Die Welt im 21. Jahrhundert

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Anzeigensonderveröffentlichung
22. November 2015
G E s ta lt E r I s C H E F Ä H I G K E I t E n
ErwEItErtE PErsPEKtIVEn
EnGaGIErtE PErsÖnlICHKEItEn
Die deutsch-amerikanische Partnerschaft
muss unbequeme Wahrheiten aushalten.
Das ist gut so. Seite V2
Konflikte begleiten den Alltag. Ein Gespräch
über das Wirken von Stiftungen und Thinktanks. Seite V3
Ob Umweltschutz oder Bankenkritik: Es gibt
Menschen, die sich diesen Herausforderungen
tatkräftig widmen. Seite V4
Die Welt im 21. Jahrhundert
ukraine-Krise, Flüchtlingsströme und die aktuellen anschläge in paris: 2015 wurde deutlich, vor welchen chancen, aber auch vor welchen Herausforderungen die deutsche außenpolitik steht.
FOtO picture alliance/Dpa
Zwischen Erwartung und Verpflichtung –
Deutschland muss sich positionieren
Deutschland spielt eine zentrale Rolle innerhalb und außerhalb Europas. Das wurde gerade in diesem Jahr deutlich. Doch das deutsche Handeln stößt auch auf Skepsis.
Nicht zuletzt zeigten sich in 2015 die Chancen, aber auch die Grenzen der deutschen Außenpolitik. Von Merle Schmalenbach
Paris und london zögern
Doch einige Zeit später erfolgte eine Neubewertung. Der Sturz Muammar al Gaddafi s
hatte in Libyen chaotische Zustände nach
sich gezogen. Frankreich und Großbritannien hätten sich in dieser Sache „die Finger
verbrannt“, schreibt der Außenpolitikexperte Quentin Peel in der Zeitschrift „IP – Inter-
nationale Politik“. Hinzu kam der Fakt, dass
beide Länder eine Zeitlang durch innenpolitische Debatten abgelenkt waren: Frankreich kämpfte innenpolitisch mit seinem
Reformbedarf, während Großbritannien sich
mit der Frage nach seinem eigenen Verbleib
in der EU beschäftigte. „Das hat Deutschland
in eine Vorreiterrolle geschoben, ohne dass
dies jemals ein Ziel deutscher Außenpolitik
gewesen wäre“, sagt Constanze Stelzenmüller, Robert Bosch Senior Fellow beim amerikanischen Thinktank „Brookings“.
Wie stark diese Vorreiterrolle zeitweise war, zeigte sich während der russischukrainischen Krise. Deutschland trieb die
Verschärfung der EU-Sanktionen gegen
Russland voran – und setzte damit ein deutliches Zeichen: „Deutschland hat gezeigt,
dass es in der Lage ist, einige seiner ökonomischen Interessen für das generelle Wohl
der gemeinsamen europäischen Außenpolitik zu opfern“, sagt Ivan Krastev, Leiter des
Centre for Liberal Strategies (CLS) in Sofia
und Fellow der Robert Bosch Academy. In
einem 17-stündigen Verhandlungsmarathon gelang es Deutschland und Frankreich
Anfang des Jahres zudem in Minsk, zumindest zeitweilig einen Kompromiss zwischen
Russland und der Ukraine auszuhandeln.
Deutschlands Einsatz galt dabei als zentral:
„Die Führungsrolle wurde in der gesamten
Ukraine-Krise Merkel und nicht Hollande
zugeschrieben“, stellt Andreas Rinke in der
Zeitschrift „IP“ fest.
rückkehr der deutschen Frage
Bei vielen verursachte die deutsche Führungsrolle jedoch Unbehagen: „Die deutsche
Frage ist zurück“, schrieb der Autor und Fellow der Robert Bosch Academy Roger Cohen
im Juli in der „New York Times“. „Deutschland dominiert Europa in einem Grad, wie es
selbst vor 15 Jahren noch nicht auszudenken
war.“ Die Ursache sieht er in der Einführung
des Euros: „Erdacht, um Deutschland an
Europa zu binden, hat er stattdessen wesentlich schwächere europäische Staaten an
Deutschland gebunden.“
Entsprechend skeptisch standen viele europäische Staaten während der Euro-Krise
Deutschland gegenüber: „Für Deutschland war
es das Allerwichtigste, zu zeigen, dass es auch
in einer Krisensituation auf Regeln ankommt“,
sagt Krastev. „Doch viele Leute haben die moralische Autorität Deutschlands in diesem Moment hinterfragt. Sie sagten: ‚Ja, Deutschland
hat seine Macht gezeigt, aber es hat aus nationalen Interessen heraus gehandelt.‘“
Ein weiteres Mal stieß Deutschland auf
Kritik, als es während der Flüchtlingskrise das
Dublin-Abkommen unterhöhlte. „Das ist einer
der Gründe dafür, dass der Schock innerhalb
der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise so groß ist“, sagt François Heisbourg, Vorsitzender des International Institute for Strategic
Studies (IISS) in London und Fellow der Robert
Bosch Academy.
Pikant: In genau jene Phase des Regelbrechens fiel auch die Volkswagen-Abgasaffäre. „Außerhalb Deutschlands wird Volkswagen als Symbol dessen gesehen, was
Deutschland ausmacht, sagt Heisbourg. Am
Ende des Tages habe Deutschland daher
ein Problem mit moralischer Autorität. Das
sieht auch Constanze Stelzenmüller so: „Da
entsteht der Eindruck, dass wir anderen
Moral predigen, aber uns selbst nicht an die
Regeln halten.“
zusammenhalt bedroht
Entsprechend schwer fiel es Deutschland in
den vergangenen Wochen, Einigkeit in Europa herzustellen. Viele EU-Länder fühlten sich
in der Flüchtlingsfrage nicht von Deutschland unterstützt, sondern bevormundet.
„Die Entscheidung, so schön und richtig ich
sie persönlich fi nde, war auch ein Akt des
humanitären Unilateralismus“, sagt Constanze Stelzenmüller. „Sie nimmt nicht genug
Rücksicht auf die Kleineren und Schwächeren und ist deshalb auf Dauer nicht durch-
zuhalten.“ Um Europa erfolgreich zu führen, müsse man Rücksicht nehmen auf die
schwächeren Länder, auf ihre Kulturen und
historischen Erfahrungen.
„Natürlich können wir es nicht tolerieren, wenn ein Viktor Orbán nur christliche
Flüchtlinge aufnehmen will. Wir müssen
jedoch sehr wohl Rücksicht nehmen, wenn
ein Staat wie Griechenland, der mitten in
europäischen Strukturreformen steckt, Hilfe braucht bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise“, sagt Stelzenmüller. Dass nun die
nächste Eskalationsstufe bevorsteht, zeigte
sich nach den Attentaten von Paris: Die polnische Regierung kündigte an, die EU-Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen nicht
mehr erfüllen zu wollen.
2015 haben sich die Chancen, aber
auch die Grenzen der deutschen Außenpolitik gezeigt. Und die Herausforderungen
werden mit jedem Tag mehr: Zum einen
bröckelt die Solidarität in Europa immer
weiter, zum anderen spricht die französische Regierung derzeit von „Krieg“ und
fliegt Luftangriffe gegen den IS – während
sich Deutschland in dieser Frage zurückhält. Welche Folgen das Pariser Attentat
langfristig für das Machtgefüge innerhalb
der Europäischen Union und die deutsche
Außenpolitik haben wird, ist zu diesem
Zeitpunkt noch völlig unklar.
IMPrEssUM
Die Welt im 21. Jahrhundert
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70184 Stuttgart
Höhen und tiefen: Zog die Bundesrepublik bei ihrer enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten nationen 2011 heftige Kritik auf sich, war der Zuspruch von Seiten der eu-Mitgliedstaaten für den einsatz in der ukraine-Krise stark.
FOtO picture alliance / ap iMaGeS
sehr Deutschland derzeit im Fokus steht,
sieht man auch an einem Ranking des amerikanischen Wirtschaftsmagazins „Forbes“:
Es kürte Angela Merkel unlängst zum zweitmächtigsten Menschen der Welt – noch vor
dem amerikanischen Präsidenten Barack
Obama.
