde sie nicht zu wecken wagen –
das Geheul, das Gewinsel, das
Geröchel von den Schlachtfeldern,
den Orkan des Hohns und der
Verzweiflung, die millionenfache
Klage – dumpfes Schweigen sei die
Gnade der Verdammten.
(Ein Windstoß fegt den Brief an Hippel
vom Pult, Hoffmann bückt sich danach,
taumelt und sinkt in den Rollstuhl.)
DARU
Was für ein Dürchzüg! Sind die
Kamüne heizbar?
HOFFMANN
Ja, doch sind die Kohlen knapp –
Sie werden das schon – arrangieren!
DARU (ist ans Pult getreten und zieht
ein Schriftstück heraus, das er mit einer
Notiz versieht)
Es ist natürlich bei Strafe des
Todes verböten, in Correspondance
mit dem Feinde einzütreten!
Compris, Monsieur Offmahn?
Und: Retourniere er ümgehendst
diese Hüldigungsakte – m i t
seiner Signatür! Es ist ein Schwür
der ünbedingten Treue zü seinem
Kaiser, ünser aller Führer Napoleon!
(hebt das Dokument empor und lässt
es auf dem Pult zurück. Am Abgehn
bemerkt er das Messer, hebt auch
dieses fragend in die Höhe.)
Kennt Er den Schillähr?
HOFFMANN
Ich kenne zwei Schiller – der eine
ist Pantoffelmacher in Polkwitz, der
andere –
DARU (deklamierend)
‚Zu Dionüs dem Türannen schlüch
Damon den Dolch im Gewande!‘
HOFFMANN (hastig)
Ich brauche das Stilett zum
Aufschneiden neuer Bücher.
DARU (legt das Messer zurück)
Eh bien – morgen abend produziere
Er sich auf der Soiree – aber
präpariere Er etwas Leichtes,
Lüstiges – Sonate Facile, Couperin,
Rameau! Au revoir, Monsieur!
(Daru ab.)
Szene 9
(Unterdessen ist Hoffmann vom
‚Nervenfieber‘ befallen; im Schüttel­
frost wickelt er sich in die Plane, die
noch über dem Rollstuhl hängt; schrille
Mozartmotive (Flöten und Fagotte
aus ‚Zauberflöte‘ und ‚Don Juan‘) und
Erinnerungsstimmen quälen ihn, setzen
ihm mit Hohn und Vorwurf zu.)
HOFFMANN
Ich unterschreibe nicht – ich
schwöre nicht – ich spiele nicht –
ich möchte schlafen – die Türen, die
Fenster – der verdammte polnische
Winter – wo ist meine Suppe – ich
muss doch wahrhaftig nach Doktor
Koreff schicken – morgen kommen
die Glaser – nein, das kommt von
unten, das ist die Kälte aus den
Kellern – Kerkerluft –
CHIARAS STIMME
Amadeus! Amadeus!
KRATZERS STIMME
Dichter und Richter! Richter und
Dichter!
CHIARAS STIMME
Spiel uns was!
DARUS STIMME
Etwas Leichtes Lüstiges
KRATZERS STIMME
Ernst Theodor Wilhelm
HOFFMANN
Soll ich Mördern und Tyrannen
aufspielen – im Offizierscasino?
STIMME DES 1. PACKERS
Solides Mahagoni! (Klopfen)
ITZIGS STIMME
Wollust und Ausschweifung
HOFFMANN
Das Motiv der Tat ist nicht ermittelt.
KRATZERS STIMME
Wilhelm oder Amadeus! Dichter
oder Richter.
HOFFMANN
Schmolinsky konnte nicht schlafen.
MISCHA STIMME
Hast du Kindchen gefüttert?
STIMME DES 1. PACKERS
Solides Mahagoni!
(lautes Klopfen, Stöhnen,
Kettenrasseln)
ITZIGS STIMME
Die Guillotine – eigentlich von
einem deutschen Klavierbauer,
aber was schwatze ich –
CHIARAS STIMME
Du willst sie morden! Du mordest
sie!
HOFFMANN
Ich hab mein Atlantis über
Warschaus Kerkern errichtet, sie
27
| Bild XI
Bild X |
haben mich als Richter bezahlt und
ich habe von diesem Geld gelebt.
CHIARAS STIMME
Es wird ihm wie eine Feuergarbe
aus dem Beutel sprützen!
STIMME DES 1. PACKERS
Solides Mahagoni!
(Vielfaches dumpfes Klopfen wie
aus dem Boden)
HOFFMANN
Schweigen! Schweigen sei die
Gnade der Verdammten!
(Stille. Im Türloch erscheint, aufs Rad
geflochten, der Doppelgänger – nackt,
mit verrenkten Gliedern.)
HOFFMANN
Wer da? Wer ist da?
DOPPELGÄNGER
Brüderlein – lass uns – in den Wald
– gehen – unter die Brücke –
HOFFMANN (schreit)
Mischa! Mischa!
Szene 10
(Der Spuk verblasst. Eintritt der
Doctor Koreff.)
28
KOREFF
Wie ist Ihnen heute, bester
Hoffmann?
HOFFMANN
Sie verstehen mich alle nicht! Es ist
mir lieb, dass Sie hier sind, Doctor
Koreff, ich habe Ihnen schon immer
die Schönheiten der Zauberflöte
auseinandersetzen wollen – heut
nacht, als ich allein und schlaflos
lag, hab ich die ganze Oper
gehört.
KOREFF (alarmiert)
Da fahren ja die Krankheitskeime
zu allen Poren heraus, das Zimmer
ist voll Dampf und Phosphorglanz,
ich gehe gleich, die Fenster öffnen
(fühlt ihm den Puls), der Puls geht
leise, hier (gibt ihm ein Fläschchen)
schnüffeln Sie, derweil ich die
Mixtur bereite.
(Facht die Flamme unter dem
Punschtopf an, schlägt Eier in den
Topf und gibt eine Flüssigkeit dazu.)
HOFFMANN
Ahh, Kölnisch Wasser exorziert die
bösen Geister?
KOREFF (hat vom Sud in eine Tasse
geschöpft)
Hier nun, das heiße Hopelpobel,
belebt den Körper wieder zu den
wichtigsten Funktionen.
HOFFMANN
Hopelpobel? Ein Witz?
KOREFF
Nein, ein probates Stärkungsmittel
für Astheniker wie Sie, das hat dem
Kanzler Hardenberg geholfen und
dem König nicht geschadet, wird
auch Sie hochpobeln, hab es selbst
mit dem Kollegen aus Heilbronn
entwickelt, rein aus frischen
Dottern, russischem Kirschengeist –
schon rar geworden unter den
Franzosen –
HOFFMANN
Kirschengeist – das klingt
vertraunerweckend!
KOREFF
Es erweckt die Toten, freilich mit
dem Brownschen Lebenselixier
allein ist dem Toten, der in Ihnen
steckt, nicht beizukommen,
aufzuhalten nur, nicht anzuhalten
ist die innere Fäulnis.
HOFFMANN
Heitere Prospecten!
KOREFF
Doch die Mesmerschen Methoden
haben Kräfte freigesetzt, die Tote
nicht nur auferwecken, sondern
wahrhaft a u f p e i t s c h e n
können, dass sie auf den Dächern
mit dem Uhu um die Wette tanzen!
HOFFMANN (unbehaglich)
Sie wollen mich magnetisieren?
KOREFF
Falls Sie mich dazu brauchen –
fließt der Äther doch durch j e d e
Kreatur, der Zitterrochen, wenn sein
kühler Leib an Ihre Haut schlägt,
jagt den Strom durch Mark und
Bein, Sie brauchen nur den Finger
in die Weichsel zu stecken!
HOFFMANN
Als Wassermann vermähl ich
mich am besten mit einem
Wassernix!
KOREFF
Nun halten Sie den Kopf kühl,
schlafen Sie, im Topf ist noch
genügend Hopelpobel und – nach
dem Essen die Pfefferkörner nicht
vergessen!
(Er trifft im Abgehen auf Mischa.)
Kein Grund zur Sorge, Michalina,
zwar ein Nervenfieber, doch
der Kranke hat ja eine zähe
Konstitution.
(öffnet im Hinausgehen die Fenster.)
HOFFMANN
Wo bleibst Du nur? Wo ist meine
Suppe?
MISCHA (im Reisehabit, Kind auf dem
Arm)
Die Kutsche ist da, die
Reitersknecht französische für
Schutz von Mischa und die
Geldsäck.
HOFFMANN
Ja, es ist besser, dass Du gehst, hier
ist kein Auskommen für uns drei,
und die Gelegenheit ist günstig,
die Eskorte mit dem Geldtransport.
MISCHA
Ist ja nur für kleine Zeit! Wirst Du
gehen nach Berlin, unterkommen
ans Gericht, holst Du Mischa und
Cäcilia schnell in große Stadt!
HOFFMANN
Nein, ich werde nicht mehr über
Menschen richten, will mein neues
Atlantis nicht über Folterkellern
bauen.
MISCHA
Sankt Antonius wird Dich
beschützen. (lässt ihm eine Ikone
zurück)
HOFFMANN
Der von Padua, versteht sich, nicht
der in der Wüste, mit Versuchung
wunderschönes.
| Bild XII
(Vorhang)
29
II. Akt
(Wandschirm, Wiege und Bildrahmen
sind verschwunden; eine Recamiere ist
hereingerückt, sonst wie im I. Akt.)
Szene 11
30
HITZIG (am Stehpult – in seinem
Kontor – Druckfahnen korrigierend)
Was liest man achtzehnhundert­
dreizehn in Berlin? – die Dichter –
Goethe, Schiller? Weit gefehlt! Die
Denker – Kant und Fichte? Keine
Spur! Man liest U n d i n e – die
Geschicht‘ von einem Wassernix,
der sich mutwillig zwischen einen
Ritter und seine Dame drängt – die
Menage à trois geht schief, und
schließlich küsst der Wassernix
den Ritter zu Tode – literarisch
zweifelhaft, moralisch dubios, schon
in der zweiten Auflage in meinem
Verlag, mir kanns ja recht sein –
(Eintritt der österreichische
Hofmechaniker Mälzel mit Waren­
koffer und Brief in der Hand.)
MÄLZEL
Verzeihen’s, bin ich hier recht bei
dem (liest die Adresse) ‚inactiven
Assessor Isaak Elias Itzig‘?
HITZIG
Julius Eduard Hitzig, voll aktiver
Verlagsbuchhändler, wenn’s beliebt!
MÄLZEL (erst perplex, dann kritisch)
Jo mei – lohnt sich denn das?
Itzig oder Hitzig – der ganze
Palawatsch mit die Behörden, alles
wegen dem Ha?
Da waren unsre Juden in Wean viel
radikaler und phantasievoller –
Rosenblüt und Güldenstern fällt
mir nur grad so ein, aber Hitzig aus
Itzig – naa, das zahlt sich nicht aus.
HITZIG
Mit wem hab ich die Ehre?
MÄLZEL
Mälzel, zu Gnaden – königlich
kaiserlicher Hofmechaniker.
HITZIG
Mälzel? (dann plötzlich wie von
Sinnen) Da tänzelt ja der Mälzel, der
Schmälzel, scharwenzelt der Hänsel
mit seinem kleinen Schwänzel!
(verstummt abrupt, etwas verlegen.)
MÄLZEL (teilnahmsvoll)
Do san’s fuchtig g’worden, was? Ist
Ihnen wieder besser?
HITZIG
Was führt Sie her, Herr – Mälzel?
MÄLZEL
Nichts für ungut, Euer Gnaden –
wollt’ nicht in Ihre Suppen spucken!
Ich hätt’ hier einen Brief.
HITZIG
Ein Brief, gut, danke.
MÄLZEL
Naa, net an Sie! An (liest)‚Seine
Wohlgeboren Herrn Regierungsrat
von Hofmann‘, wohnt der bei
Ihnen?
HITZIG
Hoffmann? Mein Freund Hoff­
mann – der wohnt nicht mehr hier,
er hat ja in Berlin nicht Fuß fassen
können, ist jetzt Musikdirektor in
Bamberg, am Theater beschäftigt
und als privater Gesangslehrer.
MÄLZEL
In Bayern lebt sichs halt immer
besser, können’s mir seine Adresse
geben, wenn ich auf der Rückreis
nach Wean –
HITZIG
Zinkenwörth Nummero
sechsundfünfzig, beim Schönfärber
Schneider.
MÄLZEL
Do dank ich schön und – b’hüet Sie
Gott! (will gehen)
HITZIG
Sagen Sie – Mälzel – sind Sie nicht
der Schausteller, der mit einen
hölzernen Türken herumreist, einem
Automaten, der Schach spielt?
MÄLZEL
Und ob! Und w i e  – spielt der
Schach! So präzis und fix, do
bleibt’s Ihnen der Speichel weg!
HITZIG
Und sogar – Napoleon hat gegen
den Türken –?
MÄLZEL
Verloren – mit Pauken und
Trompeten! Und das nach dem
Gemetzel von Jena, bei Siegheil,
Feuerwerk und Cognac – wie
er da stand, inmitten seiner
Generale, Hand in der Weste, und
wie ihm dann der Türk das letzte
Schach geboten, sagt er zu dem
Grafen Daru: ‚Dös hat der Deifi
geschnopert!‘ – auf Französisch
halt!
HITZIG (bekümmert)
Der Weltgeist – nur ein kleiner
Geist womöglich?
MÄLZEL
Von da an ist’s mit ihm bergab
gegangen! Ein gebrochener Geist!
Dass er in Russland aufs Haupt
geschlagen wird, der Brand von
Moskau, das hat mich nicht mehr
gewundert.
HITZIG
Keine Fortune mehr, wie?
MÄLZEL
Und krank im Gemüt – das schlägt
auch auf die Strategie!
HITZIG
Und all das hat ein – A u t o m a t
bewirkt?
MÄLZEL
Alles Räderwerk und Walzen jo mei,
Euer Gnaden. Dahin geht doch die
ganze moderne Entwicklung!
Was soll’n wir uns denn immer
abzappeln!
Sehn’s doch die Virtuosi, wie sie
über die Tasten wischen – das
reinste Rattenlaufen!
HITZIG
Ich sehe, wie meine Frau sich
abzappelt!
MÄLZEL
Genau! Ich bau für alles einen
Tür­ken: der Claviertürk ist
schon patentiert, jetzt kommt der
Küchen­türk – die Domestiken
werden ja eh rar oder frech, und
die echten Türken kann sich
unsereins halt noch nicht leisten!
HITZIG
Eine große Entlastung, man wäre
frei für höhere Belange!
MÄLZEL
Es lohnt sich ja auch nicht – das
persönliche Gezappel, nicht fix und
31
32
nicht präzis genug! Da schaun’s
meinen Einheitstürken an, den hab
ich grad in Arbeit, der lässt sich
prak­tisch an jeden Produktionszweig
an­schließen, der macht Ihnen
die Drecksarbeit für tausend
Tagelöhner!
Damit erzielt der Unternehmer
einfach mehr G e w i n n !
HITZIG
Könnte man den auch im
Druckgewerbe –?
MÄLZEL
Was fragen’s denn – voll adaptier­
bar! Aber wissen’s, ich bin ja
mehr eine Künstlernatur, der
Trompetentürk ist meinem
Herzen näher! Ham’s nicht von
meinem Triumpf gehört? beim
Benefizkonzert für die baye­rischen
und österreichischen Kriegs­
invaliden? Stand doch in allen
Zeitungen!
HITZIG
Richtig, ja, das Debut von Herrn
Beethovens siebenter Symphonie
zum Gedenken der Schlacht
bei Hanau – dabei haben Sie
mitgewirkt?
MÄLZEL
Nicht ich – mein Türk!
HITZIG
Ein Automat?
MÄLZEL
Und was für einer! Wie der den
Marsch von Dussek gepäpert hat!
Und die Begeisterung danach! All
die blessierten Helden, zum Teil ja
auch aus Holz – wie die mit ihren
Kunstfüßen getrappelt und mit ihren
Handprothesen geklappert ham –
das ganze Palais hat g’scheppert,
so ein Applaus war das!
HITZIG
Und dann die siebte Symphonie?
MÄLZEL
Die war ja nur ein Vorspann, der
Höllen­schnoferl war ganz geel
vor Neid!
HITZIG
Der wer?
MÄLZEL
Der Beethoven – Er ist halt oft
grantig, dem fehlt die Frau, kochen
kann er zwar, der Mehlschöberl, die
besten Palatschinken in Wean! – acht
Eidotter und a Schuss Kirschwasser –
da kommt ihm die Kraft her zu seinen
Simpfonien! Aber keine Freud!
HITZIG
Das müssen Sie Hoffmann
berichten, der ist ja, trotz des
vorzüglichen Hopelpobels, nicht
mehr so richtig hochgekommen –
MÄLZEL
Die Genies! Die wollen ja nicht
gerettet werden! Wie er in schwerer
Not war und ständig Huren ge­
braucht hat, weil er ja immer
schlechter hörte, da hab ich ihm
ein Hörrohr konstruiert, hab ihn
prak­tisch der Welt wieder gegeben!
‚Herzensnazerl‘ hat er tränenumflort
gestanden, ‚ohne Dich wär ich
verloren!‘
HITZIG
Ich selbst leide seit kurzem an einer
garstigen Mittelohrverhärtung –
MÄLZEL
Es ist ihm leider rasch zuviel
geworden!
HITZIG
Der Apparat?
MÄLZEL
Die Welt! Die Welt ist ihm zu viel
geworden! ‚Geh er zur Hölle mit
seinem Trichter, Mälzel! Er ist ein
falscher Ohrenschmälzel!‘
HITZIG (freut sich)
Mälzel – ein Ohrenschmälzel!?
MÄLZEL
Dann hat er sich eingeschlossen und
so ein zerrissenes Streichquartett
geschrieben, das keiner spielen kann
und hören will. Es ist denen nicht zu
helfen!
HITZIG
Aber mir vielleicht!? Haben Sie das
bereits als – Einheitsgerät gebaut?
MÄLZEL
Die Ohrtrompete? Jo mei – die
lass ich Ihnen da, als Warenprobe
(zieht ein Hörrohr aus dem Koffer),
damit hören’s das Gras wachsen,
ein echtes Fernhörrohr, da können’s
Ihren Hofmann aus Bamberg
herbeizitieren!
HITZIG
Was soll es denn kosten?
(hat das Rohr furchtsam an- und ab­
ge­setzt – Mälzels Stimme wird damit
zu Trompetenstößen verfremdet)
MÄLZEL
Probieren’s erst mal aus! Nicht
dass Ihnen auch zu viel wird – der
Lauscher an der Wand!
HITZIG (der nun auch andere gestopfte
Trompetenstimmen zu hören
vermeint – ‚Nicht so hitzig, Itzig!‘ –,
setzt das Rohr erschrocken ab)
Ja, nehmen Sie es besser wieder
mit!
MÄLZEL (im Abgehen)
Nicht so hastig, Euer Gnaden!
Zurückschicken können’s
noch immer! Sonst halt – bei
Gelegenheit – dreiundzwanzig
Dukaten, oder machen’s
zweiundzwanzig! Servus!
HITZIG
Grüßen Sie Freund Hoffmann,
wenn Sie ihn sehen!
(Er setzt das Hörrohr vorsichtig wieder
an: er hört eine Sopranstimme. Julia
Mark erscheint, dahinter ihr Lehrer –
Hoffmann; lauschend versinkt Hitzig
hinter dem Pult.)
Szene 12
(Julia im weißen, tief ausgeschnittenen
Kleid – singt parlando und etwas
unkonzentriert eine Arie vom Blatt.)
JULIA
‚le fredde ceneri / nel urna ancora /
t’adorero.‘
Bring mal etwas Leichteres,
Lustigeres, das liegt auch viel zu
hoch für meine Stimme!
HOFFMANN
Eine italienische Canzone – leicht
zu verstehen, lustig zu hören, und
kein Himmel ist zu hoch für die
Lerche!
33
34
JULIA
Leicht zu verstehen? Ich weiß doch
nur, dass Ciocolata Schokolade heißt
und Asino maledetto verdammter
Esel – das reicht ja auch für eine
Soubrette!?
HOFFMANN
Nicht für die Diva Julia Mark –
wohl für die Donna Graepel, die
Frau Bankdirektor –
JULIA
Pscht! Ich hör sie drüben reden!
HOFFMANN
Feilschen über den Kaufpreis!
JULIA
Bist du verrückt?
DOPPELGÄNGER (der eben durch
das messergeschnittene Loch auf
dem Gerüst auftaucht – halb nackt,
in Pantalons, wie vom Galgen
geschnitten)
Natürlich ist er verrückt!
(Nur Hoffmann hört ihn!)
HOFFMANN
Du heiratest ihn ja nur, damit die
Frau Mama ihre Extravaganzen
bezahlen kann!
JULIA
Und die Gesangsstunden!
HOFFMANN
Wie?
JULIA
Du bist auch nicht gerade billig!
HOFFMANN
Das hört ja nun wohl auf!
JULIA
Ich habe noch Geschwister!
HOFFMANN
Nein, Nein, es sind die
Seidentapeten und die
Spielschulden – d e s h a l b wird
der frische Lebensbaum an die
Mumie angeschlossen!
JULIA
Der Graepel ist keine Mumie!
HOFFMANN
Nein? Was ist er dann?
JULIA
Honett, aufmerksam, quick­
lebendig – er hat mir diesen
capriciösen Hut aus Hamburg
mitgebracht (probiert ihn auf ) –
für den ‚Jungfernsteg‘, so heißt
dort eine elegante Promenade.
HOFFMANN (schmerzverzerrt)
I c h bin der Strauß, dem diese
Federn ausgerupft!
DOPPELGÄNGER (höhnisch)
Autsch!
JULIA (lacht)
Geh, du bist nicht neidisch, du lebst
ganz gemütlich hin mit Deiner
Mischa wunderschönes, jeden
Sonntag Ausflug nach Buch und
abends in die ‚Rose‘ –
HOFFMANN
– mit Pollux!
JULIA
Was?
HOFFMANN
In der ‚Rose‘ poculiere ich mit
einem schwarzen Hund, nicht mit
meiner Frau!
JULIA
Du wolltest doch nicht eine
Dreiecksgeschichte, eine Menage à
trois anfangen?
DOPPELGÄNGER
Warum nicht?
HOFFMANN (unsicher)
Warum nicht?
JULIA (lacht)
Geh, du Wüstling! Ist sie
eifersüchtig, sag, ist sie eifersüchtig
auf mich? Deine Mischa?
HOFFMANN
Sie ist nicht mehr die lustige
Gefährtin, die Columbine, die auf
Lumpenbällen tanzt.
JULIA
Du hättest sie in Polen lassen sollen!
HOFFMANN
Seit unser Kind gestorben, seit
Cäcilias Tod ist sie verändert –
fremd! Und spricht viel mit sich
selbst, immer in Polnisch, um’s
nicht zu verlernen, wie sie sagt,
sie w i l l nicht meine Sprache
sprechen! Erst dachte ich, sie kann
nicht, doch jetzt weiß ich – sie will
nicht!
DOPPELGÄNGER (tiefe Schlucke
aus der Taschenbouteille nehmend)
Lass uns auf die Jagd gehen!
Brüderlein!
JULIA
Du musst ihr öfter ein neues Kleid
kaufen, das macht gesprächig!
DOPPELGÄNGER
He! Brüderlein! Wir wollen den
Wolf jagen!
HOFFMANN
Gestern war ich auf der Jagd in
Fränzdorf.
JULIA
Mit dem Wunderdoktor Koreff?
HOFFMANN
Habe eine Lerche geschossen und –
mich gefreut!
JULIA
Neulich hast Du ein Reh
geschossen, und Dich ‚gefreut‘ –
Du M ö r d e r ! (lacht)
(Unterm Fenster geht die Fronleichnamsprozession vorbei.)
DOPPELGÄNGER
O Miserere mei Domine – Affe!
Hörst Du, Brüderlein? A f f e !
JULIA (am Fenster)
Die Mönche aus dem
Kapuzinerkloster, sie tragen den
Leichnam des Herrn herum, die
freuen sich auch an nichts.
HOFFMANN
Un poco langweilig – die Litanei –
JULIA
Die scheinheiligen Brüder – drehn
an ihren Gebetsperlen und schielen
herauf zu mir!
HOFFMANN
Kein Wunder, wenn Du Deine
Brüste wie Pomeranzen aufs Sims
legst!
JULIA (wirft sich lachend bäuchlings
aufs Sofa, fixiert Hoffmann wie eine
Katze vor dem Ansprung)
Ich bin Deine Sphinx, nicht wahr?
Ich geb Dir Rätsel auf, pack Dich
beim Schopf und stoß Dich in den
Abgrund?
DOPPELGÄNGER
Hast ihr den Vogelbalg ins Bett
gelegt? Wasch es, das blutige
Tuch, wasch es!
35
| Bild XIII
36
HOFFMANN (zum Doppelgänger)
Fahr in Dein L o c h zurück!
