Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung 22. November 2015 G E s ta lt E r I s C H E F Ä H I G K E I t E n ErwEItErtE PErsPEKtIVEn EnGaGIErtE PErsÖnlICHKEItEn Die deutsch-amerikanische Partnerschaft muss unbequeme Wahrheiten aushalten. Das ist gut so. Seite V2 Konflikte begleiten den Alltag. Ein Gespräch über das Wirken von Stiftungen und Thinktanks. Seite V3 Ob Umweltschutz oder Bankenkritik: Es gibt Menschen, die sich diesen Herausforderungen tatkräftig widmen. Seite V4 Die Welt im 21. Jahrhundert ukraine-Krise, Flüchtlingsströme und die aktuellen anschläge in paris: 2015 wurde deutlich, vor welchen chancen, aber auch vor welchen Herausforderungen die deutsche außenpolitik steht. FOtO picture alliance/Dpa Zwischen Erwartung und Verpflichtung – Deutschland muss sich positionieren Deutschland spielt eine zentrale Rolle innerhalb und außerhalb Europas. Das wurde gerade in diesem Jahr deutlich. Doch das deutsche Handeln stößt auch auf Skepsis. Nicht zuletzt zeigten sich in 2015 die Chancen, aber auch die Grenzen der deutschen Außenpolitik. Von Merle Schmalenbach Paris und london zögern Doch einige Zeit später erfolgte eine Neubewertung. Der Sturz Muammar al Gaddafi s hatte in Libyen chaotische Zustände nach sich gezogen. Frankreich und Großbritannien hätten sich in dieser Sache „die Finger verbrannt“, schreibt der Außenpolitikexperte Quentin Peel in der Zeitschrift „IP – Inter- nationale Politik“. Hinzu kam der Fakt, dass beide Länder eine Zeitlang durch innenpolitische Debatten abgelenkt waren: Frankreich kämpfte innenpolitisch mit seinem Reformbedarf, während Großbritannien sich mit der Frage nach seinem eigenen Verbleib in der EU beschäftigte. „Das hat Deutschland in eine Vorreiterrolle geschoben, ohne dass dies jemals ein Ziel deutscher Außenpolitik gewesen wäre“, sagt Constanze Stelzenmüller, Robert Bosch Senior Fellow beim amerikanischen Thinktank „Brookings“. Wie stark diese Vorreiterrolle zeitweise war, zeigte sich während der russischukrainischen Krise. Deutschland trieb die Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland voran – und setzte damit ein deutliches Zeichen: „Deutschland hat gezeigt, dass es in der Lage ist, einige seiner ökonomischen Interessen für das generelle Wohl der gemeinsamen europäischen Außenpolitik zu opfern“, sagt Ivan Krastev, Leiter des Centre for Liberal Strategies (CLS) in Sofia und Fellow der Robert Bosch Academy. In einem 17-stündigen Verhandlungsmarathon gelang es Deutschland und Frankreich Anfang des Jahres zudem in Minsk, zumindest zeitweilig einen Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine auszuhandeln. Deutschlands Einsatz galt dabei als zentral: „Die Führungsrolle wurde in der gesamten Ukraine-Krise Merkel und nicht Hollande zugeschrieben“, stellt Andreas Rinke in der Zeitschrift „IP“ fest. rückkehr der deutschen Frage Bei vielen verursachte die deutsche Führungsrolle jedoch Unbehagen: „Die deutsche Frage ist zurück“, schrieb der Autor und Fellow der Robert Bosch Academy Roger Cohen im Juli in der „New York Times“. „Deutschland dominiert Europa in einem Grad, wie es selbst vor 15 Jahren noch nicht auszudenken war.“ Die Ursache sieht er in der Einführung des Euros: „Erdacht, um Deutschland an Europa zu binden, hat er stattdessen wesentlich schwächere europäische Staaten an Deutschland gebunden.“ Entsprechend skeptisch standen viele europäische Staaten während der Euro-Krise Deutschland gegenüber: „Für Deutschland war es das Allerwichtigste, zu zeigen, dass es auch in einer Krisensituation auf Regeln ankommt“, sagt Krastev. „Doch viele Leute haben die moralische Autorität Deutschlands in diesem Moment hinterfragt. Sie sagten: ‚Ja, Deutschland hat seine Macht gezeigt, aber es hat aus nationalen Interessen heraus gehandelt.‘“ Ein weiteres Mal stieß Deutschland auf Kritik, als es während der Flüchtlingskrise das Dublin-Abkommen unterhöhlte. „Das ist einer der Gründe dafür, dass der Schock innerhalb der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise so groß ist“, sagt François Heisbourg, Vorsitzender des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London und Fellow der Robert Bosch Academy. Pikant: In genau jene Phase des Regelbrechens fiel auch die Volkswagen-Abgasaffäre. „Außerhalb Deutschlands wird Volkswagen als Symbol dessen gesehen, was Deutschland ausmacht, sagt Heisbourg. Am Ende des Tages habe Deutschland daher ein Problem mit moralischer Autorität. Das sieht auch Constanze Stelzenmüller so: „Da entsteht der Eindruck, dass wir anderen Moral predigen, aber uns selbst nicht an die Regeln halten.“ zusammenhalt bedroht Entsprechend schwer fiel es Deutschland in den vergangenen Wochen, Einigkeit in Europa herzustellen. Viele EU-Länder fühlten sich in der Flüchtlingsfrage nicht von Deutschland unterstützt, sondern bevormundet. „Die Entscheidung, so schön und richtig ich sie persönlich fi nde, war auch ein Akt des humanitären Unilateralismus“, sagt Constanze Stelzenmüller. „Sie nimmt nicht genug Rücksicht auf die Kleineren und Schwächeren und ist deshalb auf Dauer nicht durch- zuhalten.“ Um Europa erfolgreich zu führen, müsse man Rücksicht nehmen auf die schwächeren Länder, auf ihre Kulturen und historischen Erfahrungen. „Natürlich können wir es nicht tolerieren, wenn ein Viktor Orbán nur christliche Flüchtlinge aufnehmen will. Wir müssen jedoch sehr wohl Rücksicht nehmen, wenn ein Staat wie Griechenland, der mitten in europäischen Strukturreformen steckt, Hilfe braucht bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise“, sagt Stelzenmüller. Dass nun die nächste Eskalationsstufe bevorsteht, zeigte sich nach den Attentaten von Paris: Die polnische Regierung kündigte an, die EU-Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen nicht mehr erfüllen zu wollen. 2015 haben sich die Chancen, aber auch die Grenzen der deutschen Außenpolitik gezeigt. Und die Herausforderungen werden mit jedem Tag mehr: Zum einen bröckelt die Solidarität in Europa immer weiter, zum anderen spricht die französische Regierung derzeit von „Krieg“ und fliegt Luftangriffe gegen den IS – während sich Deutschland in dieser Frage zurückhält. Welche Folgen das Pariser Attentat langfristig für das Machtgefüge innerhalb der Europäischen Union und die deutsche Außenpolitik haben wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar. IMPrEssUM Die Welt im 21. Jahrhundert Anzeigensonderveröffentlichung der Robert Bosch Stiftung GmbH Verantwortlich für den redaktionellen inhalt: Robert Bosch Stiftung GmbH Heidehofstraße 31 70184 Stuttgart Höhen und tiefen: Zog die Bundesrepublik bei ihrer enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten nationen 2011 heftige Kritik auf sich, war der Zuspruch von Seiten der eu-Mitgliedstaaten für den einsatz in der ukraine-Krise stark. FOtO picture alliance / ap iMaGeS sehr Deutschland derzeit im Fokus steht, sieht man auch an einem Ranking des amerikanischen Wirtschaftsmagazins „Forbes“: Es kürte Angela Merkel unlängst zum zweitmächtigsten Menschen der Welt – noch vor dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Diese neue, zentrale Rolle Deutschlands wäre noch 2011 unvorstellbar gewesen. Damals hatte die Bundesrepublik heftige Kritik auf sich gezogen, nachdem sie sich im UNSicherheitsrat bei der Abstimmung über eine Libyen-Flugverbotszone enthalten hatte. Die Vorwürfe reichten von „außenpolitischer Lethargie“ bis hin zur „deutschen Sondermoral“. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer geißelte die deutsche Enthaltung als das „vielleicht größte außenpolitische Debakel seit Gründung der Bundesrepublik“. Die Position Deutschlands in der Welt sei wesentlich beschädigt worden. FOtO picture alliance / pHOtOSHOt W er in diesem Jahr die Nachrichten verfolgte, konnte zeitweise eine nie dagewesene Zuneigung gegenüber Deutschland erleben. Flüchtlinge auf ihrem Weg hielten „Mama Merkel“-Schilder hoch. Andere riefen „We want Germany“. Auf arabischen FacebookSeiten verbreitete sich die Deutschland-Fahne mit einem Bild der Bundeskanzlerin. Und auch auf dem Titelbild des Magazins „Der Spiegel“ prangte Angela Merkel – überzeichnet als Mutter Teresa. Doch es gab auch andere Nachrichten: Als am 13. November Terroristen Paris attackierten, zielten sie offensichtlich auch auf Deutschland ab: Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die deutsche Nationalmannschaft befanden sich im Stade de France. Ein Bekennerschreiben der Dschihadistenmiliz IS bezeichnete Deutschland als „Kreuzfahrernation“. Diese Beispiele zeigen, in welchen Spannungsfeldern sich Deutschland in diesem Jahr bewegte. Tatsächlich war 2015 ein wichtiges Jahr für die deutsche Außenpolitik. Das gilt nicht nur für die Anschläge von Paris und die Flüchtlingsfrage, sondern auch für die Griechenland-Krise und die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. Wie Geschäftsführung: Uta-Micaela Dürig, Prof. Dr. Joachim Rogall Verantwortlich: Stefan Schott, Bereichsleiter Strategische Kommunikation Sandra Breka, Bereichsdirektorin, Leiterin der Robert Bosch Academy redaktion: Julia Hoscislawski, Frankfurt Business Media layout: F.A.Z. Creative Solutions, Arnd Hildebrand autoren: Birk Grüling, Daniel S. Hamilton, James Kondo, Ivan Krastev, Fyodor Lukyanov, Soli Özel, Merle Schmalenbach Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH, Kurhessenstraße 4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf; Pressedruck Potsdam GmbH, Friedrich-Engels-Straße 24, 14473 Potsdam V2 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung / Die Welt im 21. Jahrhundert / 22. November 2015 Die Stärken einer unbequemen Partnerschaft Manchmal ist die deutsch-amerikanische Partnerschaft anstrengend. Das ist gut so. Denn dann richten wir uns darin nicht behaglich ein, sondern bleiben wachsam für die neuen Herausforderungen, die die Welt bringt. Von Daniel S. Hamilton D ie deutsch-amerikanische Partnerschaft ist manchmal unbequem, weil wir uns nicht scheuen, kritisch zu sein. Wir äußern Kritik am jeweils anderen. Dann zum Beispiel, wenn wir glauben, dass er die gemeinsamen Ideale, wie etwa Demokratie, Freiheit, die Unantastbarkeit des Rechtes und der Rechtsstaatlichkeit oder auch wirtschaftliche Regeln aus den Augen verliert, und ziehen ihn zur Rechenschaft. Darin liegt die Stärke dieser Partnerschaft. Wir haben diese Grundsätze, Normen und Regeln gemeinsam geschaffen und sind von ihnen überzeugt. Wir sind aber auch kritisch, um gemeinsam den Schritt nach vorne zu gehen: Die amerikanische und die deutsche Gesellschaft sind kulturell, politisch und wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Die transatlantische Wirtschaft generiert einen Gesamtumsatz von 5,5 Milliarden Dollar pro Jahr und beschäftigt bis zu 15 Millionen Menschen, darunter 1,8 Millionen Deutsche und die gleiche Anzahl an Amerikanern. Wir sind das Herz der Nato-Allianz und der amerikanisch-europäischen Kooperation und bemühen uns gemeinsam, ein einheitliches und freies Europa zu schaffen. Wir verstehen uns gleichermaßen als die Hüter einer internationalen Ordnung, sind aber auch als Motor von Koalitionen auf globaler Ebene sehr effektiv. Dieses Fundament macht es möglich, dass wir gemeinsam Ziele erreichen können. geprägt sind, werden von russischen Interventionen, Korruption oder sogenannten „eingefrorenen Konflikten“ unterminiert. Hier haben wir noch eine gemeinsame Aufgabe. Es gilt, die Ukraine als eine wichtige transatlantische Priorität in den Blick zu nehmen. Kiew ist so nah an Berlin wie Chicago an Boston. Erfolgreiche Reformen in der Ukraine könnten im gesamten postso wjetischen Raum nachhallen. Gelingen diese nicht, riskieren wir ein neues, graues „Zwischeneuropa“, wie es schon in der Vergangenheit bestanden hat. Diese Gefahr könnte durch die Turbulenzen im Nahen Osten noch verstärkt werden. Starke Netzwerke Merkel und Obama harmonisch. Mitunter kann es aber auch ziemlich unbequem werden, und das ist auch richtig so. Davon ist Daniel S. Hamilton überzeugt. Foto picture alliance/BREUEL-BILD Entwicklungen im Blick behalten Doch die Welt, in der die transatlantische Partnerschaft geschaffen wurde, hat sich weitergedreht. Wir stehen heute vor neuen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Wir sollten dabei vor allem drei Entwicklungen im Auge behalten: Erstens haben sich die gesellschaftlichen Grundlagen unserer Partnerschaft verlagert: Die Amerikaner sind den Deutschen gegenüber positiv eingestellt, schenken den innerdeutschen Dynamiken aber wenig Beach- tung und sind oftmals überrascht von den Wendungen in der Europäischen Union. Die Begeisterung in Deutschland für Amerika ist heterogen: War sie zu Amtszeiten George Bushs auf einem Tiefstand, hat sie mit Barack Obama ein neues Hoch erreicht. Viele Ältere identifizieren sich mit einem Amerika, das die sowjetische Macht in Schach hielt, die Sicherheit Deutschlands gewährleistete und die europäische Versöhnung gefördert hat. Viele junge Deutsche assoziieren andere Ereignisse mit Amerika – etwa den Irak-Krieg, Guantánamo, den CasinoKapitalismus oder auch die NSA-Affäre. Die größten transatlantischen Defizite sind daher nicht etwa Handelsungleichgewichte, digitale Gefälle oder militärische Kapazitäten, sondern die Asymmetrie von Stimmung, Erwartung und Vertrauen. Dieses Ungleichgewicht wird durch die neue Rolle Deutschlands in Europa noch verstärkt. Einst geteilt, ist Deutschland heute wieder das Land der Mitte, Dreh- und Angelpunkt eines Kontinents, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Integration und Desintegration bewegt. Deutschland muss in einer Zeit, in der Europa wenig zurückgeben kann, Lösungen für europäische Probleme finden. Gemeinsame Neupositionierung Diese Entwicklung nimmt zu einem Zeitpunkt Einfluss auf den transatlantischen Diskurs, zu dem auch der globale Kontext für die deutsch-amerikanische Partnerschaft eine grundlegende Änderung durchlebt. In den vergangenen 70 Jahren bedeuteten „transatlantische“ Beziehungen im Wesentlichen die Stabilisierung des europäischen Kontinents. Angesichts der derzeitigen Unruhen in Europa bleibt diese Aufgabe weiterhin essentiell. Ein Großteil der gemeinsamen Agenda dreht sich heute aber auch um die Frage, wie Amerika