Stilecht: Daniela Schmutz bringt Farbe aufs Festivalgelände. Inspiration Amerika Der Wilde Westen im Berner Oberland Seit über zwanzig Jahren lockt das Trucker & Country Festival Interlaken jeden Sommer Western- und Amerikafans ins Berner Oberland – mit Countrymusik, Kilbistimmung und vielen Pferdestärken. Text Claudia Walder, Bild Matteo Gariglio Dies sind nicht die Rocky Mountains. Nein, aber felsig sind sie auch, die Berner Berge, das Faulhorn, der Männlichen, der Eiger. Und gerockt wird auch hier, in Interlaken, wo die Hebearme unzähliger Trucks am Himmel kratzen wie die Arme gigantischer ausserirdischer Insekten vor dem Kugelbau des Mystery Parks. Über tausend Lastwagen stehen Spalier für das Trucker & Country Festival, das seit 1994 jährlich auf dem Airfield stattfindet, zwischen dem Thuner- und dem Brienzersee. Vor einer Kulisse, die nicht recht nach Wildem Westen aussehen will. Jedenfalls nicht demjenigen, den wir aus Filmen kennen. Meltingpot mit einer Prise Kilbi Ankunft im Herzen des Festivals, im Westerndorf. Am westlichen Ende das Bikertreffen mit den zur Schau gestellten Harleys, östlich das grosse weisse Festzelt, wo sich am Abend Country-Stars aus den USA ans Mikrofon stellen. Dazwischen vier kleinere Bühnen, Essensstände, Festivaltoiletten. Und überall: Cowboyhüte. Aus Leder, aus Filz, aus Plastik. «Can’t be what you ain’t», singt die Country-Band «Motel 7» auf Bühne 3, Du kannst nicht sein, was Du nicht bist. Der Geruch von gegrillten Hamburgern mischt sich mit dem von heissem Käse aus dem Raclettestand. Vis-à-vis der Putschibahn lockt der Saloon. Im alten Hangar ist eine Piratenbar eingerichtet und schräg gegenüber werden holländische Fritten verkauft. Western-Puristen sind hier fehl am Platz. Und doch. Eigentlich ist das ganz schön amerikanisch, ein Melting Pot mit einer Prise Kilbi. Wo man die Sehnsucht nach dem Abenteuer mit einem gut schweizerischen Kafi crème hinunterspült. Can’t be what you ain’t, aber Identitäten sind keine Scherenschnitte. Vielleicht findet sich im Kaleidoskop des eigenen Ichs ja auch der Cowboy oder Indianer, den wir als Kind spielten oder in den wir uns mit Karl May träumten, als uns die faktischen Unstimmigkeiten noch egal waren. Ein wenig an Pierre Brice, der als blauäugiger Häuptling der Apachen in den Winnetou-Verfilmungen der 1970erJahre durch die jugoslawische Prärie ritt, erinnern auch Helmi und Eva, die jeweils im Sommer in der Nähe von Regensdorf ihr Tipi aufstellen und zeitweise ohne Strom und fliessendes Wasser leben. Die Elchledergewänder der beiden hat Eva selbst gefertigt, in aufwendiger Handarbeit. Siebzehn Kilo hängen ihr von den Schultern. Wie viele Stunden sie in das Aufnähen der unzähligen Glasperlen investiert hat, weiss sie nicht, aber sie erklärt, dass die geradlinigen, geometrischen Formen typisch 43 Keine einsamen Cowboys: Vier Sheriffs, eine Braut. Rockabella: Miss Tattoo 2012. Nicht ohne Hut: Chrigel Zenger in der Truck-Meile. 44 Prärieballaden Mit Stolz präsentiert: 67er Cadillac Deville. 45 Prärieballaden für die Sioux seien. Eva und Helmi wissen viel über die nordamerikanischen Völker, in Kanada seien sie einst verschiedenen Tanzfesten, Powwows, nachgereist. Aber nicht als wild drauflos knipsende Touristen, betonen sie, das wäre nicht gut angekommen. Man müsse ehrliches Interesse zeigen, und Respekt. Weil Alkohol bei diesen Veranstaltungen tabu ist, muss auch hier jeder, der sich mit den beiden ablichten lassen möchte, die Bierflasche wenigstens fürs Foto wegstellen. Cowboyhut statt Zylinder Nördlich vom Westerndorf liegt die Truck-Meile. Man wähnt sich in einem anderen Film. Weniger nostalgisch, aber genauso amerikanisch. Und irgendwie lebt das Bild des einsamen Cowboys im nomadischen Lastwagenfahrer weiter: der Lone Ranger und seine Pferdestärken. Stossstange an Stossstange, Trittbrett an Trittbrett stehen sie hier, grosse Trucks mit riesigen Schnauzen, rot lackiert, orange, gelb, grün und blau. Der ganze Regenbogen, perfekt geparkt im verregneten Berner Oberland. Selbst der Coca-Cola-Truck hat sich das Treffen nicht entgehen lassen. Einige der Lastwagen sind mit Blumengestecken geschmückt wie das Vieh beim Alpabzug. Gefeiert wird aber nicht die sichere Rückkehr aus den Bergen, sondern eine Hochzeit. Christian und Astrid Dänzer haben sich vor sieben Jahren hier verlobt, als Astrid beim Auftritt der Bellamy Brothers auf die Hauptbühne schlich und dem Trucker einen Heiratsantrag machte. 