DOPPELGÄNGER
Welches Loch, Brüderlein,
welches Loch?
HOFFMANN (zu Julia)
Gestern war Hochzeit in der ‚Rose‘.
JULIA
Ich weiß, die Kellnerin –
HOFFMANN
Und da ist der Kratzer tot
umgefallen!
JULIA
Der Gardeleutnant Kratzer?
Die arme Frau!
HOFFMANN
Koreff hatte ihm, des Bauches
wegen, Waldläufe empfohlen, und
so rannte er nun herum wie ein
Besessener, die Zunge hing ihm
aus dem Maul, und also keuchend
herein zum Hochzeitsmahl, und
stürzte ein Paar Gläser Chambertin
hinunter, griff die Braut zum
Tanzen, drehte ein paar Runden
und – bums!
da lag er!
JULIA
Und Du – hast Dich gefreut?
HOFFMANN
Minuten vorher hatt’ ich ihn in
meinem Skizzenbuch – verewigt,
kann man ja nun sagen!
DOPPELGÄNGER
Schieß Dich tot, Brüderlein, Du
bist ein toller Hund. Tolle Hunde
werden erschossen!
(Er kommt allmählich vom Gerüst
herab.)
JULIA
Die armen Kinder!
HOFFMANN
Sterben müssen wir alle! Ihn habe
ich nur tot gekannt! Gestern war
Section, der Doctor Koreff schnitt
ihm den Brustkorb auf, den inneren
Wurmfraß –
JULIA
Jetzt brauch ich einen Schnaps.
HOFFMANN (der sich blitzschnell
umgedreht und dem Doppelgänger
die Flasche entrissen hat)
Da trink, es ist ein Lebenselixier!
JULIA (nach einem starken Schluck)
Puhh! Ordinäres Kirschwasser!
Komm, lass uns noch etwas singen!
(sie gehen zum Flügel.)
HOFFMANN
Aber mehr con amore, wenn ich
bitten darf!
JULIA (singt)
‘Mio ben ricordati / s- avvien ch’io
mora –
(Sie bricht ab, wirft sich in den Rollstuhl,
schluchzt.)
DOPPELGÄNGER (sich
anschleichend)
Brüderlein – die Lerche – sie flattert
noch! Beiß ihr die Kehle ab!
HOFFMANN
Du Ratte!
DOPPELGÄNGER (zurückweichend)
Wer den anderen hinabstößt, darf
Blut trinken.
JULIA (das Blatt vor den Augen)
Was heißt ‚ceneri‘?
HOFFMANN
Asche.
JULIA (sprechend)
‚– nel urna t’adorerò??‘
HOFFMANN
‚Denk an mich, wenn ich sterben
geh, wie sehr diese Seele Dich
geliebt, noch die kalte Asche in der
Urne bete ich an.‘
JULIA
Wirst Du Dich einmal verbrennen
lassen?
(Pause)
DOPPELGÄNGER
Er brennt ja schon. Er brennt
lichterloh!
JULIA (roh)
Meinst Du, ich werd mir Deine
Urne aufs Vertiko stellen?
DOPPELGÄNGER
Er will Dir die Prinzessin rauben –
hihi, Dein Bräutchen, Brüderlein!
HOFFMANN (schreiend zum
Doppelgänger)
Ich schneid Dir den Hals ab!
JULIA (entgeistert)
Was?
HOFFMANN (schnell gefasst)
Ach, nichts! Nur dieser Knirps da
in der Ecke, mit seinen obszönen
Capriolen – da! Haspelt er unter der
Diele vor, ein phallischer Däumling!
JULIA
Wo? Du siehst wieder Gespenster!
Pass nur auf – eines Nachts werde
i c h an Deinem Bette stehn, mit
einer Maske vorm Gesicht und Dich
in Stein verwandeln.
HOFFMANN (heiter)
Als Perseus der Medusa den Kopf
abschlug, sprang der Pegasus heraus!
DOPPELGÄNGER
Ha, Brüderlein, Du wirst
Schindluder mit ihm treiben,
der taugt Dir nicht einmal zum
Ackergaul!
JULIA (die Hoffmann nicht zugehört
hat)
Und d a n n will ich Dich küssen,
nach Herzenslust.
Bild XV |
Szene 13
(Eintreten von links die ‚Konsulin‘,
Franziska Mark, und der Bankier Graepel
aus Hamburg; der Doppelgänger ist
verschwunden.)
GRAEPEL
Hab ich nicht süße Töne gehört
von nebenan – ‚Musik, der Liebe
Nahrung‘, oder so ähnlich?
KONSULIN
Das ist Herr Hoffmann, er erteilt
meinen Kindern Gesangsunterricht.
GRAEPEL (unbehaglich)
Ja, wir kennen uns schon von –
irgendwoher.
Sie haben ein Schadenfeuer gehabt?
Blitz oder Krieg?
KONSULIN (ohne hinzusehen)
Wir renovieren nur, morgen
kommen die Tapezierer mit den
Lyoner Seidentapeten – dann
verschwinden endlich Herrn
Hoffmanns schaurige Menetekel
von den Wänden (abschüttelnd). Es
ist Ihnen hoffentlich recht, dass wir
jetzt nur im kleinsten Kreise feiern –
eine Verlobung ist schließlich keine
Hochzeit!
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GRAEPEL
Aber bitte, keine Umstände, wer
kommt denn noch?
KONSULIN
Der Doktor Koreff und die Madame
Hoffmann und – nein, das ist eine
Überraschung.
HOFFMANN
Eine Ihrer teuren Extravaganzen?
KONSULIN (nervös)
Keine Tableaux, kein Kartenspiel,
kein Feuerwerk diesmal – mehr eine
Sphinx, exotisch! Ganz nach Ihrem
Gusto, Hoffmann!
GRAEPEL
Hoffentlich auch nach meinem?
KONSULIN
Sie werden Ihren Geist, Herr
Graepel, leuchten lassen können!
GRAEPEL
‚Die Geister, die sie rief, die wird
man nicht mehr los‘, oder so
ähnlich?
HOFFMANN
Den Geist Banquos vor allem!
GAEPEL
Banco? Verstehen Sie was davon?
Sie sind doch Musikmeister,
wie ich höre? Und betätigen das
Glöckchenspiel in der Zauberflöte
– I h r e Sorgen möchte ich haben!
B a n c o ! Wissen Sie denn,
was das bedeutet? Das ist die
solideste Währungseinheit auf dem
Continent! Ohne Banco bräche
der Handels- und Wechselverkehr
schlicht zusammen, und dann
könnten Sie sehen, wer Ihnen Ihre
Lektionen bezahlt! Banco! Und
wohin ist’s damit gekommen, seit
wir den Davoust und Daru auf dem
Hals haben! Unser Barbesitz betrug
einmal siebenundvierzig Millionen
Mark Banco!
Und wenn wir leihen auf Gold und
Silber im Faustpfand, nehmen wir
die niedrigsten Zinsen im ganzen
unheiligen Europa! Und da kommen
diese Haifische, die Franzosen mit
ihren Contributionen, und nehmen
der Kaufmannschaft und den
Hauseigentümern Renten im Wert
von zwei Millionen Franken weg!
Wir sind glatt ruiniert! ‚Die Armee
muß speisen und gürgeln!‘ sagt der
Franzose. (Zieht eine Zigarre, steckt sie
sich an und pafft.) Ja, ich frage Sie,
wer regiert denn nun eigentlich die
Welt – das Geld oder die Kanonen?
HOFFMANN
Heute die Kanonen, morgen das
Geld, übermorgen das Geld u n d
die Kanonen.
GRAEPEL
Wenn das so weiter geht mit den
Requisitionen, ist das Kreditgeschäft
perdu! Banco! Banco! Wenn das
kein Quälgeist ist! Und da soll man
eine Familie gründen!
HOFFMANN
Ich meinte den – anderen Banquo,
den aus dem Macbeth – aber wenn
der Ihre schon ausreicht, Sie von der
Familiengründung abzuschrecken,
will ich meinen ruhen lassen!
GRAEPEL (jovial)
Ah, den – ‚furchtbarer Anblick – der
blutdurchsiebte Geist des Banquo‘,
oder so ähnlich, wir haben ja auch
ein Theater!
HOFFMANN
Macbeth hat ihn erstochen, doch
braucht es eine Lady, die dazu stark
macht.
JULIA (noch im Rollstuhl mit dem
Notenblatt in der Hand, träumerisch
deklamierend)
‚Ich legt‘ ihm seinen Dolch bereit,
den musst’ er finden, und hätt’ er
nicht geglichen seinem Vater, wie er
schlief, ich hätt’ es selbst getan.‘
KONSULIN (etwas betreten)
Das arme Julchen hat den Vater
kaum noch in Erinnerung, sie war
vier Jahr alt, als er starb, der Konsul,
Sie erinnern mich an ihn, Herr
Schwiegersohn, er rauchte auch
Havannah!
HOFFMANN
Doch in der Gegenwart legt Lady
Macbeth ihrem Asino Sposo die
Pantoffeln zurecht und wartet,
bis man sie auf dem Jungfernsteg
spazieren führt.
GRAEPEL
Sie kennen Hamburg, Herr
Hoffmann?
HOFFMANN
Vom Hörensagen –
GRAEPEL
Das beste Rauchfleisch in der Welt,
und eine Mockturtelsuppe können
Sie da essen – schlicht aphrodisisch,
vor allem, mit einem Tropfen
Absinth dabei – hähä – und dann
der Drehhahn, der Apollosaal mit all
den Turteln im Gazeröckchen –
(schrilles Läuten)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Herr Doctor Koreff und Frau
Hoffmann vor der Tür!
Szene 14
KONSULIN
Immer herein, Herr Doctor! Jetzt
wollen wir wirklich zu feiern
anfangen.
KOREFF
Grüß Gott, Madame. Wo ist denn
der glückliche Bräutigam?
KONSULIN
Ein trauriger Anlass auch, seien Sie
froh, Frau Hoffmann, dass Sie keine
Kinder haben –
HOFFMANN
Eine Verlobung ist doch kein
Begräbnis?
KONSULIN
Erst hängen sie einem am Hals, wo
man geht und steht –
HOFFMANN
– und kartenspielt.
KONSULIN
– und dann lassen sie uns allein!
HOFFMANN
– mit unserem Geld.
MISCHA (pufft ihn)
Ja, kommen und gehen, die
Kindchen unselige.
HOFFMANN
Eine Hochzeit ist keine
Himmelfahrt.
GRAEPEL
Von Ihren Wunderkuren, Herr
Bild XIV |
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Doctor, hab ich viel gehört, mich
drückt ja nur der Magen, das aber
chronisch!
KOREFF (fasst ihm an den Leib)
Da hat der Wolf die Großmutter
gefressen, oder wars das
Rotkäppchen?
GRAEPEL
Eher das Rauchfleisch und die
Schildkrötensuppe.
KOREFF
Fasten Sie acht Tage und kommen
Sie täglich zu mir ins Spital, ich
mache Ihnen ein Clistier mit
Gerstenschleim.
GRAEPEL (greift sich an den Hintern)
Ein Cilistier? Sie meinen – einen
Einlauf?
KONSULIN (zu Koreff )
Ist es nicht entsetzlich, wie Kratzer
plötzlich – von uns ging?
KOREFF
Kratzer ist abgekratzt, der
Hochzeitstanz, der war sein
Totentanz, ich hätte die
Erweckungskur mit ihm probieren
können – glühend Eisen unter seinen
Sohlen, aber an Fronleichnam wär
das Blasphemie gewesen.
HOFFMANN
Überlassen wir ihn doch getrost dem
inneren Wurmfraß!
GRAEPEL (KRATZER! – plötzlich aus
der Rolle fallend, ins Publikum)
Hören Sie nicht auf diese
Terrorbande! Rufen Sie die Polizei,
man hat uns eingeschlossen, sie
werden uns alle v e r b r e n n e n !
(schrilles Läuten)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Die Frau Konsulin bittet um
Aufmerksamkeit!
(Stille)
KONSULIN
Wie wär’s denn, wenn uns Julia
jetzt etwas sänge? Wir werden ihre
vielgepriesene Stimme ja nicht
mehr lange hören!
(beifälliges Murmeln)
JULIA (noch im Stuhl)
Ich kann nicht singen, ich habe
Kopfschmerzen.
(ratlose Pause)
KOREFF (tritt hinter ihren Stuhl)
Sie leiden an Kopfschmerzen?
Nichts mehr als das? Wohin soll ich
Ihnen die Schmerzen bannen? In
die Stuhllehne? In den Spucknapf?
Durchs Fenster hinaus?
(er beginnt, Julias Schläfen zu
massieren, Julia gerät in Trance)
Wie wird Ihnen, wie ist Ihnen
jetzt?
JULIA (in Trance)
‚Denk an mich, wenn ich sterben
geh, wie sehr diese Seele dich
geliebt.‘
KONSULIN
Überreizen Sie sie auch nicht,
Doctor?
KOREFF
‚Was sie betäubte, hat sie stark
gemacht, und was sie dämpft’, hat
sie entflammt.‘ – woher stammt
das, Kratzer, Graepel?
GRAEPEL (mechanisch)
Macbeth, wir haben ja auch ein
Theater in Hamburg.
JULIA (in Trance)
‚Die Eule war’s, die schrie, der
traurige Wächter, der grässlich gute
Nacht wünscht.‘
KOREFF
Und das – Graepel?
GRAEPEL (zurück in der Rolle)
Shakespeare, Shakespeare – ja,
die Engländer, die werden’s dem
Napoleon zeigen!
JULIA (erwachend)
Wo bin ich? (springt auf )
Der Kopf ist leicht, wo sind die
Schmerzen jetzt? Im Spucknapf
oder Punschtopf?
KOREFF (beim Fenster, das er schließt)
Sie fahren mit der Windsbraut in ihr
Bette, und tanzen mit dem Uhu um
die Wette.
JULIA
Komm, Hoffmann, singen wir ihnen
etwas!
(Sie beginnt eine glasklare, leicht
vulgäre Arie zu singen; sie wendet
sich von jetzt an Graepel zu – ihn zu
verhöhnen oder zu verführen.)
Szene 15
(Von links Mälzel auf Zehenspitzen
herein, die Konsulin winkt ihn heran –
er wird erwartet, hält sich aber abseits,
nickt mit dem Kopf zum Takt der Arie,
missbilligt die Rubati und zieht schließlich aus seinem Koffer sein Metronom –
erst leises, dann immer lauteres Tacken
des Geräts. Hoffmann springt fluchend
vom Flügel auf, kommt nach vorn.)
HOFFMANN
Die verfluchte Uhr! Stellt denn
keiner die idiotische Uhr ab, man
sollte sie alle konfiszieren und
verschrotten.
MÄLZEL
Ist der aber fuchtig!
HOFFMANN
Überall dieses Tacken!
GRAEPEL (klopft ans Holz des Flügels)
Solides Mahagoni!
HOFFMANN (tanzt wie verrückt auf
einem Fuß)
Überall dieses Klopfen!
GRAEPEL
Die englischen sind noch solider!
HOFFMANN
In Warschau die Weltgeschichte und
hier die Uhren und die Philister!!
MÄLZEL
Das ist keine Uhr, Herr
Kapellmeister, das ist ein
Metronom – mein neues Patent!
HOFFMANN
Warum tanzen Sie nicht auf dem
Eise, wie? Tack! Tack! Tack!
Barfuß auf dem Eise!!
MÄLZEL
Dankbar müssen’s mir sein, dass ich
das schon wieder erfunden hab! Ihr
habt’s ja keinen Halt, ihr Genies!
Seid’s ja alle nervöse Schussel! Mal
geht’s allegro und fidel, dann wieder
stad und pomadig, wie’s Euch grad
ins Hirnkastl kommt! Da wissen’s
die Leut ja nie, wann’s fertig seid!
GRAEPEL
Ja, die Konzerte sind immer viel
zu lang.
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KOREFF (zu Hoffmann)
Sie jagen die Ratte aus der
Herzkammer ins Laufrad.
MÄLZEL
Das Fräulein hat ja eine
bezaubernde Stimme, aber – das
Hin und Her – da wird’s einem
schwindlig! Das ist ungesund, da
braucht’s eine Stütze, ein Korrektiv!
HOFFMANN
Warum sind Sie nicht Tambourmajor
geworden? Draußen auf dem
Schlachtfeld – da schlagen Sie den
Toten und Ratten den Takt! Oder
den Waschweibern im Hinterhof!
Eine einfache Drehorgel –
Mechanik um der Mechanik
willen – vortrefflich! Draußen auf
dem Eise! Aber hier – wo endlich in
all der schwarzen Verwüstung die
reine Naphta­flamme, das geistige
Prinzip, aus einer Menschenstimme
aufschlägt – hier stecken Sie Ihre
Lichtputzschere ein! Mir ist alles
Tote und Starre, das Maschinen­
klopfen zuwider – da! Schreiten
Sie den Kapuzinern voran mit ihrer
Gottesleiche – tack! Tack! Tack!
Tack!
MISCHA
Aber der Herr meint’s doch nicht
bös, Ernst!
MÄLZEL (packt das Metronom weg)
Wenn’s alle so grantig seid, dann
geh ich halt.
(Indessen rollt unversehens Mälzels
SCHACHAUTOMAT herein: ein Kastentisch mit aufgeschraubtem Spiel­brett,
hinter dem eine greuliche, bedroh­liche
Puppe – der Türke – sitzt; in der linken
Hand hält sie einen Stock mit Goldknauf, die Augen sind geschlossen;
beiderseits der Figur tauchen die
Packer auf, die sie hereingeschoben
haben; Schreck und Über­raschung
bei den Gästen.)
GRAEPEL
Ja, was ist denn das?
HOFFMANN
Ihre neueste Extravaganz, Frau
Konsulin?
JULIA
Die Überraschung, nicht wahr,
Maman?
KONSULIN
Aber ich hatte mir nicht einen so
garstigen Götzen erwartet!
HOFFMANN
Gottlose Heiden da hinten in der
Türkei, nicht, Mischa?
MISCHA
Ist doch nur ein Riesenspielzeug.
Sitzt ein Kindchen darin und lacht.
KOREFF
Eher ein Incubus, ein Taschenteufel!
KONSULIN
Herr Mälzel, auf der Durchreise
nach Wien, hat sich gütigst bereit
erklärt, uns sein berühmtes –
Spielwerk vorzuführen!
HOFFMANN
Der Verlobungstürke – was wird der
Mälzel erst zur Hochzeit bringen!
MÄLZEL (noch beleidigt)
Ich bin ja schon froh, wenn’s mir
das Uhrwerk nicht z’ammschlagen!
KONSULIN (rapid auf ihn einredend)
Nun schmollen Sie nicht, Herr
Hofmechaniker, der Hoffmann ist
ein jäher Mensch, ganz unbeherrscht
und von sich eingenommen, und
alles, meint er, muss der Kunst ge­
opfert werden, wir stören ihn dabei,
und kann doch ohne uns nicht
sein, sieht rot und grau, und unter
ihm klopft immer sein Gewissen,
über ihm tickt eine Totenuhr, er
ist verrückt, verstehn Sie, ein
gefallener Geist!
MÄLZEL
Jo mei – das kenn ich ja vom
Beethoven in Wean, die überlässt
man am besten ihrem Schicksal.
(baut sich jetzt vor dem Türken auf )
Was Sie hier sehen, meine
Herrschaften, ist der berühmte
Mälzelsche Schachautomat – alles
Walzen und Räderwerk!
(zieht einen Schlüsselbund und öffnet
die Lade unter dem Schachbrett)
Schwanzschrauben, Gewichte und
Schwungfedern! Treten Sie näher!
Schauen’s ruhig ins Innere, der
Türk – er frisst Sie nicht!
(Die Gäste drängen sich um Mälzel
und den Automaten.)
KOREFF
Hu, Graepel, wenn Sie diesen
Bratenwender im Leibe hätten,
statt dem Rauchfleisch!
GRAEPEL
Ja, denkt der denn mit seinem
Unterleib?
MÄLZEL (legt ein Fenster in der Brust
des Türken frei.)
Er denkt mit dem Herzen. (Ein
Zahnrad hinter dem Gazeschleier.)
Hier schaun Sie in das Zentrum
dieses Wesens! Der Blick aus der
Pupille schießt hinab ins Uhrwerk
seiner Seele und wird Elektro­
mystisc­hmes­me­risch­mag­ne­tisch
ver­wandelt in den e i n e n Impuls,
der dann den Übertürk aufheizen tut.
GRAEPEL
Der wäre?
MÄLZEL
Ausschalten, eliminieren,
überwinden, überleben.
MISCHA
Ungeheuer ungewaschenes!
JULIA
Und im Kopf, was hat er da?
GRAEPEL
Liebchen, siehst du nicht, ein
Holzkopf!
MÄLZEL
Spielt immer schwarz, der Türk, nur
wenn er angegriffen wird, er säß
sonst nur und blickte dräuend in die
Gegend. (Schnarren und Rumpeln im
Inneren der Figur.)
Er läuft schon warm, er räuspert
sich, weiß, dass er schaffen muss.
JULIA
Und wo sind die Figuren?
(Mälzel winkt den Packern, die zie­hen
an beiden Enden des Tischs Schub­
laden auf, stellen zwei Sätze Figuren
aufs Brett.)
MÄLZEL
Obwohl’s ihm wurscht ist, nimmt er
jeden an, er überwindet jeden, ohne
Freud, er kann nur siegen, und kein
Geist ist stark genug, ihm Widerpart
zu bieten!
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HOFFMANN
Mischa, ruf den heiligen Geist!
MISCHA
Da sitzt ein Bübchen drin mit all die
Räderwerk und fürcht’ sich.
GRAEPEL
Wie die Rechenmaschine des Mister
Babbage in Boston, die computiert
astronomische und nautische
Tabellen, man gibt nur ein paar
Data ein, schon schnurrt es los und
korrigiert sich sogar selbst –
MÄLZEL
Er stöhnt auch manchmal in der
Nacht.
HOFFMANN
Aber beim Schachspiel gibt es
tausend – abertausend Data!
GRAEPEL
Schnurrt es los – programmgemäß,
exact und progressiv der Lösung zu,
wir haben die Maschine schon für
unsere Bank bestellt.
HOFFMANN
Da müsst der Türk Legionen und
Legionen Vicetürken speien, die
gnomisch und allgegenwärtig durch
den Weltgeist wimmelten, ihm
hinterbrächten, was unmöglich und
was möglich ist – das traue ich dem
Tack-tack-Mälzel noch nicht zu!
Sie haben nicht sein Herz auf dieses
Rad geflochten?
MÄLZEL
Er seufzt des Nachts, und wenn
ich nach ihm schaun geh mit der
Lampen – da sieht er mich so an –
na wissen’s wie a Marterl, der denkt
halt für uns alle, das schlägt ihm
aufs Gemüt, das viele Denken, das
ist nicht gesund!
(Er winkt die Packer hinaus.)
GRAEPEL
Füttern Sie ihn auch von Zeit zu
Zeit?
MÄLZEL
Warten halt – a bisserl Öl!
KOREFF
Spießt den Verlierer auf den
Bratenwender und brät das Ferkel
über seiner Melancholie.
KONSULIN
Und wer von Ihnen hat jetzt
die Courage, gegen den Götzen
anzutreten?
JULIA
Graepel wird seinen Geist
durchleuchten lassen, nicht wahr,
mein Süßer, du wirst mich nicht
enttäuschen?
KONSULIN
Vielleicht noch eine kleine Stärkung
zuerst?
(Füllt ihm ein Glas aus dem Punschtopf, von nun an kreisen die Gläser.)
MÄLZEL
Da brauchen’s sich nicht zu
schämen, da haben’s alle die Hosen
voll, wenn’s gegen den Mullah
geht! Sogar der große Napoleon, der
Sieger von Jena und Auerstädt, hat
gebibbert, und dass man’s nicht so
sieht, hat er die zitternde Hand im
Hemd versteckt, hat dennoch dran
glauben müssen!
HOFFMANN
Historischer Augenblick – nach dem
Weltgeist auf dem Apfelschimmel
der Geist des Banco auf dem
Afterschemel! Graepel! W e r
regiert die Welt – das Geld oder die
Kanonen?
MISCHA (zu Hoffmann)
Musst Du immer Gottseibeiuns
spielen?
JULIA (zu Graepel)
Nun – mein Goldschatz?
GRAEPEL (pafft und trinkt, dann rollt
er den Stuhl an den Schachtisch)
Er kann mich ja nicht fressen –
hähä! (zu Mälzel)
Ziehn Sie ihn nur auf!
MÄLZEL
Er ist schon angekurbelt, fangen’s
nur an! Sobald Sie ziehen – wacht
er auf.
GRAEPEL (pafft und trinkt, dann zieht
er. Anerkennungsgemurmel. Der Türke
öffnet die Augen, hebt den Stock mit
dem Goldknauf, stößt einmal damit
auf dem Boden auf, macht mit der
anderen Hand einen abgezirkelten
Zug, stößt danach mit dem Stock
zweimal auf.)