und Europa es schaffen können, sich gemeinsam im Sinne einer globalen Agenda neu zu positionieren. Wenn wir erkennen, dass die wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die wir als offene Gesellschaften bewältigen müssen, nicht diejenigen sind, die sich zwischen uns auftun, sondern die, mit denen wir gemeinsam konfrontiert sind, haben wir schon einen Teil der Antwort gefunden. Für Deutschland und Amerika gilt es – angesichts der Flüchtlingsströme und Migranten, der terroristischen Bedrohungen und der zunehmenden Globalisierung –, ihre demokratischen Gesellschaften zu verteidigen. Dabei kämpfen die Amerikaner auch um Rechte im Datenschutz und um ihre Sicherheit. Die Deutschen wiederum müssen ihre Zusage, Flüchtlinge aufzunehmen, mit den sich daraus ergebenden praktischen Erfordernissen übereinbringen. Jedes Land sollte mit den Anstrengungen des anderen Landes vertraut sein und Einblick gewähren. Zweitens gibt es auf europäischem Boden nach wie vor Gesellschaften, die nicht frei sind. Länder, die von Schwäche und Armut Die dritte Entwicklung bezieht sich auf die globale Sicherheit. Besonders wichtig wird hier unsere Partnerschaft, wenn es darum geht, aufstrebende Mächte erfolgreich in unser offenes System einzubinden. Unsere Gesellschaften sollten sich durch Netze und nicht durch Mauern hervortun. Das moderne Deutschland ist nicht nur die geopolitische Mitte Europas, sondern zusammen mit den Vereinigten Staaten auch eine zentrale Drehscheibe globaler Netzwerke. Je besser unsere Netzwerke miteinander verbunden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass andere sich daran beteiligen. Je schwächer unsere Netzwerke sind, desto wahrscheinlicher werden andere Mächte diese offene internationale Ordnung herausfordern. Nicht zuletzt deshalb ist TTIP nicht einfach nur ein weiteres Handelsabkommen. Es ist ein Versuch, sicherzustellen, dass die westlichen Grundsätze das zentrale Betriebssystem einer vernetzten Welt bleiben. Die deutsch-amerikanische Partnerschaft hat sich verändert. Dennoch sind wir in dem Verständnis, starke, offene und gut vernetzte Gesellschaften zu sein, vereint. Die zukünftige Frage ist jedoch nicht, ob wir gleiche Werte haben, sondern ob wir bereit sind, für diese Werte innerhalb unserer Gemeinschaft und darüber hinaus einzustehen und gegebenenfalls gegenseitig Rechenschaft abzulegen – ohne Klischees zum Opfer zu fallen. All dies macht eine unbequeme Partnerschaft aus. Wir sollten nicht weniger erwarten. Daniel S. Hamilton leitet das Zentrum für Transatlantische Beziehungen der Johns Hopkins University, School of Advanced International Studies in Washington, D. C. Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. Lost in Migration Trotz Mitgefühl und Solidarität wächst angesichts der Flüchtlingsströme das Unbe hagen vieler Menschen in Europa. Jetzt ist dringend eine Strategie gefordert, die Unsicherheiten abbaut. V o n I v a n K r a s t ev D ie Angst, dass „meine Welt verschwindet oder von anderen eingenommen wird“, ist in Europa weit verbreitet und beeinflusst die aktuelle europäische Politik. Europa hat sein Selbstvertrauen verloren und wird stattdessen von demographischer Panik übermannt. Die Bilder von Syrern und Afghanen, die die Grenzen Ungarns stürmen oder vor der griechischen Küste ertrinken, lähmt zusammen mit der Prognose der Vereinten Nationen, dass 2050 nur 7 Prozent der Weltbevölkerung Europäer sein werden, die öffentliche Vorstellungskraft. Die unzähligen spontanen Akte der Solidarität mit den Kriegsflüchtlingen und Verfolgten werden von der zunehmenden Angst überschattet, dass unser Wohlstandsmodell, unsere Kultur, in Gefahr ist und unsere liberalen Demokratien nicht in der Lage sein werden, diese zu verteidigen. Diejenigen, die alles haben und daher alles fürchten, wachsen zur stärksten Macht in der europäischen Politik heran. Sie fürchten, dass Ausländer ihre Länder einnehmen und ihren „Way of Life” bedrohen könnten. Sie geben die Schuld für den realen oder imaginären Kontrollverlust über ihr Leben einer Verschwörung aus kosmopolitischer Eliten und Immigranten mit Stammeskultur. Ein Europa der zwei Haltungen Und so besteht Europa, wie vor der Unterzeichnung der Beitrittsverträge zehn neuer Mitgliedstaaten im Jahr 2003, aus zwei unterschiedlichen Teilen: aus Mitteleuropa, wo sich die Auflehnung der bedrohten Mehrheiten am deutlichsten zeigt und wo die ethnische Homogenität als große historische Leistung gepriesen wird. Und Westeuropa, wo die Eliten, wenn nicht sogar die gesamte Öffentlichkeit, an ihrem liberalen Versprechen festhalten. Während im Westen Europas das Erbe der Kolonialmächte die Begegnungen mit der außereuropäischen Welt prägt, sind die mitteleuropäischen Staaten durch einen Desintegrationsprozess geformt worden und durch ethnische Säuberungen entstanden. Dort findet die Überzeugung, dass das multikulturelle Projekt zum Scheitern verurteilt ist, eher Anklang. Während Polen vor dem Zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Gesellschaft war und mehr als ein Drittel der Bevölkerung Deutsche, Ukrainer und Juden waren, ist das heutige Polen eine der Gesellschaften mit der höchsten ethnischen Homogenität; rund 98 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Polen. Für viele bedeutet eine Rückkehr zur ethnischen Vielfalt eine Rückkehr in schwierige Zeiten. Das ist einer der Gründe, warum die mitteleuropäischen Regierungen und Gesellschaften dem Gedanken, Flüchtlinge in der gesamten Union anzusiedeln, so ablehnend gegenüberstehen. In Krisenzeiten entschieden reagieren Die demographische Panik macht es unmöglich, die Zukunft als eine Quelle des sozialen Zusammenhalts zu sehen. Wer also werden wir in 50 Jahren sein? Es ist naiv zu glauben, dass in dieser extrem angstbehafteten Situation die Politik auf einen vernünftigen Dialog über die Vorund Nachteile der kulturellen Vielfalt oder der Migration reduziert werden könnte. Es ist naiv zu glauben, dass das Flüchtlingsproblem als rein logistisches Problem zu sehen ist. Auch das Predigen liberaler Werte kann nicht die Antwort auf die derzeitige Krise sein. Den Menschen fehlt es nicht an Mitgefühl mit dem Schicksal der Flüchtlinge. Die Menschen empfinden zunehmend ein Unbehagen, dass die liberalen Demokratien schlecht darauf vorbereitet sind, in Krisenzeiten entschieden zu reagieren, und haben Angst davor, dass die Situation außer Kon trolle gerät. In mancherlei Hinsicht ähnelt die heutige Situation den Jahren um 1930. Was auf dem Spiel steht, ist die Fähigkeit der liberalen Demokratien, auf schwerwiegende soziale und politische Krisen zu reagieren. Was hier gefordert ist, ist liberale Entschiedenheit. Mauern und Zäune zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu bauen und die zivile Bevölkerung der exzessiven Toleranz und des exzessiven Mitgefühls zu beschuldigen ist die populistische Antwort auf die Herausforderung der Flüchtlingszuströme. In seinem Buch „Fear Itself. The New Deal and the Origins of Our Time” sagt der amerikanische Politologe Ira Katznelson, dass Franklin D. Roosevelt den demokratischen Kapitalismus in den Vereinigten Staaten retten konnte, indem er die „Große Depression“ als „eine Zeit der ungewöhnlichen Verunsicherung“ verstand, „die so tiefgreifend war, dass die daraus entstandenen Ängste größer waren als das eigentliche Risiko der Veränderung. Diese Entwicklung hätte nicht verhindert werden können.