Was ist menschlich?

Was ist menschlich?
Eine Gegenüberstellung der Menschenbilder in Terézia Moras Erzählband
Seltsame Materie und Zsófia Báns Erzählband Als nur die Tiere lebten
Ein Essay von Jacqueline Thör
Bestiarium Humanum? Foto: Jacqueline Thör (CC BY-NC 3.0 DE)
Bestiarium Humanum
Der Friedensnobelpreis geht 2014 an die 17-jährige Malala Yousafzai, die sich in ihrem
Heimatland Pakistan für das Recht auf Bildung einsetzt und einen auf ihr Engagement
folgenden Mordanschlag der Taliban überlebte.
Die 22-jährige Studentin Tugce Albayrak wird vor einer McDonald's-Filiale in Offenbach zu Tode geprügelt, weil sie aus Zivilcourage zwei Mädchen helfen wollte, die von
einem jungen Mann belästigt wurden.
In Dresden gehen 15 000 Menschen für die Bewegung „Pegida“ auf die Straße und protestieren gegen eine angebliche Überfremdung des Landes.
Apple und Facebook übernehmen in den Vereinigten Staaten seit einigen Monaten die
Kosten für das Einfrieren von Eizellen, falls ihre weiblichen Mitarbeiterinnen sich dazu
entscheiden sollten, später Mutter zu werden, um sich noch ein Weilchen länger der
Karriere widmen zu können.
Wissenschaftler haben einen Aufsatz für Smartphones entwickelt, der dank BlutAnalyse in fünfzehn Minuten HIV und Syphilis erkennen soll.
Seit Menschengedenken versucht der Mensch Herr über die Natur und vor allem über
die eigene Natur zu werden. Der Bau der Titanic steht für den Versuch des Menschen,
sich die Natur zu Nutze zu machen und sie zu bezwingen. Doch das Schicksal dieser
technischen Errungenschaft hat gezeigt, dass die unberechenbare und gewaltige Natur,
die hier in Form des Eisbergs auftritt, stärker ist als der Mensch. Ein Jahrhundert nach
dem Unglück der Titanic, ein Jahrhundert voller neuer Errungenschaften und Eroberungen des Menschen, stellen wir uns noch immer die gleiche Frage: Wer hat die Macht –
die Natur oder der Mensch? „Wie wenn die Titanic mit dem Eisberg kollidiert, und, o
Wunder, nicht die Titanic, sondern der Eisberg untergeht.“ (Bán 2014: 46)
Hat der Mensch die Natur, einschließlich seiner Eigenen, mittlerweile – im gegenwärtigen Zeitalter der (Gen-)technik – tatsächlich in den Griff bekommen? Gleicht die
menschliche Natur inzwischen einem französischen Barockgarten oder kommt sie heute, in schwachen Momenten, noch immer einer ungezähmten Wildnis nahe?
Und was ist der Mensch denn jetzt eigentlich? Was ist menschlicher – das ‚tierhafte‘
Wesen des Menschen oder ein Verhalten, bei dem jeglicher Instinkt und jegliche Triebhaftigkeit unterdrückt werden? Wer ist mehr Mensch: Malala Yousafzai oder der Mann,
der Tugce Albayrak ins Koma schlug?
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Als nur die Tiere lebten und Seltsame Materie
Die Erzählbände Als nur die Tiere lebten von Zsófia Bán und Seltsame Materie von
Terézia Mora ähneln sich teilweise sowohl auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher
Ebene. Beide Erzählbände handeln von Emigration und Immigration. Die Figuren
kommen fast ausschließlich aus Ungarn und die Hauptfiguren sind meist Ungarinnen.
Beide Autorinnen, Zsófia Bán wie auch ihre Übersetzerin Terézia Mora, widmen sich in
ihren Erzählungen den Fragen, was der Mensch ist und wie man die Beschreibung
„menschlich“ eigentlich definieren kann.
Durch achronologische Handlungsabläufe, den Einbau von Analepsen und die Verwendung einer besonders bildhaften Sprache, welche außergewöhnliche und manchmal sogar absolute Metaphern miteinschließt, erschließen sich die Erzählungen nicht immer
auf den ersten Blick. Das „Moment der Rätselhaften“ (Schlicht 2009: 82) entsteht bei
den beiden Autorinnen „aus dem Spannungsverhältnis von Bekannten und Unbekannten“ (ebd.: 82). Durch die elliptische und fragmentarische Erzählweise und durch die
Verwirrung von Erinnertem und Erlebtem wirken Moras und Báns Erzählungen oft
sperrig und undurchsichtig. (Vgl. Stopka 2001: 156)
Sowohl die Erzählweise von Terézia Mora, die ein Studium an einer DrehbuchAkademie in Berlin absolvierte, als auch die Erzählweise von Zsófia Bán erinnern durch
„[h]arte Schnitte“ (Plath 2014: 1) und „gewagte Montagen“ (ebd.) mehrerer Erzählebenen an die Darstellungsweise eines avancierten Films.
Von beiden Autorinnen wird fast ausschließlich eine interne Fokalisierung als Erzählperspektive gewählt, denn das Innenleben der Figuren steht häufig im Vordergrund.
Wörtliche Rede wird in beiden Erzählbändern nicht in Anführungsstriche gesetzt, denn
eine autonome Rede wirkt mittelbarer: Manchmal ist es schwer, die Gedanken des Erzählers oder der Erzählerin und die Rede der Figuren zu unterscheiden. Darüber hinaus
werden viele Erzählungen durch Motive und wiederauftretende Figuren miteinander
verknüpft, wodurch das Gefühl entsteht, dass die Erzählungen in der Sammlung ein
harmonisches Ganzes bilden.
Doch wird in den beiden Erzählbänden auch ein ähnliches Bild vom Menschen gezeichnet? Im weiteren Verlauf meines Essays werde ich die beiden textinternen Konzepte von Menschlichkeit untersuchen und mich anhand beider Textwelten meiner Fragestellung annähern.
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Das Menschenbild in Terézia Moras Erzählband Seltsame Materie
Keine Spur von Menschlichkeit. Foto: Jacqueline Thör (CC BY-NC 3.0 DE)
Keine Spur von Menschlichkeit
Terézia Mora zeichnet in ihrem Erzählband Seltsame Materie ein relativ einseitiges und
eindeutiges Bild vom Menschen. Das Verhalten der Figuren ist eher ‚triebgesteuert‘, als
‚menschlich‘. „Besonders die Momente von erzählter Gewalt […] sind hierbei von Interesse, um der insgesamt negativen Bilanz, die Mora für die menschliche Existenz zieht,
nachzuspüren.“ (Schlicht 2009: 81)
Die Figuren stammen allesamt aus einem ungarischen Dorf, das unweit der Grenze Österreichs liegt, in dem die Zeit stehen geblieben und in dem kein Platz für Liebe, Familie und Freundschaft zu sein scheint. Dieser Gefühlsmangel kommt vor allem in dem
nüchternen und emotionslosen Erzählton der Erzähler und Erzählerinnen zum Ausdruck. (Vgl. Stopka 2001: 158) Insbesondere durch die lakonische, analytisch kalte,
unsentimentale, emphasen- und schnörkellose Erzählweise (Vgl. Schlicht 2009: 83 und
87), die Mora für ihren Erzählband gewählt hat, wirken die autodiegetischen Erzähler
und Erzählerinnen gemeinhin ‚unmenschlich‘ und gefühlskalt.