MÄLZEL
Königs Bauer nach E sechs!
HOFFMANN
Auch so ein Klopfgeist!
KOREFF
Spüren Sie schon die kannibalische
Dynamik, Graepel?
JULIA
Du wirst den Minotaurus ins Herz
treffen und die Jungfrau aus dem
Irrgarten schleppen, nicht wahr,
mein Lämmchen?
GRAEPEL (pafft und trinkt)
Völlig harmlose Eröffnung? (zieht.
Bewunderungsgemurmel. Der Türke
stößt mit dem Stock auf, macht seinen
Zug, stößt zweimal auf.)
MÄLZEL
Königs Bischof nach C fünf!
MISCHA
Da sitzt ein kluges Männlein drin
vermaledeites!
KONSULIN
Aber wo? Er hat uns innen alles
aufgeschlossen, ausgeleuchtet!
JULIA
Ziehst du jetzt schon das
Schwänzlein ein, bist doch kein
kleines Schoßhündchen mehr,
Liebster?
GRAEPEL (pafft und trinkt)
Völlig logischer Folgezug, aber
gänzlich ungefährlich, was, Doctor?
KOREFF
Der Teufel streckt schon seine
Krallen aus, Graepel!
GRAEPEL (pafft und trinkt und – zieht.
Aufregung bei den Gästen. Der Türke
stößt mit dem Stock auf, macht seinen
Zug, stößt zweimal auf.)
MÄLZEL
Dame nach F zwei!
HOFFMANN
Der Schwanz ist eingeklemmt, der
Rattenkönig sitzt in der Falle!
KOREFF
Habt Ihr zur Nacht gebetet,
Graepel?
JULIA
Das Bettchen ist schon gemacht für
meinen Spatz!
GRAEPEL (pafft stark und trinkt heftig)
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Bild XVII |
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Was habt Ihr denn, das Spiel fängt
doch erst an, ich – (zögert über
dem nächsten Zug) – hole mal den
Springer aus der Ecke, eh, Doctor?
KOREFF
Holt ihn nur!
(Graepel zieht, der Türke stößt mit dem
Stock auf, zieht, nimmt einen weißen
Bauern vom Feld und öffnet den
Mund.)
TÜRKE
E-chec! (stößt zweimal mit dem Stock
auf.)
MÄLZEL
Dame nach F zwei, schlägt Bauern,
bietet Schach und setzt M a t t !
(Der Türke fixiert Graepel.)
GRAEPEL
Matt? Warum hat mich keiner
gewarnt? Stier mich nicht so an,
Holzkopf!
(Der Türke schließt die Augen.)
HOFFMANN
Ein billiger Triumpf, da hat
der Poltergeist sich nicht sehr
anzustrengen brauchen.
JULIA
Schon m a t t, mein armes
Eselchen, wie soll das denn nun
weitergehen?
GRAEPEL (trinkt und gibt sich einen
Ruck)
Ja, was denn, wo Napoleon versagt,
da braucht sich Graepel nicht zu
echauffieren.
MÄLZEL
Der Automat besiegt sie alle – die
Mächtigen, die Reichen und die
Klugen –
HOFFMANN
Das Geld verbrannt, die Kanonen
verschrottet, es lebe der Türk!
(hebt sein Glas)
MÄLZEL
– und besiegt am End’ auch die
Genies!
HOFFMANN (lässt das Glas sinken)
Verderben den P h i l i s t e r n !
GRAEPEL
Unglück im Spiel, Glück in der
Liebe!
(fällt, stark betrunken, mit Julia aufs
Kanapee)
KONSULIN (zu Mälzel, der die Figuren
wegräumt)
Was bin ich Ihnen schuldig, Herr
Mälzel?
MÄLZEL
Das macht vierunddreißig Dukaten,
oder – sagen wir dreiunddreißig,
bittschön!
KONSULIN (zahlt)
Sie bleiben doch noch zum Essen?
KOREFF (zur Konsulin)
Starker Tobak auf den leeren
Magen, was werden wir nach
Tische noch alles erleben in Ihrem
exotischen Hause?
KONSULIN (nervös)
Wir können ja noch – lebende Bilder
stellen?
KOREFF
Tableaux vivantes, vortrefflich, ich
sah in London Füßlis neues Bild –
‚Der Nachtmahr‘, wunderlich und
höchst sinister!
GRAEPEL
He, Doctor, wissen Sie, wie die
Turteln im Drehhahn ihre Freier
zum Lachen bringen? Sie kauen
Pfeffer, bevor sie lutschen – hähä!
KOREFF (finster)
Wissen Sie, wie die Araber ihre
Kamele zum Tanzen bringen? Sie
führen sie auf erhitzte Bleche.
MISCHA (zu Koreff )
Was seid Ihr alle so häßlich, ist
doch Verlobung wunderschönes,
nur e i n m a l Verlobung in Leben
scheußliches!
JULIA
Hört auf sie, sie muß es wissen,
was danach kommt, ist die Hölle.
KONSULIN
Julchen, trink nicht so viel!
KOREFF
Freunde, die Gläser zur Hand!
Hoffmann wird es hoffentlich für
keinen Frevel halten, wenn ich vor
dem Bildnis der Verlobten eine
Libation vornehme, was weniges
Punsch mit zierlicher Andacht auf
meine blank gewichsten Stiefel
vergieße.
GRAEPEL (springt vom Sofa auf )
Juchhei! Prosit! Prosit! (will Julia
nach sich ziehen, quetscht ihr
ungeschickt den Arm, sie schreit
auf, reißt sich los, Graepel ihr nach)
Pardon, Liebchen, bin ich besoffen?
Nicht böse sein!
(stolpert und fällt der Länge nach
hin. Betroffenheit der Gäste. Koreff zu
dem Gestürzten. Hoffmann, der etwas
abseits gestanden hat, tritt hinzu)
HOFFMANN (laut, vulgär)
Sehen Sie, da liegt der
Schweinehund! Schneiden Sie dem
Kerl den Wanst auf, das wird ihn
erleichtern!
KONSULIN (rabiat)
Herr Hoffmann! Sie haben meinen
Gast beleidigt! Ich will Ihre
F r a t z e hier nicht mehr sehen!
Und die Stunden sind auch
ausgesetzt! Schluss mit all den
Albernheiten! Kommen Sie mir
nicht mehr über die Schwelle!
(Pause, dann schrilles Läuten.)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Das Essen ist angerichtet!
(Erleichterung bei den Gästen.)
KOREFF
Es wurde auch Zeit, kommen Sie,
Michalina! (bietet ihr den Arm; sie
blickt entsetzt zu Hoffmann hinüber,
folgt aber den anderen.)
KONSULIN
Ja, lassen wir uns nicht die
Stimmung verderben, Schild­kröten­
suppe zuerst, dank Herrn Graepel!
(Alle ab, zuletzt Graepel, der sich mit
Julias Hilfe aufgerichtet und abgeklopft hat; beide blicken zu Hoffmann
zurück – Graepel höhnisch, Julia starr.)
Szene 16
(Hoffmann, allein zurückgeblieben,
sitzt benommen beim Schachtisch
und trinkt. Geräusche und Stimmen
aus dem Speise­zimmer.)
HOFFMANN
Wahnsinn! Wahnsinn! Schlafen!
(Pause) Göttliche Ironie steh mir
bei! Einziges Mittel, Verrücktheiten
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zu bemänteln und zu vertreiben,
ekelhaft! Ich möchte schlafen!
(Pause) Nein, ich möchte arbeiten!
Die Farce, aus der unser ganzes
Leben und Treiben besteht –
(Schnarren im Innern des Türken. Die
Figur öffnet die Augen, stößt mit dem
Stock auf.)
Ich spiele nicht, Mohammed, ich
schlafe.
(Pause. Der Türke hebt die Spielhand,
stößt auf Hoffmanns Kopf herab. Hoffmann steht entsetzt auf, greift sich mit
beiden Händen ins Haar.)
HOFFMANN
Ganz recht, ganz recht! Ich
will ein Schlangengift in ihre
Mockturtelsuppen rühren, den
zahmen Wolf ins Feuer werfen!
(Hinter dem Türken ist Chiara – in
schwarzem Tricot – hervorgekommen)
CHIARA
Das wird Dir Macht geben,
Amadeus, über Dich selbst und
über die Philister.
HOFFMANN
D a s ist des Türken Kern – ein
Zitterrochen, ein Torpedo, wie bist
Du den Befreiern entkommen,
Chiara?
CHIARA
Sie haben uns auf dem Markte
zusammengetrieben.
HOFFMANN
Darus Soldaten?
CHIARA
Nicht die Soldaten, wir entkamen
südwärts, eine ganze Bande von
uns, und wurden umzingelt, hockten
auf den Steinen, in der Sonne, von
den Häschern bewacht – da ging der
Mälzel vorüber.
HOFFMANN
Tack! Tack!
CHIARA
Und ich rief ihn an: He, blanker
Bruder, soll ich Dir weissagen?
Und er streckte mir die schrundige
Hand hin, und ich sagt’ ihm: Fürchte
nichts, dein Türk wird wieder leben!
HOFFMANN
War er kaputt, der Türk?
CHIARA
Zu lang gekrümmt im Räderwerk
gelegen, zu wenig Luft und Auslauf,
zu viele Schläge und rapides
Grübeln im engen Kabinett.
HOFFMANN
Wer, der Türk?
CHIARA
Ja, ja, der Türk – der Z w e r g,
der den Napoleon besiegt hat, ein
zitronengelbes Männchen aus Tokat,
er war dem Mälzel jenes Tages
hinweggestorben.
HOFFMANN
Wer hat jetzt den Graepel
geschlagen?
CHIARA
Der Gardeleutnant wollt’ mich
erst nicht gehen lassen, hier sei
kein Sklavenmarkt, doch zu den
Menschen sei ich nicht zu rechnen,
und das Zuchthaus würde ich bloß
molestieren, also zehn Dukaten an
die Armenkasse – und ich bin frei.
HOFFMANN
Der Mälzel hat Dich eingekauft.
CHIARA
Erst setzt’ er sich inmittst des
schmutzigen Volkes nieder und zieht
sein Schachspiel aus dem Koffer
und – examiniert mich.
HOFFMANN
Du hast ihn geschlagen?
CHIARA
Jetzt schlägt er mich. Er geißelt mir
die Funken aus den Augen, bevor sie
mich zum Spielen rollen.
HOFFMANN
Warum?
CHIARA
Die Doctors sagen, prügeln befördre
fixes und präzises Denken.
HOFFMANN
Der Koreff!
CHIARA
Heut vergaß er, mich im Kasten
einzuschließen, und ich werd nicht
mehr an diesem Fenster stehn,
(hebt den Schleier über dem Rad)
das Herzrad kurbeln und gewinnen,
will zurück zu den Verlorenen.
HOFFMANN
Ins Zuchthaus?
CHIARA
Der Leutnant hat die Großmutter,
die nach mir heulte, auf den Wagen
geschmissen, der zum Abfahren
bereit stand, und Mälzel schleppte
mich weg und kauft’ mir auf dem
selben Markt Piroggen, ich war
hungrig. (Sie stopft hastig ihre Pfeife.)
HOFFMANN
Das alles muss ein Ende nehmen.
CHIARA
Verwüst’ ihr Haus und raub es aus!
HOFFMANN
Wie? Hier das Haus der Konsulin?
CHIARA
Zerschlag die Vasen, schlitz die
Polster auf, piss ins Clavier!
HOFFMANN
Hier war mein Paradies.
CHIARA
Reißt die extravaganten Lyoner
Seidentapeten von Deinen
Fresken!
HOFFMANN
Übermorgen, Chiara, übermorgen.
CHIARA (deutet auf den Kühlschrank)
Da hat der Graepel zwanzig
Schildkröten gelagert und
zweihundert Flaschen Burgunder,
schmeiß sie in den Fluß!
HOFFMANN
Die Regnitz ist nicht tief genug.
CHIARA
Lass uns zusammen weggehen, in
den Wald zu meinen Leuten.
HOFFMANN
Soll ich mit Ruchlosen Verkehr
pflegen? Mit Räubern, Abenteurern,
Mördern?
CHIARA
Wenn Du an Deinen bösen Geistern
ersticken willst?
HOFFMANN
Können wir nicht die Schildkröten
und den Burgunder an die Armen
verteilen?
CHIARA
Der Leutnant hat die zehn Dukaten
in die eigene Tasche gesteckt.
HOFFMANN
Soll ich in Kellern,
49
50
Elendsquartieren, im Untergrund
verkommen?
CHIARA
Aus dem Palais vertrieben, aus
dem Bürgerhaus verwiesen – wirst
Du jetzt im Apollosaal brillieren?
Ballett und Operette für die
Bankiers am Abend?
HOFFMANN
Blutige Greuel und Schrecknisse –
ich brauch’ sie nicht zu üben,
sie werden unter meinem Pinsel,
meiner Feder so lebendig, dass ich
schreie –
CHIARA
Schrei nach Mischa, schrei nach ihr,
und kitzle mit dem Pinsel, mit der
Feder die Philister – ein Poet gehört
zu den Verworfenen, Amadeus, in
den Wald, unter der Brücke –
(Geräusche und Stimmen aus dem
Speisesaal.)
KOREFFS STIMME
Und jetzt die lebenden Bilder – die
Konsulin in einer Charade:
‚Was liegt im faltgen Rocke auf der
Erde? Des bösen Rätsels Deutung
bringt Gefährde.‘
(Mälzel nähert sich beschwipst)
HOFFMANN
Da kommt der Mälzel, rasch
versteck Dich!
(Chiara zieht sich eine Kapuze – eine
Hundemaske übers Gesicht, bleibt bei
Hoffmann sitzen, pokulierend.)
MÄLZEL
So, da sitzen’s noch beinand – der
Hofmann und der Hofhund.
(Chiara bellt.)
MÄLZEL
Pollux, sei stad! Das ist nicht für
Dich.
HOFFMANN
Haben Sie etwas von der Festtafel
abgezwackt für den trojanischen
Hohlkopf – damit er in der Nacht
nicht wieder stöhnt?
MÄLZEL
Also das Essen war ja gut,
aber was sie jetzt machen, das
interessiert mich nicht, das ist mir
zu dilettantisch, die mythologischen
Faxen – da knien sich’s hin und
strecken die Ärm aus aufm Tabouret
und ha’m diesen unangenehm
geschpenstischen Blick – naa, das
ist mir zu
damisch.
(Stimmen aus dem Speisesaal)
KOREFFS STIMME
Und jetzt eine gotische Gruppe:
‚Als Irrlicht steigt die Dame aus
der Flamme, Die Poesie erhebt sie
aus dem Schlamme.‘
MÄLZEL
Das Fräulein Julia, die tut mir
ja leid, so a schiachs Mandl!
Dem wachst ja der Tripper zu’n
Ohrwatscheln raus.
HOFFMANN (erstarrt)
Das sind Brandflecken.
MÄLZEL
Ja, dös glaub ich, dass der Pfeffer
gebrannt hat!
(Nimmt beim Kühlschrank seinen
Koffer auf. Chiara knurrt.)
HOFFMANN
Sie sind ja auch ganz schwarz.
MÄLZEL
Und ob! Und wie! Nach d e m
Malefizkonzert im Schlossgarten!
HOFFMANN
Hat da eine Granate eingeschlagen?
MÄLZEL
Ja, ham’s nicht davon gelesen?
Das stand doch in allen Zeitungen,
wie der Beethoven und der Mälzel
die ‚Schlacht bei Vittoria‘ fürs
Panharmonicon komponiert ham –
mit all die Kanonen
(klopft vor Begeisterung an den Kühl­
schrank, der sofort einige krächzende
Takte aus Beethovens ‚Wellingtons
Sieg –‘ ausspuckt.)
Und danach ‚Der Brand von
Moskau‘, mit dem Feuerwerker
Meckel z’amm, wie die Russen die
Franzosen verbraten ha’m, davon
kann man wohl schwarz wer’n!
HOFFMANN
Der Beethoven und der Bratofen!
PAPAGEI
Der Hoffmann und der Hoffmann!
MÄLZEL
Bevor ich’s vergess – hier wär ein
Brief für Sie (gibt ihm den Brief ).
Mit einem Gruß von Ihrem Spezi in
Berlin.
HOFFMANN
Hitzig?
MÄLZEL
Auf geht’s, Kümmeltürk! Hoam
nach Wean!
(Chiara bellt. Mälzel schiebt den
Automaten hinaus, kommt aber
wieder zurück.)
CHIARA
Passen’s auf Ihre Frau auf, Herr
Musikdirektor, die trinkt mit dem
jidischen Doctor schon aus e i n e m
Glaserl!
PAPAGEI (diskret)
Brr! Brr!
HOFFMANN (hat den Brief erbrochen,
lässt ihn überwältigt sinken.)
Von Beethoven! Beethoven lässt
mich grüßen!
PAPAGEI (dezent)
Bravo!
(Stimmen aus dem Speisesaal)
KOREFFS STIMME
Zuletzt – der ‚Albtraum des
Verschmähten‘!
(Summtöne, Fagotte und Klarinetten
wie in Szene 9. Der Kühlschrank öffnet
sich; drinnen in phosphorischem Licht
ein ‚lebendes Bild‘: Füßlis Gemälde ‚Der
Nachtmahr‘ – Julia hin­ge­streckt vornüberhängend, auf ihr hockt Graepel
als Albdruck, an einem Stück Rauchfleisch kauend, er starrt höhnisch zu
Hoffmann hinüber.)
HOFFMANN (mit gezücktem Messer
auf den Kühlschrank losgehend)
Der Spaß der Hölle ist empor­
ge­stie­gen (lacht), die Kröte ist
heraufgekrochen, bin ich Antonius,
zur Fidel geworden meine Brust,
und ist’s des Teufels Blendwerk
in der Wüste? Oh, diese schwarze
Wüste, wachsen dem Uhu die
Heuschreckenbeine aus den Ohren,
willst Du mir die Prinzessin rauben?
Juche!
| Bild XVIII
51
(Will zustoßen, aber hinter dem
Stehpult schießt der Doppelgänger in
Richterrobe herauf.)
DOPPELGÄNGER
Paragraph
achthundertsechsundzwanzig –
das Rädern von oben herab, wohl
bekomm’s, Brüderlein!
(Hoffmann lässt das Messer fallen,
Chiara/Pollux liest es auf und läuft
hinaus, der Kühlschrank schließt sich.)
HOFFMANN
Mischa! Mischa!
DOPPELGÄNGER (höhnisch im
Versinken)
Mischa! Mischa!
(Die Packer treten auf – in moderner
Kluft)
1. PACKER
Weitermachen! Nur nicht stören
lassen, wir sollen nur den alten
Eisschrank holen.
2. PACKER
Was proben Sie denn? Früher war
das ja mal ein Museum.
1. PACKER
Und noch früher das
Reichsgaskammergericht.
2. PACKER
Aber heut wird ja alles zum Theater.
(Packer ab mit Kühlschrank.)
Szene 17
(Mischa aus dem Speisesaal.)
52
MISCHA
Bist tollwütig geworden,
Ernst! Gleich schreibst Du
Entschuldigungsbrief! Die Frau
Konsul war immer gewesen gütig
mit uns! Dummes Jungenstreich
infames!
HOFFMANN
Ich war erschrecklich besoffen
und – un poco exaltiert!
MISCHA
Nix exaltiert – Eifersucht
miserables, elendes, verderbliches!
HOFFMANN (ergeben)
Dies tristis et miserabilis. Hat
wenigstens der Wein geschmeckt –
aus Koreffs Glas?
MISCHA
Mischa will weg aus Wespennest
abscheuliches!
HOFFMANN
Den Contrakt hab ich schon in
der Tasche – Correpetitor an der
Dresdner Oper. Leider regieren
die Kanonen die Welt; es wird
schwer halten, die Kutsche
zwischen all den Kosaken,
Baschkiren und Lützowschen Jägern
hindurchzunavigieren, von der
französischen Artillerie ganz
zu schweigen! Aber wenn sie
unsre Pässe visieren –
MISCHA
David wird auch reisen, er will sich
taufen lassen in Meißen.
HOFFMANN
David? Du meinst den Doctor
Koreff, nicht, meine Liebe?
Ich verstehe ja, dass Itzig seinen
Namen ändert, aber warum Koreff
sich taufen lässt –?
MISCHA
Sind alle Christen am Hof des
Königs in Berlin, und ist ihm
erschienen Sankt Antonius im
Traum.
HOFFMANN
Sieh da! Antonius – der von Padua,
versteht sich, nicht der aus der
Wüste Thebais – in welchem Bette
er wohl da geträumt hat?
MISCHA
Kannst Du nicht auch nach Berlin?
Ans Gericht an preußisches?
HOFFMANN
Nicht so hitzig, Madame, erst will
ich meine Oper schreiben, die
U n d i n e, die Geschicht’ von
einem edlen Ritter, der mit einer
Frau zur rechten, einer Fee zur
linken fröhlich seine Nacht
verbringt.
MISCHA
Gottloses Blendwerk schmutziges!
HOFFMANN
Atlantis ist ins Wasser gefallen, eine
versunkene Stadt – aber ich höre
aus der Tiefe ihre Glocken läuten.
(Lauscht. Stille. Dann das Rumpeln
einer fernen Kanonade.)
(Vorhang.)
PAUSE
Szene 18
(Elbufer in Meißen. Das Malgerüst als
Brückensteg – mittlings verbrannt und
eingestürzt – vom Stehpult – mittels
des Ofenrohrs zur Kanone umgebaut –
diagonal nach links hinten gespannt.
Flussrauschen; Signalfeuer von fernen
Bergen. Daru, sichtlich dem Brand von
Moskau entronnen, deckt mit seinem
Kanonier, dem Doppelgänger, einen
Ausbruchsversuch der Franzosen von
Dresden nach Meißen.)
DARU (mit dem Perspektiv ins Dunkel
spähend)
Da, da! Ein Pülk Baschkiren! Feu!
Feuähr!
(Doppelgänger schießt)
DARU
Ah, voilà! Welch Spectacle – die
feurigen Reflexe im Wassähr!
Deliziös! Da! Da! Cretin!
Ein Piquet Hüsaren! Feuähr!
(Doppelgänger schießt)
DARU
Non-non-non! Lünks!! Polack –
lünks!
(Doppelgänger schwenkt die Kanone,
schießt)
DARU
Diese Hilfstrüppen!
(Doppelgänger schießt)
DARU
C’est bien! Ümgemäht! Gloire!
Victoire! Général Mouton stürmt
schon die Bokeldorfer Schanz!
Vive Napoleon! Da, Canaille!
Lützowsche Jäger! Feuähr!
III. Akt
53
54
DOPPELGÄNGER (hinter der Kanone
hervorkommend)
Mon Général!
DARU
Feuähr, Calmüque! Feuähr!
Wir sind umzüngelt!
DOPPELGÄNGER
Mon Général – pisser! P i s s e r !
Uuuuuuh! (deutet die Dringlichkeit an.)
DARU
Ist er verrückt? ‚Pisser, pisser‘?
Piss Er in die Stüfel! Allons!
Vite, vite! Feuähr, Feuähr!
(Doppelgänger schießt)
DARU
Die Lemüren! Die Barbaren!
Voltaire ist kein Käse! Marat ist
kein Schnaps!
(Doppelgänger pisst)
DARU
Da, da! Zwei Escadron rüssische
Dragoner! Ah, wir sind perdü!
Schieß, Canaille, schieß!
DOPPELGÄNGER (noch ausgetreten)
Keine Kugeln mehr, mon Général!
DARU
Was, keine Kügeln? Da, da, Idiot!
Was ist d a s ? (deutet auf Munition
am Boden)
(Doppelgänger lädt und schießt. Geräusch einer vorbeifahrenden Kutsche.
Daru folgt ihr mit dem Perspektiv.)
DARU
Voilà, ein Civiliste! Monsieur Göht
aus Weimar! Hat in Dresden die
Oper besücht – absürd, bizarre!
Ein Freund des Kaisers! Kein
Freund des Volkes! Bewündert
noch das Bauwerk!
(Doppelgänger schießt.)
DARU
Stop! Cretin! Die Große Armee
schießt nicht auf Civilisten!
(Marschmusik – Beethoven / Mälzel,
‚Wellingtons Sieg‘ crescendo.)
Was ist das? (späht durchs Perspektiv)
Phänomenal! Die ganze preußische
Elite! Der Kanzlähr und sein
Staatsrat, der verflüchte Hüppel –
hat den König Wilhelm gegen üns
aufgehetzt! Feuähr! Feuähr!
(Doppelgänger schießt, Musik bricht
ab. Gewehrfeuer.)
DARU
Ümgemäht! Die verdammten
Jünker! Attention, unter der Brück
sind Heckenschützen! (reicht
dem Doppelgänger das Perspektiv.
Geräusch einer sich nähernden
Kutsche, der Doppelgänger späht.)
DOPPELGÄNGER
Ha, Brüderlein, bist Du’s, nimm
mich – (winkt, Gewehrsalve,
Doppelgänger versinkt getroffen
hinter der Kanone.)