“ In solch einer Situation kann jeder Versuch, die Krise zu trivialisieren, oder der Übergang zum Tages geschäft die Öffentlichkeit radikalisieren. Eine Strategie zur Reduktion der Unsicherheit ist nötig. Die Europäische Union braucht heute eine ähnliche Strategie. Wir können von unseren Regierungen nicht erwarten, dass sie die Flüchtlingsströme in Richtung unserer Grenzen beendet, aber wir haben das Recht, dass sie sich den daraus ergebenden Konsequenzen annimmt. Unsicherheiten reduzieren Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise war es Mario Draghi, der sich dafür einsetzte, dass alles Erforderliche getan wird. Das beruhigte schließlich die Märkte und rettete die gemeinsame Währung. Was Europa heute braucht, ist eine neue Ausprägung dieser Haltung. Eine Politik, die den Menschen die Sicherheit gibt, dass die Krise unter K ontrolle ist. Das ist die einzige wirksame Reaktion auf die Entstehung einer Politik der Angst. Ivan Krastev ist Leiter des Centre for Liberal Strategies (CLS) in Sofia sowie Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations. Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. V3 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung / Die Welt im 21. Jahrhundert / 22. November 2015 „Viele nationale und lokale Probleme lassen sich nur länder- und fachübergreifend lösen“ Krisen und Konflikte begleiten den Alltag. Ein Gespräch mit Uta-Micaela Dürig, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung, und Sandra Breka, Leiterin der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung und Leiterin der Robert Bosch Academy, darüber, was Stiftungen bewirken können. Wir leben in einer Zeit voller Kriege und Konflikte. Wie wichtig ist da der stetige Dialog? Uta-Micaela Dürig: Dialog ist essentiell, man darf den Gesprächsfaden in Konfliktzeiten nicht abreißen lassen. Für Politiker und Regierungen ist das nicht immer einfach, oft stocken die Verhandlungen. Stiftungen können den Dialog dagegen aufrechterhalten. Manchmal gelingt das schon durch ein Programm wie einen Schüleraustausch oder durch eine Gesprächsplattform, zu der man Multiplikatoren auf neutralen Boden einladen kann. Sandra Breka: Wir haben als Robert Bosch Stiftung den Vorteil, dass wir politisch neutral sind. Wir können Risiken eingehen und Akteure zusammenbringen, die sich nicht unbedingt einig sind. Dazu gehören auch jene, die nach dem „westlichen“ Verständnis nicht auf der richtigen Seite eines Konflikts stehen. Es geht uns darum, das Gespräch fortzusetzen, ohne zunächst einmal zu werten. Wo sehen Sie Herausforderungen, den Dialog am Laufen zu halten? Dürig: Man muss ein Gespür dafür entwickeln, wie man mit Vertretern anderer Kulturen kommuniziert. In unseren europäischen Kulturen kann man Dinge viel direkter ansprechen, als das in anderen Regionen der Welt der Fall ist. Gleichzeitig ist die Welt viel komplexer geworden, so dass man auf die Einschätzung von Experten gerade auch aus der entsprechenden Region angewiesen ist. Obwohl wir heute online mit der gesamten Welt verbunden sind, bleiben dabei persönliche Beziehungen immer noch unabdingbar. Welche Rolle spielen hierbei Thinktanks? Dürig: Zunächst: Der Begriff Thinktank ist unglaublich breitgefasst, es gibt nicht den einen Thinktank. Insgesamt sind solche Organisationen jedoch sehr wichtig, da sie neben ihrer Expertise über ein weltumspannendes Netzwerk verfügen und auf Kontakte zurückgreifen können, über die selbst manche Regierungen nicht verfügen. Breka: Besonders gut aufgestellt sind zum Beispiel viele amerikanische Thinktanks. Sie speisen sich aus einer großen Interdisziplinarität und Mobilität des Systems. Entscheidungsträger aus Politik oder Wirtschaft gehen eine Zeitlang in Thinktanks, reflektieren ihre Erfahrungen aus der Praxis und bekommen neue Denkanstöße. Dann kehren sie wieder auf wichtige Positionen zurück. In Deutschland passiert das leider noch zu selten. D i a l o g ü be r w e lt w ei t e H e r a u s f o r de r u n ge n Die Robert Bosch Academy ist eine Einrichtung der Robert Bosch Stiftung und hat ihren Sitz in Berlin. Ihr Ziel ist es, interdisziplinär und multilateral den Dialog zu den globalen H erausforderungen des 21. Jahrhunderts aktiv mitzugestalten. Über das Richard von Weizsäcker Fellowship werden herausragende Persönlichkeiten verschiedener Nationen eingeladen, bis zu einem Jahr lang in Berlin zu leben und zu arbeiten. Das Research-Fellowship-Programm wendet sich an jüngere Wissenschaftler und Experten, die zu konkreten Fragestellungen der Robert Bosch Stiftung forschen. Wollen Sie das mit der Robert Bosch Academy ändern? Breka: Wir wollen einen Beitrag zu Multilateralität und Interdisziplinarität in Deutschland leisten. Wir holen mit der Robert Bosch Academy sehr arrivierte Entscheider nach Deutschland. Es handelt sich dabei nicht um Wissenschaftler im klassischen Sinne, sondern um Praktiker. Auf diese Weise bringen wir nicht nur brillante Köpfe zusammen, wir fördern auch die Debattenkultur. Aus dem Diskurs entstehen neue Perspektiven und Lösungsansätze – ganz im Sinne unseres Dreiklangs: Think, Debate, Inspire. So ein Angebot ist in Deutschland bislang einzigartig. Dafür haben Sie das Richard von Weizsäcker Fellowship eingerichtet. Was versprechen Sie sich davon? Dürig: Unsere Richard von Weizsäcker Fellows sollen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung leisten. Sie stammen aus allen Kontinenten und ganz unterschiedlichen Fachgebieten. Diese Internationalität und Interdisziplinarität ist uns wichtig: Denn neben den globalen Fragen unserer Zeit lassen sich auch viele nationale – oder auch lokale – Probleme nur länder- und fachübergreifend lösen, etwa im Bereich Umwelt, Gesundheit oder Bildung. Aktuell reicht die Bandbreite an Fellows deshalb von ehemaligen Staatschefs über den Experten der Sicherheitspolitik bis hin zum Direktor eines international beachteten Filmfestivals. Wie gestaltet sich die Arbeit der Fellows vor Ort? Breka: Wir bieten unseren Fellows einen einmaligen Freiraum und gestalten die Aufenthalte individuell. Die Fellows sind intrinsisch motiviert: Der eine arbeitet vorrangig an einer Publikation, der andere knüpft hauptsächlich Kontakte aus seinem Fachgebiet oder möchte Möglichkeiten zur Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen prüfen. Die Fellows treffen hochrangige Entscheider, etwa Minister oder Regierungschefs, und engagieren sich in Veranstaltungen der Academy oder unserer Partner. Es ist gerade dieser Freiraum, den die Academy bietet, den unsere Fellows sehr schätzen. Uta-Micaela Dürig, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung (rechts) und Sandra Breka, Leiterin der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung und Leiterin der Robert Bosch Academy (links). Foto Robert Bosch