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Darüber hinaus legen die Figuren ein archaisches Verhalten an den Tag, das oft keine
Grenzen kennt, das sich jedoch aus dem soziokulturellen Kontext des ausweglosen und
isolierten Lebens an der Grenze erklärt: Sie sind gewalttätig, wahnsinnig, grausam, verlogen, feige, neidisch, lüstern und alkoholsüchtig. Dementsprechend handeln die Erzählungen unter anderem von Diebstahl, Unersättlichkeit, Egoismus, Inzucht und Mord. Es
geht zum Beispiel um einen Vater, der seiner Tochter die Haare anzündet (Seltsame
Materie), um Familien, die aus Spaß stehlen (Der See), um einen Mann, der seiner Frau
das Lachen aus dem Gesicht schlägt (Die Lücke) und um einen Schwiegersohn, der seinem Schwiegervater mit einem Hammer den Kopf einschlägt (Durst). Teilweise werden
die Figuren sogar noch triebgesteuerter dargestellt als die Tiere: „Ins Schloß rein, und
als erstes in die Ecke gekackt. Ein Hund hätte nur gepißt.“ (Mora 1999: 230) Hier hat
eindeutig die Natur die Macht über den Menschen und nicht der Mensch die Macht über
die Natur, denn die Kultur versagt.
Augenfällig ist, dass in den Erzählungen zudem fest umrissene Geschlechterbilder vorliegen. Dem Mann wird in den Erzählungen überwiegend eine aggressive, gewalttätige
Rolle zugeschrieben und die Frau ist meist das Opfer dieser männlichen Gewalt: Die
Väter misshandeln ihre Töchter (Seltsame Materie, Buffet), die Brüder werden handgreiflich gegenüber ihren Schwestern (Der See) und die Ehemänner gewalttätig gegenüber ihren Ehefrauen (Am dritten Tag sind die Köpfe dran. Langsam. Dann schnell ).
Von Grenzen und Außenseitern
Ein wiederkehrendes Motiv in dem Erzählband Seltsame Materie ist die Grenze. Wie
bereits erwähnt, wohnen die Figuren in einem Dorf in Ungarn, das direkt an der Grenze
zu Österreich liegt. Die Grenzsituation legt nahe, „die Geschichten zeitlich dem Kalten
Krieg zuzuordnen, d.h. das Dorf wäre dann ein ungarisches Dorf in den späten 70er
Jahren des 20. Jahrhunderts unter einem kommunistischen Regime, das alle Vitalität
und Lebensfreude aus den Menschen saugt und vor allem keinen Nährstoff für Humanität und Friedfertigkeit gibt“ (Schlicht 2009: 83). Es geht um Menschen, die über die
Grenze fliehen wollen, um Menschen, die andere über die Grenze schmuggeln, aber
auch um Menschen, die die Grenze hüten. Da die Ungaren die Grenze meist auf illegale
Weise überqueren, ist der Grenzübergang nicht nur ein Übergang von Ungarn zu Österreich, sondern meist auch ein Übergang zum Leben oder zum Tod. Entweder man
schafft es, in ein Land mit höherer Lebensqualität zu fliehen, oder man wird von den
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Grenzhütern gefasst: „Wenn ich bleibe, schlagen sie mich, wenn ich laufe, töten sie
mich. Was, lieber Gott, soll ich nur tun. Wenn ich bleibe, fangen sie mich, wenn ich
laufe, töten sie mich.“ (Mora 1999: 147)
Doch nicht nur die räumliche Grenze zwischen Ungarn und Österreich bestimmt die
Handlung der Erzählungen. Es werden auch Grenzen in der Gesellschaft sowie ‚moralische‘ und ‚geistige‘ Grenzen im Menschen thematisiert.
Die Erzählungen handeln zum einen von Figuren, die am Rande der Gesellschaft stehen. Vor allem die autodiegetischen Erzähler und Erzählerinnen werden als ‚Außenseiter‘ und oft auch als Opfer ihrer Lebensumstände beschrieben. Die Biographie von
Terézia Mora „hat ihr das Thema quasi in die Wiege gelegt, da sie einer deutschungarischen Familie entstammt, die es im Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg schon
deshalb nicht leicht hatte, weil sie die Sprache der Feinde, der Faschisten, sprach“
(Schlicht 2006: 53-54). Die Erzählung Seltsame Materie handelt von Geschwistern, die
aufgrund ihrer Herkunft und ihres Dialekts gemieden werden. Manchmal kommt es den
beiden deshalb so vor, als wären sie „unsichtbar“ (Mora 1999: 13). Der Protagonist aus
Die Lücke wird aufgrund seiner Familie ausgegrenzt, die Protagonistin aus Buffet wird
aufgrund ihres Geschlechts und ihres Aussehens schikaniert und auch die Protagonistin
aus Der Fall Ophelia wird aufgrund der Herkunft ihrer Familie gehänselt. „[M]al sind
es blaue Augen und blonde Haare, mal der Akzent, mal der Sinn für andere Lebensarten, dann wiederum werden Zigeunerklischees eingesetzt, um Ressentiments und Ausgrenzung darzustellen.“ (Schlicht 2009: 89)
Zum anderen handeln die Erzählungen von Figuren, die ‚moralische‘ und ‚geistige‘
Grenzen überschreiten und deren Verhalten man deswegen als ‚unmenschlich‘ oder
‚unnormal‘ beschreiben kann. ‚Verrücktheit‘ gilt in den Dörfern als „Volkskrankheit,
wie früher die Tbc“ (Mora 1999: 105). Ein Beispiel für eine Figur, die am Rande des
Wahnsinns steht und letztlich ‚ver-rückt‘ wird, ist die Mutter des autodiegetischen Erzählers in Die Lücke: „Noch ist Zeit wegzulaufen, denkt sie, aber da wird sie aufgerufen, also erzählt sie, hundertmal stockend, daß sie seit acht Wochen ununterbrochen
weinen muß, ohne Grund, nur aus Angst, verrückt zu werden. Mein Leben lang. Immer
am Rande von etwas. Wovor ich mich fürchte.“ (Mora 1999: 85) Nachdem die Figur
eine ‚geistige‘ Grenze überschritten hat, verliert sie die Kontrolle über ‚Geist‘ und
‚Körper‘ und endet im schlimmsten Fall in ihrer „eigenen Scheiße“ (Mora 1999: 87).
Da solch ein Dasein am Ende fast nichts mehr ‚Menschliches‘ an sich hat, sieht die
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Mutter des Protagonisten sich selbst als die „Vergeudung der Schöpfung“ (Mora 1999:
100).