DARU (das Perspektiv aufnehmend
und ansetzend)
Fatal! Fatal! Der Monsieur Offmahn
aus Warschau mit seinem Papagoy!
Ist in Correspondance mit dem
Feind getreten! Hat nicht Sonate
Facile, hat Sonate Pathétique
gebümst! Kein Signatür, kein
Schwür, ein ü b l e s Subjekt!
(Nimmt eine Kugel auf und schleicht
sich übelwollend an die Kanone.
Gewehrfeuer, er versinkt getroffen, das
Kanonenrohr bricht ab. Die Kutsche ist
herangekommen – Bremsgeräusche,
Schreckensschreie, krachendes Holz,
Pferdewiehern – ein Unfall)
PAPAGEI (verendend)
Vive Napoleon! Mordi –
HOFFMANNS STIMME
Mischa!
KOREFFS STIMME
Nicht anfassen! Sie lebt!
Szene 19
(Von rechts tragen Hoffmann und Koreff
die verletzte Mischa auf die Brücke,
lehnen sie ans Geländer, Koreff untersucht die Stirnwunde, Hoffmann stolpert
betäubt weiter, bis zum Brückenscheitel,
wo er an der Bruchstelle überm Fluß verhält und hinablauscht: Wasserrauschen
und sehr ferne Undine-Klänge. Er hastet
zurück.)
KOREFF
Zwei Zoll groß, die Wunde, und tief,
aber sie atmet.
HOFFMANN
In ihrem Korb war Kölnisch Wasser
(sucht am Boden, erhebt sich mit der
Flasche und seiner Partitur unterm
Arm). Hier. Die Kutscher bestellen
eine Porte-Chaise.
MISCHA (erwachend)
Ernst? Hast Du gefüttert Kindchen?
KOREFF
Sie spricht, sie wird leben, ruhig,
Michalina, es brennt etwas, ist
rasch vorüber (Mischa stöhnt,
Hoffmann wendet sich ab, Koreff legt
einen Notverband an. Fahles Licht:
Vor der Brücke bis an den Fluss – ein
goyaeskes Schlachtfeld; Verwundete,
Tote. Hoffmann, die Partitur an sich
pressend, kommt von der Brücke herab
nach vorn. Ein Verwundeter richtet
sich auf, bittet um Wasser; Hoffmann,
starr vorausblickend, gibt ihm die
Taschenbouteille, wartet, nimmt sie
wieder an sich, hält an der Rampe.)
MISCHA
Schön Schuh sind fort, schön
Schuh –
HOFFMANN (ins Publikum)
Was ich so oft im Traum gesehn –
Verstümmelte, zerrissene
Menschen – ausgeschossene Augen,
zerschmetterte Köpfe – Gruben voll
nackter Leiber – es ist mir erfüllt
worden – auf furchtbare Weise
(nimmt einen Schluck). Scheußlicher
Anblick!
(Die Kutscher kommen mit
dem Tragsessel, Mischa wird
hinweggetragen.)
KOREFF
Hoffmann, ein Gasthof ist nahebei,
dort wird sie ruhn, wir können uns
erquicken. Meißen ist nicht weit.
HOFFMANN (ist zum Stehpult geeilt,
hat die Undine-Partitur geöffnet)
Gehn Sie nur voraus, Doctor, sehn
Sie zu, dass Mischa gleich ein Bett
findet! Ich komme nach.
Lassen Sie sich inzwischen taufen,
bevor es zu spät ist!
KOREFF
Hoffmann, freveln Sie nicht!
(Koreff mit Mischa ab)
55
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Szene 20
(Hoffmann komponiert – Bruchstücke
einer Undine-Arie, Stöhnen der Verwundeten, Rauschen der Elbe.)
HOFFMANN
Werd’ ich nicht morgen – (‚Morgen
so hell –‘) von einer preußischen,
russischen, französischen Granate
zerrissen – (‚Blumen so bunt –‘)
wenn mich nicht die Ruhr dahin­
rafft – (‚Räumt die leeren
Schränke –‘) soll die zarte Pflanze
nicht sterben – (‚Findet nichts im
leeren Haus –‘) Undine – zwei Akte
sind fertig – ( ‚Vater weiß, in seinen
Kammern –‘) Was kann man in
böser Zeit Besseres tun? (‚Findet er
die Todesruh –‘)
(Rufe vom anderen Elbufer: ‚Halt, wer
da?‘ – ‚Marodeure! Fasst sie!‘ Fall ins
Wasser, Schwimmgeräusche, Schüsse.
Eine abgerissene Gestalt kriecht herauf:
Chiara. Sie wird nicht verfolgt, tastet
sich nach vorn, jedem Gefallenen ins
Gesicht sehend.)
CHIARA
Hier war’s – Mit dem Mouton,
an der Brück’ – Amadeus? Jede
versäumte Minute ist Blutschuld –
Weg, du Aas! (verscheucht einen
Hund) Sind keine Missetäter –
(Klatscht in die Hände, Schatten von
Raben) Sind keine Mordbrenner –
HOFFMANN
Chiara, wen suchst Du?
Chiara (ohne aufzusehen)
Nicht Dich, Dich nicht.
HOFFMANN
Woher kommst Du?
CHIARA
Sei still, sonst müssen wir ja sterben. Ich war in Leipzig, im Lazarett – eine Schule, nicht das Haus
der Konsulin, des Bankiers – eine
Schule, scheibenleer, kalt, kein
Stroh, keine Betten – zerbrochene
Glieder geschient, mit Dachschindeln – alles aufgeschwollen, brandig, kein Brot, keine Decken, kommen immer mehr, schreiend, blutig,
Amadeus nicht – liegen wie Heringe, die Helden, sterben an Wundkrampf, Kinnbackenkrampf – kein
Mull, keine Binden, nur Salzsäcke,
rauhe Leinwand, nimmt die Haut
mit, wo sie noch ganz ist –
HOFFMANN (herabeilend)
Aber erwärm Dich doch nur, Chiara,
erwärm Dich, Du musst ja sonst
umkommen (legt ihr seinen Mantel
um.)
CHIARA (zieht eine aufgeweichte
Kruste aus der Tasche)
Recht schönen Kuchen hab ich
gefunden, weich geworden in
Wasser, willst Du? (hält ihn in die
Luft, ohne aufzusehen.)
HOFFMANN (zurück zu seiner Partitur)
Mit der Undine führ ich ein
herrliches Leben, sie besucht mich
jeden Morgen, bringt Blumen und
glänzende Steine, kommt die Sonne
heraus, eilt sie fort und die Blumen
sind welk, die Steine glanzlos.
CHIARA (für sich)
Du bist ein guter Mensch, Du singst,
dass es mir Recht zu Herzen geht,
Du wirst mich nicht verraten, hast
Du (sieht erst jetzt zu ihm auf ) den
Amadeus gesehen?
HOFFMANN (in seiner Partitur)
Mein Name ist Ernst, Theodor,
Wilhelm.
CHIARA
Du hast ihn nicht gesehen, Du
warst nicht in der Schlacht, Du
hast Dich eingeschlossen mit der
Bankiersfrau.
HOFFMANN
Auf Bestellung komponiere ich
auch eine ‚Schlacht bei Leipzig‘ für
Mälzels Panharmonicon.
CHIARA (nähert sich ihm drohend)
Warum hast Du Dich
eingeschlossen? Warum,
W i l h e l m? Du hast Angst. Darum!
Angst. Nicht vor den Kanonen, nicht
vor der Kälte und den Seuchen.
Nein, davor fürchtest Du Dich
nicht. Nicht vor Hunden, Wölfen,
Ebern und Philistern. Nicht vor
Armut, Krankheit, Wahnsinn und
Versuchung. Wovor ist dir bange,
Wilhelm? Vor Gespenstern? Vor
dem tiefen Wasser, dem B r a n d
in deiner Brust? Nein. Du hast Angst
davor, Verwundete herumtragen
zu müssen. Davor hast Du Angst.
Deshalb all die Noten.
(Sie steht jetzt hinter Hoffmann, der das
Gesicht in den Armen begraben hat, als
wolle er schlafen.)
Ich will Dich doch lieber ermorden.
M i c h wirst Du nicht verraten, aber
die a n d e r n alle!
(Sie zückt das Messer über ihm. Aus
Hoffmanns Kopf löst sich der Doppel-
gänger, steigt auf, versengt von der
Kanonade, Schusswunden in Hals und
Brust. Chiara lässt das Messer sinken.)
DOPPELGÄNGER
Lass das Brüderlein schlafen,
Chiara – seine Kutsche ist in den
Graben gekippt, seine Frau ist
wund, sein Papagei erschlagen,
er geht nicht mit uns in den Wald,
taucht nicht im Strome unter –
er kann nicht schwimmen, das
Brüderlein! Kann nicht in der freien
Luft ausdauern, gehört nicht zu den
Verworfenen.
(Er stöhnt, knickt ein, wird von Chiara
gestützt.)
CHIARA
Du blutest, Du musst ins Lazarett,
komm, halt Dich fest, ein Boot liegt
unter dem Steg.
DOPPELGÄNGER (indem er Chiara
zum Ufer hinab folgt)
Sie haben ihn gefeuert aus dem
Opernhaus, er ist brotlos und hat
seien alten Rock verkauft, nur um
fressen zu können. Sein Erzfreund,
der Hippel, schmiedet ihn wieder
ans Treibrad der Justiz, da wird er
uns nützen, herausschaufeln aus
den Löchern, das Brüderlein, er
kennt die Kniffe, die Willkür der
Herrschenden, und das witzige,
punschende, neckische Brüderlein –
ekelt sich davor.
CHIARA
Drüben hab ich Mehl versteckt, da
kann ich Dir Piroggen backen, lehn
Dich an, ich rudre Dich hinüber.
Bild XIX |
57
(Plötzlich kommt sie noch einmal über
die Uferböschung herauf, breitet die
Arme aus und ruft übers Schlachtfeld)
Steh auf! Die Befreiung ist nahe!
(Ein Schwarm flügelnder Schatten
erhebt sich, ein Rabe krallt sich in
Hoffmanns Schulter fest.)
HOFFMANN (schief aufsehend)
Bravo? Bravissimo?
(Der Rabe bleibt stumm; die Toten
erheben sich und trotten zum Fluss.
Die Elbe rauscht auf. Chiara,
Doppelgänger, Verwundete ab.)
Szene 21
(Von links hinten über die Brücke
herauf – der Staatsrat von Hippel,
pompös und doch vorsichtig.
Adjutantenuniform, Säbel, Kaskett,
eisernes Kreuz, roter Adlerorden, sichtlich
von Darus Kanonade mitgenommen.
Siegesmarsch aus ‚Wellington –‘. An der
Bruchstelle, auf dem Brückenscheitel,
stoppen Staatsrat und Musik abrupt.)
58
HIPPEL (zu Hoffmann hinüberspähend)
Wer da?
(Der Rabe fliegt auf, Hoffmann geht
dem Freund über die Brücke entgegen.)
HIPPEL
Bist D u es, wahr und wahrhaftig
Du selbst, teurer Freund?
HOFFMANN (sich scheu umblickend)
Ich weiß es nicht – und D u,
Amico, bist Du inzwischen in
Italien gewesen?
HIPPEL (lacht schallend)
Italien, ja, Italien, vino rosso,
tutti frutti – nein, mein Freund,
das Vaterland hat mich gerufen in
stürmischer Zeit und schwerer Not,
der Vampir Bonaparte hat das Land
ja ausgesaugt bis auf das Mark.
HOFFMANN
Die Contributionen, ich weiß! Da
hast Du auf Deinen Gütern die
Erträge nicht verdoppeln können?
HIPPEL
Die Güter, die unsere Vorfahren
blutig erkämpft!
HOFFMANN
Deine Knechte!
HIPPEL
Gewissensfreiheit, Ehre,
Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß
und Wissenschaft –
HOFFMANN
Ja, ja, ich habe Deinen Aufruf
gelesen, er war ja an allen
Häuserecken angeschlagen, Ihr
zwei habt den König in der Hand:
der Koreff seinen Leib und Du die
vaterländische Seele.
(Hoffmann sitzt jetzt an der Bruchstelle
auf der Brücke, beinebaumelnd
über dem Fluss; Hippel, der die Arme
ausgebreitet hatte, resigniert und
setzt sich ebenfalls.)
HIPPEL
Unter uns – er ist ein schwacher
Monarch, wir brauchen starke
Führer in dieser gärenden Zeit.
HOFFMANN
Wo gärt es denn?
HIPPEL
Der Sieg hat uns vom falschen Joch
befreit, doch zu viel Freiheit steigt
dem Plebs wie Fusel in den Kopf,
sie wollen Aufruhr, Anarchie,
nicht Staat und Monarchie.
HOFFMANN
Sind die Kerker schon geöffnet?
HIPPEL (lacht schallend)
Ja, Freund, ich hab dein treuherziges
Gesuch um Wiederanstellung
im preußischen Justizdienst
weitergeleitet, ich habe dem
Innenminister versichert, daß
Du einen guten, gedrängten Stil
schreibst, auch immer, selbst in
kümmerlichen Verhältnissen, fleißig
und anständig geblieben, und dass
die Sorgen Dich völlig geheilt
von allzu großer Genialität, ja,
aus Deinem Pegasus ein tüchtiger
Ackergaul geworden, Du enttäuschst
uns nicht?
(Pause)
HOFFMANN
Graf Brühl, der neue Direktor der
königlichen Schauspiele in Berlin,
ein fabulöser Schnörkulant, wird
künftigen Herbst meine ‚Undine‘
geben – mit neuen Dekorationen
und Maschinen, vom Architekten
Schinkel sinnig geordnet, eine
Haupt- und Staatsaktion! Wird da
nicht der Minister seinem neuen
Ackergaul auch noch die letzten
Flügelstummel stutzen sollen?
HIPPEL
Freund, wo denkst Du hin? Wir
werden a l l e in unseren Logen
sitzen und Dir applaudieren: Die
Kunst soll ja vom Dienst nicht
erdrückt werden!
(Wellingtons Siegesfanfaren, Hippel
erhebt sich.)
Doch nun ruft wieder mich das
Vaterland, ich darf nicht zögern,
noch ist manche Schlacht zu
schlagen! Die Hand, sonst nur
gewohnt, den leichten Kiel zu
führen, ergreift das Schwert –
(Die Kulissenschieber treten auf und
schieben auf einen Wink Hoffmanns
den linken Brückenteil hinaus –
mit Hippel, der wie vom Heck eines
auslaufenden Schiffes seinen
Abschied hinüberruft.)
HIPPEL
– und, glaub mir, treuer Freund,
wenn ich nach grausamem Gefecht,
im Morgennebel, Posten stehe, da
d i c h t e auch ich so manches Lied,
das mich in meinem herrlichen
Berufe, zu streiten für Ehre und
Freiheit, erhebt und stärkt!
HOFFMANN
Sieh da! Unser Übel ist
entgegengesetzt: Du hast zu
viel Phantasie, ich habe zu viel
Wirklichkeit.
HIPPEL
Die Morgenröte bricht an, leb wohl
denn, teurer Freund, und wenn du
meinen Rat brauchst –
HOFFMANN (dem Verschwundenen
nachrufend)
Etwas G e l d käme gelegen.
59
Szene 22
(Hoffmann ist zu seiner Partitur
zurückgekehrt. Die Kulissenschieber
haben den rechten Brückenteil wieder
als Malergerüst vor die linke Seitenwand
geschoben. Türloch und Eckfenster
werden wieder sichtbar. Schauplatz
ist jetzt Hoffmanns Berliner Wohnung
am Gendarmenmarkt, gegenüber dem
Theater. Der Raum ist leer.)
HOFFMANN
Sie können dann die Möbel
heraufbringen.
1. PACKER
’Ne höllisch enge Treppe ist das!
2. PACKER (am Eckfenster)
Aber ’ne himmlische Aussicht!
(Packer ab. Hinter der Szene Publi­
kumsgemurmel und das Stimmen
eines Orchesters. Dann – Totenstille.
Durch das messergeschnittene
Fensterloch ist der Rabe eingestiegen
und hockt auf dem Gerüst.)
HOFFMANN (aufsehend)
Da bist Du wieder – Mordio?
Da Capo?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Meine Seele ist kein Käse, gib sie
mir wieder, öffne den Schnabel!
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Was hast Du aus den Eingeweiden
der Toten gelesen? Sei mein Orakel,
belehre mich, bekehre mich!
(Der Rabe bleibt stumm.)
60
HOFFMANN
Wie wär’s mit einem Duett? Ich
fange an: Ich, Gozzi, sah im Wald
einen herrlichen Raben auf einem
Grabmal hocken.
(Eine Waldkulisse mit Mausoleum wird
lautlos hereingeschoben, die Kulissen­
schieber tauchen, unbemerkt von
Hoffmann, daneben auf und hören
andächtig zu.)
Er fixierte mich böse und sprach –?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Fixierte mich böse und – stumm?
Da warf ich das Messer nach ihm,
es bohrt’ sich in sein Herz und der
Rabe s c h r i e –?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Und der Rabe stürzte herab und
bespritzte, zum Tode erstarrend, mit
seinem Blute meine Stiefelspitzen!
DIE PACKER (hingerissen)
Ohhhhh!
HOFFMANN (herumfahrend)
Was macht Ihr denn hier, seid
Ihr verrückt? Da drüben, am
Gendarmenmarkt ist das Theater,
und sputet Euch, sie stimmen
schon zur Ouvertüre!
(Kulisse und Packer eilig ab)
HOFFMANN (weitererzählend)
Ich nahm den Balg nach Hause
und stopfte ihn aus und stellt’ ihn
mir aufs Vertiko. Und unter dem
Schatten seiner gespreizten Flügel
verdorrte meine Seele. Ich schlug
mit meinem eisernen Schuh auf
die Dielen – Tag und Nacht, ich
aß Staub und Fliegen, draußen
aber fraß ich Gras und Spinnen,
soff meinen Urin und das Blut aus
der Schlachterrinne. Ich schlitzte
Polster und Matratzen auf und
suchte in Winkeln und Kasten nach
etwas Verlorenem, jeden spuckte
ich an, der sich mir näherte, alle
flohen mich, selbst mein Weib blieb
händeringend vor der Stubentür
stehen, bald das Ohr, bald das
Auge im Schlüsselloch. Da öffnete
eines Nachts der tote Rabe seinen
Schnabel und sprach –?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Und ich fand es – hielt es in meinen
schwarzen Händen – ein E i. Ich
saß und wärmte und behauchte es,
bis es herauskam: ein Alligator.
Er wurde sieben Fuß lang, fraß
Heringe, Austern und die Spinnen,
die ich ihm fing. Ich liebte und
zähmte ihn. Es fror ihn beständig,
ich nahm den Hammer und schlug
meinen Flügel entzwei und schon
prasselte das Feuer im Kamin!
Davor schlief er dann, eingerollt
mit offenen Polleraugen, oder er
schlappte Wasser aus einer Schüssel.
Nachts, wenn das Feuer ausging,
weckte er mich auf: er schob
die Decke weg, drängte seinen
ledernen Bauch an mein Skelett
und ich badete im Gestank des
Echsenmauls. Eines Morgens fand
ich ihn – erstochen, auf dem Rücken
liegend, in schwarzem Blute, vor
dem erloschenen Kamin. Ich hob die
Fäuste zu Dir auf, dem Rabenaas,
und da sagtest Du –?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Und was Du sagtest schrieb ich mir
auf meine Hand – die hackt’ ich ab
und schickte sie hinüber in das Haus
des Brillenmachers – da kam sie,
ihre Brauen schwarz gefiedert, im
weißen Kleid, die Brüste starr, ihr
Rabenhaar zum Neste aufgesteckt,
aus dem Elmsfeuer züngelte, sie
gab mir Fliegenpilz zu kauen und
nähte die Hand mir wieder an, ich
liebte Armilla, wenn sie drüben ihre
Patiencen legte und nicht aufsah,
riss ich mir büschelweise die Haare
aus, bis sie herüberkam, sich zu mir
legte, meine graue Hand in ihrem
Schoß begrub und mit dem Raben
sprach, der über uns im Dunkeln
hockte.
(Pause)
Was sprachst Du mit der
Feuerpuppe?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN
Als ich, der Gozzi, zu den Kerkern
des Gerichts hinabstieg, sah ich die
Fee kopfüber auf dem Müllkarrn im
Scheißkübel stecken, der Hals war
ihr durchschnitten, man ergriff mich,
warf mich in die Zelle, als ich mich
aufrichtete auf meiner Pritsche, saß
mein eigenes Selbst mir gegenüber.
‚Bruder Pozzi‘, sagte ich,
‚ich wusste, dass es böse mit Dir
enden wird, Du warst ein Säufer,
Spieler und Betrüger, ich gab Dir
| Bild XX
61
jahrelang Geld und dann – vergaß
ich Dich.‘ Der Pozzi sagte nichts,
man führt mich aufs Schafott,
ich spie schon in den Korb, und
über mir die schwere Schneide im
Gebälk – da war ich plötzlich frei.
Der Bruder Pozzi hat gestanden:
Dass er im Wald mein Messer fand,
und über ihm aus einem Mausoleum
sprach der Rabe –?
(Der Rabe bleibt stumm.)
HOFFMANN (in Rage)
Zu i h m hast Du gesprochen – Du
sagtest: ‚Liebst Du Deinen Bruder?‘
Er sagte: ‚Mehr als mich selbst.‘
Du sagtest –? ‚Töte alles, was er
liebt! So kannst Du seinen
Wahnsinn heilen.‘ Sie haben
ihn guillotiniert. Sag wenigstens
‚B r a v o!‘
(Der Rabe ist verschwunden.
Schrilles Läuten hinter der Szene.)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
(aus dem Theater am Gendarmen­
markt) Das Theater fängt an.
(Ouverture zur ‚Undine‘, im ‚Theater‘.
Hoffmann aufatmend, mitdirigierend
hinter dem Stehpult.)
Szene 23
(Eintritt Hitzig – Schirm, Zeitung,
Zylinder, Aktentasche, will ablegen,
sieht sich suchend um.)
62
HITZIG
Noch immer keine Möbel,
Hoffmann – keine Bücher, Bilder,
Vorhänge – keine Harfe?
HOFFMANN
Hängen Sie Ihren Hut nur an den
Steg, Hitzig, fallen Sie nicht ins
Wasser dabei!
(Die Packer bringen eine Matratze
herein. In der Folge stellen sie noch
einige Möbelstücke beim Fenster ab.)
HITZIG
Sie haben doch nicht Undinens
Brunnen im Haus?
HOFFMANN
Als ich hinabsah von der Brücke,
tauchten blutige Leichname auf
in den schwarzen Wellen,
aber als ich hinablauschte,
hörte ich die Glocken läuten.
(Applaus und Bravorufe vom ‚Theater‘
herüber.)
HITZIG
Gewiß doch, ganz Berlin steht
Kopf – Johanna Eunike als Undine
jetzt schon zum dreizehnten –
HOFFMANN
Zum vierzehnten –
HITZIG
Zum vierzehnten Male als lieblich
tirilierender Wassernix bei
überfülltem Haus. Der Hof gab sich
die Ehre, samt Kanzler und Leibarzt,
die angeblich bessere Societät,
die Brentanos und Chamissos,
das ganze Kammergericht,
einschließlich dem Polizeidirektor
Kamptz – und im Parterre der Pöbel
und Ihre Weinhausgenossen!
(Sieht sich vergebens nach einem
Stuhl um.)
HOFFMANN
Machen Sie sich’s nur bequem!
(deutet auf die Matratze)
HITZIG
Nicht einmal zu einem Bett haben
Sie’s gebracht?
HOFFMANN
Auf der Matratze r a m m e l t es
sich viel besser, Hitzig – man fällt
nicht so tief!
HITZIG
Seit Sie nur noch in öffentlichen
Häusern verkehren – in Spelunken,
Weinkellern, schaut aus jedem Ihrer
Worte der blanke Cynismus heraus.
HOFFMANN
In der Tat, die Fähigkeit, mich
in edlerer Umgebung würdig zu
benehmen, ist mir total abhanden
gekommen – das müssen Sie ja
nicht in die Biographie aufnehmen.
HITZIG
In welche – Biographie?
HOFFMANN
Seht die drollige Naivität! Meinen
Sie, ich wüsste nicht, daß Sie
neuerdings jeden Krakel und
Kakel von mir sammeln, um mich
später daraus für die Nachwelt zu
destillieren? Woher wissen Sie
eigentlich, dass Sie mich überleben?
HITZIG
Vor meinen Augen versinken Sie
ja, und, nach den mechanischen
Gesetzen des Falles, leider mit
furchtbarer Schnelle! Seit Ihnen die
Taschenbuchverleger sechs, acht,
zehn Friedrichsdor für den Bogen
zahlen, ist kein Halten mehr: Sie
verschleudern ihr Lebenscapital –
schneller und schneller der
Umschwung – alles Genuß und
Nachtschwärmerei, und am End –
der Bankrott!