Diese neue, zentrale Rolle Deutschlands
wäre noch 2011 unvorstellbar gewesen. Damals hatte die Bundesrepublik heftige Kritik
auf sich gezogen, nachdem sie sich im UNSicherheitsrat bei der Abstimmung über eine
Libyen-Flugverbotszone enthalten hatte. Die
Vorwürfe reichten von „außenpolitischer
Lethargie“ bis hin zur „deutschen Sondermoral“. Der ehemalige deutsche Außenminister
Joschka Fischer geißelte die deutsche Enthaltung als das „vielleicht größte außenpolitische Debakel seit Gründung der Bundesrepublik“. Die Position Deutschlands in der
Welt sei wesentlich beschädigt worden.
FOtO picture alliance / pHOtOSHOt
W
er in diesem Jahr die
Nachrichten verfolgte, konnte zeitweise
eine nie dagewesene
Zuneigung gegenüber
Deutschland erleben.
Flüchtlinge auf ihrem Weg hielten „Mama
Merkel“-Schilder hoch. Andere riefen „We
want Germany“. Auf arabischen FacebookSeiten verbreitete sich die Deutschland-Fahne mit einem Bild der Bundeskanzlerin. Und
auch auf dem Titelbild des Magazins „Der
Spiegel“ prangte Angela Merkel – überzeichnet als Mutter Teresa.
Doch es gab auch andere Nachrichten:
Als am 13. November Terroristen Paris attackierten, zielten sie offensichtlich auch auf
Deutschland ab: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die deutsche Nationalmannschaft befanden sich im
Stade de France. Ein Bekennerschreiben der
Dschihadistenmiliz IS bezeichnete Deutschland als „Kreuzfahrernation“. Diese Beispiele zeigen, in welchen Spannungsfeldern sich
Deutschland in diesem Jahr bewegte.
Tatsächlich war 2015 ein wichtiges
Jahr für die deutsche Außenpolitik. Das gilt
nicht nur für die Anschläge von Paris und
die Flüchtlingsfrage, sondern auch für die
Griechenland-Krise und die Verhandlungen
zwischen der Ukraine und Russland. Wie
Geschäftsführung: Uta-Micaela Dürig,
Prof. Dr. Joachim Rogall
Verantwortlich: Stefan Schott, Bereichsleiter Strategische
Kommunikation
Sandra Breka, Bereichsdirektorin, Leiterin der Robert
Bosch Academy
redaktion: Julia Hoscislawski, Frankfurt Business Media
layout: F.A.Z. Creative Solutions, Arnd Hildebrand
autoren: Birk Grüling, Daniel S. Hamilton,
James Kondo, Ivan Krastev, Fyodor Lukyanov,
Soli Özel, Merle Schmalenbach
Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH,
Kurhessenstraße 4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf;
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V2
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung / Die Welt im 21. Jahrhundert / 22. November 2015
Die Stärken einer unbequemen Partnerschaft
Manchmal ist die deutsch-amerikanische Partnerschaft anstrengend. Das ist gut so. Denn dann richten wir uns darin nicht behaglich ein, sondern bleiben wachsam
für die neuen Herausforderungen, die die Welt bringt. Von Daniel S. Hamilton
D
ie deutsch-amerikanische Part­nerschaft ist manchmal unbequem, weil wir uns nicht
scheuen, kritisch zu sein. Wir
äußern Kritik am jeweils anderen. Dann zum Beispiel, wenn
wir glauben, dass er die gemeinsamen Ideale,
wie etwa Demokratie, Freiheit, die Unantastbarkeit des Rechtes und der Rechtsstaatlichkeit oder auch wirtschaftliche Regeln aus den
Augen verliert, und ziehen ihn zur Rechenschaft. Darin liegt die Stärke dieser Partnerschaft. Wir haben diese Grundsätze, Normen
und Regeln gemeinsam geschaffen und sind
von ihnen überzeugt.
Wir sind aber auch kritisch, um gemeinsam den Schritt nach vorne zu gehen: Die
amerikanische und die deutsche Gesellschaft sind kulturell, politisch und wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Die
transatlantische Wirtschaft generiert einen
Gesamtumsatz von 5,5 Milliarden Dollar
pro Jahr und beschäftigt bis zu 15 Millionen
Menschen, darunter 1,8 Millionen Deutsche
und die gleiche Anzahl an Amerikanern. Wir
sind das Herz der Nato-Allianz und der amerikanisch-europäischen Kooperation und
bemühen uns gemeinsam, ein einheitliches
und freies Europa zu schaffen. Wir verstehen
uns gleichermaßen als die Hüter einer internationalen Ordnung, sind aber auch als Motor von Koalitionen auf globaler Ebene sehr
effektiv. Dieses Fundament macht es möglich, dass wir gemeinsam Ziele erreichen
können.
geprägt sind, werden von russischen Interventionen, Korruption oder sogenannten
„eingefrorenen Konflikten“ unterminiert.
Hier haben wir noch eine gemeinsame Aufgabe. Es gilt, die Ukraine als eine wichtige
transatlantische Priorität in den Blick zu
nehmen. Kiew ist so nah an Berlin wie Chicago an Boston. Erfolgreiche Reformen in
der Ukraine könnten im gesamten postso­
wjetischen Raum nachhallen. Gelingen diese
nicht, riskieren wir ein neues, graues „Zwischeneuropa“, wie es schon in der Vergangenheit bestanden hat. Diese Gefahr könnte
durch die Turbulenzen im Nahen Osten noch
verstärkt werden.
Starke Netzwerke
Merkel und Obama harmonisch. Mitunter kann es aber auch ziemlich unbequem werden, und das ist auch richtig so. Davon ist Daniel S. Hamilton überzeugt.
Foto picture alliance/BREUEL-BILD
Entwicklungen im Blick behalten
Doch die Welt, in der die transatlantische
Partnerschaft geschaffen wurde, hat sich
weitergedreht. Wir stehen heute vor neuen
Herausforderungen, die es zu bewältigen
gilt. Wir sollten dabei vor allem drei Entwicklungen im Auge behalten:
Erstens haben sich die gesellschaftlichen
Grundlagen unserer Partnerschaft verlagert:
Die Amerikaner sind den Deutschen gegenüber positiv eingestellt, schenken den innerdeutschen Dynamiken aber wenig Beach-
tung und sind oftmals überrascht von den
Wendungen in der Europäischen Union. Die
Begeisterung in Deutschland für Amerika
ist heterogen: War sie zu Amtszeiten George
Bushs auf einem Tiefstand, hat sie mit Barack Obama ein neues Hoch erreicht. Viele
Ältere identifizieren sich mit einem Amerika, das die sowjetische Macht in Schach
hielt, die Sicherheit Deutschlands gewährleistete und die europäische Versöhnung
gefördert hat. Viele junge Deutsche assoziieren andere Ereignisse mit Amerika – etwa
den Irak-Krieg, Guantánamo, den CasinoKapitalismus oder auch die NSA-Affäre. Die
größten transatlantischen Defizite sind daher nicht etwa Handelsungleichgewichte, digitale Gefälle oder militärische Kapazitäten,
sondern die Asymmetrie von Stimmung, Erwartung und Vertrauen.
Dieses Ungleichgewicht wird durch die
neue Rolle Deutschlands in Europa noch verstärkt. Einst geteilt, ist Deutschland heute wieder das Land der Mitte, Dreh- und Angelpunkt
eines Kontinents, der sich auf dem schmalen
Grat zwischen Integration und Desintegration
bewegt. Deutschland muss in einer Zeit, in der
Europa wenig zurückgeben kann, Lösungen
für europäische Probleme finden.
Gemeinsame Neupositionierung
Diese Entwicklung nimmt zu einem Zeitpunkt Einfluss auf den transatlantischen
Diskurs, zu dem auch der globale Kontext für
die deutsch-amerikanische Partnerschaft
eine grundlegende Änderung durchlebt.
In den vergangenen 70 Jahren bedeuteten
„transatlantische“ Beziehungen im Wesentlichen die Stabilisierung des europäischen
Kontinents. Angesichts der derzeitigen Unruhen in Europa bleibt diese Aufgabe weiterhin essentiell.