Academy / Frauendorf Die Konflikte im Nahen Osten erschüttern Europa Zieht sich Amerika aus dem Nahen Osten zurück, wird sich Europa politisch neu ausrichten müssen. Gerade in Syrien gilt es vor allem das Konfliktgeflecht zu durchdringen. Von Soli Özel E s deutet vieles darauf hin, dass das Engagement Amerikas für Sicherheit und Ordnung im Nahen Osten schwinden wird und Europa mit diesem Schritt klarkommen muss. Daher war es schlichtweg eine Illusion, zu denken, dass die Krisen dort auf diese Region begrenzt bleiben oder stets von den Amerikanern gelöst werden würden. Das mussten die Europäer in diesem Sommer feststellen: Die Flüchtlingskrise ist das Ergebnis der strategischen Kurzsichtigkeit und Selbstgefälligkeit Europas, die nun die Europäische Union (EU) in ihren Grundfesten erschüttert. Ohne politische Parteien und Programme Die arabischen Umbrüche waren in der Tradition der europäischen Revolutionen ehrbare, soziale Bewegungen. Die Anstifter des Protests waren Zeitgenossen all derer, die auf der ganzen Welt protestieren. Aber anders als diejenigen, die auf die Straße gegangen sind und es geschafft haben, Regierungen oder Regime zu erschüttern, hatten die Demonstranten in den arabischen Ländern – hauptsächlich Republikaner – keine politischen Parteien, kein Programm und keine wirksame Führung, die ihnen den Rücken deckte. Ähnlich dem Schicksal aller historischen Revolutionen entwickelten sich konterrevolutionäre Dynamiken. In Ägypten startete ein Militärangehöriger einen Coup, um schließlich eine noch brutalere Diktatur einzuführen. Mit der bemerkenswerten Ausnahme Tunesiens sind in allen Ländern, in denen eine Revolte stattgefunden hat, die Kräfte der Veränderung verlorengegangen. In Libyen sind sogar einige europäische Länder und die Vereinigten Staaten dafür verantwortlich. Als hätten sie nichts gelernt aus den desaströsen Missgeschicken im Irak, brachten sie ein berüchtigtes Regime zu Fall, ohne Pläne für die Zeit danach zu machen. Das Ergebnis: Libyen hat keine nennenswerte Kontrolle mehr über seine eigenen Grenzen und Territorien. Dieses politische Totalversagen der Staaten trägt zu der Flüchtlingskrise in Europa bei. Im Jemen und in Syrien führten geopolitische Aspekte zu brutalen Bürgerkriegen und Interventionen anderer Staaten. In Syrien kann man sogar von einer Unterlassungssünde Europas sprechen. Die Tatsache, dass sich Russland und China im Libyen-Konflikt von westlichen Mächten fehlgeleitet fühlten, hat die Krise in Syrien schnell zu einem dreidimensionalen Konflikt verschärft. Dreidimensionaler Krieg Die erste Dimension ist der lokale Missstand einer Bevölkerung, die unter den verheerenden Auswirkungen von vier Jahren Dürre litt. Viele waren gezwungen, aus ländlichen Gebieten in die Städte zu flüchten. Zudem unterstand diese Bevölkerung einem gewalttätigen Regime. Die zweite Dimension betrifft die regionalen Machtdynamiken, die sich rund um Syrien entwickelten. Seit 1980 war Damaskus ein treuer Verbündeter der Islamischen Republik Iran. Infolge des Irak-Krieges wurde Iran die Vormacht in Bagdad, der Hauptstadt des ursprünglichen Rivalen und Stabilisators in der Region. Das entstandene Ungleichgewicht zugunsten Irans mobilisierte das saudische Regime und die Alliierten des Golfs gegen die schiitische Bevölkerung in Iran und darüber hinaus. Nach dem Irak-Krieg wurde im Nahen Osten der Kampf gegen das syrische Regime ein regionaler Stellvertreterkrieg zwischen Iran und SaudiArabien. Beide Seiten scheinen ihn bis zum bitteren Ende ausfechten zu wollen. Die dritte Dimension des syrischen Konflikts ist eine globale und hängt stark von der direkten Intervention Russlands an der Seite seines langfristigen Alliierten, des Assad- Regimes, ab. Diese Intervention kann entscheiden, ob Russland die Situation grundlegend bewältigen und kontrollieren kann oder nicht. Es ist offensichtlich, dass sich sogar China, die bislang außerhalb seiner Kom- Wie holen Sie die passenden Fellows nach Berlin? Breka: Wir suchen Personen, die sich in her ausragender Weise mit Zukunftsfragen beschäftigen. Von unseren Partnern erreichen uns viele Empfehlungen. Falls nötig, holen wir Gutachten ein und beraten uns mit Experten. Ein Richard von Weizsäcker Fellowship bekommt man nur durch Einladung. Zwischen Einladung und Fellowship vergeht oft ein Jahr, die Fellowships sind hochindividualisiert und an die Bedürfnisse des Fellows angepasst. Auch die Dauer der Fellowships variiert daher zwischen zwei und zwölf Monaten, einige Fellows kommen auch mehrmals für einen kürzeren Zeitraum. fortzone eher zurückhaltende Supermacht, zunehmend besorgt zeigt über die Entwicklungen in den Regionen. Von dort stammt ein Großteil der Energie für den chinesischen Bedarf. Die Abwesenheit europäischer Akteure in der sich neu bildenden Zusammenstellung würde Europa nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch in der globalen Politik auf eine zu vernachlässigende Rolle reduzieren. Der syrische Bürgerkrieg kann nur dann beendet werden, wenn er in allen drei Dimensionen bewältigt wird. In dieser Situation ist der Vorteil Europas die Fähigkeit, alle Parteien in einem Dialog zusammenbringen und als Inspiration für die Menschen aus Syrien dienen zu können. Überraschenderweise ebnet die Flüchtlingskrise auch neue Wege für die komatösen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Viele Flüchtlinge gelangen über die Türkei, wo die Behörden wenig Interesse daran haben, sie im Land zu behalten, nach Europa. Die europäischen Staatschefs bemühen sich über die Maßen, der Türkei entgegenzukommen – nicht aufgrund der Kopenhagener Grundsätze, sondern aus Zweckmäßigkeit. Dadurch werden alle Werte über Bord geworfen. Im Bereich der internationalen Beziehungen ist dieser zynische Pragmatismus zwar nicht neu, er wäre aber ein schlechter Begleiter für eine Politik mit dem aufstrebenden Nahen Osten. Verhandlungen mit der Türkei Die europäischen Staatschefs haben den Beginn der Beitrittsverhandlungen falsch eingeschätzt. Nun ist es schwer, mit einer Türkei zu agieren, die nicht mehr denselben Enthusiasmus hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft hat wie zuvor. Die Aufgabe ist es, sowohl die Führung der Türkei als auch die europäische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Flüchtlingskrise und insgesamt die geopolitische und damit einhergehende humanitäre Krise zum Wohle der Türkei und Europas eine europäische Türkei braucht. Soli Özel ist Professor für internationale Beziehungen an der Istanbuler Kadir-HasUniversität und Kolumnist bei der Tageszeitung „Habertürk“. Außerdem berät er die Turkish Industrialists’ and Businessmen’s Associa tion (TÜSIAD) in außenpolitischen Fragen. Soli Özel ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. Wie tauschen sich die Fellows vor Ort aus? Breka: Es sind bis zu zehn Fellows gleichzeitig in Berlin. Ihre Büros liegen neben einander, sie teilen sich eine Bibliothek und Küche. Damit sie sich nicht nur fachlich, sondern auch persönlich austauschen können, organisieren wir Community-Veranstaltungen. Dazu gehören wöchentliche Lunches