HOFFMANN
Trinke ich nicht auch Tee mit
Rum, oder Rum mit Tee, bei
wohlerzogenen Leuten – Krämern,
die Kunst und Leben in gleich
kleinen Portionen vertreiben?
Habe ich nicht in Ihrem Gärtchen
mich wie ein Abstürzender im
nächstbesten Gebüsch festgekrallt?
HITZIG
Eine Oase kann man wohl unsere
Leseabende nennen – aber da
wacht ja auch Ihre Frau darüber,
dass Sie nicht ins Obszöne und
Gotteslästerliche abgleiten.
HOFFMANN
Das walte der heilige Antonius und
Serapion!
(Aus dem Theater die Arie des Kühle­
born – ‚Ihr Freund aus Seen und
Quellen‘.)
HITZIG
Fast hätte ihr intriganter
Wahnwitz sogar diesen lüsternen
Wasserzauber vereitelt – mir wäre
es recht gewesen, die Leute hätten
das Büchlein vielleicht wieder
g e l e s e n, statt immer sich alles
farbig vorgaukeln zu lassen.
HOFFMANN
Dieses allgemeine Gären und
Brausen, diesen Männerklatsch
nehmen Sie doch nicht ernst?
HITZIG
Ich kenne Sie, teurer Freund – von
den Warschauer Maskenbällen.
63
64
Die Johanna Eunike will nicht Ihre
Gespielin sein.
HOFFMANN (erstaunt)
Noch soll sie es – ich freue mich
ihrer lieblichen Stimme.
HITZIG
Sie beschenken Sie täglich mit
Zuckerwerk und Bouquets – früher
brachten Sie die Süßigkeiten meinen
Kindern und bauten ihnen Ritter
Huldbrands Burg auf. Jetzt fragt
man vergeblich nach Ihnen.
HOFFMANN (heiter)
Ein Poet gehört zu den Verworfenen.
HITZIG
Und bei d e n e n, Ihren Zech­
brüdern, die heute einen Tänzer,
morgen eine Taschenbuchnovität
und übermorgen den blutigen
Kampf einer unterdrückten Nation
feiern, bei dieser Sorte brennen
Sie nächtelang Ihre giftsprühenden
Feuerwerke ab – Sie sind ja schon
körperlich und geistig völlig
ausgebrannt.
HOFFMANN (beipflichtend)
Und langeweile mich auch noch
dabei.
HITZIG
Ja, aus Langeweile stellen Sie der
frischen, unverdorbenen Johanna
nach – und wundern sich, wenn ein
Brühlscher Comödiant Ihnen seinen
Part vor die Füße wirft!
HOFFMANN
Der Bassist? Der putzlige Dicke?
Er fürchtet, daß das tolle, gotische
Zeug ihm die Kehle verkratze –
er war leicht zu ersetzen.
HITZIG
Er h a s s t Sie, Hoffmann, wie Sie
den Bankier Graepel hassen, doch
was schwatze ich, ich habe einen
Termin – (zieht seine Taschenuhr)
HOFFMANN
Schauspieler fahren einander immer
an die Kehle – man sollte sie durch
Marionetten ersetzen. Übrigens
habe auch ich einen Termin.
HITZIG
In der Theatergarderobe?
HOFFMANN
Und Sie eilen gewiss, einen neuen
Autor vor dem Taschenbuchruin
zu bewahren?
HITZIG (verlegen)
In den Terminsaal des
Kammergerichts.
HOFFMANN
Auch S i e? Wieder am grünen
Tische? Diebe?
HITZIG
Betrüger!
HOFFMANN
Notzüchtiger!
HITZIG
Und Mörder!
HOFFMANN
Warten darauf, dass wir sie
prügeln?
HITZIG
Und ins Zuchthaus schicken!
HOFFMANN
Wankelmütiger Musensohn!
HITZIG
Das Verlaggeschäft stagniert, die
besten Bücher finden keine Leser
mehr, vielmehr – keine Leserinnen.
HOFFMANN
Sie bringen den ganzen Tag bei den
Putzmacherinnen zu?
HITZIG
Hoffmann, bei Ihrem wüsten
Weinhausleben sehen Sie natürlich
nicht, wie Ihre Frau sich abzappelt.
HOFFMANN
Aber sie liest durchaus noch
nebenbei – den Heiligenkalender
und – meine Taschenbuchnovitäten.
HITZIG
Sie liest – aber die andern
s c h r e i b e n ja alle! Sie lieben
gedruckt, sie weinen gedruckt – es
ist zum Verzweifeln!
HOFFMANN
Warum verlegen Sie dann nicht
die gelehrten Frauenzimmer?
HITZIG
Niemand liest sie ja – die Frauen
nicht, weil sie selber schreiben,
die Männer nicht, weil sie die
Frauen heimführen, aber nicht lesen
wollen – aber eine schreibende
Frau wird natürlich auch nicht
heimgeführt! Und so schreiben
elf Zwölftel von ihnen über ihr
verfehltes Leben – mit Recht –
HOFFMANN
Mit Recht!
HITZIG
Ich meine – mit Recht v e r f e h l t!
Denn meine Erfahrung, so alt wie
die Welt, ist, dass man sich bückt,
um das Veilchen zu pflücken – die
Sonnenblume aber stehen lässt.
HOFFMANN
Sie wollen nicht – die Kerne
herauspicken, oder – Sonne spielen?
HITZIG
Sonne spielen! Bin ich Goethe? Mir
ist das Leben ergraut. Das Rennen,
Reiten, Fahren in den Straßen –
wesenlos, wie bei der Sonnen f i n s t e r n i s. Wo ist die versprochene
Constitution in Preußen?
Fremd sind mir die Gesichter in
Berlin – fremd und feindlich. Seit
Napoleons Fall regen sich wieder
Spott und Häme gegen uns, und was
tut der König? Er sitzt den ganzen
Tag im Theater. Und was wird da
gegeben? Ein Hetzstück gegen
die Juden, und dagegen schreitet
keine Censur ein – haben Sie das
Machwerk gesehen?
HOFFMANN (schaut ihn schweigend
an)
Es tut mir leid, Hitzig, ich meine –
der Tod Ihrer Frau. Auch Mischa
ist verstört darüber. An meinem
Geburtstag wollen wir wieder
einmal gemütlich zusammen
sitzen – Koreff, Hippel und Sie, und
bei dampfendem Punsch einander
seltsame Abenteuer erzählen.
(Vom ‚Theater‘ herüber die Arie
‚Morgen so hell‘, plötzlich Unruhe,
Feuerschein, zweimaliges schrilles
Läuten hinter der Szene.)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
(im ‚Theater‘)
Feuer! Es brennt! Das Theater brennt!
(Hoffmann und Hitzig zum Fenster.)
HITZIG
Hoffmann, die Flammen schlagen
schon zum Dach hinaus!
Bild XXI |
65
HOFFMANN
Die Comödianten – sie tragen die
Kulissen heraus!
HITZIG
Hoffentlich können sich alle retten.
HOFFMANN
Die Perückenkammer fliegt auf!
Die Bank! Sehn Sie nur – der
Meteor über dem Bankgebäude –
der Credit des Staates wankt –
es ist die Perücke des
Dorfbarbiers!
HITZIG
Die Gardejäger mit den Spritzen!
HOFFMANN
Ahh, wohlgetroffen – sehn Sie,
wie es niederzischt, das Ungetüm,
da – es sinkt in den Pisswinkel des
Schonertschen Weinhauses.
(Hinter dem Stehpult, sichtlich dem
Theaterbrand entronnen, taucht
Kratzer auf – nicht der Kustos, sondern
der Brühlsche Comödiant; sieht sich
gehetzt um, macht sich nach vorn,
durchs Auditorium, davon. Eintritt
Mischa.)
66
MISCHA
Mein Gott, das Theater brennt.
HITZIG
Hoffmann, Ihr Dach hat Feuer
gefangen!
HOFFMANN
Die Farbe tropft schon von den
Fensterrahmen.
MISCHA
Ich hol die Gießkanne.
HITZIG
Ihre Möbel (trägt den Wandschirm
nach vorn.)
MISCHA
Heiliger Antonius, lass Feuer
ausgehn schlimmes, schütz
uns Sünder unselige! (gießt die
Fensterrahmen)
HITZIG (wischt sich den Schweiß)
Entsetzliche Glut.
(Pochen an der Tür, zwei Feuerarbeiter
mit Spritze herein, sie zielen aus dem
Fenster aufs Theaterdach. Hoffmann
und Hitzig tragen Möbel nach vorn.)
HOFFMANN
Hitzig wir versäumen unseren
Te r m i n !
Szene 24
(Links vorn zusammengerückt der geret­
tete Hausrat. Im sonst leeren Raum eine
Art Armesünderbank. Auf dem Pult eine
Laterna Magica.)
KRATZER (am Pult)
Die Türen sind verschlossen, meine
Schlüssel passen nicht (zeigt seine
rostigen Schlüssel), aber Sie haben
Ruhe bewahrt – deutsche Elite, auch
im Dunkeln, vertrauend darauf,
dass Anstand, Ordnung und Licht
wiederkehren – leider sind alle
Sicherungen durchgebrannt! Jetzt
vielleicht eine kleine Stärkung!
(bemerkt erst jetzt das Fehlen des
Kühlschranks.)
Schade, zu spät, doch steht der
neue sicher bereits vor der Tür.
Inzwischen meine Gedenkadresse –
im Flunkerlicht – hähä – wo waren
wir stehen geblieben? Richtig –
Hoffmann!
(projiziert aus der Laterna Magica ein
riesiges Lichtbild an die Rückwand –
Hoffmann, Gesichtspartien und
Details der Kleidung mit Buchstaben
gekennzeichnet wie auf der Radierung
von Sonderland. Kratzer mit Zeige­
stock, dessen Spitze Löcher ins Lichtbild
‚brennt‘.)
Das Selbstbildnis aus dem Jahre
achtzehnhundertzwanzig, der reife
Dichter und Richter, leider im
Original ja nun verbrannt, aber
sozusagen als ‚gottloses Blendwerk‘
– hähä – an die Wand zu werfen.
(Chiara zieht ihren mit Kübeln
vollgestellten Karren herein.)
KRATZER
Sie sehen ihn hier im charakte­
ristischen braunen Frack, die Haare
neu aptiert und horrorgesträubt,
darunter die Larve entlarvt ihn, er
war sich seiner Schwächen und
Tücken durchaus bewusst: nicht
so gesund wie Goethe, so tief wie
Beethoven, so radikal wie Kleist, so
religiös wie Novalis, oder universal
wie der Brockhaus, scharfsinnig wie
Poe, grotesk wie Gogol, prophetisch
wie Dostojewski, artistisch wie
Baudelaire, sozial wie Dickens,
abgründig wie Kafka – geblendet
von B – dem bösen Blick – waren
sie alle, bestochen von seiner Nase –
sagen Sie? Riechen Sie es auch?
(Chiara hockt pfeiferauchend am
Boden.)
Das ist ja pestilenzialisch.
(fährt herum und gewahrt Chiara.)
Was suchen Sie hier schon wieder?
CHIARA
Dich nicht, nicht Dich!
KRATZER
Rauchen ist hier verboten, das ist
eine geschlossene Veranstaltung,
raus hier, raus!
CHIARA
Verschlossen, ja verschlossen – und
D u hast die Schlüssel!
KRATZER
D a liegt noch Dreck, aber Sie
hätten hier vorher putzen sollen,
stinken I h r e Eimer so?
CHIARA
Die Kübel aus den Zellen, sie
standen vor den Eisentüren – D u
IV. Akt
67
Bild XXII |
68
hast die Schlüssel, gib sie her!
KRATZER (schreit)
Nehmen Sie Ihre Pfeife aus dem
Mund, verschwinden Sie hier mit
Ihrem Kloeimern! Was fällt Ihnen
denn ein?
CHIARA
Wo sind die zehn Dukaten, Herr
Leutnant?
KRATZER (ins Publikum)
Ich weiß, sie tun die Drecksarbeit –
CHIARA
Ich hab Piroggen gebacken, schöne
Piroggen, die will ich der alten Frau
in die Zelle bringen!
KRATZER (ins Publikum)
Wenn wir alle zupacken, bei der
Arbeitslosigkeit, ich meine –
CHIARA
Die Schlüssel, Herr Leutnant, die
Schlüssel!
KRATZER (schreit)
Nenn mich nicht immer ‚Herr
Leutnant‘! Das ist aus und vorbei!
Schlimm genug, dass es hier
aussieht wie im Krieg!
CHIARA
Du hast uns zusammengetrieben
auf dem Marktplatz mit Deinen
Bluthunden, hast sie in die Wägen
getrieben!
KRATZER (ins Publikum)
Aber bitte, rennen Sie doch nicht
weg, Herr Bundespräsident, Herr
Hofkaplan! Der Gestank wird
gleich verfliegen!
CHIARA
Das Geld hast Du eingesteckt, gib
jetzt die Schlüssel her!
KRATZER (stampft auf )
Raus hier! Oder ich rufe die Polizei!
(Chiara verschwindet hinter ihren
Kübeln)
KRATZER (um Fassung ringend fährt
im Vortrag fort)
Unglaublich, das, wo waren
wir –? Richtig, Hoffmann, er ist
uns ja leider verbrannt, aber im
Zwielicht sehen wir seine F r a t z e
noch deutlich genug – C, den
ironischen Märchenmuskel, D,
die Mephistophelesfalte, E, den
Backenbart, die übernächtigen
Launen eines Mondsüchtigen –
(Hinter den Kübeln ist Chiara als
schwarzer Kater wieder hervor­ge­kom­
men, sie springt hinter Kratzer auf
einen Stuhl und rammt ihm – vom
Publi­kum ungesehen – das Messer in
den Rücken, reißt den Schlüsselbund
an sich. Kratzer packt und würgt sie.)
KRATZER
Biest! Da spei die gestohlenen
Häppchen aus! Du Aas!
(Er stößt den Balg von sich, der Kater
verendet auf dem Boden.)
KRATZER (um Atem ringend)
– und I, ein Kragen, J beliebige
Ärmel­falten, K die Backen, das
Beef­steak, der Portwein, die Orgien,
L dann, die Halsschleife, man hätte
ja den Hochverräter früher gehenkt,
noch früher den Hexenmeister und
Kindsverführer v e r b r a n n t, samt
‚Wieglebs Praktischer Magie‘ –
(Die Projektion verblasst)
Die Funzel erlischt, die Augen –
(wischt sich die Stirn)
IV
Szene 25
(Hoffmann herein, schwarze Pelerine,
Zylinder, Aktenmappe, kniet bei der
Katerleiche nieder, nimmt die Schlüssel,
richtet sich langsam auf. In der Folge
erscheinen im Hintergrund zwei
Gefängniswärter mit weiteren Kübeln,
der eine sieht den Katzenbalg, zieht ihn
nach hinten und steckt ihn in einen der
Eimer. Wärter und Wagen ab.)
KRATZER
Sind Sie von der Feuerversicherung?
HOFFMANN
Warum haben Sie das Theater in
Brand gesteckt, Kratzer?
KRATZER
Wir hatten hier ein ersatzpflichtiges
Schadenfeuer, ohne bestimmungs­
mäßigen Herd, das sich aus eigener
Kraft –
HOFFMANN (lauter)
Warum haben Sie das Theater in
Brand gesteckt?
KRATZER (schreit)
Das ist hier kein Theater, wir
sind ein Stadtmuseum, früher
Kammergericht, aber ein Gericht
ist auch kein Theater!
HOFFMANN
Ein Theater – kein Gericht? Sie
kennen es wohl, Kratzer? – das
Theater am Gendarmenmarkt,
meiner Wohnung gegenüber, Ecke
Tauben- und Charlottenstraße!
KRATZER (ins Publikum)
Ein Irrer, der entsprungen ist –
HOFFMANN
S i e sind entsprungen, Kratzer,
der BRÜHLSCHEN Truppe
weggelaufen, warum haben Sie in
der Perückenkammer Terpentin
verspritzt und mit der Zigarre
gezündelt?
KRATZER
Ich rauche nicht.
HOFFMANNN
Und warum haben Sie die
Garderobentür abgeschlossen?
KRATZER (schwer atmend)
Da sitzen Sie doch immer mit Ihrem
Naschwerk und Ihren Nelken,
Hoffmann, sind Sie rasch zum
Salamander geworden? Nicht im
eigenen Gift verbrannt?
HOFFMANN
Nicht ich, aber s i e wäre fast
verbrannt – Johanna Eunike!
Devrient hat die Tür aufgebrochen
und sie gerettet, aber sie hat ihre
Stimme verloren, im Rauch und in
der Glut.
KRATZER
Wenn es nicht das tolle gotische
Zeug war, das Sie ihr zu singen
gaben.
HOFFMANN
A l l e sind versengt, verwundet
worden, alle Brühlschen Comö­dian­
ten, sie haben das Feuer bekämpft,
das Sie gelegt hatten, sie wollten die
Kostüme und Kulissen retten.
KRATZER
Aber alles ist verbrannt – häh – der
ganze Kristallpalast, Sie sind in
der Versenkung verschwunden,
mit Ihrem Nymphenzauber, Ihren
Nelken, Ihrem Naschwerk! Keine
69
70
Undine mehr – auf keinem Theater
der Welt! Aus Angst vor mir, vor
meiner Rache!
HOFFMANN
Bravo! Bravissimo! Aber wozu
das – D a C a p o? Warum die Stadt
verwüsten, die Flüsse, das Meer,
die Welt? Warum in Warschau mein
Atlantis, meine Fresken, meinen
Hammerflügel? Warum das Grün
der Wälder? Wohin ich sehe –
verbrannte Gesichter, verbrannte
Erde, verkohlte Balken. Das hat
der Koreff nicht gewollt, als er das
glühende Eisen unter Ihre Sohlen
hielt, Herr Leutnant! Ein Amoklauf
durch das Jahrtausend!
KRATZER
Sie hatten immer eine kranke
Phantasie, Hoffmann, sind wohl
doch kein Salamander, wie? Diese
Feuerangst! Sehen Sie mich doch
an! Bin ich etwa Frankenstein?
HOFFMANN (ihn fixierend)
Sie haben sich im Eise wohl
erhalten, wie der Elis Fröhbohm in
Falun, im Vitriol des Bergwerks –
Julia und Johanna sind verbrannt,
doch Sie sind frisch wie eine
Weißwurst. Aber t o t.
KRATZER
Jetzt reicht’s mir aber, das Theater
und der Spuk – h i e r! (deutet auf die
Gedenkplatte)
Lesen Sie doch Ihren Grabstein,
Hoffmann, wer ist hier die schöne
Leiche?
HOFFMANN (rührt sacht an Kratzers
erhobenem Arm, dreht ihn leise herum
und zieht ihm das Messer aus dem
Rücken.)
Glück gehabt! (deklamierend)
‚Der Dolch war nicht vergiftet‘!
(lässt das Messer fallen.)
KRATZER (entgeistert)
S i e sind der tote Mann, nicht
ich! Wer hört schon noch auf Ihren
Freisler?
HOFFMANN (schreit)
Kreisler!
KRATZER
Wer glaubt an Ihr Atlantis – Geister,
Grün, Genesung, alles aus dem
Bauch? Die P h a n t a s i e  – ja – ja!
Die ist im Marketing, im Planspiel
integriert, das ist jetzt kreativer
Geschäftssinn, spezielle Effekte
und Präventivschlag. Alles andere
ist Eskapismus von Arbeitslosen,
Drogensüchtigen, Delirium
Besoffener, oder Perversion.
HOFFMANN
Warum dann b r a n n t e n Sie mir
die Augen aus mit Ihrer Zigarre?
(Die Packer herein – in moderner
Kluft)
1. PACKER
Wir bringen den neuen Kühlschrank.
KRATZER (erleichtert)
Ja, natürlich – drüben in die
Kantine, ich komme mit – (zu
Hoffmann, leise, gezischt)
Ihr S c h l a n g e n b lick hat uns z u
l a n g gelähmt!
2. PACKER
Ist das jetzt ein Theater oder ein
Gericht?
(Kratzer mit den Packern ab.)
HOFFMANN
Er läuft und wird den nächsten
Weltenbrand im Eise überleben –
bei seinen Häppchen.
Szene 26
(Hoffmann hat Zylinder und Pelerine
abgelegt, steht im braunen Frack am
Pult, in seine Akte vertieft. Herein der
Doppel­gänger – identisch gekleidet,
aber schäbiger – als Untersuchungs­
gefan­gener, Gelenk­fesseln, kann aber
dennoch das Messer an sich bringen
und verschwinden lassen.)
HOFFMANN (ohne aufzusehen)
Setzten Sie sich!
(Doppelgänger setzt sich auf die
Bank.)
HOFFMANN
Name?
DOPPELGÄNGER
Hoffmann.
HOFFMANN
Vorname?
DOPPELGÄNGER
Karl, Heinrich.
HOFFMANN
Und?
DOPPELGÄNGER
Was, ‚und‘?
HOFFMANN
Keinen dritten Namen? Wilhelm
oder Amadeus?
DOPPELGÄNGER
Nein.
HOFFMANN
Wo ist der Student Mühlenfels?
DOPPELGÄNGER
Du kannst mich auch Mühlenfels
nennen.
HOFFMANN
Was?
DOPPELGÄNGER
Es ist mir gleich, unter welchem
Namen Du mich einlochst.
HOFFMANN
Beruf?
DOPPELGÄNGER
Advocat.
HOFFMANN
Wo?
DOPPELGÄNGER
In Darmstadt.
HOFFMANN
Als Commissar der königlichen
ImmediatuntersuchungsCommission obliegt es mir, Sie
wegen demagogischer Umtriebe
ins Verhör zu nehmen.
DOPPELGÄNGER (schweigt)
HOFFMANN
Das heißt wegen Ihrer Beteiligung
an hochverräterischen,
aufrührerischen, staatsgefährdenden
Vorbereitungen zu einer allgemeinen
Revolution.
DOPPELGÄNGER
Wenn sie nur bald kommt.
HOFFMANN
Insbesondere habe ich zu klären,
ob Sie – wie Mühlenfels und
andere – in Verbindung stehen
mit dem Bund der Schwarzen und
Unbedingten, dem Hoffmannschen
Geheimbund – da ist ja schon
wieder ein Hoffmann?
71
72
DOPPELGÄNGER (schweigt)
HOFFMANN (blättert in den Akten)
Das ist der Doctor Hoffmann, Justiz­
rat in Rödelsheim – Revolution als
Familienbetrieb, oder was?
DOPPELGÄNGER (summt vor sich
hin)
‚Ich hab mein Sach auf Nichts
gestellt‘.
HOFFMANN (schlägt mit dem
Schlüssel aufs Pult)
Ich bitte mir Ruhe aus! Auch das
Absingen dieses anarchistischen
Turnerliedchens inkriminiert Sie!
DOPPELGÄNGER
Es ist von Goethe.
HOFFMANN
Es ist von Goethe – also harmlos.
Nun dann zu den weniger harmlosen
Implikationen! Frage eins:
Haben Sie am Wartburgfest, zum
Gedenken der Schlacht bei Leipzig,
teilgenommen?
DOPPELGÄNGER
Ich hab einen Schuss durch Hals
und Brust bekommen, bin drei Tage
lang hülflos auf dem Schlachtfeld
gelegen, und nachher monatelang
im Lazarett.
HOFFMANN
Frage zwei: Haben Sie – zusammen
mit anderen Burschen – Kotzebues
Deutsche Geschichte und den
Codex der Gendarmerie des
Polizeidirektors Kamptz mit
Mistgabeln ins Feuer gesteckt?
(auf dem Gerüst erscheint, durchs
messer­­­geschnittene Fensterloch
eingestie­­gen, Kamptz, roter Adlerorden,
Hof­­uniform; er belauscht den weiteren
Verlauf des Verhörs.)
DOPPELGÄNGER
Der Kotzebue war ein Spion des
Zaren, der Kamptz ist ein Bluthund.
HOFFMANN
Sie hätten ihn – erdolcht? Wie
der Student Sand den Staatsrat
Kotzebue?
DOPPELGÄNGER
Wär’s ein Unrecht? Aber,
Brüderlein, für den ist der Dolch zu
schade.
HOFFMANN
Eine Ermordung, oder ähnliche
Form der Selbstrache wird also
offenbar nicht gewünscht. Frage
drei: Welche Ziele verfolgt der
Hoffmannsche – Geheimbund?
DOPPELGÄNGER
Wir folgen nur der inneren Stimme,
wir suchen das Unbedingte.
HOFFMANN
Ein Unding!
DOPPELGÄNGER
Das radikale Einssein mit den
Verworfenen, die Befreiung vom
Spott der Unterdrücker.
HOFFMANN
Sieh da, ein F l o h im Pelz der
Macht! Die Unterdrücker sind die
achtunddreißig deutschen Fürsten,
nicht wahr?
DOPPELGÄNGER
Die und ihres Geistes Knechte,
Knuten und Kniffe.