Ein Großteil der gemeinsamen Agenda
dreht sich heute aber auch um die Frage, wie Amerika und Europa es schaffen
können, sich gemeinsam im Sinne einer
globalen Agenda neu zu positionieren.
Wenn wir erkennen, dass die wichtigsten
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts,
die wir als offene Gesellschaften bewältigen müssen, nicht diejenigen sind, die sich
zwischen uns auftun, sondern die, mit
denen wir gemeinsam konfrontiert sind,
haben wir schon einen Teil der Antwort
gefunden.
Für Deutschland und Amerika gilt es
– angesichts der Flüchtlingsströme und
Migranten, der terroristischen Bedrohungen und der zunehmenden Globalisierung
–, ihre demokratischen Gesellschaften zu
verteidigen. Dabei kämpfen die Amerikaner auch um Rechte im Datenschutz und um
ihre Sicherheit. Die Deutschen wiederum
müssen ihre Zusage, Flüchtlinge aufzunehmen, mit den sich daraus ergebenden praktischen Erfordernissen übereinbringen. Jedes Land sollte mit den Anstrengungen des
anderen Landes vertraut sein und Einblick
gewähren.
Zweitens gibt es auf europäischem Boden
nach wie vor Gesellschaften, die nicht frei
sind. Länder, die von Schwäche und Armut
Die dritte Entwicklung bezieht sich auf die
globale Sicherheit. Besonders wichtig wird
hier unsere Partnerschaft, wenn es darum
geht, aufstrebende Mächte erfolgreich in
unser offenes System einzubinden. Unsere Gesellschaften sollten sich durch Netze und nicht durch Mauern hervortun.
Das moderne Deutschland ist nicht nur
die geopolitische Mitte Europas, sondern
zusammen mit den Vereinigten Staaten
auch eine zentrale Drehscheibe globaler
Netzwerke. Je besser unsere Netzwerke
miteinander verbunden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass andere sich daran
beteiligen. Je schwächer unsere Netzwerke sind, desto wahrscheinlicher werden
andere Mächte diese offene internationale Ordnung herausfordern. Nicht zuletzt
deshalb ist TTIP nicht einfach nur ein weiteres Handelsabkommen. Es ist ein Versuch, sicherzustellen, dass die westlichen
Grundsätze das zentrale Betriebssystem
einer vernetzten Welt bleiben.
Die deutsch-amerikanische Partnerschaft
hat sich verändert. Dennoch sind wir in
dem Verständnis, starke, offene und gut
vernetzte Gesellschaften zu sein, vereint.
Die zukünftige Frage ist jedoch nicht, ob
wir gleiche Werte haben, sondern ob wir
bereit sind, für diese Werte innerhalb unserer Gemeinschaft und darüber hinaus
einzustehen und gegebenenfalls gegenseitig
Rechenschaft abzulegen – ohne Klischees
zum Opfer zu fallen. All dies macht eine
unbequeme Partnerschaft aus. Wir sollten
nicht weniger erwarten.
Daniel S. Hamilton leitet das Zentrum für
Transatlantische Beziehungen der Johns
Hopkins University, School of Advanced
­International Studies in Washington, D. C.
Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der
Robert Bosch Academy.
Lost in Migration
Trotz Mitgefühl und Solidarität
wächst angesichts der
­Flücht­lingsströme das Unbe­
hagen vieler Menschen in
Europa. Jetzt ist dringend
eine Strate­gie gefordert,
die Unsicherheiten abbaut.
V o n I v a n K r a s t ev
D
ie Angst, dass „meine Welt verschwindet oder von anderen eingenommen wird“, ist in Europa
weit verbreitet und beeinflusst die
aktuelle europäische Politik. Europa hat sein
Selbstvertrauen verloren und wird stattdessen von demographischer Panik übermannt.
Die Bilder von Syrern und Afghanen, die die
Grenzen Ungarns stürmen oder vor der griechischen Küste ertrinken, lähmt zusammen
mit der Prognose der Vereinten Nationen,
dass 2050 nur 7 Prozent der Weltbevölkerung Europäer sein werden, die öffentliche
Vorstellungskraft.
Die unzähligen spontanen Akte der Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen und Verfolgten werden von der zunehmenden Angst
überschattet, dass unser Wohlstandsmodell,
unsere Kultur, in Gefahr ist und unsere liberalen Demokratien nicht in der Lage sein
werden, diese zu verteidigen. Diejenigen, die
alles haben und daher alles fürchten, wachsen zur stärksten Macht in der europäischen
Politik heran. Sie fürchten, dass Ausländer
ihre Länder einnehmen und ihren „Way of
Life” bedrohen könnten. Sie geben die Schuld
für den realen oder imaginären Kontrollverlust über ihr Leben einer Verschwörung aus
kosmopolitischer Eliten und Immigranten
mit Stammeskultur.
Ein Europa der zwei Haltungen
Und so besteht Europa, wie vor der Unterzeichnung der Beitrittsverträge zehn neuer
Mitgliedstaaten im Jahr 2003, aus zwei unterschiedlichen Teilen: aus Mitteleuropa, wo
sich die Auflehnung der bedrohten Mehrheiten am deutlichsten zeigt und wo die ethnische Homogenität als große historische Leistung gepriesen wird. Und Westeuropa, wo
die Eliten, wenn nicht sogar die gesamte Öffentlichkeit, an ihrem liberalen Versprechen
festhalten. Während im Westen Europas das
Erbe der Kolonialmächte die Begegnungen
mit der außereuropäischen Welt prägt, sind
die mitteleuropäischen Staaten durch einen
Desintegrationsprozess geformt worden und
durch ethnische Säuberungen entstanden.
Dort findet die Überzeugung, dass das multikulturelle Projekt zum Scheitern verurteilt
ist, eher Anklang.
Während Polen vor dem Zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Gesellschaft war
und mehr als ein Drittel der Bevölkerung
Deutsche, Ukrainer und Juden waren, ist
das heutige Polen eine der Gesellschaften mit
der höchsten ethnischen Homogenität; rund
98 Prozent der Bevölkerung sind ethnische
Polen. Für viele bedeutet eine Rückkehr zur
ethnischen Vielfalt eine Rückkehr in schwierige Zeiten. Das ist einer der Gründe, warum
die mitteleuropäischen Regierungen und Gesellschaften dem Gedanken, Flüchtlinge in
der gesamten Union anzusiedeln, so ablehnend gegenüberstehen.
In Krisenzeiten entschieden reagieren
Die demographische Panik macht es unmöglich, die Zukunft als eine Quelle des sozialen
Zusammenhalts zu sehen. Wer also werden
wir in 50 Jahren sein?
Es ist naiv zu glauben, dass in dieser extrem angstbehafteten Situation die Politik
auf einen vernünftigen Dialog über die Vorund Nachteile der kulturellen Vielfalt oder
der Migration reduziert werden könnte. Es
ist naiv zu glauben, dass das Flüchtlingsproblem als rein logistisches Problem zu sehen
ist. Auch das Predigen liberaler Werte kann
nicht die Antwort auf die derzeitige Krise
sein. Den Menschen fehlt es nicht an Mitgefühl mit dem Schicksal der Flüchtlinge.
Die Menschen empfinden zunehmend ein
Unbehagen, dass die liberalen Demokratien
schlecht darauf vorbereitet sind, in Krisenzeiten entschieden zu reagieren, und haben
Angst davor, dass die Situation außer Kon­
trolle gerät.
In mancherlei Hinsicht ähnelt die heutige
Situation den Jahren um 1930. Was auf dem
Spiel steht, ist die Fähigkeit der liberalen Demokratien, auf schwerwiegende soziale und politische Krisen zu reagieren. Was hier gefordert
ist, ist liberale Entschiedenheit. Mauern und
Zäune zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu
bauen und die zivile Bevölkerung der exzessiven Toleranz und des exzessiven Mitgefühls zu
beschuldigen ist die populistische Antwort auf
die Herausforderung der Flüchtlingszuströme.