und ein Kiezdinner, bei denen die Fellows verschiedene Viertel von Berlin kennenlernen. Bei der sogenannten Academy on Tour reisen sie gemeinsam durch Deutschland und lernen Orte und Themen kennen, die das Land aktuell bewe- gen – das kann der deutsche Mittelstand sein oder auch Auswirkungen der Flüchtlingskrise. Denn Deutschland im eigenen Fachgebiet und darüber hinaus besser kennenzulernen ist die verbindende Gemeinsamkeit der ausschließlich ausländischen Fellows. Dabei erweitern sie ihre und unsere Netzwerke, nehmen Wissen mit und geben ihres weiter. Dürig: Damit die Fellows über ihren Aufenthalt und fachliche Zusammenarbeit hinaus persönlich verbunden bleiben, richtete die Robert Bosch Stiftung am 10. und 11. November 2015 zum ersten Mal das Richard von Weizsäcker Forum zu Ehren des verstorbenen Bundespräsidenten und ehemaligen Kuratoriumsmitglieds der Stiftung aus. Die Konferenz brachte alle ehemaligen, aktuellen und auch zukünftige Richard von Weizsäcker Fellows nach Berlin. Es gab hochkarätige Gespräche über die aktuellen weltweiten Herausforderungen sowie mögliche Lösungsansätze. Woran messen Sie den Erfolg eines Austauschs? Breka: Unsere Fellows sind außerordentlich kritisch. Wenn die persönliche Rückmeldung ist: Meine Wahrnehmung hat sich geändert, ich konnte meine Annahmen prüfen, mein Wissen erweitern, ich konnte neue Perspektiven gewinnen, Kontakte aufbauen und empfinde den Aufenthalt als Mehrwert – dann war ein Fellowship erfolgreich. Viele Fellows entwickeln eine Affinität zu Deutschland, es entstehen persönliche Bindungen und langfristige Kooperationen. Sie kehren gerne zu uns zurück und sehen die Robert Bosch Academy als ständige Anlaufstelle. Dürig: Das Richard von Weizsäcker Fellowship ist keine Einbahnstraße: Es ist vor allem dann erfolgreich, wenn neue Verbindungen der Fellows zu Meinungsbildnern in Berlin, Deutschland und darüber hinaus geschaffen wurden – die teils Jahre halten und zu neuen Lösungsansätzen in unserer komplexen, vernetzten und dynamischen Zeit führen. Kooperation ohne Allianz Die globale Politik des 21. Jahrhunderts wird sich in Asien abspielen. Schon heute gibt es dort eine Vielzahl an Netzwerken, Partnerschaften und Organisationen. V o n F y o d o r Luk y a n o v A sien ist das Zentrum der globalen Politik des 21. Jahrhunderts. Daran besteht kein Zweifel. Zu Asien gehören zwei der weltweit größten und am schnellsten wachsenden Wirtschaften – China und Indien. Auch viele kleinere Länder wie beispielsweise Indonesien und Südkorea gehören zu den aufstrebenden Nationen. Drei Viertel des russischen Territoriums liegen ebenfalls in Asien. Diese Region wird auch für die Vereinigten Staaten zunehmend attraktiv. Hier haben sie den ersten wirtschaftlichen Megablock geschaffen – die transatlantische Partnerschaft, die als Prototyp für die zukünftige Struktur der Weltwirtschaft dient. Handel und Investment verlagern sich zunehmend auf die Region Asien – Pazifik, die Drehscheibe für verschiedene Handelsrouten ist. Der Wettbewerb zwischen China und den Vereinigten Staaten wächst, und auch ihre enge Verbindung kann die zunehmende geopolitische Rivalität nicht aufhalten. Harmonie in Asien Asien ist eine Region, in der neue globale Herrschaftsmodelle entstehen. Der Unterschied ist, dass es hier keine großen politischen oder ideologischen Allianzen gibt, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert bestanden. Viele Menschen im Westen sprechen über die zunehmende Harmonie zwischen Russland und China und spekulieren, dass diese beiden Nationen zu echten Alliierten werden könnten. Das wird jedoch aus einem einfachen Grund nicht eintreten. Sowohl Moskau als auch Peking schätzen ihre Handlungsfreiheiten mehr als alles andere. Sie sind nicht bereit, sich durch Verpflichtungen zu binden, die eine Einschränkung ihrer Frei- heit bedeuten würden. Russlands Stärke liegt in seinen politischen, diplomatischen und militärischen Fähigkeiten, China hat die weitaus stärkere Wirtschaft. Keine der beiden Nationen würden irgendeiner Form der Unterordnung zustimmen. Und dennoch sind sie aufeinander angewiesen und profitieren voneinander. Daher werden sie multidimensionale und nicht lineare Beziehungen pflegen, die keinen dazu zwingen, seine Möglichkeiten einzuschränken. Eine Annäherung ohne Fusion, eine Kooperation ohne Allianz, das ist das asia tische Modell des 21. Jahrhunderts. Die Länder in der Region haben keine Wahlmöglichkeit; sie können nicht einem Block beitreten und in Ruhe unter dem Schirm einer Supermacht leben, wie es im Kalten Krieg der Fall war. Um sich weiterzuentwickeln, brauchen sie alle Mächte: China, die Vereinigten Staaten, die Europäische Union, Russland, Iran, Saudi-Arabien und so weiter. Exzessive politische Unstimmigkeiten verursachen nur höhere wirtschaftliche Kosten, die wiederum die politischen Systeme gefährden. Dies birgt einen Teufelskreis und ruft eine neue Form der ContainmentPolitik auf den Plan. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Konflikte mehr geben wird. Sein Aufstieg verleiht China mehr Selbstvertrauen und nährt zugleich die Bedenken der Amerikaner. Wie jede Führungsmacht legen die Vereinigten Staaten keinen Wert auf potentielle Herausforderer und werden versuchen, diese unter Kontrolle zu bringen. Das wird China nicht tolerieren. Was die beiden Mächte davon abhält, ihre Beziehungen zu beenden, ist ihre gegenseitige Abhängigkeit und der enorme Schaden, der durch solch einen Bruch verursacht werden könnte. Das Abwägen zwischen Kooperation und Wettbewerb wird in den nächsten Jahren die neue Normalität darstellen. In dieser Situation beeinträchtigen Allianzen die Sicherheit, anstatt sie zu erhöhen. Vorsicht vor Ideologisierungen Es gibt einen Faktor, der zu einer ernsthaften Destabilisierung des gesamten Systems führen könnte. Der Versuch, Werte und Bewertungen in den Stoff der großen asiatischen Politik und Wirtschaft einzuweben. Asiatische Länder, und allen voran China, würden das nicht tun. Sie glauben fest an ihre eigene kulturelle Exklusivität und beharren darauf, dass andere Nationen schlichtweg nicht in der Lage sind, die asiatische Mentalität zu verstehen. Amerika glaubt ebenfalls an seine außerordentliche Stellung, aber auf eine andere Art: Die Vereinigten Staaten sind überzeugt, das Recht zu haben, anderen die eigene Erfahrung als die einzig „richtige“ verkaufen zu dürfen. Diese Logik gilt als effektives Instrument ihrer weltweiten Politik. In der Tat hat es in Europa funktioniert, im Nahen Osten ist es mehr als offensichtlich gescheitert. Würde dieses Instrument auf das neue Asien, insbesondere auf China, angewendet, könnte die Gegenreaktion ungeahnt stark und destruktiv ausfallen. Wenn es überhaupt irgendetwas gibt, was Russland und China dazu bringen könnte, eine Art der Allianz zu schaffen, sind es die Versuche der Vereinigten Staaten, die demokratische Erneuerung anzutreiben. Neue Organisationen In Asien wird eine Vielzahl von Organisa tionen entstehen, die bündnis- und bereichsübergreifend Verantwortung übernehmen. Dazu gehören etwa die BRICS-Entwicklungsbank, die