Die Menschen, die leicht ‚überschwappen‘, werden in der Erzählung Die Lücke „die
Uferlosen“ (Mora 1999: 92) genannt. Die Protagonisten der Erzählungen kommen aus
‚entmenschten‘ Familienverhältnissen: Entweder ihre Eltern vernachlässigen und misshandeln sie oder ihre Familie ist gänzlich abwesend. Folglich haben die Protagonisten
keinen familiären Halt, man kann ihren Zustand also als ‚uferlos‘ beschreiben. Die Figuren sind Opfer von Armut und Gewalt. Es lässt sich eine Kettenreaktion beobachten:
Aus Einsamkeit entsteht Verrücktheit, aus Gewalt entsteht Gewalt. Auch wenn die Protagonisten versuchen der Gewalt zu entfliehen, kommen sie doch immer wieder bei ihr
an, wie zum Beispiel der Erzähler aus Die Lücke, welcher versucht, der Gewalt in seiner
Familie den Rücken zuzukehren, aber „sich mit seinem Boxertraum wiederum ein Feld
von Gewalt“ (Schlicht 2009: 89) sucht. „Es ist ein existentialistisches Menschenbild,
das Mora in ihrem Werk ausmalt: Der Mensch ist geworfen in die Welt und sich selbst
überantwortet. Der Aufgabe, den eigenen Lebensentwurf zu entwickeln und diesen auch
zu verantworten, ist der Mensch aber nicht gewachsen.“ (Schlicht 2009: 80)
Dass das ‚entmenschte‘ oder ‚verrückte‘ Verhalten der Figuren den Umständen geschuldet ist, unter denen die Figuren in ihrer Kindheit und Jugend leiden mussten, verdeutlicht auch das Ende der letzten Erzählung in dem Erzählband, mit welcher sich der
Erzählkreis, durch das Auftreten der Protagonistin aus der ersten Erzählung (Seltsame
Materie), schließt (vgl. Schlicht 2009: 83): Die Protagonistin aus Ein Schloss ist mit
fünfzehn Jahren von zuhause weggelaufen, denn um sie herum „war alles Gewalt“ (Mora 1999: 246). Ihre Mutter meinte, sie werde auch nur wie ihr Vater, „feige, asozial“
(Mora 1999: 245). Am Ende der Erzählung wird die Protagonistin dann tatsächlich zu
einer erbarmungslosen Mörderin: „Er klatscht aufs Parkett wie eine Melone. Die Leiter
liegt unter seinem Nacken, sein Kehlkopf stülpt sich vor. Der gerissene Hals eines Vogels. Er trägt meinen Paß in der Tasche am steifen Bein. Er hätte ihn mir geben sollen.“
(Mora 1999: 249) Die Protagonistin handelt letztlich egoistisch, denn das Entkommen
aus der Enge des Dorfes ist ihr wichtiger als alles andere. (Vgl. Schlicht 2009: 85)
Natur versus Mensch
In den Erzählungen von Terézia Mora hat die Natur die Überhand über den Menschen
und nicht der Mensch die Überhand über die Natur. Das liegt auch daran, dass das Dorf,
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in dem die Figuren leben, von Natur umgeben ist und dass die Dorfbewohner zu großen
Teilen noch Bauern und Fischer sind, deren Leben von der Natur abhängt:
Und dann warten sie auf den Regen, der nicht kommt. Und als er schließlich
kommt, kommt er nicht von oben, worauf man sich verläßt. Er kommt von unten
wieder. Das Wasser kommt wieder und saugt alles zurück: die Schlammparzellen, die unaufgegangenen Samen, die Panzer und die Skelette. (Mora 1999: 61)
Die Figuren sind „ihrem eigenen Stoffwechsel und besonders dem Klima ausgesetzt,
welches als elementare Urkraft an den Menschen rüttelt; vor allem das Element Wasser
sticht hier hervor. Ständig regnet es, der See tritt über die Ufer, der Boden versumpft“
(Schlicht 2009: 84). Die Dorfbewohner sind sich darüber bewusst, dass die Natur über
ihre Nahrung, ihren Lebensraum, über ihr Leben und über ihren Tod bestimmt. Früher
hat die Familie aus Der See sich noch auf einen Kampf mit der Natur eingelassen, die
Schlangen und Frösche auf ihrem Hof haben sie zum Beispiel getötet. Mittlerweile haben sie es aufgegeben, sich gegen die Natur zu wehren. Nun passen sie sich ihr an: „Wir
setzten die kleinen Feuerbauchfrösche auf unsere Handrücken, wickeln Wasserschlangen um unser Handgelenk, spielen ägyptisch, aber wir töten sie nicht mehr.“ (Mora
1999: 66) Die Natur bestimmt nun das Leben der Familie: „Unsere Scheune, kaum betretbar, ist von Schwalben bevölkert, und wenn die Schwalben fort sind, ziehen die Spatzen ein, die Igel, die Iltisse, die Wasserratten, die winzigen rosa Gartenschnecken und
die Wespen, und unsere Mutter bekommt jedes zweite Jahr ein neues Kind.“ (Mora
1999: 67)
Auch in der Erzählung Buffet sind die Protagonisten – die autodiegetische Erzählerin
und ihr Bruder – abhängig von der Natur, denn sie arbeiten in dem Nationalpark, der in
der Nähe ihres Heimatdorfes liegt. Das Geschäft des Nationalparks ist wie die Arbeit
der Bauern vom Wetter abhängig: „Seit letztem Wochenende, seit mein Priesterbruder
geheiratet und der Regen aufgehört hat, kommen plötzlich wieder Gäste.“ (Mora 1999:
169) Des Weiteren wird die Macht und die Unberechenbarkeit der Natur durch eine
Binnengeschichte in der Erzählung veranschaulicht: Es wird von einem Mann erzählt,
der sich bei einem Auslandsaufenthalt einen tödlichen Wurm eingefangen hat. Nach
und nach frisst der Wurm sich durch seinen Körper, ohne dass er es bemerkt. Darüber
hinaus werden im Kino des Dorfes lediglich Filme über Naturkatastrophen gezeigt, in
denen die Gewalt der Natur explizit zum Ausdruck kommt: „Gelbe Lava kriecht über
Steine. Der Exrocker zeigt wieder einen Vulkanausbruch.“ (Mora 1999: 173)
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Materialität, Körperlichkeit und Verfall
Zu dem Titel des Erzählbands – Seltsame Materie – passt das Motiv der Materialität,
welches sich wie ein roter Faden durch den Erzählband zieht. Des Öfteren werden in
den Erzählungen Stoffe und chemische Elemente benannt und aufgezählt wie zum Beispiel „Hypochlorit“ (Mora 1999: 76) und „Chlortropfen“ (ebd.: 88) in Die Lücke,
„Schwefel, Chlor, Salz, Kohlensäure“ (ebd.: 115), „Wasserstoff“ (ebd.) und „Quecksilber“ (ebd.: 126) in Der Fall Ophelia und ein Teil des Periodensystems in der Erzählung
Seltsame Materie: „Ha-He-Li-Be-Be-Ce-NeO-Fe-Ne“ (ebd.: 11). Die Aufzählung von
Elementen und Stoffen soll den Leser auf die Materialität der Welt hinweisen. Alles,
was wir durch unsere Sinne wahrnehmen oder auch nicht wahrnehmen, setzt sich aus
kleinen Teilchen zusammen. Unsere ganze Umwelt scheint naturwissenschaftlich erklärbar, unsere ganze Umwelt ist ein Zusammenspiel von chemischen Reaktionen.
Diese ‚Materialität‘ lässt sich auch am Menschen festmachen: Immer wieder wird in
den Erzählungen auf die Körperlichkeit des Menschen hingewiesen. Auf die Körperlichkeit, aus der sich die „seltsame Materie“ des Menschen zusammensetzt. Diese Körperlichkeit wird vor allem durch die Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen des Menschen verbildlicht. Augenfällig oft wird auf jene verwiesen: „Blut“ (Mora 1999: 59),
„Tränen“ (ebd.: 84), „Scheiße“ (ebd.: 87), Rotze (vgl. ebd.: 94), Kotze (vgl. ebd.: 104),
„Urin“ (ebd.: 107), „Schweiß“ (ebd.), „Galle“ (ebd.: 151), „Speichel“ (ebd.: 206).
Meist ist dem Menschen seine eigene Körperlichkeit gar nicht bewusst. Die Körperflüssigkeiten erinnern den Menschen jedoch an die Stoffe und Elemente, aus denen sein
Wesen besteht, und an die chemischen Reaktionen, welche kontinuierlich in seinem
Körper stattfinden. „Seine Wangen haben eine blutig-blaue Farbe, als hätte man ihm
einige Schichten seiner Haut aus dem Gesicht geschält.“ (Mora 1999: 210)
Eng an das Motiv der Körperlichkeit des Menschen knüpft sich auch das Motiv des
Verfalls. Das Motiv des Verfalls belegt in dem Erzählband ein weiteres Mal die Macht
der Natur über den Menschen. „Menschen fallen auseinander. Frührente hin oder her.“
(Mora 1999: 173) Die Figuren in dem Erzählband Seltsame Materie leiden unter anderem unter hohlen, fehlenden oder verfaulten Zähnen (vgl. Mora 1999: 207), „weißgelbe[n] Schuppenreste[n]“ (ebd.: 198) und gerissenen Gallen. Das Zahnmotiv ist ein gängiges naturalistisches Motiv in der Literatur: Es wurde zum Beispiel bereits in Thomas
Manns Buddenbrooks dazu verwendet, den Verfall eines Familienmitglieds anzukündigen. Hinzuzufügen ist, dass auch die bereits erwähnten Körperflüssigkeiten mit ‚Ver8
fall‘ konnotiert werden können: Das Blut ist unter anderem ein Symbol „der Gewalt und
des Sterbens“ (Butzer 2012: 59) und Urin kann unter anderem als Symbol der Krankheit, des Elends und des Alters auftreten. (Vgl. Butzer 2012: 458) Vor allem die körperlichen Abhängigkeiten des Menschen, wie zum Beispiel die Alkoholsucht, beschleunigen den Verfall des Körpers (Durst). Der Alkoholismus, der ein zentrales Motiv in den
Erzählungen bildet, bestimmt in eigentlich allen Geschichten das Leben der Figuren
(Vgl. Schlicht 2009: 90). Es gibt nichts, was die Menschen gegen die Degeneration und
den Verfall ihres Körpers tun können – auch nicht „die Zeit anhalten, den Sandfluß in
der Uhr“ (Mora 1999: 198).