In seinem Buch „Fear Itself. The New Deal
and the Origins of Our Time” sagt der amerikanische Politologe Ira Katznelson, dass
Franklin D. Roosevelt den demokratischen
Kapitalismus in den Vereinigten Staaten retten konnte, indem er die „Große Depression“
als „eine Zeit der ungewöhnlichen Verunsicherung“ verstand, „die so tiefgreifend
war, dass die daraus entstandenen Ängste
größer waren als das eigentliche Risiko der
Veränderung. Diese Entwicklung hätte nicht
verhindert werden können.“ In solch einer
Situation kann jeder Versuch, die Krise zu
trivialisieren, oder der Übergang zum Tages­
geschäft die Öffentlichkeit radikalisieren.
Eine Strategie zur Reduktion der Unsicherheit ist nötig. Die Europäische Union braucht
heute eine ähnliche Strategie. Wir können
von unseren Regierungen nicht erwarten,
dass sie die Flüchtlingsströme in Richtung
unserer Grenzen beendet, aber wir haben
das Recht, dass sie sich den daraus ergebenden Konsequenzen annimmt.
Unsicherheiten reduzieren
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise war es
Mario Draghi, der sich dafür einsetzte, dass
alles Erforderliche getan wird. Das beruhigte
schließlich die Märkte und rettete die gemeinsame Währung. Was Europa heute braucht,
ist eine neue Ausprägung dieser Haltung. Eine
Politik, die den Menschen die Sicherheit gibt,
dass die Krise unter K
­ ontrolle ist. Das ist die
einzige wirksame Reaktion auf die Entstehung einer Politik der Angst.
Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal
Strategies (CLS) in Sofia sowie Gründungsmitglied des European Council on Foreign
Relations. Er ist Richard von Weizsäcker
Fellow der Robert Bosch Academy.
V3
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung / Die Welt im 21. Jahrhundert / 22. November 2015
„Viele nationale und lokale Probleme lassen sich nur
länder- und fachübergreifend lösen“
Krisen und Konflikte begleiten den Alltag. Ein Gespräch mit Uta-Micaela Dürig, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung, und Sandra Breka,
Leiterin der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung und Leiterin der Robert Bosch Academy, darüber, was Stiftungen bewirken können.
Wir leben in einer Zeit voller Kriege und
Konflikte. Wie wichtig ist da der stetige
Dialog?
Uta-Micaela Dürig: Dialog ist essentiell, man
darf den Gesprächsfaden in Konfliktzeiten nicht abreißen lassen. Für Politiker und
Regierungen ist das nicht immer einfach,
oft stocken die Verhandlungen. Stiftungen
können den Dialog dagegen aufrechterhalten. Manchmal gelingt das schon durch ein
Programm wie einen Schüleraustausch oder
durch eine Gesprächsplattform, zu der man
Multiplikatoren auf neutralen Boden einladen kann.
Sandra Breka: Wir haben als Robert Bosch
Stiftung den Vorteil, dass wir politisch neutral
sind. Wir können Risiken eingehen und Akteure zusammenbringen, die sich nicht unbedingt einig sind. Dazu gehören auch jene, die
nach dem „westlichen“ Verständnis nicht auf
der richtigen Seite eines Konflikts stehen. Es
geht uns darum, das Gespräch fortzusetzen,
ohne zunächst einmal zu werten.
Wo sehen Sie Herausforderungen, den
Dialog am Laufen zu halten?
Dürig: Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wie man mit Vertretern anderer
Kulturen kommuniziert. In unseren europäischen Kulturen kann man Dinge viel direkter ansprechen, als das in anderen Regionen der Welt der Fall ist. Gleichzeitig ist die
Welt viel komplexer geworden, so dass man
auf die Einschätzung von Experten gerade
auch aus der entsprechenden Region angewiesen ist. Obwohl wir heute online mit der
gesamten Welt verbunden sind, bleiben dabei persönliche Beziehungen immer noch
unabdingbar.
Welche Rolle spielen hierbei Thinktanks?
Dürig: Zunächst: Der Begriff Thinktank ist
unglaublich breitgefasst, es gibt nicht den einen Thinktank. Insgesamt sind solche Organisationen jedoch sehr wichtig, da sie neben
ihrer Expertise über ein weltumspannendes
Netzwerk verfügen und auf Kontakte zurückgreifen können, über die selbst manche
Regierungen nicht verfügen.
Breka: Besonders gut aufgestellt sind zum
Beispiel viele amerikanische Thinktanks.
Sie speisen sich aus einer großen Interdisziplinarität und Mobilität des Systems.
Entscheidungsträger aus Politik oder Wirtschaft gehen eine Zeitlang in Thinktanks,
reflektieren ihre Erfahrungen aus der Praxis und bekommen neue Denkanstöße.
Dann kehren sie wieder auf wichtige Positionen zurück. In Deutschland passiert das
leider noch zu selten.
D i a l o g ü be r w e lt w ei t e H
­ e r a u s f o r de r u n ge n
Die Robert Bosch Academy ist eine Einrichtung der Robert Bosch Stiftung und hat
ihren Sitz in Berlin. Ihr Ziel ist es, interdisziplinär und multilateral den Dialog zu
den globalen ­H erausforderungen des 21. Jahrhunderts aktiv mitzugestalten. Über
das Richard von Weizsäcker Fellowship werden herausragende Persönlichkeiten
verschiedener Nationen eingeladen, bis zu einem Jahr lang in Berlin zu leben und
zu arbeiten. Das Research-Fellowship-Programm wendet sich an jüngere Wissenschaftler und Experten, die zu konkreten Fragestellungen der Robert Bosch
­Stiftung forschen.
Wollen Sie das mit der Robert Bosch
Academy ändern?
Breka: Wir wollen einen Beitrag zu Multilateralität und Interdisziplinarität in
Deutschland leisten. Wir holen mit der Robert Bosch Academy sehr arrivierte Entscheider nach Deutschland. Es handelt
sich dabei nicht um Wissenschaftler im
klassischen Sinne, sondern um Praktiker.
Auf diese Weise bringen wir nicht nur brillante Köpfe zusammen, wir fördern auch
die Debattenkultur. Aus dem Diskurs entstehen neue Perspektiven und Lösungsansätze – ganz im Sinne unseres Dreiklangs:
Think, Debate, Inspire. So ein Angebot ist in
Deutschland bislang einzigartig.
Dafür haben Sie das Richard von
­Weizsäcker Fellowship eingerichtet.
Was versprechen Sie sich davon?
Dürig: Unsere Richard von Weizsäcker
Fellows sollen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. Sie
stammen aus allen Kontinenten und
ganz unterschiedlichen Fachgebieten.
Diese Internationalität und Interdisziplinarität ist uns wichtig: Denn neben den
globalen Fragen unserer Zeit lassen sich
auch viele nationale – oder auch lokale
– Probleme nur länder- und fachübergreifend lösen, etwa im Bereich Umwelt,
Gesundheit oder Bildung. Aktuell reicht
die Bandbreite an Fellows deshalb von
ehemaligen Staatschefs über den Experten der Sicherheitspolitik bis hin zum
Direktor eines international beachteten
Filmfestivals.
Wie gestaltet sich die Arbeit der Fellows
vor Ort?
Breka: Wir bieten unseren Fellows einen
einmaligen Freiraum und gestalten die
Aufenthalte individuell. Die Fellows sind
intrinsisch motiviert: Der eine arbeitet vorrangig an einer Publikation, der andere
knüpft hauptsächlich Kontakte aus seinem
Fachgebiet oder möchte Möglichkeiten zur
Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen prüfen. Die Fellows treffen hochrangige
Entscheider, etwa Minister oder Regierungschefs, und engagieren sich in Veranstaltungen der Academy oder unserer Partner. Es
ist gerade dieser Freiraum, den die Academy
bietet, den unsere Fellows sehr schätzen.
Uta-Micaela Dürig, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung (rechts)
und Sandra Breka, Leiterin der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch
Stiftung und Leiterin der Robert Bosch Academy (links).
Foto Robert Bosch Academy /
Frauendorf
Die Konflikte im Nahen Osten
erschüttern Europa
Zieht sich Amerika aus dem
Nahen Osten zurück, wird
sich Europa politisch neu
ausrichten müssen. Gerade
in Syrien gilt es vor allem
das Konfliktgeflecht zu
durchdringen.