chinesische – jedoch westlichen Staaten offenstehende – Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), die transatlantische Partnerschaft (TTIP unter amerikanischer Führung), die Freihandelsvereinbarung RCEP (unter der Regie Chinas), die Shanghaier Kooperation für Zusammenarbeit (eine chinesisch-russische Organisation), die Eurasische Wirtschaftsunion (russisch zentriert) und die verschiedenen Organisationen rund um den Verband der Südostasiatischen Nationen (ASEAN+) und der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC). Diese komplexen Wechselbeziehungen werden ein Netzwerk erschaffen, das die Region davon abhalten kann, in unübersichtliche Konflikte abzurutschen. Die größte Bedrohung für Asien besteht tatsächlich darin, das europäische Schicksal – mit endlosen Kriegen und Konfrontat ionen – zu wiederholen. Fyodor Lukyanov ist Chefredakteur der Zeitung „Russia in Global Affairs“ und Forschungsprofessor am HSE in Moskau. Er ist Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy. V4 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Anzeigensonderveröffentlichung / Die Welt im 21. Jahrhundert / 22. November 2015 Menschen, die die Welt bewegen JenS GyarMaty DaViD auSSerHOFer Kemal Derviş gilt als Vater des türkischen Aufschwungs. 2001 steht das Land am Bosporus vor der Staatspleite. Der Ökonom mit deutschen Wurzeln ist damals seit 24 Jahren bei der Weltbank, erst als Experte für den Mittleren Osten, später steigt er zum Vizepräsidenten auf. Er gilt als pragmatisch und kühler Denker, ausgebildet in London, promoviert in Princeton, ein gefragter Fachmann für das internationale Finanzgeschäft – kurzum genau der Richtige für den Weg aus der Krise. Derviş folgt dem Ruf seines Freundes und damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Seine Reformen sind hart, zeigen aber Wirkung. Er schließt marode Banken, sorgt für eine strenge Überwachung der verbleibenden. Er macht die türkische Zentralbank unabhängig und treibt die Privatisierung staatlicher Unternehmen voran. Dem Staatshaushalt verordnet er einen strengen Sparkurs. Schon 2002 beträgt das Wirtschaftswachstum wieder acht Prozent. In der Türkei schwärmen Geschäftsleute, Banker und Vorstände noch heute von seinen Ideen. Schon ein Jahr später zieht er sich aus der Politik zurück und wechselt wenig später zu den Vereinten Nationen. Als Direktor des Entwicklungsprogramms „UNDP“ kritisiert er öffentlich das Verhalten der Banken und warnt schon früh vor einer Finanzkrise. Heute ist er gefragter Experte in Sachen Ökonomie und Sozialpolitik. anne Glover sieht sich nicht als gescheitert. Dabei verliert sie vor einem Jahr ihren Posten als erste wissenschaftliche EU-Beraterin. Das Europarlament hat keine Verwendung mehr für die schottische Biologin. Einen Nachfolger gibt es nicht, trotz großer Proteste aus der Forschungsgemeinschaft. Dort genießt sie für ihre Idee von einer evidenzbasierten Politik hohes Ansehen. Doch von Anfang an: 2001 wird die Mikrobiologin Professorin an der Universität Aberdeen. Sie engagiert sich für die Forschungsförderung und steigt zur wissenschaftlichen Beraterin der schottischen Regierung auf. Glover will wissenschaftliche Erkenntnisse so aufbereiten, dass die Politik daraus Schlüsse ziehen kann. Mit Erfolg: Sie stößt Grundschulreformen an, modernisiert den Katastrophenschutz und fördert den Austausch zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Von den Erfolgen ist der damalige EU-Kommisionspräsident José Manuel Barroso beeindruckt und holt Glover 2012 nach Brüssel. Auch hier versucht sie den Entscheidungsträgern aktuelle Forschungsergebnisse als Entscheidungsgrundlage näherzubringen. Sie will Expertenkreise und transparente Berichte zu Themen wie Klimawandel oder Gentechnik schaffen. Am Ende scheitert zwar das Vorhaben, nicht aber die Idee, sagt Glover heute. Das Interesse an wissenschaftlicher Beratung sei in der Politik stark gestiegen. Die Biologin selbst lehrt inzwischen wieder in Aberdeen. tOBiaS BOHM Iveta radiČová hat für die Grundsätze der EU ihre politische Karriere aufgegeben. Im Juli 2010 wird sie die erste Ministerpräsidentin der Slowakei. Zuvor lehrt die Soziologin in Oxford und Bratislava und ist Arbeitsministerin. In der Politik gilt sie als besonnen und kompetent. Über die Landesgrenzen bekannt wird sie jedoch als „Madame No“. 2010 steht Griechenland erstmals vor dem Bankrott und ist auf Milliardenhilfen angewiesen. Nach zähen Verhandlungen stimmen alle EU-Mitgliedsländer für eine Rettung durch Notkredite, nur die Slowakei sagt nein. Den Anteil von 817 Millionen Euro will RadiČová nicht zahlen. Ihre Ablehnung begründet sie mit der Erfahrung ihres Landes nach dem eigenen Staatsbankrott vor über 25 Jahren. Damals halfen der Slowakei nur harte Reformen, diesen Weg favorisiert sie auch für Griechenland. Für diese Haltung wird sie als unsolidarisch angefeindet, doch sie bleibt hart. Dass RadiČová wirklich an die Europäische Solidarität glaubt, zeigt sie wenige Monate später mit einem folgenschweren Ja. 2011 soll der EFSF-Rettungsschirm erweitert werden. Aus Sicht der Soziologin geht es jetzt nicht mehr um einzelne Länder, sondern um das ganze Eurosystem. Die Mehrheit im slowakischen Parlament erkauft sie sich mit dem schweren Versprechen, ihr Amt 2012 nach Neuwahlen abzugeben. Heute lehrt sie als Gastprofessorin an Hochschulen überall auf der Welt und berät die Europäische Kommission als Expertin für Sozialpolitik. Denis Hayes ist der Architekt des Earth Day. 1970 kommt der USSenator Gaylord Nelson auf die Idee, einen Aktionstag für die Erde und den Umweltschutz ins Leben zu rufen. Sein damaliger Mitarbeiter Hayes macht aus der Idee ein Großereignis. Schon am 1. Earth Day nehmen weltweit über 20 Millionen Menschen teil. Im April dieses Jahres feiert der Tag seinen 45. Geburtstag. Inzwischen beteiligen sich Umweltorganisationen und Forschungsinstitutionen aus über 190 Ländern, und eine Milliarde Menschen nehmen teil. Diese Erfolgsgeschichte ist eng mit der Person Hayes verbunden. Doch auch abseits des Großereignisses ist der 71-Jährige ein umtriebiger Umweltaktivist und Verfechter erneuerbarer Energien. Für seine Arbeit bekam er im Laufe der Jahre zahlreiche Auszeichnungen, und das „Time Magazine“ bezeichnet ihn als „Hero of the Planet“. Während der Carter-Ära arbeitet er als Leiter eines nationalen Forschungsinstituts für Solarenergie und wechselt später nach Stanford, studiert spätberufen Rechtswissenschaften und wird Gastprofessor für Ingenieurwissenschaften und Humanbiologie. Als Vorstandsvorsitzender der Bullitt Foundation und Anwalt für Umweltrecht machte er sich für den Naturschutz und nachhaltiges Wirtschaften an der Nordwestküste der Vereinigten Staaten stark. Bis heute ist Hayes ein international gefragter Experte für Umwelt- und Solarthemen. luKÁŠ piaČeK Als Mirsad Purivatra und seine Mitstreiter das erste Sarajevo Filmfestival veranstalten, wird ihre Stadt seit Jahren belagert. Im Dauerbeschuss, ohne Strom und fließend Wasser verstecken sich die Menschen in ihren Kellern. In dieser ausweglosen Situation beschließt Purivata das