HOFFMANN
Gut, das ist das ‚Unbedingte‘ – und
warum ‚schwarz‘?
DOPPELGÄNGER (zuckt die Achseln)
Schwarz sind die Köhler, die Berg­
arbeiter, die Kanoniere nach der
Schlacht, die Hinterbliebenen.
HOFFMANN
In meinen Akten steht das anders.
Demnach wollten Sie ein Wohnhaus,
eine ‚heilige Friedenswohnung‘,
besetzen, den Garten davor um­
mauern und jenseits Ihres Para­dieses
eine W ü s t e schaffen: Sie wollten
Schwarzwild, Auer­ochsen, Bären,
Alligatoren und Wölfe in diese
Einöde entlassen –
DOPPELGÄNGER
Diesem Schafsstall f e h l t ein
Wolf.
HOFFMANN
Aus gebrandschatzten Klöstern
wollten Sie Eulenschläge, aus
aus­geräucherten Turmzimmern
Adler­horste, aus unterirdischen
Labyrinthen Giftschlangennester
ent­stehen lassen. Wald- und Flur­
brände sollten den Hyänen vor­
arbeiten, eine Doppelreihe von
Wällen und Dornhecken sollte auch
dieses schwarze Niemandsland vor
der Invasion durch heilige oder un­
heilige, westliche, oder östliche
Allianzen bewahren – sagen Sie,
was ist das für ein schwarzer Aber­
witz?
DOPPELGÄNGER
I c h hab auf dem Schlachtfeld keine
Glocken läuten hören.
HOFFMANN (klappt die Akte zu)
Welche Zwangsmittel wurden gegen
Sie angewendet?
DOPPELGÄNGER
Keine Früchte, kein Gemüse,
kein Fleisch – Wassersuppe,
Blechblenden vor den Fenstern,
ein Quadratfuß Licht am Boden,
keine Bücher, kein Schreibgerät,
kein Menschenverkehr – Wanzen,
Wanzen! Nachts sitz ich auf dem
Wachstuchtisch, in meiner Decke,
aber die Wanzen kriechen die
Wände hoch und über die Decke
und lassen sich geschwaderweise
herabfallen über mich und beißen
mit der Wut des Heißhungers.
HOFFMANN
Nach Paragraph
zweihundertzweiundneunzig
der Criminalordnung sind diese
Zwangsmittel zulässig, um
den Eigensinn verstockter und
verlogener Inculpaten zu brechen.
DOPPELGÄNGER
Das wirst du bereuen, Brüderlein!
HOFFMANN (zieht die Glocke –
schrilles Läuten: Zwei Wärter
erscheinen)
Die Untersuchung ist geschlossen.
Ich sehe keinen Grund, den Inqui­
siten länger in Haft zu belassen.
Überspannte Märtyrer gehören
ins Tollhaus, nicht ins Zuchthaus.
Ihm und Mühlenfels sind die
Entlassungspapiere auszuhändigen.
(Gibt den Wärtern die Schlüssel.
Der Doppelgänger wird von den
Handfesseln befreit und wendet sich
zum Gehen. Da schreitet Kamptz ein.)
KAMPTZ
Halt! (klimmt vom Gerüst herab)
73
Szene 27
74
KAMPTZ
Halt! Sind Sie wahnsinnig, Herr
Dezernent? Die Untersuchung ist
k- k-keineswegs geschlossen.
(Zu den Wärtern) Verwahren Sie den
Angeklagten wie bisher!
(Die Wärter fesseln den Doppelgänger
wieder und gehen mit ihm ab.)
Hiernach scheint die Revolution
bereits bewirkt! Wenn der
Regierung die Organe fehlen, ihre
Anordnungen durchzuführen.
HOFFMANN
Ich genüge nur meiner Richter­
pflicht, wenn ich zwei zu Unrecht
Beschuldigte schleunigst aus
gesund­­heitsschädlicher Haft
entlasse.
KAMPTZ
Verbrecher entlässt man nicht aus
der Haft.
HOFFMANN
Wo ist das Verbrechen?
KAMPTZ
Wenn man erst den Verbrecher hat,
findet sich auch das Verbrechen!
Sie haben ja die Acten nicht
studiert!
HOFFMANN
Ich citiere sie ständig.
KAMPTZ
Sie citieren ein paar Goldsprüchlein,
die Ihrer morbiden Geisteshaltung
entgegenkommen. Es wäre – nach
der Cabinets-Ordre des Königs –
eine v o l l s t ä n d i g e Auswertung
der beschlagnahmten Papiere
vonnöten gewesen!
HOFFMANN
Ich habe nichts gefunden, was
eine Criminal-Untersuchung
rechtfertigen könnte.
KAMPTZ
Jedes Wort dieser K- k-kriminellen
beleidigt und bedroht den Staat und
seine Stützen.
HOFFMANN
Ich habe nur über Taten, nicht über
Gesinnung zu richten.
KAMPTZ
Die tragen sich doch tagtäglich
mit Mordgedanken! Gestern der
Kotzebue, heute der Ka-ka-kamptz
und morgen der Kö-kö-könig! Hier!
Hier! (schlägt neben Hoffmann
stehend, auf die Akten) Haben Sie
dieses Dokument g e n a u geprüft?
HOFFMANN
Ein Tagebuch – meist
Theaterbesuche –
KAMPTZ
Ja, ja, auf dem Theater, da lernen sie
es wohl – von den Comödianten und
Opernschmierern! Die moralische
Laxheit, die melodramatische
Blutgier. Hier! Hier! (schlägt auf das
Heft ein) L e s e n Sie!
HOFFMANN (liest)
‚Heute war ich faul‘
KAMPTZ
Sehen Sie, wie g e n a u Sie sind,
wie v o l l s t ä n d i g !
(liest seinerseits)
‚Heute war ich m-m-mordfaul‘!!
HOFFMANN
Richtig – mordsfaul, ist leicht
verkleckst.
KAMPTZ
Nun, was sagen Sie jetzt?
HOFFMANN (ratlos)
Offenbar hat der Strudelkopf an
diesem Tag nichts Vernünftiges
getan?
KAMPTZ
Nichts Ve r n ü n f t i g e s ??
So also sehen Sie das, wenn
einem Aufrührer ein Tag ohne
Meuchelmord hingeht! M o r d faul!
Das heißt: zu faul zum Morden! Das
besagt: an allen anderen Tagen –
Mord! Mord! Mord! (rülpst)
Pardon!
HOFFMANN
Das wären
dreihundertvierundsechzig Delikte
im Jahr – ein Mordskerl!
KAMPTZ
Ja, ja, Ihr Cynismus stinkt mir schon
lange! In Ihren Sauftouren ertränken
Sie jeden Sinn für Würde und Ernst
eines preußischen Staatsbeamten!
Worin sehen Sie eigentlich Ihre
Function?
HOFFMANN (trocken)
In weiser Milde.
KAMPTZ
Statt zum Verfolger werden
Sie da zum Beschützer der
Revolutionäre – kein Wunder bei
den Geschäftsverbindungen zu
demagogischen Buchhändlern
und der Geistesverwandtschaft
mit verwilderten Professoren
und verführten Studenten. Treten
Sie doch dem Hoffmannschen
Geheimbund bei! Wollen Sie nicht
ums Feuer tanzen, in dem man die
Gesetzbücher Ihrer Vorgesetzten
verbrennt?
(Pause)
HOFFMANN (nimmt fröstelnd
die Pelerine um)
Was ich vor mir sehe, ist ein
Gewebe heilloser Willkür, frecher
Nichtachtung aller Gesetze
und persönlicher Animosität –
h i e r, unter den Richtern! Ich
lege mein Amt als Mitglied der
Untersuchungscommission nieder.
KAMPTZ
So billig kommen Sie mir nicht
weg, Herr Commissarius! Sie
hoffen wohl, nur noch Ihrer eiteln
Schreibsucht frönen zu können?
Aber die G e s c h i c h t e entlässt
Sie nicht aus Ihrer Pflicht. Der
Kampf gegen die Hydra des
Aufruhrs ist historisch, da lenken
Ihre Histörchen nur ab!
HOFFMANN
Die Wege der Historie und die
Wege meiner Histörchen sollten
alle nach – hause führen.
KAMPTZ
Nach h a u s e ? Sie meinen doch
nicht das Weinhaus?
HOFFMANN
Ich meine die Wohnungen des
Glücks, wo – im Einklang aller
Wesen – gute u n d böse Geister
zusammenwirken.
KAMPTZ
Ein Tollhaus? Ein Freudenhaus?
HOFFMANN
Aber kein Zuchthaus! Die
75
76
Geschichte ist hinter meinen
Geschichten zurückgeblieben. Statt
wie eine spukhafte Erscheinung
den Alltag gewöhnlicher Menschen
ins Blaue hinauszurücken, lässt
sie die Ungewöhnlichen in der
Mediokrität verkümmern – und
die Gewöhnlichen dazu! Nur,
wo wir frei sind, hinüber- und
herüberzuwechseln – aus der Zeit
in die Unzeit, aus Ordnung und
Verordnung in die Wildnis, aus
der Gewohnheit ins Ungewohnte,
Unbewohnte, aus der Sicherheit in
den Schreck – nur da ist Leben. In
jedem steckt die Lust am Fremden,
Anderen, Exotischen – ein weißer
Geier, Geisterfürst, die goldne
Schlange.
KAMPTZ
Und der Staat soll Ihre goldnen
Schlänglein an seinen Busen
nehmen?
HOFFMANN
Erkenntnis lehrt die Schlange im
Paradies – sie war mir immer die
liebste der Verführerinnen.
Verwandlung und Erleuchtung
herrschen in Atlantis, Erstarrung und
Verdummung in Berlin.
KAMPTZ
Dies Schlangengift will Er uns
einflößen – dass jeder für sich
selbst entscheidet, was ihm gut und
böse ist, statt sich an seinem Platze
zu bescheiden und Allerhöchsten
Anordnungen Folge zu leisten!
(Hoffmann schauert unter einem
Luftzug, setzt sich den Zylinder auf.)
HOFFMANN
Der Allerhöchste Weltgeist hat mir
immer nur ins Konzept gepfuscht.
KAMPTZ
Jetzt will er selber Geschichte
machen, wie? Ein König Ohneland,
aber – ein König? Ein Staat im
Staate – die Jugend verführen, nicht
nur die Weiber, sondern alle, die
Ihr abstruses Zeug aufschlecken:
Träume vom bessern Leben – und
damit subversive Ideen und Satiren
einschmuggeln auf alles, was
hoch und heilig ist? Auch das ist
Hochverrat, Herr Hoffmann! Ich
gehe jetzt zum Ka-ka-Kanzler und
zum Kö-kö-könig und melde Ihre
Gesinnung und Durchstechereien!
(Kamptz ab. Hoffmann nimmt
sofort einen Schluck aus seiner
Taschenbouteille, seine Pelerine
flattert im Luftzug.)
HOFFMANN
Puh, der Leichengeruch! (nimmt
seine Aktenmappe auf, rührt sich
aber nicht von der Stelle, sondern
summt vor sich hin.)
‚Ich hab mein Sach auf Nichts
gestellt –‘
(und versinkt hinter dem Pult)
Szene 28
(Von links Mischa mit Manuskript und
Blumenbouquet, Hippel mit Sektkübel;
sie rücken in der Folge Stühle für die
Geburtstagsfeier zurecht.)
HIPPEL
Schreiben Sie auch, Frau Hoffmann?
MISCHA (legt das Manuskript unter
das Bouquet auf ein Tischchen ab)
Ist ein neues Märchen schnakiges,
hat er viel Angst dabei gehabt,
gefroren und geschrieben ganze
Nacht, will heut draus lesen!
HIPPEL
Der Dienst hat seine Kunst doch
nicht erdrückt! Ich freue mich
darauf, wie geht es ihm?
MISCHA
Der Johann untersucht ihn grad,
die Füß sind ihm geschwollen, das
Kreuz ist steif, kann nicht mehr
gehn und stehn.
HIPPEL
Der Johann?
MISCHA
Der Doctor Koreff, hat ihm viel
geholfen mit die Hopelpobel
kräftiges und große Hände.
Blitzlicht in die Fingerspitzen!
(schaudert ein wenig.)
HIPPEL
Aber jetzt – gelähmt? Ein trauriger
Geburtstag.
MISCHA
Muss den Stein ihm brennen,
sagt der Johann, dass die Nerven
schlaffes wie malade Frösche ins
Leben zucken.
HIPPEL
Hat mir eine Trauerkart’ geschickt!
MISCHA
Eine Todes –?
HIPPEL
Hat den Tod des Katers angezeigt
(lacht) ‚Wer den Jüngling kannte‘
schreibt er da, ‚misst meinen
Schmerz und ehrt ihn durch
Schweigen.‘
MISCHA
Lag immer auf Geschriebenes in
Schublad, hat auch Funken gesprüht
elektrische, der Murr, das Haus ist
leer, seit er gegangen.
HIPPEL (lacht)
Ich bringe Ihnen einen Papagei, ein
lustiges Plappermaul!
MISCHA (schüttelt heftig den Kopf )
Muss selber kommen – an Fenster,
an die Tür, kann man nicht kaufen,
die Kreatur.
(aus der Türöffnung schiebt Koreff
den Rollstuhl mit dem fußlahmen
Hoffmann herein.)
HOFFMANN (heiter)
O Jemine, welch Wiedersehen,
teurer Freund, wir werden unsere
Reise verschieben müssen.
HIPPEL (die Arme ausbreitend)
Gesundheit, Freund, das andere gibt
sich schon, wohin willst du denn
reisen?
HOFFMANN
Nach Alexandria stracks in die
Bibliothek und ringsum eine Wüste
voller Löwen.
KOREFF
Wie jener Narr in Bamberg, der sich
für Serapion hielt, den Heiligen,
seine Hasen für die Löwen und ganz
Bayern für die Wüste.
HIPPEL
Ja, Verrückte und Poeten leben
immer in der Fremde.
KOREFF (zu Mischa)
Im Rückenmark die Nervenknoten
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78
und Nervenäste sind zerfressen,
es ist die D a r r e – tabes dorsalis.
(Mischa sitzt betäubt und strickt.)
HOFFMANN (zu Hippel)
Er meinte, dass es kaum drei
Stunden her, als ihm der Kaiser
Decius die Sehnen aller Glieder
durchschneiden ließ und ihn
vom Felsen stürzte.
KOREFF
Hat aber alles überstanden, die
Qualen, von der Hölle selbst in
seiner Brust entzündet.
HOFFMANN
Erwachte mit zerrissenen Gliedern
und zerschelltem Haupte, doch der
Geist im Innern erleuchtet’ ihn und
ließ ihm Seel’ und Körper heilen.
HIPPEL
Ja, die Krüppel und Poeten glauben
noch an Wunder und Magie.
KOREFF
Nur nach bestandenem Martyrium
geht solch ein Leben uns im Innern
auf wie dem Antonius und Serapion,
und was die Phantasie erschaut,
wird Wirklichkeit.
HIPPEL
Italien! Ja, Italien! Ach, Finito!
Zu spät! Zu spät!
KOREFF (projiziert purgierte Kopien
Callotscher Blätter an die Wand.)
In Bamberg Alexandria und in
Berlin Venedig – hergestrahlt
zu Hoffmanns Wiegenfest, vom
Doctor Koreff in Callots Manier.
HOFFMANN (entzückt)
Das ist mir ein Geschenk, ich werde
ein Capriccio dazu schreiben.
(Von rechts hinten Hitzig herein.)
HITZIG
Ei ja wie niedlich, all die
phallischen Gestalten!
HOFFMANN
Nur leider arg kastriert – der freche
Geist der Ironie.
KOREFF
Das beste Mittel gegen die
Versuchung.
HOFFMANN (scharf )
Für den Antonius von P a d u a?
KOREFF
Für jeden, der sich nicht in Acht zu
nehmen weiß.
(Die Projektionen verblassen.)
HITZIG
Ich bringe hier ein Gegengift – den
Walter Scott! D e n müsst Ihr lesen!
(Überreicht sein Geschenk.)
HOFFMANN (legt es beiseite)
Trefflich! Trefflich! Aber – ferne
liegt mir dieser Geist.
HITZIG (ereifert sich)
Nur immer Carneval und
Fleischeslust und all das Nebeln
und Schwebeln eines ohne Halt
im Leeren flatternden Geistes! Der
zerstörliche Einfluss des vielen
Weines! Brambilla und Brim­borium!
Tänzeln überm Abgrund, lüsternes
Spiel mit allem, was hoch und heilig
ist – Ihr letztes Buch, mein Freund,
ein Abweg, leere Schatten!
MISCHA (strickend)
Ein Märchen wunderschönes,
anfangs wird einem wirrig im
Kopf, aber dann sitzt man mitten
darin.
HITZIG (irritiert)
Mitten w o r i n, gute Frau? Mitten
auf einem Schauplatz ohne Boden
und Hintergrund! Da lesen Sie den
S c o t t ! Der macht ja auch mit
Recht sein Glück beim Publikum,
hat sich in Abbotsford ein prächtig
Haus gebaut, die Bibliothek (schaut
sich verächtlich um) umfasst an
zwanzigtausend Bände, nicht zu
reden von der Sammlung bemalter
Teller und der Waffencollection,
und hat als erster auf der Insel die
centrale Gasheizung – ja, d e r!
Der könnte von Atlantis reden! Den
lesen nicht bloß Marktweiber und
hysterische Damen in Weimarer
Teecirkeln, den liest auch der
Mann, der im Leben steht, der
Geschäfts- und Staatsmann, und
selbst Goethe liest das, dem es
über Ihrem ‚Goldenen Topf‘ nur
schlecht geworden ist! Geschichte,
ja Geschichte, mein lieber, Facten,
Wirklichkeit, gründliche Kenntnisse
von Sitten und Gebräuchen – das
alles fehlt bei Ihnen! Vorbei das
Phantasieren, die Romantik!
Notwendigkeit verlangen wir von
einem Buch in unserer Zeit, wie
eine Schaufel muss es im Realen
graben – nicht wie ein Irrlicht
x-beliebig über Sümpfen geistern!
HOFFMANN (heiter)
Es ist schade, dass die bösen Buben
den Codex der Gendarmerie des
Herren von Kamptz verbrannt – ein
höchst notwendiges Buch! Notwendig wie alle Befehle von Garde­
leutnants, Polizei­ver­ordnungen,
Schuldscheine und Todes­urteile. Der
Geist des Banco komme über uns!
Wir nehmen die Gesetze für Notstände und Not­fälle, all diese Notverordnungen und Nothelfer nicht
geziemend ernst. Unsere Wechsel
sind nicht gedeckt. Die Marktweiber
und andere gescheite Damen – statt
die Geschäfte ihrer Männer anzubeten – fangen nun auch schon
an, sich über ihr verfehltes Leben
aufzuregen. Fehlt nur noch, dass
sie Hoffmann lesen, von verbotnen
Paradiesen träumen, von Befreiung und Verwandlung im Morast
der Nötigung und Notzucht – wie
Daphne sich in einen Lorbeerbaum
verwandelt: wie viele Fraun, die
unter ihren Männern liegen, träumen wohl davon? Ah, alles Nebeln,
Schwebeln, Phantasie – ganz recht,
die Wirklichkeit, der Reißwolf des
Realen ist nicht mein Fetisch – ich
setze W ü n s c h e frei – und irgendwo, zu irgendeiner Zeit wird uns ein
hoher, den Kreis des irdischen Genusses überschreitender, wird unser
Wunsch erfüllt – und davon schreibe
ich, mein Irrlicht ist kein Gasofen,
und der Poeten Geist ist nicht der
Herren Geist, und nur wer wünscht,
wird überrascht. Wer im realen
Sumpfe steckt, dem hilft das Irrlicht
eine Planke finden.
(Plötzlich ist im Hintergrund Marie,
Hitzigs zehnjährige Tochter, auf­ge­
taucht; sie verbirgt etwas hinter ihrem
Rücken.)
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HITZIG (erschreckt)
Marie! Wie kommst denn Du
hierher? Du hast doch die
Geschwister nicht allein gelassen?
MARIE
Papa, nicht böse sein, ich hab
eine Überraschung für den Onkel
Hoffmann.
HOFFMANN
Hoffentlich keinen Türken, der mir
hinterrücks aufs Haupt haut?
MARIE
Z w e i Türken!
HOFFMANN
Zwei Türken? Ein Geburtstag ist
doch keine Hochzeit! Wo kommen
die denn her?
MARIE
Aus der Türkei.
HOFFMANN
Und – wohin gehen sie?
MARIE
Das werd ich Dir gleich zeigen.
(Stellt sich auf die Armesünderbank
und führt vor, was sie hinter dem
Rücken versteckt hielt – zwei Ballons
in Form von Türkenköpfen.
Belustigung der Gäste.)
MISCHA
Kindchen herziges.
HIPPEL
Ich hätte meine ja auch mitgebracht,
doch meistens fühlt sich Hoffmann
nur gestört.
MARIE (deklamiert)
‚Türkenmännchen, flieg hinweg,
Die Weiber mit den Stangen
Wollen Dich empfangen.‘
(Lässt den einen Ballon auffliegen.)
‚Türkenweibchen, flieg hinweg,
Die Männer mit den Spießen
Wollen dich erschießen!‘
(Lässt den zweiten Ballon fliegen.)
‚Fliegt in den Himmel,
Bringt mir ’n Sack voll Kümmel!
Tunk ich meinen Weck hinein
Bei dem roten kühlen Wein.‘
(Die Ballons platzen mit lautem Knall
und fallen herab. Etwas unsichere
Reaktion bei den Gästen: teils
Heiterkeit, teils gespieltes Bedauern.
Marie springt von der Bank.)
HOFFMANN
Ein gelungenes Phantasiestück,
Dein Vater wird die Notwendigkeit
dabei vermissen.
HITZIG
Sie hat sich das ganz allein ausge­
dacht, ich hatte keine Ahnung!
HOFFMANN
Mischa – einen ‚Weck‘ und ‚kühlen
Wein‘ für Marie?
HITZIG
Nur kein Alkohol für das Kind,
sie macht mir ohnehin Sorgen.
KOREFF
Sanftes Maulschellieren dann und
wann und Hopelpobel treibt das Blut
in ihre Wangen.
HITZIG
Doch ohne Kirschengeist!
MARIE (zu Hoffmann)
Wann baust Du uns das
Wasserschloss?
HOFFMANN (leicht irritiert)
Habt Ihr denn Huldbrands Burg
schon angezündet?
MARIE
Ja, aber unter Wasser kann man
sich verstecken.
HOFFMANN
Ihr wollt schon untertauchen,
Du und Fritz?
MARIE
Unsichtbar werden –
MISCHA
Mariechen, iss noch vom
Geburtstags­kuchen!
MARIE
Ich bin nicht hungrig.
(Schrilles Läuten.)
STIMME DES DOPPELGÄNGERS
Hoffmann hat auch eine Über­
raschung.
(Stille. Alle sehen Hoffmann an.
Der wendet sich dem Punschtopf
zu, der neben seinem Stuhl auf dem
Brennuntersatz platziert ist.)
HOFFMANN
Es ist nur – ein Irrlicht. Ich habe
in Wieglebs Praktischer Magie ein
wundersam Rezept gefunden –
Weingeist und Salze – eine Flamme,
einen Strahl, der durch die Haut der
Dinge in das Wesen leuchte –
KOREFF
Ins Innre der Gewebe?
HOFFMANN
– ins Herz der Dinge, und was
erstarrt liegt in der wunden Brust,
im Blut der Schmerzen, löst sich,
lebt, und ich vermag’s zu fassen
und zu binden, dass es mir in einer
Feuergarbe, wie Gesang, zum
Flammenbilde wird – es ist das
Licht der Wahrheit.
HITZIG/KOREFF/HIPPEL
Wa h r h e i t ?
HITZIG
Das Licht der Wissenschaft?
KOREFF
Die Aura heiliger Offenbarung?
HIPPEL
Das Morgenrot der teutschen
Einheit?
HOFFMANN (kichert)
Ein Irrlicht – sagt ich’s schon? –
ein Irrlicht überm Sumpf.
MARIE
Nun mach schon, Onkel Hofmann,
zeig es uns!
HITZIG
Hoffentlich nichts Unanständiges!
(Hoffmann hält einen Fidibus in die
Schüssel: Das Rauschen des Flusses,
das Stöhnen vom Schlachtfeld
erhebt sich; dann erleuchtet sich der
Topf von innen, eine kleine weiße
Flamme züngelt herauf. Hitzig,
Koreff, Hippel und Mischa als Caspar
David Friedrichs Rückengruppe. Nur
Hoffmanns Profil und Maries Gesicht
werden erleuchtet – sie erstarren zu
T o t e n m a s k e n. Augenblick der
Stille.)
MISCHA (schreit)
Blendwerk gottloses! Frevel
schreckliches!
(Sie schlägt mit dem Strickstrumpf in
die Flamme, wirft sich über den Topf.)