Von Soli Özel
E
s deutet vieles darauf hin, dass das
Engagement Amerikas für Sicherheit und Ordnung im Nahen Osten
schwinden wird und Europa mit
diesem Schritt klarkommen muss. Daher
war es schlichtweg eine Illusion, zu denken,
dass die Krisen dort auf diese Region begrenzt bleiben oder stets von den Amerikanern gelöst werden würden. Das mussten die
Europäer in diesem Sommer feststellen: Die
Flüchtlingskrise ist das Ergebnis der strategischen Kurzsichtigkeit und Selbstgefälligkeit Europas, die nun die Europäische Union
(EU) in ihren Grundfesten erschüttert.
Ohne politische Parteien
und Programme
Die arabischen Umbrüche waren in der Tradition der europäischen Revolutionen ehrbare, soziale Bewegungen. Die Anstifter des
Protests waren Zeitgenossen all derer, die
auf der ganzen Welt protestieren. Aber anders als diejenigen, die auf die Straße gegangen sind und es geschafft haben, Regierungen oder Regime zu erschüttern, hatten die
Demonstranten in den arabischen Ländern
– hauptsächlich Republikaner – keine politischen Parteien, kein Programm und keine
wirksame Führung, die ihnen den Rücken
deckte.
Ähnlich dem Schicksal aller historischen Revolutionen entwickelten sich konterrevolutionäre Dynamiken. In Ägypten
startete ein Militärangehöriger einen Coup,
um schließlich eine noch brutalere Diktatur einzuführen. Mit der bemerkenswerten
Ausnahme Tunesiens sind in allen Ländern,
in denen eine Revolte stattgefunden hat, die
Kräfte der Veränderung verlorengegangen.
In Libyen sind sogar einige europäische
Länder und die Vereinigten Staaten dafür
verantwortlich. Als hätten sie nichts gelernt aus den desaströsen Missgeschicken
im Irak, brachten sie ein berüchtigtes Regime zu Fall, ohne Pläne für die Zeit danach
zu machen. Das Ergebnis: Libyen hat keine
nennenswerte Kontrolle mehr über seine eigenen Grenzen und Territorien. Dieses politische Totalversagen der Staaten trägt zu der
Flüchtlingskrise in Europa bei.
Im Jemen und in Syrien führten geopolitische Aspekte zu brutalen Bürgerkriegen
und Interventionen anderer Staaten. In Syrien kann man sogar von einer Unterlassungssünde Europas sprechen. Die Tatsache, dass
sich Russland und China im Libyen-Konflikt
von westlichen Mächten fehlgeleitet fühlten,
hat die Krise in Syrien schnell zu einem dreidimensionalen Konflikt verschärft.
Dreidimensionaler Krieg
Die erste Dimension ist der lokale Missstand einer Bevölkerung, die unter den
verheerenden Auswirkungen von vier
Jahren Dürre litt. Viele waren gezwungen,
aus ländlichen Gebieten in die Städte zu
flüchten. Zudem unterstand diese Bevölkerung einem gewalttätigen Regime. Die
zweite Dimension betrifft die regionalen
Machtdynamiken, die sich rund um Syrien
entwickelten. Seit 1980 war Damaskus ein
treuer Verbündeter der Islamischen Republik Iran. Infolge des Irak-Krieges wurde Iran
die Vormacht in Bagdad, der Hauptstadt des
ursprünglichen Rivalen und Stabilisators
in der Region. Das entstandene Ungleichgewicht zugunsten Irans mobilisierte das saudische Regime und die Alliierten des Golfs
gegen die schiitische Bevölkerung in Iran
und darüber hinaus. Nach dem Irak-Krieg
wurde im Nahen Osten der Kampf gegen
das syrische Regime ein regionaler Stellvertreterkrieg zwischen Iran und SaudiArabien. Beide Seiten scheinen ihn bis zum
bitteren Ende ausfechten zu wollen.
Die dritte Dimension des syrischen Konflikts ist eine globale und hängt stark von der
direkten Intervention Russlands an der Seite
seines langfristigen Alliierten, des Assad-­
Regimes, ab. Diese Intervention kann entscheiden, ob Russland die Situation grundlegend bewältigen und kontrollieren kann oder
nicht. Es ist offensichtlich, dass sich sogar
China, die bislang außerhalb seiner Kom-
Wie holen Sie die passenden Fellows nach
Berlin?
Breka: Wir suchen Personen, die sich in her­
ausragender Weise mit Zukunftsfragen beschäftigen. Von unseren Partnern erreichen
uns viele Empfehlungen. Falls nötig, holen
wir Gutachten ein und beraten uns mit Experten. Ein Richard von Weizsäcker Fellowship bekommt man nur durch Einladung.
Zwischen Einladung und Fellowship vergeht
oft ein Jahr, die Fellowships sind hochindividualisiert und an die Bedürfnisse des
Fellows angepasst. Auch die Dauer der Fellowships variiert daher zwischen zwei und
zwölf Monaten, einige Fellows kommen auch
mehrmals für einen kürzeren Zeitraum.
fortzone eher zurückhaltende Supermacht,
zunehmend besorgt zeigt über die Entwicklungen in den Regionen. Von dort stammt ein
Großteil der Energie für den chinesischen Bedarf. Die Abwesenheit europäischer Akteure
in der sich neu bildenden Zusammenstellung
würde Europa nicht nur auf regionaler Ebene,
sondern auch in der globalen Politik auf eine
zu vernachlässigende Rolle reduzieren.
Der syrische Bürgerkrieg kann nur dann
beendet werden, wenn er in allen drei Dimensionen bewältigt wird. In dieser Situation ist der Vorteil Europas die Fähigkeit, alle
Parteien in einem Dialog zusammenbringen
und als Inspiration für die Menschen aus Syrien dienen zu können.
Überraschenderweise ebnet die Flüchtlingskrise auch neue Wege für die komatösen
Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Viele Flüchtlinge gelangen über die Türkei, wo die Behörden wenig Interesse daran
haben, sie im Land zu behalten, nach Europa. Die europäischen Staatschefs bemühen
sich über die Maßen, der Türkei entgegenzukommen – nicht aufgrund der Kopenhagener
Grundsätze, sondern aus Zweckmäßigkeit.
Dadurch werden alle Werte über Bord geworfen. Im Bereich der internationalen Beziehungen ist dieser zynische Pragmatismus
zwar nicht neu, er wäre aber ein schlechter
Begleiter für eine Politik mit dem aufstrebenden Nahen Osten.
Verhandlungen mit der Türkei
Die europäischen Staatschefs haben den Beginn der Beitrittsverhandlungen falsch eingeschätzt. Nun ist es schwer, mit einer Türkei
zu agieren, die nicht mehr denselben Enthusiasmus hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft
hat wie zuvor. Die Aufgabe ist es, sowohl die
Führung der Türkei als auch die europäische
Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die
Flüchtlingskrise und insgesamt die geopolitische und damit einhergehende humanitäre
Krise zum Wohle der Türkei und Europas eine
europäische Türkei braucht.
Soli Özel ist Professor für internationale
­Beziehungen an der Istanbuler Kadir-HasUniversität und Kolumnist bei der Tageszeitung
„Habertürk“. Außerdem berät er die Turkish
Industrialists’ and Businessmen’s Associa­
tion (TÜSIAD) in außenpolitischen Fragen.
Soli Özel ist Richard von Weizsäcker Fellow
der Robert Bosch Academy.
Wie tauschen sich die Fellows vor Ort
aus?
Breka: Es sind bis zu zehn Fellows gleichzeitig in Berlin. Ihre Büros liegen neben­
einander, sie teilen sich eine Bibliothek
und Küche. Damit sie sich nicht nur fachlich, sondern auch persönlich austauschen
können, organisieren wir Community-Veranstaltungen. Dazu gehören wöchentliche
Lunches und ein Kiezdinner, bei denen die
Fellows verschiedene Viertel von Berlin
kennenlernen. Bei der sogenannten Academy on Tour reisen sie gemeinsam durch
Deutschland und lernen Orte und Themen kennen, die das Land aktuell bewe-
gen – das kann der deutsche Mittelstand
sein oder auch Auswirkungen der Flüchtlingskrise. Denn Deutschland im eigenen
Fachgebiet und darüber hinaus besser
kennenzulernen ist die verbindende Gemeinsamkeit der ausschließlich ausländischen Fellows. Dabei erweitern sie ihre
und unsere Netzwerke, nehmen Wissen
mit und geben ihres weiter.