In den Erzählungen von Terézia Mora wird eine eindeutige Position zum Leib-SeeleProblem des Menschen eingenommen. Die Natur hat die Überhand über den Menschen,
ergo handelt der Mensch mehr nach seinen Trieben, als nach seinem Verstand. Folglich
bestimmt der ‚Körper‘ und nicht der ‚Geist‘ den Menschen. Diese Machtposition von
‚Natur‘ und ‚Körper‘ wird durch das Motiv der Materialität und durch die damit zusammenhängenden Motive der Körperlichkeit und des Verfalls verdeutlicht.
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Das Menschenbild in Zsófia Báns Erzählband Als nur die Tiere lebten
Das bilaterale Menschenbild in Als nur die Tiere lebten. Foto: Jacqueline Thör (CC BY-NC 3.0 DE)
Tiermetaphorik
Fast jede der Erzählungen aus Als nur die Tiere lebten entwirft ein Welt- und Menschenbild, das sich aus Metaphern und Vergleichen aus dem Bildbereich der Tierwelt
zusammensetzt. Diese bildlichen Umschreibungen kann man in summa unterschiedlichen Kategorien zuordnen.
Die meisten Tier-Metaphern dienen in den Erzählungen dazu, eine Ähnlichkeit zwischen der ‚menschlichen‘ und der ‚tierischen‘ Gestik und Mimik sowie zwischen dem
‚menschlichen‘ und dem ‚tierhaften‘ Verhalten zu verdeutlichen. Auffällig ist, dass das
Verhalten, die Gestik oder die Mimik des Menschen hier durch die Tiermetaphorik
überwiegend eine negative Konnotation erhält.
In der Erzählung Das Museum der Dinge heißt es zum Beispiel: „Ich sah, er würde
nicht von mir ablassen, wie ein Pitbull mit Maulsperre wird er so lange an mir zerren,
bis ich mich endlich mit ihm unterhielt.“ (Bán 2014: 76) Bereits Shakespeare benutzte
die Metapher des „knurrenden, zähnefletschenden Hundes für die Bösartigkeit einzelner
Figuren“ (Daemmrich 1995: 344)
in seinen Dramen Julius Caesar und Timon of
Athens. Die namenslose, autodiegetische Erzählerin in Das Museum der Dinge ist ge10
nervt von ihrem Sitznachbarn im Flugzeug, der ihr unbedingt seine ganze Lebensgeschichte aufdrücken möchte. Der Vergleich zu einem Pitbull mit Maulsperre verdeutlicht die Hartnäckigkeit und Durchsetzungsfähigkeit ihres Sitznachbarn, denn der Pitbull gilt als ein Hund mit besonders ausgeprägtem Kampfwille – er wurde ursprünglich
speziell für Hundekämpfe gezüchtet. Die rassentypische Eigenschaft des Pitbulls ist es,
sich an seiner Beute festzubeißen und nicht mehr loszulassen. Durch diese Kiefersperre
endet ein Angriff des Pitbulls für seine Beute meist tödlich. Der Vergleich veranschaulicht, dass die autodiegetische Erzählerin keine Chance gegen ihren Sitznachbarn hat,
dessen Zähigkeit und aggressive Vorgehensweise ihr zuwider ist: Sie muss seinem Begehren nach einem Gespräch nachkommen.
In Ein Abend ohne Erika beklagt Maja, dass ihre Mutter „ein undurchdringliches Netz
um sich gewoben“ (Bán 2014: 47) habe. Hier stellt die Protagonistin implizit eine Ähnlichkeit zwischen dem Verhalten ihrer Mutter und dem Verhalten einer Spinne her. Jedoch dient das Verhalten jeweils einem anderen Zweck: Majas Mutter benutzt das
selbstgewobene Netz nicht dazu, um ihre Nahrung einzufangen, sondern um sich vom
Rest der Welt, einschließlich ihrer eigenen Tochter, abzuschotten. Die Spinne tritt in der
Literatur, aufgrund der Feinheit des von ihr produzierten Gewebes auch als Symbol der
‚Kunstfertigkeit‘ auf (vgl. Butzer 2012: 417): Die Mutter scheint bei ihrer Abschottung
also ziemlich versiert vorzugehen. Maja leidet darunter, dass ihre Mutter ihr nichts erzählt, sie nicht an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben lässt. Die Metapher des um
sich gewobenen Netzes verbildlicht die intendierte Unerreichbarkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Mutter. Des Weiteren deutet die Metapher auf eine Autoaggression
der Mutter hin, denn sie macht sich durch ihre eigene Verpuppung selbst zur Beute beziehungsweise zum Opfer. Der „Kokon“, den sie durch ihr eigenes Netz hergestellt hat,
ist ein Ausdruck ihrer Gewalt gegen sich selbst.
Darüber hinaus werden auch einzelne Körperteile des Menschen mit Tieren oder mit
Körperteilen von Tieren verglichen. In Fleisch wird beispielweise eine Analogie zwischen der Hand des Mädchens und einer Amsel hergestellt: „Wegen des Größenunterschiedes zwischen den beiden Händen sah es so aus, als hätte sich eine Amsel auf seine
Hand gesetzt.“ (Bán 2014: 92) Hier untermalt die bildliche Umschreibung die zartgliedrige, zerbrechliche äußerliche Erscheinung des Mädchens, welche im Kontrast zu der
robusten äußeren Erscheinung des Mannes steht. In diesem Fall ist das Bild der Amsel
besonders aussagekräftig, da die äußeren Erscheinungsbilder des Mädchens und des
Mannes auch die Charakterwesen der beiden Figuren spiegeln: Der robust gebaute
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Mann verkörpert hier das Stereotyp des starken, unabhängigen (und handgreiflichen)
Mannes und das feingliedrige Mädchen verkörpert das gegensätzliche Stereotyp der
schwachen, abhängigen und zerbrechlichen, jungen Frau.
Des Weiteren werden, anhand von Metaphern, innere oder äußere Zustände des Menschen in Verbindung mit der Tierwelt gebracht. In der Erzählung Imaginäres Eden empfindet die Protagonistin sowohl ihren Lebensraum, als auch ihren seelischen Zustand als
‚wild‘ und durcheinander: „Außen Dschungel, innen Dschungel.“ (Bán 2014: 133)
Dass auch die Außenwelt, der Lebensraum der Menschen, der eng mit der in ihr lebenden Gesellschaft verknüpft ist, durch Tiermetaphern verbildlicht wird, ist kein seltenes
rhetorisches Mittel in den Erzählungen:
[D]ie Stadt hatte wirklich alles getan, um sie aufzunehmen, mit ihrem pulsierenden, starken Körper umrankte und umarmte sie K.s moribunden, welkenden
Körper immer und immerzu, wie eine großgewachsene Kobra, eine Jibóia, eine
gewöhnliche Boa constrictor oder an fröhlicheren Tagen eine bunte, regenbogenfarbene Boa, sie drückte schön langsam die Luft aus hier heraus. (Bán 2014:
111)
In Gift wirkt die zweitgrößte Stadt Brasiliens, Rio de Janeiro, auf die Protagonistin Katalin Karády wie eine Schlange, die ihren Körper würgt. Die Figur Katalin Karády wanderte 1953 von Ungarn nach Brasilien aus und hat es nach vielen Jahren noch immer
nicht geschafft, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich in Brasilien zuhause
zu fühlen. Es ist also nachvollziehbar, dass die Großstadt keine positiven Assoziationen
in ihr weckt. Außerdem weist der Vergleich mit Gift- und Würgeschlangen auf die
schlechte, eventuell sogar verpestete, und stickige Luft, auf das tropische Klima, auf die
hohe Bevölkerungsdichte sowie auf das bunte Erscheinungsbild der Großstadt hin, in
der einem das Atmen schwerer fallen kann, als in Europa. Die Schlange ist unter anderem das Symbol des Todes und der Zerstörung (vgl. Butzer 2012: 373): In diesem Fall
steht sie für die krankmachende Wirkung Rio de Janeiros.