kulturelle Leben der Stadt wiederzubeleben – als Kontrast zum Wahnsinn des Krieges. Er beginnt mit kleineren Ausstellungen und knüpft Kontakte zu ausländischen Intellektuellen. Von einer Hilfsorganisation bekommen die Aktivisten Videoprojektoren und eröffnen ein Kino. Schnell spricht sich das Keller-Kino herum, erst unter den Menschen vor Ort, dann unter Journalisten. Aus den Medien erfahren die Direktoren der Filmfestivals von Locarno und Edinburgh von der Idee und kommen auf eigene Gefahr. Spontan fasst man einen Entschluss – Sarajevo braucht ein Filmfestival. Noch im Krieg sollen die Filme auf einer richtigen Leinwand in einer ehemaligen Synagoge gezeigt werden. Mit Hilfe von internationalen Hilfsorganisationen werden Filmrollen in die Stadt „geschmuggelt“. Selbst Schauspieler und Regisseure kommen trotz Lebensgefahr zur Vorstellung ihrer eigenen Filme. Jeder Abend des Festivals ist ausverkauft. Ein Monat später endet offiziell die Belagerung, nicht aber die Geschichte des Festivals. Heute gilt es als wichtigster Schauplatz für den osteuropäischen Film und als ein Zeichen für die Völkerverständigung. DaViD Hiller Ob Umweltschutz oder Bankenkritik: Es gibt viele globale Herausforderungen, denen sich besonders engagierte Persönlichkeiten widmen. Wir stellen fünf Richard von Weizsäcker Fellows der Robert Bosch Academy, ihre Thesen und konkreten Lösungsansätze vor. Von Birk Grüling Wie die digitale Öffentlichkeit zum Segen werden kann Es ist ein großer Schritt von der Kaffeehauskultur des 18. Jahrhunderts zu einer Kultur der sozialen Medien. Das Ziel ist erstrebenswert: Eine aufgeklärte digitale Öffentlichkeit soll entstehen. Von JaMEs KonDo I m 18. Jahrhundert waren Salons in Frankreich, Kaffeehäuser in England und Tischgesellschaften in Deutschland der Ort, an dem Ideen ausgetauscht, öffentliche Meinungen gebildet und politische Handlungen ins Leben gerufen wurden. Mit anderen Worten, dort ist die Öffentlichkeit entstanden. Heute bildet die Ausweitung der sozialen Medien die Basis für eine digitale Öffentlichkeit. Die disruptive Macht der digitalen Öffentlichkeit wurde zum ersten Mal auf globaler Ebene wahrgenommen, als im Jahr 2010 der Arabische Frühling ausbrach. Bürger in Ländern wie Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrein, Syrien, Algerien, Irak, Jordanien, Marokko und Sudan protestierten auf den Straßen und zwangen manche ihrer Herrscher zum Rücktritt. Sie waren gewaltsamen Reaktionen von Behörden und regierungstreuen Gruppen ausgesetzt. Die sozialen Medien spielten hier eine zentrale Rolle und ermöglichten zuerst den Bürgern, dann allerdings auch den Behörden, zu kommunizieren, sich zu organisieren und Informationen mit der Welt auszutauschen. Kommunikation in Echtzeit Im März 2011 führten das Tohoku-Erdbeben in Japan, der dadurch ausgelöste Tsunami und die anschließende Atomkatastrophe zur Zerstörung der grundlegenden Infrastruktur in der dortigen Region. Da der Strom ausgefallen war, gab es keine Möglichkeit, sich über Radio oder Fernsehen zu informieren. Die Telefonleitungen waren überlastet. Aber das Internet funktionierte, und die sozialen Medien wurden so zu einer „Rettungsleine“, über die die Menschen mit ihrer Familie und Verwandten kommuni- zieren und aktuelle Meldungen in Echtzeit erhalten konnten. Diejenigen, die in Not waren, konnten identifiziert und gerettet werden. Viele Millionen Postings in den sozialen Medien – in Form von Bildern und Videos sowie in Die digitale Öffentlichkeit hat sich zu dem dominanten Forum für Bürger in Katastrophenzeiten entwickelt. Worten – lieferten Echtzeitdaten über das, was dort vor sich ging. Freiwillige klassifizierten „Hashtags“, um Diskussionen über Twitter zu ermöglichen, die für die Bürger von Belang waren. Die Regierung hatte keine Wahl, als auf diese öffentlichen Debatten zu reagieren. Seitdem hat sich die digitale Öffentlichkeit zu dem dominanten Forum für Bürger in Katastrophenzeiten entwickelt. Das konnte man auch bei den Aufständen in London 2011 und den Bombenanschlägen in Boston 2013 sehen. neues öffentliches Gut Der Arabische Frühling und das TohokuErdbeben in Japan sind Beispiele, die zeigen, wie Menschen durch eine extreme Steigerung der Kommunikationsgeschwindigkeit und Reichweite – mit Hilfe der sozialen Medien –, gesellschaftliche Veränderungen bewirken können. Während diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten für Individuen wichtig sind, wird ihre Kraft jedoch noch verstärkt, wenn die Daten auf gesellschaftlicher Ebene verbunden werden und ein neues öffentliches Gut entsteht: Öffentliche Daten. Wissenschaftler nutzen die öffentlichen Konversationen über soziale Medien, um die Ausbreitung von Krankheiten, wie beispielsweise von Lebensmittelvergiftungen oder der Grippe, zu prognostizieren, und auch als Frühwarnsignal vor einem neuen Aus- bruch. Eine an der Universität von Columbia durchgeführte Studie ergab, dass es schon drei Tage vor der öffentlichen Bekanntgabe des Krankheitsausbruchs mehr als tausend Tweets über Ebola gab. Die Beispiele, dass das Sammeln solcher Daten wertvoll ist, gehen weit über die Gesundheit hinaus und erstrecken sich etwa auf das öffentliche Transportwesen, auf Wettervorhersagen oder auch auf Notrufmöglichkeiten in Verbrechensfällen. Allein durch das öffentliche Teilen eines Status oder der Beteiligung an einer öffentlich geführten Kommunikation schaffen die Bürger unbewusst frei zugängliche Daten, die die Öffentlichkeit darüber informieren, worin sie gerade involviert sind. Zunehmend werden es nicht nur wir Bürger selbst sein, die diese Daten schaffen, sondern unsere Gegenstände, wie beispielsweise unsere Autos, Häuser oder Schuhe. Der Umfang dieser Daten, die Tatsache, dass sie in Echtzeit erstellt werden, und ihre Analyse stellen die Behörden vor ernste Herausforderungen. Sie sind mehr und mehr gezwungen, auf diese öffentlichen Daten zu reagieren. Wir stehen noch am Anfang und müssen zunächst verstehen, wie wir einen öffentlichen Raum aufrechterhalten können, in dem sich Individuen und Institutionen über gesellschaftliche Probleme austauschen können und in dem sie lernen und konstruktiv handeln können. Mit anderen Worten, wir müssen an einer digitalen Öffentlichkeit arbeiten, die Transformationen fördert, die weniger störend und spontan sind, dafür aber konstruktiv und systematisch. Digitale Öffentlichkeit noch jung So wie es mehrere Jahrzehnte dauerte, bis sich die Öffentlichkeit im Europa des 18. Jahrhunderts entwickelte, wird es viele Jahre dauern und zahlreicher Experimente bedürfen, bis die digitale Öffentlichkeit gereift ist. Ein wichtiger Unterschied zum 18. Jahrhundert sind die Fortschritte der Datenwissenschaft und des Human-Centered Designs, die dabei helfen, Lerneffekte und Feedback aus den Experimenten schneller umzusetzen. Die Schaffung einer aufgeklärten digitalen Öffentlichkeit ist für uns alle ein erstrebenswertes Ziel für das 21. Jahrhundert. James Kondo ist Vice President, Growth Operations, Twitter Inc. und Gastwissenschaftler am MIT Media Lab.
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