Dürig: Damit die Fellows über ihren Aufenthalt und fachliche Zusammenarbeit hinaus
persönlich verbunden bleiben, richtete die
Robert Bosch Stiftung am 10. und 11. November 2015 zum ersten Mal das Richard
von Weizsäcker Forum zu Ehren des verstorbenen Bundespräsidenten und ehemaligen Kuratoriumsmitglieds der Stiftung
aus. Die Konferenz brachte alle ehemaligen,
aktuellen und auch zukünftige Richard
von Weizsäcker Fellows nach Berlin. Es gab
hochkarätige Gespräche über die aktuellen
weltweiten Herausforderungen sowie mögliche Lösungsansätze.
Woran messen Sie den Erfolg eines Austauschs?
Breka: Unsere Fellows sind außerordentlich
kritisch. Wenn die persönliche Rückmeldung ist: Meine Wahrnehmung hat sich geändert, ich konnte meine Annahmen prüfen,
mein Wissen erweitern, ich konnte neue
Perspektiven gewinnen, Kontakte aufbauen und empfinde den Aufenthalt als Mehrwert – dann war ein Fellowship erfolgreich.
Viele Fellows entwickeln eine Affinität zu
Deutschland, es entstehen persönliche Bindungen und langfristige Kooperationen. Sie
kehren gerne zu uns zurück und sehen die
Robert Bosch Academy als ständige Anlaufstelle.
Dürig: Das Richard von Weizsäcker Fellowship ist keine Einbahnstraße: Es ist vor
allem dann erfolgreich, wenn neue Verbindungen der Fellows zu Meinungsbildnern
in Berlin, Deutschland und darüber hinaus
geschaffen wurden – die teils Jahre halten
und zu neuen Lösungsansätzen in unserer
komplexen, vernetzten und dynamischen
Zeit führen.
Kooperation
ohne Allianz
Die globale Politik des 21.
Jahrhunderts wird sich in
Asien abspielen. Schon heute
gibt es dort eine Vielzahl an
Netzwerken, Partnerschaften
und Organisationen.
V o n F y o d o r Luk y a n o v
A
sien ist das Zentrum der globalen
Politik des 21. Jahrhunderts. Daran besteht kein Zweifel. Zu Asien
gehören zwei der weltweit größten
und am schnellsten wachsenden Wirtschaften – China und Indien. Auch viele kleinere
Länder wie beispielsweise Indonesien und
Südkorea gehören zu den aufstrebenden
Nationen. Drei Viertel des russischen Territoriums liegen ebenfalls in Asien. Diese Region wird auch für die Vereinigten Staaten
zunehmend attraktiv. Hier haben sie den
ersten wirtschaftlichen Megablock geschaffen – die transatlantische Partnerschaft,
die als Prototyp für die zukünftige Struktur
der Weltwirtschaft dient. Handel und Investment verlagern sich zunehmend auf die
Region Asien – Pazifik, die Drehscheibe für
verschiedene Handelsrouten ist. Der Wettbewerb zwischen China und den Vereinigten
Staaten wächst, und auch ihre enge Verbindung kann die zunehmende geopolitische
Rivalität nicht aufhalten.
Harmonie in Asien
Asien ist eine Region, in der neue globale
Herrschaftsmodelle entstehen. Der Unterschied ist, dass es hier keine großen politischen oder ideologischen Allianzen gibt, wie
sie im zwanzigsten Jahrhundert bestanden.
Viele Menschen im Westen sprechen über
die zunehmende Harmonie zwischen Russland und China und spekulieren, dass diese
beiden Nationen zu echten Alliierten werden
könnten. Das wird jedoch aus einem einfachen Grund nicht eintreten. Sowohl Moskau
als auch Peking schätzen ihre Handlungsfreiheiten mehr als alles andere. Sie sind
nicht bereit, sich durch Verpflichtungen zu
binden, die eine Einschränkung ihrer Frei-
heit bedeuten würden. Russlands Stärke
liegt in seinen politischen, diplomatischen
und militärischen Fähigkeiten, China hat
die weitaus stärkere Wirtschaft. Keine der
beiden Nationen würden irgendeiner Form
der Unterordnung zustimmen. Und dennoch
sind sie aufeinander angewiesen und profitieren voneinander. Daher werden sie multidimensionale und nicht lineare Beziehungen
pflegen, die keinen dazu zwingen, seine Möglichkeiten einzuschränken.
Eine Annäherung ohne Fusion, eine
Kooperation ohne Allianz, das ist das asia­
tische Modell des 21. Jahrhunderts. Die
Länder in der Region haben keine Wahlmöglichkeit; sie können nicht einem Block
beitreten und in Ruhe unter dem Schirm
einer Supermacht leben, wie es im Kalten
Krieg der Fall war. Um sich weiterzuentwickeln, brauchen sie alle Mächte: China, die
Vereinigten Staaten, die Europäische Union,
Russland, Iran, Saudi-Arabien und so weiter. Exzessive politische Unstimmigkeiten
verursachen nur höhere wirtschaftliche
Kosten, die wiederum die politischen Systeme gefährden. Dies birgt einen Teufelskreis
und ruft eine neue Form der ContainmentPolitik auf den Plan.
Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine
Konflikte mehr geben wird. Sein Aufstieg
verleiht China mehr Selbstvertrauen und
nährt zugleich die Bedenken der Amerikaner. Wie jede Führungsmacht legen die Vereinigten Staaten keinen Wert auf potentielle
Herausforderer und werden versuchen,
diese unter Kontrolle zu bringen. Das wird
China nicht tolerieren. Was die beiden Mächte davon abhält, ihre Beziehungen zu beenden, ist ihre gegenseitige Abhängigkeit und
der enorme Schaden, der durch solch einen
Bruch verursacht werden könnte.
Das Abwägen zwischen Kooperation und
Wettbewerb wird in den nächsten Jahren die
neue Normalität darstellen. In dieser Situation beeinträchtigen Allianzen die Sicherheit,
anstatt sie zu erhöhen.
Vorsicht vor Ideologisierungen
Es gibt einen Faktor, der zu einer ernsthaften
Destabilisierung des gesamten Systems führen könnte. Der Versuch, Werte und Bewertungen in den Stoff der großen asiatischen
Politik und Wirtschaft einzuweben. Asiatische Länder, und allen voran China, würden das nicht tun. Sie glauben fest an ihre
eigene kulturelle Exklusivität und beharren
darauf, dass andere Nationen schlichtweg
nicht in der Lage sind, die asiatische Mentalität zu verstehen. Amerika glaubt ebenfalls
an seine außerordentliche Stellung, aber auf
eine andere Art: Die Vereinigten Staaten sind
überzeugt, das Recht zu haben, anderen die
eigene Erfahrung als die einzig „richtige“
verkaufen zu dürfen.
Diese Logik gilt als effektives Instrument ihrer weltweiten Politik. In der Tat hat
es in Europa funktioniert, im Nahen Osten
ist es mehr als offensichtlich gescheitert.
Würde dieses Instrument auf das neue Asien,
insbesondere auf China, angewendet, könnte die Gegenreaktion ungeahnt stark und
destruktiv ausfallen. Wenn es überhaupt
irgendetwas gibt, was Russland und China
dazu bringen könnte, eine Art der Allianz
zu schaffen, sind es die Versuche der Vereinigten Staaten, die demokratische Erneuerung
anzutreiben.
Neue Organisationen
In Asien wird eine Vielzahl von Organisa­
tionen entstehen, die bündnis- und bereichsübergreifend Verantwortung übernehmen.