Es gibt aber auch Bilder und Vergleiche in den Erzählungen, die keine Analogie zwischen dem Lebensraum beziehungsweise der Gesellschaft der Menschen und dem Tierreich ziehen, sondern implizieren, dass die Gesellschaft einzelne Menschen wie Tiere
behandelt oder sie sogar zu Tieren macht. In Armani und die Liebe gehen der Protagonistin Margó zufolge die Landesregierung und die Gesellschaft von Ungarn mit Seniorenheimbewohnern um wie mit Tieren: „Sie brüllte in den Hausflur, Scholiiiiiiie, woraufhin alle erschrocken die Köpfe aus ihren Höhlen steckten, das ist auch so lächerlich,
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dachte sie, sie sind wie die Exemplare im Zoo, alle sitzen in ihren Käfigen herum und
kommen nur zur Fütterung hervor.“ (Bán 2014: 23) Die Senioren wohnen in kleinen,
aneinandergereihten Wohnungen mit wenig Privatsphäre, werden vom Personal gepflegt und versorgt und müssen sich an die Vorschriften des Heims halten. Diese Behandlung erinnert Margó an die Behandlung von Tieren im Zoo und bewirkt ihrer Meinung nach, dass sich die Seniorenbewohner letztlich auch so aufführen wie Zootiere:
Sie akzeptieren ihre eingeschränkte Freiheit ohne Widerstand, schotten sich von der
Außenwelt ab und leben bis zum Ende ihres Lebens nur noch so vor sich hin.
In der Erzählung Las Meninas wird der Protagonistin Magarita von ihrem Vater verboten, zu ihrer Kommunion zu gehen: „aus seinem Kind werde niemand einen Zirkusaffen
machen, kommt nicht in die Tüte, ein so kluges Kind wie die Magarita muss lernen,
seinen Verstand zu schärfen, und er werde nicht zulassen, dass man sie mit diesem
Blödsinn abfüttere.“ (Bán 2014: 100) Das gesellschaftliche Produkt ‚Religion‘ mache
Magaritas Vater zufolge den Menschen zum Zirkusaffen. Die Metapher verbildlicht die
Meinung des Vaters, dass die Religion den Menschen geistig abstumpfe. Seine Aussage
impliziert, dass Gläubige nur unreflektiert das nachahmen würden, was man ihnen vorgibt. Interessant ist vor allem, dass der Mensch durch den Glauben nicht nur zu einem
Affen, sondern zu einem Zirkusaffen werde. Denn diese bildliche Umschreibung impliziert einerseits, dass es sich bei der Religion generell um einen Zirkus, also „um falschen Glanz, Schein und Illusion“ (Butzer 2012: 499) handle, und andererseits, dass die
Drahtzieher der Religion die gläubigen Menschen dressieren, instrumentalisieren und
für ihre Zwecke ausnutzen würden.
Die Tiermetaphorik findet in Wir rennen in die Revolution, in der Erzählung, in der drei
bereits in vorangegangenen Erzählungen vorgekommene Figuren zusammenkommen,
ihren Höhepunkt in einer Fabel: „Der Bär liebte es, seinen Himbeerlikör zu trinken, er
saß immer in derselben Box, eng an das Reh geschmiegt; der Wolf spielte Tag für Tag
Billard mit den Lämmern, versprühte seine schlüpfrigen Anekdoten, und die Lämmer
hörten ihm, sich an ihrem Queue festklammernd, ehrfurchtsvoll zu […].“ (Bán 2014:
180) In der Fabel, die als Binnenerzählung in die Rahmenhandlung integriert wurde,
dreht sich die Ausrichtung der Tiermetaphorik um 180 Grad und verkehrt sich ins Ironische: Hier nehmen nämlich die Tiere das lasterhafte Verhalten der Menschen, wie zum
Beispiel den Alkoholismus, an. Interessant ist, dass hier – gemäß Báns Menschen- und
Weltbild – die Unschuldigen mit den Übeltätern beisammen sitzen. Der Wolf steht in
der Fabel vielfach auch für das sprichwörtlich Böse (lupus in fabula) (vgl. Butzer 2012:
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487) und die Lämmer, die nicht nur ein Symbol für Unschuld, sondern auch ein Symbol
für Dummheit, Schwäche und Wehrlosigkeit sein können (vgl. ebd.: 239), hören ihm
ehrfurchtsvoll zu. Hier wird bildlich dargestellt, wie leicht die Menschen vom Bösen
verführt werden können.
In Als nur die Tiere lebten werden Menschen zu Tieren und Tieren zu Menschen. Durch
die in den Erzählungen verwendete Tiermetaphorik wird die Ähnlichkeit zwischen
Mensch und Tier verdeutlicht. In den meisten Fällen dienen die Metaphern und Vergleiche dazu, das Verhalten, den Zustand, die Gestik und Mimik des Menschen, seinen Lebensraum oder die gesamte menschliche Gesellschaft negativ darzustellen beziehungsweise zu kritisieren.
Immer wieder wurde in der Literatur die Frage nach dem Verhältnis zwischen Menschlichkeit und Tierhaftigkeit gestellt: „Das Spiel mit Tiergleichnissen setzt früh ein und ist
bereits im Mittelalter fest verankert.“ (Daemmrich 1995: 343) Die Tiermetaphorik, welche die Nähe zwischen Mensch und Tier verbildlicht, findet sich zuhauf in der Literatur.
So bei Autoren wie William Shakespeare (Julius Caesar), Georg Büchner (Woyzeck)
und Franz Kafka (Die Verwandlung). Im Woyzeck zieht sich die Tiermetaphorik zum
Beispiel, ähnlich wie in Als nur die Tiere lebten, wie ein roter Faden durch das Werk.
Ebenso wie in Als nur die Tiere lebten bricht in dem Dramenfragment „Untermenschliches in die menschliche Sphäre ein: Tierisches, animalische Triebhaftigkeit“ (Martens
1957/58: 15).
Auch hier geht es aber nicht nur um die ‚Vertiertheit‘ des Menschen, sondern auch darum, dass der Mensch von seinen Mitmenschen zu einer Art ‚Tier‘ erniedrigt wird
(Woyzeck vom Hauptmann und Doktor). Somit dient die Tiermetaphorik sowohl im
Woyzeck, als auch in Als nur die Tiere lebten einer Kritik an der Gesellschaft. Außerdem wird auch hier der ‚Vertiertheit‘ des Menschen die Vermenschlichung des Tiers
(durch Marktschreier und Dressurkünstler) auf ironische Weise entgegengesetzt. (Vgl.
Martens 1957/58: 16) Man könnte meinen, dass Woyzeck dem Erzählband von Bán als
literarische Vorlage diente, denn ebenso wie im Woyzeck wird hier schonungslos die
Frage nach der Humanität des Menschen gestellt und auch Bán sieht wie Büchner hinter
der tierhaften Entstelltheit, hinter der dämonisch-pathologischen Verzerrtheit des
menschlichen Anlitzes, noch immer das Menschliche. (Vgl. Martens 1957/58: 20)
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Tierhaftigkeit versus Menschlichkeit
Wie man schon an der Analyse der Tiermetaphorik erkennen konnte, zieht sich das Motiv des trieb- beziehungsweise tierhaften Verhaltens durch den ganzen Erzählband Báns.