2014 jetzt die Hochzeit, auf der kleineren Bühne 1, nicht mit den Bellamy Brothers, sondern mit einer Pastorin. Im rot-schwarzen Westerndress statt im weissen Brautkleid. Christian trägt eine texanische Krawatte mit Sheriffstern und ein besticktes Westernhemd statt einem Anzug, statt Zylinder einen Cowboyhut. Cowboyhüte tragen auch Astrids Kinder Nicole (10), Nico (9) und Bruno (8). Sie sind dem Westernvirus bereits verfallen, teilweise zumindest. Anstelle der Bellamy Brothers oder der Country Sisters hört Nicole dann doch lieber Nena. Bis in die USA haben es die drei kleinen Sheriffs und ihre Eltern noch nicht geschafft; die Tage am Trucker & Country Festival sind ihre Familienferien. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten scheint nah und zugleich unendlich fern, auch wenn der amerikanische Countrysänger Roy Scott – mit einer Stimme wie flüssige Butter – später auf der Hauptbühne im grossen Zelt die Schweiz mit Alaska vergleicht. Sowieso, das Traumziel der Dänzers liegt südlicher. Texas, the Lone Star State, wo in unseren Köpfen Cowboyromantik und Lagerfeueridylle beheimatet sind. Wo man «Howdy» und «Y’all» sagt und die Lederstiefel nicht nur einmal im Jahr anzieht. Dorthin wollen Christian und Astrid, wenn Christian zwischen dem Herumreisen dann einmal zum Reisen kommt. 46 Von Hasliberg nach Nashville Zurück im Westerndorf. Auf Bühne 3 wechselt Chrigel Zenger, der amtierende Karaoke-Schweizermeister aus Hasliberg, fliessend von einem amerikanischen Südstaatenakzent zu breitestem Berner-Oberländerdeutsch – mit einem Hasliberger «Twang» natürlich. «I singe nid gären ohni Hööd», sagt er, tippt an die Krempe des besagten Huts und hängt die Daumen in den Gurt. Wie sich das für einen Cowboy gehört, ist er kein Mann der vielen Worte; erst auf der Bühne kommt er aus sich heraus und nimmt das Publikum mit in die Staaten, nach Nashville, Tennessee, zum Beispiel, in die Hauptstadt der Countrymusik. Von dort ist auch die Gürtelschnalle, die er mit seiner Cowboypose so schön zur Geltung bringt: ein Souvenir von einer Amerikareise, die er sich 2011 beim Swiss Country Star ersungen hat. Diesen Sommer will er sich mit der Country & Rock Band «4seasons» zusammentun, um das Leben zwischen Pferderücken und Saloon mit Live-Musik zu besingen. «Bin de Cowboys geit’s immer um eis vun drii Dinge: Frowe, Trucks oder Heimat», scherzt er und stimmt die nächste Prärieballade an. Menschen, Pferdestärken und Heimatgefühle. So könnte man auch das Trucker & Country Festival Interlaken zusammenfassen. Denn darum geht’s im Grunde: um Heimat, die wirkliche und die der Sehnsucht. Um Pferdestärken, den zwanzigjährigen Scania-Truck und den mit Stolz präsentierten auberginenfarbenen 1967er Cadillac Deville. Um Menschen wie Eva und Helmi, die Familie Dänzer oder Chrigel Zenger. Wie die Familie Furrer, die jedes Jahr mit ihren Pferden hinüberreitet und die Trucker an die Bedeutung der Abkürzung PS erinnert. Wie die Miss Tattoo 2012 Daniela Schmutz, die mit ihrem Velo «Lucky Star» und ihrem Rockabilly-Stil Farbe aufs Festivalgelände bringt. Und wie Indy, der trotz rauem Äusseren so leise spricht, dass man ihn kaum versteht. Sie sind es, die das Festival ausmachen und den Kitsch vergessen lassen, die pinken Hüte mit Pailletten made in China, die Westen aus Kunstleder, die Sheriffsterne aus Plastik, die falschen Federkronen. «Can’t be what you ain’t», singen «Motel 7», die amerikanische Band aus Thun, «but you can be what you are.» ● Claudia Walder ist transhelvetische Redaktorin und wäre als Kind auch gerne mit Winnetou und Old Shatterhand durch die Prärie geritten. textit-gmbh.ch Matteo Gariglio ist freier Fotograf und schiesst nur mit der Kamera scharf. matteogariglio.com Ab in die Stiefel! 22. Trucker & Country Festival Interlaken: 26. – 28. Juni 2015. trucker-festival.ch 47
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