Dazu gehören etwa die BRICS-Entwicklungsbank, die chinesische – jedoch westlichen Staaten offenstehende – Asiatische
Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), die
transatlantische Partnerschaft (TTIP unter
amerikanischer Führung), die Freihandelsvereinbarung RCEP (unter der Regie Chinas), die Shanghaier Kooperation für Zusammenarbeit (eine chinesisch-russische
Organisation), die Eurasische Wirtschaftsunion (russisch zentriert) und die verschiedenen Organisationen rund um den
Verband der Südostasiatischen Nationen
(ASEAN+) und der Asiatisch-Pazifischen
Wirtschaftsgemeinschaft (APEC). Diese
komplexen Wechselbeziehungen werden ein
Netzwerk erschaffen, das die Region davon
abhalten kann, in unübersichtliche Konflikte abzurutschen. Die größte Bedrohung für
Asien besteht tatsächlich darin, das europäische Schicksal – mit endlosen Kriegen und
Konfronta­t ionen – zu wiederholen.
Fyodor Lukyanov ist Chefredakteur der
Zeitung „Russia in Global Affairs“ und
­Forschungsprofessor am HSE in Moskau.
Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der
Robert Bosch Academy.
V4
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung / Die Welt im 21. Jahrhundert / 22. November 2015
Menschen, die die Welt bewegen
JenS GyarMaty
DaViD auSSerHOFer
Kemal Derviş gilt als Vater des türkischen Aufschwungs. 2001
steht das Land am Bosporus vor der Staatspleite. Der Ökonom mit
deutschen Wurzeln ist damals seit 24 Jahren bei der Weltbank, erst als
Experte für den Mittleren Osten, später steigt er zum Vizepräsidenten
auf. Er gilt als pragmatisch und kühler Denker, ausgebildet in London, promoviert in Princeton, ein gefragter Fachmann für das internationale Finanzgeschäft – kurzum genau der Richtige für den Weg aus der Krise. Derviş folgt
dem Ruf seines Freundes und damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit.
Seine Reformen sind hart, zeigen aber Wirkung. Er schließt marode Banken,
sorgt für eine strenge Überwachung der verbleibenden. Er macht die türkische Zentralbank unabhängig und treibt die Privatisierung staatlicher Unternehmen voran. Dem Staatshaushalt verordnet er einen strengen Sparkurs.
Schon 2002 beträgt das Wirtschaftswachstum wieder acht Prozent. In der Türkei schwärmen Geschäftsleute, Banker und Vorstände noch heute von seinen
Ideen. Schon ein Jahr später zieht er sich aus der Politik zurück und
wechselt wenig später zu den Vereinten Nationen. Als Direktor
des Entwicklungsprogramms „UNDP“ kritisiert er öffentlich
das Verhalten der Banken und warnt schon früh vor einer Finanzkrise. Heute ist er gefragter Experte in Sachen Ökonomie und Sozialpolitik.
anne Glover sieht sich nicht als gescheitert. Dabei verliert sie vor
einem Jahr ihren Posten als erste wissenschaftliche EU-Beraterin. Das
Europarlament hat keine Verwendung mehr für die schottische Biologin.
Einen Nachfolger gibt es nicht, trotz großer Proteste aus der Forschungsgemeinschaft. Dort genießt sie für ihre Idee von einer evidenzbasierten Politik hohes Ansehen. Doch von Anfang an: 2001 wird die Mikrobiologin Professorin an der Universität Aberdeen. Sie engagiert sich für die Forschungsförderung
und steigt zur wissenschaftlichen Beraterin der schottischen Regierung auf.
Glover will wissenschaftliche Erkenntnisse so aufbereiten, dass die Politik daraus
Schlüsse ziehen kann. Mit Erfolg: Sie stößt Grundschulreformen an, modernisiert den Katastrophenschutz und fördert den Austausch zwischen Wirtschaft
und Wissenschaft. Von den Erfolgen ist der damalige EU-Kommisionspräsident
José Manuel Barroso beeindruckt und holt Glover 2012 nach Brüssel. Auch hier
versucht sie den Entscheidungsträgern aktuelle Forschungsergebnisse
als Entscheidungsgrundlage näherzubringen. Sie will Expertenkreise und transparente Berichte zu Themen wie Klimawandel oder
Gentechnik schaffen. Am Ende scheitert zwar das Vorhaben,
nicht aber die Idee, sagt Glover heute. Das Interesse an wissenschaftlicher Beratung sei in der Politik stark gestiegen. Die
Biologin selbst lehrt inzwischen wieder in Aberdeen.
tOBiaS BOHM
Iveta radiČová hat für die Grundsätze der EU ihre politische Karriere aufgegeben. Im Juli 2010 wird sie die erste Ministerpräsidentin
der Slowakei. Zuvor lehrt die Soziologin in Oxford und Bratislava und
ist Arbeitsministerin. In der Politik gilt sie als besonnen und kompetent.
Über die Landesgrenzen bekannt wird sie jedoch als „Madame No“. 2010
steht Griechenland erstmals vor dem Bankrott und ist auf Milliardenhilfen
angewiesen. Nach zähen Verhandlungen stimmen alle EU-Mitgliedsländer für
eine Rettung durch Notkredite, nur die Slowakei sagt nein. Den Anteil von 817
Millionen Euro will RadiČová nicht zahlen. Ihre Ablehnung begründet sie mit
der Erfahrung ihres Landes nach dem eigenen Staatsbankrott vor über 25 Jahren. Damals halfen der Slowakei nur harte Reformen, diesen Weg favorisiert sie
auch für Griechenland. Für diese Haltung wird sie als unsolidarisch angefeindet, doch sie bleibt hart. Dass RadiČová wirklich an die Europäische Solidarität
glaubt, zeigt sie wenige Monate später mit einem folgenschweren Ja. 2011 soll
der EFSF-Rettungsschirm erweitert werden. Aus Sicht der Soziologin geht es
jetzt nicht mehr um einzelne Länder, sondern um das ganze Eurosystem. Die Mehrheit im slowakischen Parlament erkauft sie sich mit
dem schweren Versprechen, ihr Amt 2012 nach Neuwahlen abzugeben. Heute lehrt sie als Gastprofessorin an Hochschulen
überall auf der Welt und berät die Europäische Kommission als
Expertin für Sozialpolitik.
Denis Hayes ist der Architekt des Earth Day. 1970 kommt der USSenator Gaylord Nelson auf die Idee, einen Aktionstag für die Erde
und den Umweltschutz ins Leben zu rufen. Sein damaliger Mitarbeiter
Hayes macht aus der Idee ein Großereignis. Schon am 1. Earth Day nehmen weltweit über 20 Millionen Menschen teil. Im April dieses Jahres feiert
der Tag seinen 45. Geburtstag. Inzwischen beteiligen sich Umweltorganisationen und Forschungsinstitutionen aus über 190 Ländern, und eine Milliarde
Menschen nehmen teil. Diese Erfolgsgeschichte ist eng mit der Person Hayes
verbunden. Doch auch abseits des Großereignisses ist der 71-Jährige ein umtriebiger Umweltaktivist und Verfechter erneuerbarer Energien. Für seine Arbeit bekam er im Laufe der Jahre zahlreiche Auszeichnungen, und das „Time
Magazine“ bezeichnet ihn als „Hero of the Planet“. Während der Carter-Ära
arbeitet er als Leiter eines nationalen Forschungsinstituts für Solarenergie und
wechselt später nach Stanford, studiert spätberufen Rechtswissenschaften
und wird Gastprofessor für Ingenieurwissenschaften und Humanbiologie. Als Vorstandsvorsitzender der Bullitt Foundation und
Anwalt für Umweltrecht machte er sich für den Naturschutz
und nachhaltiges Wirtschaften an der Nordwestküste der
Vereinigten Staaten stark. Bis heute ist Hayes ein international gefragter Experte für Umwelt- und Solarthemen.
luKÁŠ piaČeK
Als Mirsad Purivatra und seine Mitstreiter das erste Sarajevo Filmfestival veranstalten, wird ihre Stadt seit Jahren belagert. Im Dauerbeschuss, ohne Strom und fließend Wasser verstecken sich die Menschen
in ihren Kellern. In dieser ausweglosen Situation beschließt Purivata das
kulturelle Leben der Stadt wiederzubeleben – als Kontrast zum Wahnsinn des
Krieges. Er beginnt mit kleineren Ausstellungen und knüpft Kontakte zu ausländischen Intellektuellen. Von einer Hilfsorganisation bekommen die Aktivisten Videoprojektoren und eröffnen ein Kino. Schnell spricht sich das Keller-Kino
herum, erst unter den Menschen vor Ort, dann unter Journalisten. Aus den Medien erfahren die Direktoren der Filmfestivals von Locarno und Edinburgh von
der Idee und kommen auf eigene Gefahr. Spontan fasst man einen Entschluss
– Sarajevo braucht ein Filmfestival. Noch im Krieg sollen die Filme auf einer richtigen Leinwand in einer ehemaligen Synagoge gezeigt werden. Mit Hilfe von
internationalen Hilfsorganisationen werden Filmrollen in die Stadt „geschmuggelt“. Selbst Schauspieler und Regisseure kommen trotz
Lebensgefahr zur Vorstellung ihrer eigenen Filme. Jeder Abend
des Festivals ist ausverkauft. Ein Monat später endet offiziell
die Belagerung, nicht aber die Geschichte des Festivals. Heute gilt es als wichtigster Schauplatz für den osteuropäischen
Film und als ein Zeichen für die Völkerverständigung.