Die Trieb- und Tierhaftigkeit der Figuren umfasst Rivalität, Überlebenswille, Kriminalität und Gewalttätigkeit, Seitensprünge, Ehebrüche und sexuellen Missbrauch sowie
Sinnlichkeit, Lasterhaftigkeit und Egoismus. Allerdings setzt sich die Autorin in ihren
Erzählungen auch mit Themen und Inhalten auseinander, die man in erster Linie mit
Menschlichkeit assoziiert, wie zum Beispiel Liebe, Freundschaft, Familie, Mitgefühl,
Fürsorge, Trauer und Intelligenz. Die Autorin spielt nicht nur innerhalb des ganzen Erzählbandes, sondern auch innerhalb einzelner Erzählungen und sogar innerhalb einzelner Figuren mit diesen beiden Gegenpolen und zeichnet auf diese Weise ein bilaterales
Bild vom Menschen.
Zum Beispiel bezeichnet sich die autodiegetische Erzählerin in der Erzählung VenusTransit selbst als „gnadenloses Tier“ (Bán 2014: 129), weil sie ihrer Exfreundin durch
ihr Fremdgehen das Herz gebrochen hat. Die Protagonistin rechtfertigt ihr Fremdgehen
damit, dass sie einfach nur neugierig war, „wie eine andere Haut riecht“ (Bán 2014:
126). Diese Äußerung zeigt, dass der sexuelle Betrug aus der Triebhaftigkeit des Menschen resultiert. Jedoch zeigt der ganze Bewusstseinsstrom der Protagonistin, dass es
sich bei ihr keinesfalls um ein „gnadenloses Tier“ (Bán 2014: 129) handelt, denn sie
leidet sehr darunter, dass ihre Freundin sie verlassen hat und ist verletzt, als sie von der
Taxi-Beifahrerin abgelehnt wird. Ihr Herzschmerz und ihre Verwundbarkeit sind ein
Beleg für ihre Menschlichkeit.
Katica, die Protagonistin der Erzählung Drei Versuche mit Bartók, versuchte vierzig
Jahre lang, ihre Menschlichkeit loszuwerden: „dass sie also letzten Endes ein herzloses,
gnadenloses Biest ist. Letzteres war gar nicht so weit von der Realität entfernt, es hat sie
vierzig Jahre gekostet, so weit zu kommen.“ (Bán 2014: 66) Vor vierzig Jahren floh sie
aus Ungarn, weil ihre große, jedoch bereits verheiratete, Liebe sie verlassen hatte. Über
die Jahre hinweg verdrängte sie ihre Erinnerungen und unterdrückte ihre Gefühle gegenüber ihrer Heimat und gegenüber den Menschen, die sie eigentlich liebt. Doch als
sie nach vierzig Jahren wieder nach Ungarn zurückkehrt und ihre Schwester Marcsi
wiedertrifft, übermannt sie letztlich die Liebe zu ihr und Katica muss sich eingestehen,
dass sie doch noch immer menschlich ist.
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Ein Beispiel dafür, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen bilateral sein können,
ist die Freundschaft zwischen Maja und Erika in der Erzählung Ein Abend ohne Erika:
Die Freundschaft von Maja und Erika ist „voll Eifersucht und Bewunderung, in die sich
Hass mischte, eine Rivalität, wie sie nur Mädchen untereinander kennen“ (Bán 2014:
47). Die beiden Frauen führten eine jahrelange, innige Freundschaft und empfanden
eine Zuneigung zueinander, wie sie nur Menschen empfinden können, dennoch zeugt
die Eifersucht und die Rivalität zwischen den beiden Frauen von einer ‚Tierhaftigkeit‘.
Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden erinnert an den tierischen Konkurrenzkampf zwischen Angehörigen desselben Geschlechts bei der Paarung. Nur, dass hier die
Weibchen in Konkurrenz zueinander stehen und nicht die Männchen.
Geschlecht
Die Zuweisung von geschlechtsspezifischen Rollen einerseits und der Bruch dieser geschlechterspezifischen Stereotype andererseits dienen in den Erzählungen des Öfteren
dazu, den Männlichkeits- und Weiblichkeitsdiskurs von zwei Seiten zu beleuchten. Auf
der einen Seite werden männliche Figuren wie bei Terézia Mora nach einem archaischen Prinzip gestaltet, wie zum Beispiel in der Erzählung Fleisch. Der Mann, der gegenüber dem Mädchen handgreiflich wird und in erster Linie auf „extragute Ficks“ (Bán
2014: 87) aus ist, repräsentiert eine ,harte‘ Männlichkeit, die vor allem durch körperliche Kraft, zupackendes Handeln und Unabhängigkeit gekennzeichnet ist. Im Gegensatz
dazu repräsentiert das Mädchen eine ‚weiche‘ Weiblichkeit, die sich aus Naivität,
Schwäche und Abhängigkeit zusammensetzt: „wenn es den Mann nicht gab, gab es
auch sie nicht.“ (Bán 2014: 87) Allerdings taucht in der Erzählung noch eine weitere,
zentrale Figur auf: Die, als Mann verkleidete, Kellnerin. Sie tritt als die Beschützerin
des Mädchens auf, erhebt die Hand gegen den gewalttätigen Mann und begibt sich
durch ihr selbstloses Verhalten selbst in Gefahr. Erst am Ende der Erzählung wird ihr
wahres Geschlecht offenbart. Die Kellnerin verkörpert einen männlichen Stereotypen:
Den männlichen Beschützer, den Retter in der Not, den Ritter, der die holde Jungfrau
aus den Fängen des bösen Ungeheuers befreit. Da der Kellner sich allerdings als Kellnerin entpuppt, wird die Zuweisung von geschlechterspezifischen Rollen ad absurdum
geführt. Im Unterschied zu den Erzählungen aus Seltsame Materie haben sich die Menschen hier zum großen Teil von ihren archaischen Geschlechterrollen gelöst und sind
nicht mehr den geschlechterspezifischen Zuweisungen der Natur ausgeliefert.
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Die Erzählungen zeigen auch, dass die Frauen dazu imstande sind, noch animalischer
und triebgesteuerter zu handeln als die Männer: „Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie
mich in ihr Ehebett gelegt hat. So was machen doch nur Kerle.“ (Bán 2014: 128) Zsófia
Bán zeigt hier exemplarisch, „wie verwerflich Vorurteile“ (Bán 2014: 129) sein können.
Zsófia Bán spielt in Als nur die Tiere lebten auf der thematischen Ebene immer wieder
mit Gegensatzpaaren wie ‚Vernunft‘ und ‚Gefühl‘ oder ‚Treue‘ und ‚Untreue‘ oder
‚menschlich‘ und ‚tierisch‘ und konzipiert auf diese Weise ein heterogeneres Bild vom
Menschen als Terézia Mora in Seltsame Materie. Es wird ein Mensch dargestellt, der
‚tierisch‘ handeln, aber gleichzeitig ‚menschlich‘ sein kann, der von Vernunft geleitet,
aber gleichzeitig von Gefühlen übermannt werden kann.
Körper versus Geist
Zsófia Bán setzt sich in ihren Erzählungen mit dem Leib-Seele-Problem auseinander,
das seit Platon den Kern der Philosophie des Geistes bildet. Das Leib-Seele-Problem
impliziert die Fragestellung, wie ‚mentale‘ und ‚physische‘ Phänomenen miteinander
zusammenhängen. Die Sinneswahrnehmung der Figuren, welche der ‚physischen‘
Komponente des Menschen zugehörig ist, zieht sich als Leitmotiv durch alle Erzählungen des Buches: Die Figuren in Als nur die Tiere lebten erfahren die Welt durch ihre
Sinne, indem sie schauen, tasten, greifen, lesen, essen, lecken (vgl. Bán 2014: S. 10),
riechen und hören (vgl. ebd.: S. 33). Die Welt kann sich uns durch jene Sinne erschließen, aber sie kann sich uns auch durch jene Sinne entziehen. In den Erzählungen wird
das Leib-Seele-Problem aus unterschiedlichen Positionen beleuchtet: Mal beherrscht
der ‚Körper‘ den ‚Geist‘ des Menschen, mal der ‚Geist‘ den ‚Körper‘. Daran lässt sich
erkennen, dass Zsófia Bán auch hier versucht ein bilaterales Bild vom Menschen zu
zeichnen.