Bringt das Kind hinaus! Das Kind!
Das Kind!
HITZIG
Aber es ist doch nur ein Scherz!?
81
(Mischa hat den Topf vom Untersatz
gerissen und trägt ihn hastig, in Panik,
hinaus.)
MARIE (lacht)
Der Fritz hat Recht, Du bist – der
Teufel.
HITZIG (verunsichert)
Ja, es ist spät, Marie, wir dürfen die
Geschwister nicht alleine lassen,
Bettzeit, Bettzeit! (geleitet sie hinaus.)
HIPPEL
Ein imposantes Feuerwerk!
KOREFF
Hoffmanns Frevel!
HOFFMANN
Was hat die Frau denn nur?
KOREFF
Sie hat des Todes Licht geschaut,
wir sind, mein Freund, damit
vertraut.
82
Szene 29
(Koreff zieht die Sektflasche aus dem
Kübel, lässt den Korken knallen.)
KOREFF
Eine kleine Libation auf meine
Pariser Stiefel und ein Vivat auf
das Leben!
(schenkt zuerst Hippel ein.)
HIPPEL
Das Leben ist der Güter höchstes
nicht, das Vaterland –
HOFFMANN (begierig das Glas
hinhaltend)
Nein, nein – das Leben! Nur leben,
leben! Unter welcher Bedingung
es auch immer sei!
KOREFF
Prosit denn – dem Neugeborenen!
HIIPPEL
Und ein Hoch dem König, der
Justitia, die uns, mein Freund,
erhält, ernährt!
HOFFMANN (lässt das Glas fallen)
KOREFF
Was ist Ihnen?
HOFFMANN
Nichts – eine momentane Schwäche.
(Zu Hippel) D i c h, mein Einziger,
erhalten Deine Bauern! Und den
König seine Bluthunde, und zu
deren Lobe will ich jetzt ein eigenes
Lied anstimmen!
(Hinter dem Stehpult taucht ominös
der Polizeidirektor Kamptz auf, er
belauscht Hoffmanns Expektoration
mit steigender Wut.)
Ja, ich brenne darauf, Euch, den
Serapionsbrüdern, mein historisches
Histörchen vorzutragen – frisch von
der Galle weg, da drüben liegt’s,
schon fertig zum Versand an den
Verleger Wilmans in Frankfurt –
(Hippel will ihm das Manuskript
herüberreichen.)
HOFFMANN
Nein, nein, ich brauche das
Geschriebene nicht, so hört nur die
Geschichte, wie der Peregrinus dem
Ka-ka-kamptzi-Pamtzi einen Floh in
seinen Pelz gesetzt.
(Im Folgenden fiebrig erregt und das
Parodistische hysterisch übertreibend.)
Ich, der Peregrinus war in Peking,
und seit ich in Peking war mit
Pepusch, dem Tonsetzer der
Drei­groschenoper, stellt mir der
Polizeiminister nach. ‚Ergreift
ihn!‘ schreit der Ka-ka-kamptziPamtzi, ‚locht ihn ein, er ist ein
ganz gefährliches Subjekt, ein
Revo­lutionär und Staatsverräter,
und er hat aus China uns die
Flöhe eingeschleppt!‘ Tatsächlich
hatt’ ich einen Floh am Ohr, dem
hat der Meister Leuwenhoek ein
wunderfeines Mikroskop ge­
schliffen, das setzt’ der Floh mir
auf ein Fingerschnippen ein in die
Pupille – und ich kann damit in
Kamtzi-Pamtzis Kreuzspinnen­ge­
hirn Gedanken lesen, und was denkt
der Polizist? ‚Hab ich den Ver­
brecher erst, so findet sich auch das
Verbrechen! Überführ ich ihn, so bin
ich Liebkind bei dem Kö-kö-könig,
ernte Beifall, Geld und Orden!‘
Also schreit er: Hier, was lese ich
in des Verbrechers Tagebuch? ‚Heut
war ich mordfaul!‘ – M o r d faul?
Klar, dass er an anderen Tagen
nichts als Mord und Mord und
Mord im Sinne hatte! Gestern den
Ko-ko-kolores, heute den Ka-kakamptzi, morgen den Kö-kö-könig!‘
ruft er – stinkend aus dem Maul,
als hätt’ er aus den Kübeln seiner
Kerker Kacke gefressen. Und ich
sagte, ich, der Peregrin, ‚Du hattest
doch in Deinem Polizeistaat all die
Flöhe so gut im Schuss! Mit der
Kultur, der sogenannten, die Du mit
barbarischer Härte eingeführt: die
Flöhe mussten alle etwas werden,
vor­stellen und – als Schneider,
Schuster, Waffenschmiede, als
Pro­fessionisten überflüssigen
Luxus befördern und im Schweiß
Bedürfnisse erringen, die sie nicht
gekannt, für die sie aber fronen
sollen – jedoch Flöhe sind unruhig
Volk, scharfsichtig, amourös wie
tausend Teufel, und die Lieb’ und
die Erkenntnis gibt den Flöhen
Riesenkraft, sie sprengen ihre
Ketten und setzen sich dem KamtziPamtzi in den Pelz und stechen den
Flohbändiger Tag und Nacht und
bis aufs Blut –‘
(Lautes Flügelschlagen: auf dem
Gerüst, durchs messergeschnittene
Fensterloch eingestiegen, ist der
Rabe erschienen. Alle schauen zu
ihm auf. Diesen Augenblick benutzt
Kamptz, das Manuskript an sich zu
bringen, hastig geht er damit nach
rechts ab. Der Rabe überfliegt die drei
Serapionsbrüder und verschwindet
durchs Eckfenster.)
HOFFMANN (erschöpft)
Das ist der Rabe Pozzi, er sucht
den Kater Murr.
HIPPEL (aufstehend)
Das kannst Du nicht veröffentlichen, teurer Freund, das ist
Beleidigung der Staatsorgane und
ihrer Diener, wir wissen doch alle,
wen Du meinst, und als Beamter
darfst
Du Dich nicht so vergessen!
HOFFMANN
Sie können mich alle am Arsche
lecken.
KOREFF (reicht Hoffmann ein volles
Glas)
Nun regen Sie sich nicht so auf!
83
84
(Hoffmann hat versucht, das Glas
entgegenzunehmen.)
Was ist mit Ihrer Hand?
HOFFMANN (versucht die Hand zu
bewegen)
Ich hab das Gefühl verloren in den
Fingern, kann den Arm nicht rühren.
KOREFF
Lassen Sie, wir sehen später nach.
HIPPEL
Ich muss nun gehen, teurer Freund,
die Konferenz mit Herrn von
Kamptz, und – lass das Manuskript
nur nicht heraus! Wo ist es? (sieht
sich suchend um)
HOFFMANN (erstarrt)
Zu spät! Finito! Der Flohbändiger
hat seine Flöhe wieder in der
Schachtel. Mich wird er bald
dazutun.
HIPPEL
Die Tür –? Ist nicht verschlossen!
Die Kreaturen des von Kamptz
sind überall –
KOREFF
Und übermächtig! Ja, der Boden
wird mir hier zu heiß, ich gehe
nach Paris.
HOFFMANN
Ihr könnt nicht gehen! Nein!
Verlasst mich nicht! Ich brauche
Euch!
HIPPEL
Ich muss! Die Pflicht, das Vaterland,
mein Gut – Ich muss nun scheiden,
lebewohl, mein einziger Freund,
und – wenn Du Rat brauchst, oder
Geld, schreib nur nach Leistenau!
(Hippel ab.)
Szene 30
KOREFF
Manchmal, so scheint mir, rührt
sich das Zigeunerblut in Ihnen,
Freund, Sie müssen doch auch an
Michalina denken! Wenn wegen
dieses törichten Pasquills man Ihnen
die Bezüge streicht, wovon soll sie
denn leben?
HOFFMANN
Sie hat ja noch den David, ihren
väterlichen Freund!
KOREFF
Johann, wenn ich bitten darf, ob­
gleich die Taufe nichts mehr nützt,
seit selbst auf dem Theater der Jud
verulkt wird.
HOFFMANN
Doch Sie gehn nicht nach Paris!
KOREFF
König, Kanzler, Kamptz sind
kerngesund – dank meinem
Hopelpobel, und sie wollen keine
Juden mehr am Hofe.
HOFFMANN
Liefen Sie doch wie Ahasverus
durch alle Zeiten – uns voraus,
statt Kratzer-Graepel, brächten
von der Schwelle des Jahrtausends
eine Panacee zurück, die
Wunderkur, die alles heilt!
KOREFF
Ich kann es mit der Brennkur noch
versuchen.
HOFFMANN (angstvoll)
Der – Brennkur? Nein, ich bin nicht
einer Ihrer Heiligen – Laurentius auf
dem Roste –
KOREFF
Kein heiliger fürwahr, ein Ketzer
eher, und das Feuer läutert beide.
HOFFMANN
Willst mich wohl auf Deinen
Bratenwender spießen und ins
Fegefeuer halten bis Antonius von
Thebais dem Antonius von Padua
das B e t t e räumt?
KOREFF
Nur ruhig, Freund, Antonius von
Padua ist der Schutzpatron der
E h e  – Michalina hat mich selbst
darüber unterrichtet!
HOFFMANN
Mischa betet jetzt zu beiden – denn
der andre, sagt sie, schützt uns
gegen Feuersbrunst.
KOREFF
Nun sehen Sie, also kann die
Brennkur gar nicht schaden, denn
Sie wolln doch nicht gelähmt im
Rollstuhl auf die besseren Zeiten
warten?
HOFFMANN
Mein Geist ist frisch, und wenn ich
so dictando fortarbeiten könnte –?
KOREFF
Jedoch die Flohnatur will große
Sprünge machen.
HOFFMANN
Dann gut – Sie Höllenschnoferl,
stoßen Sie mich ins Purgatorium,
der Salamander wird funkelnd und
blitzend daraus auferstehen und
leben, leben –
KOREFF
Unter welcher Bedingung auch
immer.
(Er hat seiner Arzttasche zwei feilen­
förmige Eisenwerkzeuge entnommen,
die er jetzt über dem Brennuntersatz
zum Glühen bringt. Inzwischen legt
er Hoffmanns Oberkörper frei.)
HOFFMANN
Quod Deus bene vertat!
(Während die Eisenstücke im Feuer
zu glühen beginnen, hört man – wie
Wasser, das zum Sieden kommt – den
Fluss. Während sich Hoffmann vornüberbeugt, presst Koreff – zeremoniös
wie in einem exotischen Ritual – bald
den einen, bald den anderen Eisenstab
an Hoffmanns Rückgrat, Zischen, wie
von Fett und vieltöniges, leises Stöhnen wie vom Schlachtfeld. Hoffmann
selbst bleibt stumm, biegt aber schließlich den Kopf zurück, öffnet den Mund
zu stummem Schrei, stößt schließlich
einen hohen, schrillen Laut aus und
wird ohnmächtig. Koreff fängt ihn auf,
lehnt ihn sacht im Stuhl zurück,
deckt ihn zu: Hoffmann schläft.)
MISCHA (von links herein)
Gott allmächtiges, was tust Du
ihm an, Johannes?
KOREFF
Ich habe versucht, die Nerven
zu beiden Seiten der Wirbelsäule
zu excitieren! Eine exotische
Prozedur, aber ich freue mich der
wohltätigen Krise, er schläft jetzt,
die Geschwulst fällt von den Füßen,
bald auch fährt die Unruh wieder
in die Glieder.
(Koreff zieht den Wandschirm vor
den Rollstuhl)
85
86
MISCHA
Und jetzt – willst Du gehen?
KOREFF (zusammenpackend)
Soweit mich meine blank geputzten
Stiefel tragen!
MISCHA
A l l e verlassen ihn – die Freunde!
KOREFF
Doch Hitzig bleibt, ihn aufzuheitern.
MISCHA
Marie ist tot – sein Kindchen liebes,
gestorben am Brustfieber.
KOREFF
Ein höheres Leben ist für sie
bestimmt.
MISCHA
Ich wollte, Deine Kuren
schlügen besser an!
KOREFF
Ich auch.
MISCHA
So leb denn wohl und schreib an
Mischa aus Paris!
KOREFF
Willst Du nicht – nachkommen,
Michalina?
MISCHA (setzt sich wie eine Wache vor
den Wandschirm und strickt.)
Was soll ich in die Stadt unruhiges?
Ich geh zurück nach Polen, wenn
er stirbt, dort liegt mein Kindchen,
dort auch lebt die Nichte, und ist
besser wohnen dort mit Nachbarn
freundliche.
KOREFF
Dann – adieu! (küsst sie auf die Stirn)
Und kauf ihm das beim Apotheker!
(Gibt ihr ein Rezept.) Dreimal täglich!
(Koreff ab.)
Szene 31
(Schrilles Läuten. Mischa legt unwillkürlich den Finger auf die Lippen, unwillig
zur Türe blickend, dann schaut sie hinter
den Wandschirm – Hoffmann ist offenbar nicht erwacht – setzt sich wieder und
strickt. Hämmern gegen die Tür.)
STIMME VON KAMPTZ
Aufmachen! Im Namen des Königs!
MISCHA
Tür ist offen!
(Kamptz mit zwei Häschern
martialisch herein.)
KAMPTZ
Im Namen des Königs! Wo ist der
Hoffmann?
MISCHA
Gemahl meiniges ist krank und
schläft.
(Kamptz macht Miene, ohne weiteres
zu Hoffmann vorzudringen, Mischa
stellt sich vor dem Wandschirm ihm
entgegen.)
MISCHA
Niemand stört Gemahl meiniges,
braucht Ruhe.
KAMPTZ
Sie werden sich doch nicht einem
Befehl seiner k-k-königlichen
Majestät widersetzen wollen!
Ich habe den Hoffmann binnen
vierundzwanzig Stunden
vorzuführen.
MISCHA
Kein König reißt mein Gemahl aus
dem Bett! Er ist lahm und hilflos,
gehn Sie weg, Sie Monstrum!
KAMPTZ (zu den Häschern)
Sie hat von ihrem Mann gelernt,
wie man Staatsbeamte beleidigt!
Schafft sie aus dem Weg!
(Die Häscher packen sie, sie aber
reißt sich los.)
MISCHA
Ich geh selbst zum König, Ihr
Henkers­knecht gottlose! Ich sags
dem Ritter von Hippel, der wird
Hunde großmächtige auf Euch
hetzen.
KAMPTZ
Hippel! Sie meinen den Staatsrat
von Hippel?
MISCHA
Ja, den Erzfreund gelobter! Der
wird Euch auf die Knie bringen,
Ihr Büttel dreckige!
(Kamptz winkt die Häscher zurück.)
KAMPTZ
Nun wieder ruhig, Frau, Sie
wissen vielleicht nicht, wen Sie
vor sich haben – K a m p t z  –
(verbeugt sich kurz) Polizeidirektor
und Vorgesetzter Ihres Mannes.
Der König gab mir Auftrag,
den Hoffmann wegen schwerer
Vergehen gegen die Autorität des
Staates zu vernehmen. Genügt das?
MISCHA (keinen Zoll weichend)
Gemahl meiniges ist nicht
Verbrecher, hat immer schwer gear­
beitet für Staat verdammichten,
Acten geschrieben bis in die Nacht,
statt Märchen wunderschöne, hat
sich auf des Königs Corridoren
schweres Nierenkolik geholt, weil
nicht heizen die Majestät geiziges,
und Zugluft kaltes durch alle
Fenster!
KAMPTZ
Können Sie ein ärztliches Zeugnis
über den Krankheitszustand Ihres
Mannes vorweisen?
MISCHA (Koreffs Rezept vorzeigend)
Hier, Tincturen giftige muss ich
für ihn kaufen, isst nichts als halbe
Semmel und Fleischbrüh –
KAMPTZ (das Rezept studierend)
Er hat sich diesen Aussatz durch
eigenes Verschulden zugezogen!
(Hinter dem Wandschirm ist
Hoffmann erwacht.)
HOFFMANNS STIMME (schwach,
aber heiter)
Mischa! Mischa!
(Mischa hört, aber lässt Kamptz und
die Häscher nicht aus den Augen.)
HOFFMANN
Lass ihn nur hereinkommen, den
Herrn Polizeidirektor, ich bin
durchaus – vernehmungsfähig!
(Auf Kamptz’ Wink schieben die
Häscher den Wandschirm beiseite,
auf einen zweiten Wink verlassen
sie die Wohnung.)
HOFFMANN
Lass uns allein, Mischa, wir
beißen uns nicht. Treten Sie näher,
Herr von Kamptz, riechen Sie den
Braten?
(Mischa ab)
KAMPTZ (der sich demonstrativ
angeekelt die Nase zugehalten hat)
Fürwahr – pestilenzialisch!
Die Verwesung scheint schon im
Gang zu sein.
87
88
HOFFMANN
Was liegt also vor, Herr Kollege?
KAMPTZ
Die Bestrafung dafür wird mich von
diesem unwürdigen K-K-Kollegen
befreien. Sie haben mit Ihrem
P-p-p-Pamphlet vom Flohstich die
von Königs Majestät angeordnete
Untersuchung demagogischer
Umtriebe lächerlich gemacht, als
das Werk niedrigster p-p-persön­
licher Motive dargestellt und damit
das allerhöchste Vertrauen, das man
in Sie, als Mitglied eben dieser
Commission, gesetzt hat,
schmählich missbraucht. Sie sind
daher angeklagt – Erstens – der
Verletzung Ihrer Treue- und
Ehrfurchtspflicht gegenüber Seiner
Majestät und Ihren Vorgesetzten,
Zweitens – der gebrochenen
Amtsverschwiegenheit – denn Sie
haben aus den Acten citiert! Und
Drittens – der öffentlichen groben
Verleumdung eines Staatsbeamten
wegen Ausübung seines Amtes!
(Pause)
HOFFMANN
Ist das schon alles?
KAMPTZ
Ich dächte, das ist genug!
HOFFMANN
Welchen Staatsbeamten habe
ich denn verleumdet?
KAMPTZ
Sie halten mich wohl für b-bbekloppt?
HOFFMANN
Ich bin mir nicht der geringsten
Schuld oder bösen Absicht bewusst.
Wollen Sie das gehorsamst zu
Protokoll nehmen?
KAMPTZ (zieht einen Stift vom Ohr
und klappt seine Schreibmappe auf )
Ich erwarte, dass Sie jetzt unver­
züg­lich ein volles Geständnis Ihrer
Freveltat ablegen, um den Zorn des
Königs nicht weiter zu reizen! Erste
Frage: Erkennen Sie den Flohstich
als Ihr Produkt an? (zeigt ihm das
Manuskript)
HOFFMANN
Ich erkenne an, das Manuskript,
betitelt Meister Floh, abgefasst und
für den Druck bestimmt zu haben.
KAMPTZ
Zweite Frage: Geben Sie zu, dass
Sie damit die Autorität des Staates
untergraben und in der Figur des
K-K-K-K
HOFFMANN
Knarrpanti?
KAMPTZ
– in der Figur des K-K-K
HOFFMANN
Kamptzi-Pamptzi?
KAMPTZ (brüllt)
Dass Sie dem wichtigsten Beamten
im Staate schändliche und infame
Motive unterstellt haben?
HOFFMANN
Um diesen Argwohn zu widerlegen,
sei es mir vergönnt, darzutun, wie
sich aus dem Cannevas meiner
Geschichte ein unauflösliches
Gewebe heilsamer Wandlung,
tätiger Freundlichkeit erzeugt –
ein Weihnachtsmärchen!
KAMPTZ
Der Wolf hat Kreide gefressen!
HOFFMANN
Der Held des Stücks, Peregrinus, ist
ein beinahe kindlicher, weltscheuer
Mensch, er hat in Indien, in
Madras, wohin er mit Pepusch,
dem Komponisten der Bettleroper
gereist war, viele hungernde und
ver­krüppelte Kinder gesehen –
KAMPTZ
Zur Sache, Angeklagter, keine
sentimentalen Ausflüchte!
HOFFMANN
Zurück in Berlin kauft er also für
vierzig Friedrichsdor Spielsachen
und Zuckerwerk – man hätte
dafür die armen Kinder von ganz
Kreuzberg ein Jahr lang anständig
ernähren können!
KAMPTZ
Jetzt aber unverzüglich zu den
pflichtwidrigen und strafbaren
Stellen, der übrige Inhalt ist uns
gleichgültig!
HOFFMANN
Ich sprach von einem unauflöslichen
Gewebe, die guten und die bösen
Geister wirken darin zusammen!
Der gute Geist, ein bürgerlicher
Wohltäter, überschüttet zum
Christfest einige ausgewählte
Pauperfamilien mit seinem Segen,
und der Quälgeist bringt ihn für
seine Menschenliebe ins Gefängnis.
Sonst würden sich ja auch die
Marktweiber langweilen, die vor
allem meine Märchen lesen.
KAMPTZ
Und damit sind wir bei dem
K-k-k-kHOFFMANN
Richtig, bei Knarrpanti, wie er in
dem Texte heißt. Übrigens habe
ich diese Figur einer Komödie
des unlängst so tragisch ums
Leben gekommenen Staatsrats
Kotzbue entnommen: Ein gänzlich
unwichtiges, erbärmliches
Factotum, wie sich in den letzten
Jahren vor der Revolution noch
umhergetrieben – ein überflüssiges,
unsauberes Ungeziefer, das ich
einfach aus meinem Text, wenn
schon nicht aus meinem Leben,
herausstreichen kann! Den Rest
dictiere ich später, ich bin jetzt
zu matt.
KAMPTZ (der ohnehin nicht mehr
mitschreibt)
Sie sind ja ein schäbiger Schuft
und n o c h gefährlicher als
ohnehin schon aktenkundig! Mit
den Terroristen werden wir schon
fertig, mit verwilderten Professoren
und verführten Studenten, auch
mit Verrückten, Obscuranten,
Volksaufwieglern, Juden und
Zigeunern, die kriegen wir schon
in den Griff, auch den Mob
und die Reformer, Revoluzzer,
Kosmopoliten, Republikaner,
Mesmerianer, Propheten und
Medien und stigmatisierten Nonnen,
Natur- und Endzeitapostel und
Zeitungsschmierer, Klatschmäuler,
Giftmischer und Meuchelmörder –
89
90
die sind schon polizeilich erfasst
als C o r p u s v o r jedem Delict!
Aber Ihresgleichen – die sind in
der Tat unfassbar wie das Bucklicht
Männlein, sind überall und nirgends:
S i e mit Ihrem kostenlosen Glück!
Man wähnt sie weit ab von Ku-kukukucksheim, da sitzen sie einem
vor der Nase und k-k-kritzeln
und k-k-kritteln an Allerhöchsten
Amtserlassen herum! Man hat
Sie auf Nachlässigkeit im Amte
ertappt, und schon sind Sie wieder
im Weinhaus mit Ihrem Lästermaul
obenauf! Man denkt, nun ist er aber
vom Fusel benebelt, und da tischt
uns der Kinderschreck ein zahmes
Weihnachtsmärchen auf! Und immer
doppelzüngig, doppeldeutig, ja der
doppelte Hoffmann, sperrt man den
einen endlich ein, tanzt einem der
andere auf dem Dach herum! Doch
all die Gauklertricks, die falschen
Glücksversprechen – das interessiert
auch bald die Marktweiber nicht
mehr! W i r haben das Monopol
des Glücks – der S t a a t! Der teilt
es aus – nach Rang und Verdienst!
Und zwar b e d i n g t! Wir haben es
nicht mit dem Unbedingten – dem
Unding, das Sie uns verkaufen
wollen! W i r hängen die Karotte
vor den Esel, der uns den Karren
aus dem Dreck zieht, und w i r
kündigen den Credit, wenn es uns
passt! Und die Verführung durch
Ihre Luft- und Wasserschlösser ist
nichts als Anmaßung und Eigensinn
und macht die Weiber renitent und
unzufrieden – Männer lesen das ja
nicht!
HOFFMANN
Außer dem Censor und dem
Polizeidirektor.
KAMPTZ
Ja, Frechheit, Ironie und Mangel
an Respekt – das gärt im Innern
Ihres Topfs, und daraus dann
das ungreifbare Züngeln, die
Verlockung, die bald rechts, bald
links, bald in der Mitte tanzt – das
Irrlicht über unserem P-p-p-p-pHOFFMANN
Sumpf? Morast? P-fuhl?
KAMPTZ (in höchster Wut)
Es war ein Fehler, einen Mann
zu bezahlen, nur um das Theater
niederzubrennen! Es hat zwar den
König zur Räson gebracht – er
träumt jetzt nicht mehr von den
Wassernixen, sondern liest die
Polizeiberichte wieder. Aber Sie –
Sie bringt auch das Höllenfeuer
nicht um! Man hätte Sie ruhig bei
den feilen Comödianten, Huren und
Balletttänzern verkommen lassen
können! Und wenn Sie vielleicht
auch nicht zu Kreuze kriechen, wie
die Schlegel und Novalis, oder sich
ins Studierstübchen verkrümeln wie
die Grimm und Schleiermacher oder
in Wahn und Selbstzerstörung enden
wie die Hölderlin und Kleist – so
führt Ihr wüstes Treiben uns ja
doch zum Ziel: zur Auflösung in
Asche und Gestank, ganz ohne
unser Zutun! Und glauben Sie nur
nicht, dass Ihre giftsprühenden
Geschichten Geschichte machen!