DaViD Hiller
Ob Umweltschutz oder Bankenkritik: Es gibt viele globale Herausforderungen, denen sich besonders engagierte Persönlichkeiten widmen.
Wir stellen fünf Richard von Weizsäcker Fellows der Robert Bosch Academy, ihre Thesen und konkreten Lösungsansätze vor. Von Birk Grüling
Wie die digitale Öffentlichkeit zum Segen werden kann
Es ist ein großer Schritt von
der Kaffeehauskultur des
18. Jahrhunderts zu einer
Kultur der sozialen Medien.
Das Ziel ist erstrebenswert:
Eine aufgeklärte digitale
Öffentlichkeit soll entstehen.
Von JaMEs KonDo
I
m 18. Jahrhundert waren Salons in
Frankreich, Kaffeehäuser in England
und Tischgesellschaften in Deutschland
der Ort, an dem Ideen ausgetauscht, öffentliche Meinungen gebildet und politische
Handlungen ins Leben gerufen wurden. Mit
anderen Worten, dort ist die Öffentlichkeit
entstanden. Heute bildet die Ausweitung der
sozialen Medien die Basis für eine digitale
Öffentlichkeit.
Die disruptive Macht der digitalen Öffentlichkeit wurde zum ersten Mal auf globaler Ebene wahrgenommen, als im Jahr
2010 der Arabische Frühling ausbrach.
Bürger in Ländern wie Tunesien, Ägypten,
Libyen, Jemen, Bahrein, Syrien, Algerien,
Irak, Jordanien, Marokko und Sudan protestierten auf den Straßen und zwangen
manche ihrer Herrscher zum Rücktritt. Sie
waren gewaltsamen Reaktionen von Behörden und regierungstreuen Gruppen ausgesetzt. Die sozialen Medien spielten hier eine
zentrale Rolle und ermöglichten zuerst den
Bürgern, dann allerdings auch den Behörden, zu kommunizieren, sich zu organisieren und Informationen mit der Welt auszutauschen.
Kommunikation in Echtzeit
Im März 2011 führten das Tohoku-Erdbeben
in Japan, der dadurch ausgelöste Tsunami
und die anschließende Atomkatastrophe
zur Zerstörung der grundlegenden Infrastruktur in der dortigen Region. Da der
Strom ausgefallen war, gab es keine Möglichkeit, sich über Radio oder Fernsehen zu
informieren. Die Telefonleitungen waren
überlastet. Aber das Internet funktionierte,
und die sozialen Medien wurden so zu einer
„Rettungsleine“, über die die Menschen mit
ihrer Familie und Verwandten kommuni-
zieren und aktuelle Meldungen in Echtzeit
erhalten konnten.
Diejenigen, die in Not waren, konnten
identifiziert und gerettet werden. Viele
Millionen Postings in den sozialen Medien
– in Form von Bildern und Videos sowie in
Die digitale
Öffentlichkeit hat
sich zu dem
dominanten Forum
für Bürger in
Katastrophenzeiten
entwickelt.
Worten – lieferten Echtzeitdaten über das,
was dort vor sich ging. Freiwillige klassifizierten „Hashtags“, um Diskussionen über
Twitter zu ermöglichen, die für die Bürger
von Belang waren. Die Regierung hatte
keine Wahl, als auf diese öffentlichen Debatten zu reagieren. Seitdem hat sich die
digitale Öffentlichkeit zu dem dominanten
Forum für Bürger in Katastrophenzeiten
entwickelt. Das konnte man auch bei den
Aufständen in London 2011 und den Bombenanschlägen in Boston 2013 sehen.
neues öffentliches Gut
Der Arabische Frühling und das TohokuErdbeben in Japan sind Beispiele, die zeigen,
wie Menschen durch eine extreme Steigerung der Kommunikationsgeschwindigkeit
und Reichweite – mit Hilfe der sozialen Medien –, gesellschaftliche Veränderungen bewirken können. Während diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten für Individuen
wichtig sind, wird ihre Kraft jedoch noch
verstärkt, wenn die Daten auf gesellschaftlicher Ebene verbunden werden und ein neues
öffentliches Gut entsteht: Öffentliche Daten.
Wissenschaftler nutzen die öffentlichen
Konversationen über soziale Medien, um die
Ausbreitung von Krankheiten, wie beispielsweise von Lebensmittelvergiftungen oder
der Grippe, zu prognostizieren, und auch
als Frühwarnsignal vor einem neuen Aus-
bruch. Eine an der Universität von Columbia
durchgeführte Studie ergab, dass es schon
drei Tage vor der öffentlichen Bekanntgabe des Krankheitsausbruchs mehr als tausend Tweets über Ebola gab. Die Beispiele,
dass das Sammeln solcher Daten wertvoll
ist, gehen weit über die Gesundheit hinaus
und erstrecken sich etwa auf das öffentliche
Transportwesen, auf Wettervorhersagen
oder auch auf Notrufmöglichkeiten in Verbrechensfällen.
Allein durch das öffentliche Teilen eines
Status oder der Beteiligung an einer öffentlich geführten Kommunikation schaffen die
Bürger unbewusst frei zugängliche Daten,
die die Öffentlichkeit darüber informieren,
worin sie gerade involviert sind. Zunehmend
werden es nicht nur wir Bürger selbst sein,
die diese Daten schaffen, sondern unsere Gegenstände, wie beispielsweise unsere Autos,
Häuser oder Schuhe. Der Umfang dieser Daten, die Tatsache, dass sie in Echtzeit erstellt
werden, und ihre Analyse stellen die Behörden vor ernste Herausforderungen. Sie sind
mehr und mehr gezwungen, auf diese öffentlichen Daten zu reagieren.
Wir stehen noch am Anfang und müssen
zunächst verstehen, wie wir einen öffentlichen Raum aufrechterhalten können, in
dem sich Individuen und Institutionen über
gesellschaftliche Probleme austauschen können und in dem sie lernen und konstruktiv
handeln können. Mit anderen Worten, wir
müssen an einer digitalen Öffentlichkeit arbeiten, die Transformationen fördert, die
weniger störend und spontan sind, dafür
aber konstruktiv und systematisch.
Digitale Öffentlichkeit noch jung
So wie es mehrere Jahrzehnte dauerte, bis
sich die Öffentlichkeit im Europa des 18.
Jahrhunderts entwickelte, wird es viele
Jahre dauern und zahlreicher Experimente bedürfen, bis die digitale Öffentlichkeit
gereift ist. Ein wichtiger Unterschied zum
18. Jahrhundert sind die Fortschritte der
Datenwissenschaft und des Human-Centered Designs, die dabei helfen, Lerneffekte und Feedback aus den Experimenten
schneller umzusetzen. Die Schaffung einer
aufgeklärten digitalen Öffentlichkeit ist für
uns alle ein erstrebenswertes Ziel für das
21. Jahrhundert.
James Kondo ist Vice President, Growth
Operations, Twitter Inc. und Gastwissenschaftler am MIT Media Lab.