Beispielsweise gehorchen dem Wissenschaftler Wilhelm Röntgen seine Sinne nicht,
wenn er seine Frau Anna Bertha betrachtet: „Wenn ich ihr Gesicht zu betrachten versuche, verblasst sie auf der Stelle und verschwindet.“ (Bán 2014: 9) Wilhelm Röntgen
versucht seine Frau mit klarem Verstand zu erfassen, doch seine Gefühle vernebeln ihm
sozusagen seine neutrale Betrachtung. Die sexuelle Anziehungskraft seiner Frau verhindert, dass er sie über seine Sinneswahrnehmung klar und neutral erfassen kann. Die
‚Liebe‘ lässt die Geliebte anders erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. ‚Liebe‘ und Sex
gehorchen eben nicht den Gesetzen der Physik (vgl. Bán 2014: 10): Wenn er seinen
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‚triebhaften‘ Gefühlen gegenüber Anna Bertha nachgibt, ist Wilhelm nicht mehr Herr,
„weder über [s]ich selbst noch über [s]ein Weib.“ (Bán 2014: 11) Das reibungslose Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung und Verstand funktioniert hier nicht. An der
Figur des Wissenschaftlers Wilhelm Röntgen, der versucht seine ‚Triebhaftigkeit‘ zum
Vorteil der Wissenschaft und zum Nachteil seiner Frau zu unterdrücken, kann man noch
einmal ganz deutlich die unterschiedlichen Gegenpole des Menschen erkennen: Sein
‚Geist‘ kämpft gegen die Macht seines ‚Körpers‘ und sein Verstand gegen die Macht
seiner Gefühle an.
Das Zitat „dass wir sie zwar gesehen haben, aber wir haben nicht das sehen wollen, also
sahen wir es doch nicht“ (Bán 2014: 33) in der Erzählung Kurze Geschichte der Fotografie zeigt allerdings, dass auch unser Verstand imstande ist, unsere Sinne zu täuschen.
Wenn wir etwas nicht sehen wollen, nehmen es unsere Augen auch nicht wahr. Wenn
wir unsere Sinne bewusst steuern können, bedeutet das also, dass unser ‚Geist‘ die
Macht über unseren ‚Körper‘ besitzt. In dem vorigen Beispiel aus der Erzählung Frau
Röntgens Hand hatte der ‚Körper‘ die Kontrolle über den ‚Geist‘, hier hat der ‚Geist‘
die Kontrolle über den ‚Körper‘. In dem Erzählband Als nur die Tiere lebten wird folglich dargelegt, dass sowohl unsere Sinne, als auch unsere Verstands- und Gefühlswelt
uns täuschen können, wenn entweder ‚Geist‘ oder ‚Körper‘ die Oberhand über uns gewinnen.
Sinneswahrnehmung: Triebhaftigkeit versus Erinnerung
Interessant ist, dass das Leitmotiv der Sinneswahrnehmung entweder im Zusammenhang mit der Triebhaftigkeit oder im Zusammenhang mit dem Erinnerungsvermögen
des Menschen auftritt, was zeigt, dass der Diskurs über ‚Körper‘ und ‚Geist‘ eng mit
dem Diskurs über die ‚Tierhaftigkeit‘ und ‚Menschlichkeit‘ des Menschen verknüpft ist.
Oft resultiert die sexuelle Anziehungskraft einer Figur aus ihrem Geruch: Die Kellnerin
in Fleisch wird beispielsweise vom „Duft der Haut des Mädchens“ (Bán 2014: 93) angezogen und die Triebhaftigkeit der Protagonistin Anna in der Erzählung Matrix
(Tauchwörterbuch) wird durch den Geruch von Carmela evoziert: „der Geruch, dieser
mit nichts verwechselbare, starke, süßliche Geruch würde sie noch aus meilenweiter
Entfernung herführen“ (Bán 2014: 139). Hier ist sogar explizit von einem „uralten Geruch tierischer Herkunft“ (Bán 2014: 139) die Rede, „der dazu dient, bei der Paarung
das Männchen anzulocken. Oder eben den, der gerade in der Nähe ist“ (Bán 2014: 13918
140). Durch seine Sinneswahrnehmung, in diesem Fall durch seinen Geruchssinn, wird
im Menschen also ein ‚tierhaftes‘ und ‚triebhaftes‘ Verlangen nach Geschlechtsverkehr
geweckt.
Die Erzählungen zeigen des Weiteren, dass auch das ausgeprägte Erinnerungsvermögen, eine Fähigkeit, durch die sich der Mensch deutlich vom Tier unterscheidet, durch
ein Zusammenspiel von ‚Körper‘ und ‚Geist‘ funktioniert. In der Erzählung Drei Versuche mit Bartók wird zum Beispiel dargelegt, wie sehr Erinnerungen an unsere Sinneswahrnehmungen gekoppelt sind. Der Mensch kann verdrängte Erinnerungen wieder
zum Leben erwecken, wenn er einst bekannte Dinge sieht, riecht, schmeckt, ertastet
oder hört. „Am längsten erinnert sich das Fleisch“ (Bán 2014: 86), heißt es in der Erzählung Fleisch. Das „Fleisch“ steht hier für eine Sinneswahrnehmung, welche mit einer
körperlichen beziehungsweise triebhaften Handlung einhergegangen ist. Die meisten
Sinneswahrnehmungen können Erinnerungen nur unverlässlich raufbeschwören, körperliche Erfahrungen brennen sich hingegen nachhaltig in den Geist des Menschen ein.
Zum Beispiel hängt die Erinnerung der Protagonistin aus der Erzählung Das Museum
der Dinge an ihren sexuellen Missbrauch eng mit dem Geruch des Geschlechtsteils ihres Peinigers zusammen. (Vgl. Bán 2014: 80)
Exkurs: (Bewegtes) Bild versus Mensch
Ein weiteres zentrales Motiv in den Erzählungen aus Zsófia Báns Als nur die Tiere lebten ist das (bewegte) Bild: In vielen Erzählungen des Erzählbandes findet eine Auseinandersetzung mit den Medien Fotografie und Film statt. Es werden immer wieder „Fotografien gemacht, betrachtet und interpretiert“ (Plath 2014: 1) und überdies wurden in
den Text mehrere Abbildungen eingearbeitet.
Interessant ist, dass das (bewegte) Bild hier größtenteils im Zusammenhang mit dem
‚Zurückblicken‘ und ‚Erinnern‘ der Figuren auftaucht. Die Medien Fotografie und Film
stehen pars-pro-toto für die technischen Errungenschaften des Menschen. Vorgeblich
ermöglichen sie dem Menschen, seine Erinnerungen aufzufrischen und langfristig aufrechtzuerhalten. Der Text zeigt allerdings, dass die Menschen sich mit ihren technischen
Hilfsmitteln nicht wirklich über sich selbst erhoben haben.
Beispielsweise legt die Protagonistin Anna aus Als nur die Tiere lebten Fotoalben an,
um sich später an vergangene Momente zurückerinnern zu können. Sie klebt jedoch nur
Fotos ein, welche schöne Erinnerungen in ihr erwecken, denn „das asthmatische Rö19
cheln, die Fieberanfälle, die Momente der Erstarrung, der Schamesröte, die Lügen, die
Überheblichkeiten, die mörderischen Leidenschaften und die Ängste, die lässt man verschämt draußen.“ (Bán 2014: 188) Die künstlich angelegten Erinnerungen werden von
vornherein manipuliert und sind folglich unvollständig und nicht authentisch.