Dass die Historie von Ihren
Histörchen sich beirren lässt! Man
wird Sie einfach stehen lassen!
HOFFMANN
Ich weiß, ich bin ins Glas gebannt,
gefallen ins Kristall, ich warte,
bis man mich entkorkt, oder als
Flaschenpost ins Meer wirft.
KAMPTZ
Nein, nein, man wird die Flasche
in den Keller stellen, ins Regal,
man wird sie – fallen lassen, und
die Kübelfrau wird Ihren Sud
aufwischen, ein paar Dozenten
und Studenten werden sich an den
Splittern die Zungen zerschneiden,
und ein paar Pinscher und
Seelenspeichellecker werden, von
Entzücken schwänzewedelnd,
vom Gebräu hinunterschlucken,
um danach zu ihren Nonnen ans
Bett, zu den Hysterikerinnen auf
die Couch zu hopsen und mit Ihren
Zweideutigkeiten aufzustoßen
(rülpst), pardon!
HOFFMANN
Wie lange halten Sie das noch so
durch, ganz ohne zu – stolpern?
KAMPTZ (messerscharf )
Um’s also k-k-kurz zu machen –
werden wir ein schnelles, sicheres
und warnendes Beispiel aufstellen
gegen jeden ähnlichen Frevel von
Ihresgleichen, und – erstens Ihnen
die Bezüge sperren, zweitens
absolutes Schreibverbot erteilen,
drittens Sie strafversetzen, in die
Provinz nach Insterburg, wo unser
zuverlässiger Präfekt Sie unter
strengste Aufsicht stellen wird. Das
ist natürlich nur der Anfang.
(kratzt sich plötzlich wild unterm Arm)
Nanu, was ist denn das? Sie werden
mir doch keinen F l o h –?
HOFFMANN
Ganz recht, das Ungeziefer nimmt
hier überhand, ich muss den
Kammerjäger rufen.
KAMPTZ (sich zum Gehen wendend)
Man glaubt ihn endlich lahm gelegt,
doch heckt der K-k-kopf noch
immer Impertinenzen aus!
(Kamptz ab.)
Szene 32
(Leises Rauschen des Flusses, abgerissene
Undinenklänge: ‚Morgen so hell –‘)
HOFFMANN (im Halbschlaf )
– et si male nunc, non olim sic erit –
wo hab ich das gelesen – mit dem
Latein noch nicht am Ende?
Ich muss noch an Johanna schrei­
ben, das herzliche Undinchen – der
Frau dictieren? – sie wird Feuer
speien – et si male nunc –
(Johanna Eunike tritt auf, sie blickt
sich verstohlen um, sie ist im Reitkleid:
Strohhut, Schnürstiefel, Sonnenschirm
aus grünem Taft, schwarze Binde um
den Hals; sie stellt einen Lindenzweig
zum Geburtstagsbukett in die Vase.)
HOFFMANN
Julia! Er hat Dich nicht zerstören
können, der verhasste Schwächling?
Bist Du ihm entronnen, dem
Graepel, dem schamlosen Biest?
91
Bild XXIII |
92
JOHANNA
Aber Hoffmann, kennen Sie mich
denn nicht mehr. Ich b i n doch
Johanna Eunike, Ihre Undine!
HOFFMANN
Ein Bild der Lebenslust in jener
Unglückszeit acherontischer
Finsternis –
JOHANNA (bezieht es auf den
Lindenzweig)
Ich wollte Ihnen den Sommer ins
Zimmer bringen, ein Zeichen des
Friedens –
HOFFMANN
Den Sommer? Eben war doch noch
Januar und mein Geburtstag!?
JOHANNA (lacht)
Juni ist jetzt! Und alles ist grün!
HOFFMANN
Nein, nein, der Leichtsinn der Men­
schen verdient es nicht, Johanna, die
Natur ist ihnen zum Tummelplatz
kin­di­scher Lüste geworden, sie
haben die Flüsse, die Wälder mit
ihren Gas­öfen vergiftet, wir werden
in der schwar­zen Nacht und im
Rauch ihrer Schaden­feuer ersticken!
JOHANNA
Sie sind ja ganz hypochondrisch
geworden, Hoffmann, Sie müssen
ein­mal wieder an die frische Luft!
HOFFMANN
Welches Jahr schreiben wir?
JOHANNA (lachend)
Das Jahr zweiundzwanzig,
hoffentlich haben Sie nicht auch
noch Ihren Namen vergessen?
HOFFMANN
Wilhelm – oder Amadeus, bitte, sich
das Passende auszusuchen! Welches
Jahrhundert?
JOHANNA
Sie haben es selbst mit einer Kantate
eingeläutet!
HOFFMANN
Dann singen Sie mir doch, lassen
Sie mich wieder Ihre liebliche
Stimme hören – ‚Morgen so hell‘!
JOHANNA
Sie wissen doch, Hoffmann,
ich kann nicht mehr singen,
der Kehlkopf ist krank –
HOFFMANN
Ohh – ich dachte, ich sei
hypochondrisch geworden –
JOHANNA
Ja, Sie haben recht; es wird nicht
das letzte Feuer gewesen sein,
sie wollen ja die Undine auch im
neuen Theater nicht mehr auf die
Bühne bringen.
HOFFMANN
Natürlich nicht, wenn Undine
verstummt ist.
JOHANNA
Die Catalani kann das noch viel
besser – nein, sie haben Angst –
HOFFMANN
Angst? Wovor?
JOHANNA
Ich weiß es nicht – vor Menschen,
oder Gespenstern?
HOFFMANN
Die Menschen s i n d Gespenster.
JOHANNA
Sie sehn jetzt überall die
Mordbrenner am Werk –
HOFFMANN
Wer?
JOHANNA
Die Brühlschen Comödianten
natürlich! Im Parkett und in den
Logen, jede Zigarre sehn sie schon
als Lunte in der Perückenkammer –
HOFFMANN
Nein, sie bezahlen nur, die Herren
in den Logen, sie nützen die kleinen
Händel aus, die unter Euch entstehn
und hetzen Euch wie Hähne
aufeinander, Ihr setzt den roten
Hahn Euch selbst aufs Dach!
JOHANNA
Ich gehe in die Berge, der Arzt sagt,
eine Kur in Warmbrunn würd mir
gut tun.
HOFFMANN
Ich schicke meinen Doppelgänger
mit, verehrte Freundin, ein paar
Wochen in den Bergen, und er fährt
wieder in die alten Kleider, springt
Ihnen bei wie Meister Floh, und
kein Minister soll etwas dawider
haben – (hält erschöpft inne)
JOHANNA
Wir werden Ihnen die Treue hal­ten,
Hoffmann, wir Brühlschen Comö­
dianten, wir holen Sie aus jedem
Feuer.
HOFFMANN (matt)
Und wer holt S i e aus dem Feuer,
Johanna, und all die andern, i c h
kann es nicht!
(Pause, Johanna schweigt.)
Nun sein Sie doch so lieb und treten
an das Fenster dort, was sehn Sie?
JOHANNA (aus dem Eckfenster
hinaussehend)
Den Markt und – das neue Theater.
HOFFMANN
Den Markt –
JOHANNA
Er leert sich, die Gemüseweiber
packen ihre Körbe auf die Wägen,
manche schleppen sie auch selber
weg, viel Schiebkarren voller Blumen, zwei Hökerinnen streiten sich,
Fäuste in die Seiten gestemmt, den
kleinen Kohlenbrenner kenn ich, mit
der wunderlichen Pelzmütz, er treibt
die Galanterie zuweilen etwas weit,
hat aber Mutterwitz und Riesenkräfte, hüpft, mit zehn großen Körben
bepackt, davon, und jetzt brechen
sie auch die Zelte über den Mehl­
wagen ab, eine geputzte Dame, Spitzenschleier am Hut, weiße Glacéhandschuhe, hinter ihr ein zerlumptes Weib, steht am Eck und will dem
blinden Landwehrmann Almosen
geben – puhh, eine blutrote Männerfaust fährt da aus dem Glacéhandschuh, jetzt promeniert sie die Charlottenstraße hinaus nach den Linden,
und der Blinde scheint mit offenen
Augen etwas in der Nacht, die ihn
umschließt, zu suchen –
HOFFMANN
Und die Polizei?
JOHANNA
Sie hält die Wagenreihe in gehöriger
Ordnung, aber da – der fidele
Bauernjunge rennt mit seinem Kar­
ren in kühnem Lauf mitten durch die
Obstbuden, quer über den Platz –
93
94
HOFFMANN
Gleich wird alles verödet sein,
und dann wird der Henker unter
meinem Fenster öffentlich mein
Buch verbrennen, und der König,
Kanzler, Kamptz werden diesem
neuesten Hoffmannschen Feuerwerk
noch mehr Beifall klatschen als dem
Wasserzauber der Undine.
JOHANNA
Die Uhr schlägt eins, ich geh jetzt
besser weg, bevor Ihr Cerberus
mich zierlich anbellt?
HOFFMANN
Bevor Sie gehen, liebes Kind, tun
Sie mir den Gefallen und schlagen
etwas nach in jenem Buche unter
Ihrem Lindenzweig?
JOHANNA (hebt das Buch, das zu
oberst liegt, auf )
‚Der Astrolog‘ von Walter Scott?
HOFFMANN
Nein, nein, nicht den Geschäfts­
mann, das andre dann –?
JOHANNA (das andere aufschlagend)
‚Unterricht in der natürlichen Magie‘
von Johann Christian Wiegleb?
HOFFMANN
Ich habe leider ausgezaubert, liegt
noch was auf dem Tisch?
JOHANNA (ein sehr kleines Bändchen
aufnehmend)
Die Oden von Horaz?
HOFFMANN
Und schlagen Sie mir doch das zehnte Carmen auf; im zweiten Buch!
(Johanna sucht.)
Und lesen Sie mir die fünfte
Strophe?
JOHANNA (verfällt unwillkürlich in
ein rezitatives Parlando)
‚Non, si male nunc, et olim
sic erit –‘
HOFFMANN
So hör ich das in Ihrer süßen Stimme, was mir zuvor nur wie ein Rabenkrächzen durch die Seele fuhr!
JOHANNA
Was heißt es denn? Mein Latein ist
immer schnell am Ende –
HOFFMANN (übersetzt, etwas
mühsam sich erinnernd)
‚Was jetzt von Übel ist, wird es
nicht immer bleiben, Apollos
Hand – sie spannt die Sehne,
schnellt den Pfeil, sie rührt die
Saiten auch und löst die Stimme
aus dem Schweigen –‘
JOHANNA
Ich höre Schritte, Gott sei mit Ihnen,
Hoffmann, Wiedersehen!
HOFFMANN
– in jener Zeit acherontischer
Finsternis, kann sie mich verlassen,
die entfesselte Psyche –
im wahrhaften Sein?
Szene 33
(Mischa herein mit einer Tasse
Fleischbrühe und einem Schreibblock.
Sie schiebt ein Kissen unter Hoffmanns
Nacken zurecht, sieht nach den
Brennwunden am Rückgrat.)
MISCHA
Hast Du geschlafen, Ernst?
HOFFMANN
Ich habe eine unruhige Nacht ge-
habt, den Tag hab ich meistens verschlafen, ohne erquickt zu werden.
MISCHA
Ist Blut in Laken. Wunden brandige
sich aufgegangen.
HOFFMANN (heiter)
Aber mir tut nichts mehr weh, ich
glaube, ich werde bald durch sein.
MISCHA (starr)
Ja, Du wirst bald durch sein.
HOFFMANN
Wo waren wir stehen geblieben?
MISCHA
Nein, Ernst, nicht immer arbeiten,
was ist der Dank, schmeißen Dich
noch ins Loch!
Hier, trink von die Fleischbrüh!
HOFFMANN (trinkt nicht)
Tu mir die Liebe, l i e s, wo wir
gestern abgebrochen!
MISCHA (stellt seufzend die Tasse
zurück, nimmt das Manuskript auf )
‚Der Vorfall mit der Besetzung
des Hauses, so wie das Herannahen
der Mittagszeit hatte die
Menschen verjagt –‘
HOFFMANN
Ich hoffte, mein Haus hätte
Raum für alle die Freunde.
MISCHA (weiterlesend)
‚– so dass nur noch Gesellschaft
kleines –‘
HOFFMANN (geduldig)
‚eine kleine Gesellschaft‘!
MISCHA
‚eine kleine Gesellschaft –‘
HOFFMANN
Halt, Mischa, wir müssen rasch
an den Verleger Wilmans nach
Frankfurt schreiben, er hat mir
einen Vorschuss angeboten.
MISCHA
War gestern in Berlin – Judas
miserables, ängstigt sich grauslig
vor die Büttel stinkige!
HOFFMANN
Nun, er hat Einbußen gehabt durch
die vermaledeite Flohgeschichte,
aber es ist nicht recht, dass er mich
kranken, kontrakten Mann nicht
besucht. Soll er wenigstens zahlen.
Schreib!
MISCHA
Mischa schreibt nicht an Verräter
gottlose!
HOFFMANN
Sie haben meine Bezüge gestrichen,
Mischa, wir stecken bis über den
Hals in Schulden, und Kranksein
ist doppelt teuer! Schreib!
MISCHA (setzt die Feder an)
HOFFMANN
Die Erzählung ‚Der Feind‘ ist in
mei­nem Kopfe gänzlich aus­ge­arbeitet. Ich hoffe daher, d i e s­m a l
keine Fehlbitte zu tun, wenn ich Sie
ge­horsamst ersuche, mit umgehender
Post mir einen Vor­schuss von zwan­
zig Louisdor Gold zu zahlen.‘ Aber
jetzt weiter im Text (matt und fiebrig)
MISCHA
‚– zwanzig Louisdor zu zahlen.
Micha­lina Hoffmann für mein
Mann.‘
HOFFMANN
Ja, ja, das kannst Du ja nachher
abfertigen, jetzt aber drängen sich
fremde, verworrene Bilder ein, wie
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feindliche Geister, in die Werkstatt
meiner Gedanken – (er diktiert nicht,
sondern murmelt im Fieber, aber
Mischa versucht, mitzuschreiben.)
Als ich mein großes Wandbild erblickte, das den ganzen Hintergrund
des Saales einnimmt und in Morgenwolken eingehüllt schien –
MISCHA
‚– eingehüllt schien‘
HOFFMANN
– aus denen zweideutige Streif­
lichter es anschielten, als ich noch
einen Teil des Malergerüstes, die
Farbentöpfe, Malerschurz und
Mütze gewahrte, die noch von der
letzten Arbeit zurückgeblieben,
da überfiel mich jene Traurigkeit;
ja eine Bangigkeit drohte mir die
Brust zu ersticken – ich hätte ja
vor Schwindel und Mattigkeit das
Gerüst nicht besteigen können. Mit
geschlossenen Augen schwankte
ich durch die langen Gänge und
gedachte meines ganzen Lebens,
wie die Menschen dieser Erde nicht
angehören können, dass ich ihnen
meine ganze Seele zuwandte, und
nicht anders ins feurige Leben –
(Mischa hat schon geraume Zeit nicht
mehr mitgeschrieben, sondern mit steigender Angst Hoffmanns Unruhe, von
Röcheln unterbrochen, verfolgt, jetzt
springt sie auf und umfasst seine Knie.)
MISCHA
Ernst!
(Hoffmann ist gestorben. Mischa
verharrt eine Weile in der vorigen
Haltung, sieht dann langsam zu ihm
auf, erhebt sich, räumt Geschirr, Manu­
skripte, Blumen ab, will hinaus­gehen,
stellt aber alles auf dem Boden ab und
kauert links vorn wie in SZENE 1. Später
fängt sie zu stricken an. Hinter dem
Stehpult ist mit Leichen­bittermiene,
Zylinder, Auktionshammer Hitzig
aufgestiegen. Während seiner ersten
Worte treten zwei Kranken­wärter auf,
ziehen die Plane über Hoffmanns Kopf
und schieben den Stuhl zum Türloch
hinaus – in die Flammen.)
HITZIG (ins Publikum)
Hoffmann ist tot. Man hat zu spät
nach mir geschickt. Die Sitzung
hatte gerade begonnen, es war
zehn Uhr zweiundzwanzig. Man
holte mich aus dem Terminsaal
des Kammergerichtes, Hoffmanns
Stuhl, mir gegen über war schon seit
längerem leer. Ich stürzte sogleich
herbei, aber – ich fand den Freund
nicht mehr. (Wischt sich diskret Augen
und Stirn, sieht erschrocken den durch
die Tür hereinleuchtenden Feuerschein,
dann aber zurück zu seinem Geschäft.)
Es bleibt mir nun noch die traurige
Pflicht, das Concursverfahren
über den Nachlass des Defunctus
zu eröffnen (ins Publikum). Ich
bitte die Gläubiger nach vorn zu
kommen – bitte der Reihe nach, wie
ich aufrufe! – und ihre Ansprüche
zu bestätigen: (schlägt bei jedem
Namen leicht mit dem Hammer
auf das Pult) Schneidermeister
Freytag – Sie fordern einhundert­
zweiunddreißig Reichstaler,
achtzehn Groschen? – Fuhrmann
Schulze – sechzehn Reichstaler,
sechzehn Courant? Oberbaurat
van Alten – Mietforderung von
einhundert­zweiundfünfzig Reichstaler, sechzehn Groschen Courant?
Der Apotheker Friedrich – neunund­
dreißig Reichstaler, neunzehn
Groschen? Der Buchhändler
Dümmler mit einer Forderung
von zweihundertsiebenundsiebzig
Reichstaler, acht Groschen?
Der Berliner Magistrat? sechs
Reichstaler, zwölf Groschen
Miets­steuer? Die Wein­händler
Lutter und Wegner – ein­tausend
einhundertundsechzehn Reichs­
taler, einundzwanzig Groschen
(schüttelt dezent den Kopf ) – er
könnte noch leben, hätte er auf
mich gehört! (reagiert auf Zuruf aus
der Gläubigerschar) Wie? (setzt sein
Hörrohr an) Wiederholen Sie bitte –
ja, das ist aber sehr generös, Herr
Wegner, Herr Lutter, Sie verzichten
also auf Ihre Forderung? (schaut
triumphierend zu Mischa hinüber).
Ja, ja, das glaube ich, dass er eine
Attraction war in Ihrem Keller, wie?
Aha, der Touristenverkehr, den hat
er Ihnen eingebracht – er hat einen
schönen Zugewinn, wie? (kichert
anerkennend, dann wieder ernst).
Bleiben noch die Beerdigungs­
kosten – fünfzig Reichstaler – ist
das alles? (sieht sich um) Keine
Forde­rungen mehr? Gut.
(Unterdessen sind die Krankenwärter
mit dem leeren Rollstuhl zurück­
gekommen.)
1. WÄRTER
Herr Criminalrat!
HITZIG
Wo brennt᾿s?
1. WÄRTER
Warschau!
(Mischa blickt entsetzt auf.)
2. WÄRTER
Das Palais Mnischek!
HITZIG
Seine Fresken – (blättert geistes­
abwesend in den Nach­lass­papieren,
dann aber zurück zum Geschäft)
Meine Herren Gläubiger, ich bitte
Sie jetzt, sich mit der Abdeckung
Ihrer Forderungen zu gedulden, bis
ich Hoffmanns Nachlass versteigert
habe. Ich schreite zur Auction
(Die Wärter / Packer holen die Gegen­
stände, soweit sie nicht zur Hand sind,
durch das Türloch herein.)
Fünf Stühle und Tisch, Kirschbaum,
altdeutsches Design – vierzig
Reichs­taler – zum ersten? Wie?
Nun gut – fünfunddreißig (Hammer,
zu den Packern) geht an den
Herrn Bundespräsidenten! Ein
Punschtopf mit Ölbrenneruntersatz,
Bairische Porzellanmanufaktur –
fünfundzwanzig Reichstaler – zum
ersten (wartet eine Weile, dann
Hammerschlag, zu den Packern)
an den Herrn Hofkaplan! Eine
Kinderwiege, polnische Volkskunst,
bemalt, siebzehn Reichs­taler, – der
Herr dahinten, wer sind Sie? Aha
(zu den Packern) an den Vor­sitzenden
der Hoffmann-Gesell­schaft in
Bamberg! Weiter – ein Wand­schirm,
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schwarze Bespannung, Bemalung
(betrachtet missbilligend die lasziven
Figuren) von Defuncti’s eigener
Hand – zwanzig Reichs­taler – kein
Interesse? (Mischa deutet auf sich,
Hitzig versteht) Gut, das kaufe ich
selbst (zu den Packern) – das geht an
die Witwe! Und nun ein besonders
kostbares Stück (die Packer rollen
den Hammerflügel herein) – Der
Hammerflügel aus Hoffmanns
Besitz, ein Erard, Baujahr
achtzehnhundertundvier –
1. PACKER
Solides Mahagoni! (klopft gegen
das Holz, bevor er das nächste Möbel
holen geht.)
2. PACKER
Und klingt – (hat sich der Tastatur
genähert, wird aber durch Hitzigs
Verhalten an seinem Vorhaben irre und
folgt dem 1. Packer; Hitzig schien zuerst
ungehalten über die Einmischung,
erstarrt dann aber, sein Blick erlischt,
er legt den Hammer weg und ist von
Erinnerung überkommen.)
HITZIG
Wir wohnten einander gegenüber.
Wenn alles auf den Straßen ruhig
geworden war, was in Warschau
ziemlich spät geschieht, dann wurden die Fenster auf ein Signal, das
Hoffmann auf dem schönen Flügel­
pianoforte gab, geöffnet, und er
phantasierte für mich und meine
junge Gattin; wir lehnten im Fenster
und hörten ihm begierig zu – oft
bis der Morgen graute. (Lauscht,
Stille. Indessen sind rechts hinten die
BRÜHLSCHEN COMÖDIANTEN – außer
Kamptz und Kratzer – eingedrungen.
Die Bühne verdunkelt sich, der Feuer­
schein aus dem Türloch rötet die
Gesichter; alle stehen mit versengten
Kleidern und schauen ungläubig auf,
als ein Lichtstrahl die Gegenwart des
lesenden Doppelgängers auf dem
Gerüst einfängt.)
DOPPELGÄNGER (liest)
– schoben die Jägersleute und Bauern
den Stein mit vieler Mühe zur Seite
und fanden darunter das Fräulein mit
vielen Dolchstichen ermordet und
ver­scharrt, die Laute des Fremden
aber neben ihr zertrümmert–
JOHANNA EUNIKE
Hoffmann?
DOPPELGÄNGER (ohne aufzusehen)
– seit der Zeit nistet alljährlich auf
dem Baum eine Nachtigall und
singt um Mitternacht –
(sieht auf und starrt ins Publikum)
Hoffmann ist verbrannt.
(Im Eckfenster erscheint der Rabe,
öffnet den Schnabel)
RABE (höhnisch)
D a C a p o.
(Der Doppelgänger fährt herum und
zückt das Messer. Bevor er damit nach
dem Vogel wirft, fällt der
V o r h a n g.)
FINIS
Ort:
Zeit:
Museum, früher Kammergericht, in Berlin
Im Gedenkjahr, nach dem Brand
Dramatis personae (die Brühlschen Comödianten):
E.T.A. Hoffmann, Kammergerichtsrat
Hoffmanns Doppelgänger
Michalina (Mischa), Hoffmanns Gemahlin
T. G. von Hippel, Staatsrat
K. A. von Kamptz, Polizeidirektor
J. E. Hitzig (zuerst Itzig), Kriminalrat
Marie, Hitzigs Tochter
Kratzer, Kustos
ein Schauspieler
Graepel, Bankier
Chiara, Zigeunerin
Daru, Napoleons Generalquartiermeister
Koreff, Leibarzt Friedrich Wilhelms III.
Mälzel, österreichischer Hofmechaniker
Franziska Mark, Witwe des amerikanischen Konsuls in Franken
Julia Mark, Tochter der ‚Konsulin‘
eine Schauspielerin
Johanna Eunike, Sängerin
Zwei Packer / Kutscher / Kulissenschieber / Gefängniswärter
Feuerarbeiter / Häscher / Krankenwärter (zwei Schauspieler)
Bürger, Masken, Soldaten
Ein grauer Papagei
Ein Rabe
}
}
Alle Figuren sind von Brandspuren gezeichnet.
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Wolfgang Held
Hoffmanns Verbrennung
Herausgeber: Bernhard Schemmel
Band 1: 25 Collagen. Katalog zur Ausstellung im
E.T.A. Hoffmann-Theater Bamberg. Bamberg 2013
(mit Vorwort, Synopsis und Erläuterungen von Wolfgang Held)
Band 2: Schauspiel. Text. Bamberg 2015
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