Die namenslose Ich-Erzählerin aus der Erzählung Keep in touch ist der Auffassung,
dass eine Bewegungsreihe hingegen die einzige „Garantin der Wahrheit“ sei (Bán 2014:
161). Weil der Film bei seiner Rezeption mehr Sinne des Menschen involviere, evoziere
er authentischere Erinnerungen als eine Fotografie: „die Bewegungsreihe hingegen ist
gesättigtes, rundes Wissen; es hat Anfang, Mitte, Ende, […] es gibt alles darin, wie im
Leben, es gibt sogar Töne und Gerüche, denn, wer Augen hat, sieht auch diese“ (Bán
2014: 162). Doch die autodiegetische Erzählerin unterliegt einem Trugschluss: Sie kann
die Filme, die in ihrer Kindheit aufgenommen wurden, nicht bloß als Erinnerungsvehikel betrachten, sondern interpretiert das Material wie eine inszenierte filmische Darstellung: Sie interpretiert eine im Film vorkommende Schlange als Symbol, analysiert die
Farbkomposition des Films und nimmt ihre Eltern als Schauspieler wahr: Sie „verkörpern die Figur lebensnah: wie im wahren Leben“ (Bán 2014: 167). Die Bewegungsreihe
ist offensichtlich für den Menschen ebenso wie die Fotografie keine „Garantin der
Wahrheit“ (Bán 2014: 161), sie evoziert keine glaubwürdigen Erinnerungen, weil der
Rezipient nicht unvoreingenommen an das Material herantreten kann. Die Rezeption
der Erzählerin wird von ihren schmerzhaften Gefühlen gegenüber ihrer Vergangenheit
und gegenüber ihrer Familie geleitet, durch die analytische Betrachtung versucht sie
eine Distanz zwischen sich und dem Wahrgenommen zu schaffen. Deswegen wirkt der
Film auf die Erzählerin wie ein inszeniertes „Rollenspiel“ (Bán 2014: 168), das sie intuitiv (über-)interpretiert. Es gelingt ihr jedoch nicht sich von dem Rezipierten zu distanzieren – sie möchte den Regisseur „schnell und schmerzlos erwürgen“ (Bán 2014: 168)
– und somit ruft auch die Bildreihe bei ihr keine glaubwürdigen Erinnerungen hervor.
Im Endeffekt ist nicht der Mensch der Technik überlegen, sondern die Technik dem
Menschen. Nicht der Mensch, sondern nur „das Bild weiß alles“ (Bán 2014: 40). Im
Grunde genommen ist das (bewegte) Bild authentisch, doch der Mensch manipuliert
sowohl die (Auswahl der) künstlichen Erinnerungen, als auch sich selbst, geht voreingenommen an das Material heran und lässt sich von seinen Gefühlen zur (Über)Interpretation verleiten.
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Fazit: Das Tier in uns
Die Erzählungen von Mora spielen in den späten 70er Jahren, zur Zeit des kommunistischen Regimes in Ungarn und in einem engen, archaischen Dorf in der Nähe der Grenze, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. In dieser Zeit und an diesem Ort
gibt es „keinen Nährstoff für Humanität und Friedfertigkeit“ (Schlicht 2009: 83), folglich ist das eng gefasste, einseitige und negative Menschenbild, das Mora entwirft, nicht
allzu verwunderlich. In Seltsame Materie hat die Natur die Überhand über die abgewirtschaftete Kultur und daher auch über den Menschen, ergo bestimmen ‚Körper‘ und
‚Triebe‘ das menschliche Dasein. Die Leitmotive ‚Materialität‘‚ ‚Körperlichkeit‘ und
‚Verfall‘ belegen in den Erzählungen diese Machtposition der Natur.
Báns Erzählungen spielen hingegen zum Großteil nach dem Niedergang des kommunistischen Regimes und auch wenn manche Figuren immer noch mit den Erinnerungen an
diese Zeit zu kämpfen haben, leben sie nun in besseren oder zumindest demokratischeren Verhältnissen, als die Figuren in Seltsame Materie. Sie haben Grund zur Hoffnung,
denn in ihrem Leben entscheidet keine Grenze (mehr) über ihr Leben oder ihren Tod,
stattdessen ist die ganze weite Welt für sie zugänglich. Deswegen wohnen die Figuren
bei Bán auch nicht in einem einzigen engen Dorf, sondern in Großstädten und Metropolen wie Budapest und Rio de Janeiro. Diese Grenzenlosigkeit scheint auch das weit gefasstere Menschenbild in Als nur die Tiere lebten beeinflusst zu haben. Zsófia Bán
zeichnet ein bilaterales Bild vom Menschen, das wohl seine ‚Tierhaftigkeit‘ als auch
seine ‚Menschlichkeit‘ miteinbegreift und sowohl seine ‚körperliche‘ als auch seine
‚geistige‘ Seite berücksichtigt. In dem Erzählband wird keine Zeit beschrieben, „als nur
die Tiere lebten“. Vielmehr erinnern sich die Protagonisten an eine Zeit zurück, „als nur
die Tiere lebten“. Diese Zeit deckt sich mit der Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, mit der Zeit, die in dem Erzählband Seltsame Materie beschrieben wird. Zsófia
Bán stellt also dar, inwiefern sich die Menschen aus dem Zustand, der in Seltsame Materie beschrieben wird, weiterentwickelt haben.
In summa ist das Menschenbild, welches den Figuren in dem Erzählband Als nur die
Tiere lebten zugrunde liegt, umfassenderer und gegenwärtiger, als das Menschenbild,
das dem Leser in Seltsame Materie begegnet.
Was ist also menschlich? Menschlich sein bedeutet, ambivalent zu sein: ‚human‘ und
‚tierhaft‘ zur gleichen Zeit. Es bedeutet, sowohl vom ‚Körper‘ als auch vom ‚Geist‘
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bestimmt zu werden. Darüber hinaus ist unsere ‚Menschlichkeit‘ immer davon abhängig, in welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Weise wir leben (müssen).
Man kann das ‚Tierhafte‘ und ‚Grausame‘ als Teil des Menschen nicht leugnen, denn
ebenso wie es die Lämmer gibt, gibt es auch die Wölfe und ebenso wie es Malala Yousafzais und Tugce Albayraks auf der Welt gibt, gibt es leider auch ihre Peiniger und
Mörder.
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Bibliographie
Primärliteratur
Bán, Zsófia: Als nur die Tiere lebten. Berlin: Suhrkamp. 2014.
Mora, Terézia: Seltsame Materie. Reinbek: Rowohlt. 1999.
Sekundärliteratur
Butzer, Günter u. Jacob, Joachim (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2.
Auflage. Stuttgart: J.B. Metzler. 2012.
Daemmrich, Horst S. und Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen und Basel: Francke. 1995.
Martens, Wolfgang: Zum Menschenbild Georg Büchners. „Woyzeck“ und die Marionszene in „Dantons Tod“. In: Wirkendes Wort. Deutsches Sprachschaffen in Lehre und
Leben. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. Band 8. 1956/58. S. 13-20.
Schlicht, Corinna: „Alle Orte sind gleich und fremd.“ Heimatlose Grenzgänger im Werk
Terézia Moras. In: Literatur – Kultur – Verstehen. Neue Perspektiven in der interkulturellen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Olga Iljassova-Morger und Elke ReinhardtBecker. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr. 2009. S. 81-92.
Schlicht, Corinna: Fremd in der Welt: Über Heimat, Sprache und Identität bei Terézia
Mora. In: Momente des Fremdseins. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Entfremdung, Identitätsverlust und Auflösungserscheinungen in Literatur, Film und Gesellschaft. Hrsg. v. Corinna Schlicht. Oberhausen: Karl Maria Laufen. 2006. S. 53-61.
Stopka, Katja: Aus nächster Nähe so fern: Zu den Erzählungen von Terézia Mora und
Judith Hermann. In: bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger
Jahre aus interkultureller Sicht. Hrsg. v. Matthias Harder. Königshausen &
Neumann. Würzburg. 2001. S. 147-166.
Internetquellen
Plath, Jörg: Die Kraft des Augenblicks. Zsófia Bán: "Als nur die Tiere lebten". [online]
Homepage:
Deutschlandradio
Kultur.
URL:
http://www.deutschlandradiokultur.de/erzaehlungen-die-kraft-desaugenblicks.950.de.html?dram:article_id=282460 [Stand: 10.03.015]
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