von Turandot in jener orientalischen Märchensammlung. Die durch

von Turandot in jener orientalischen Märchensammlung. Die
durch Friedrich Heinrich von der Hagen besorgte Übersetzung
von 1001 Tag befand sich schon seit längerer Zeit in Goethes
Besitz. Goethe kannte also das Werk schon. Wenn er jetzt die
Turandot-Geschichte wiederlas 3 , so geschah das aus diesem
Grunde: erstens stellt das Märchen Gestalten, Situationen, Probleme dar, auffällig analog der Kleistschen Penthesilea- Tragödie; zum zweiten findet sich innerhalb der Turandot-Geschichte
eingeschachtelt eine Erzählung mit ganz ähnlichen Motiven, wie
sie der Amphitryon Kleists aufweist.
Über die Verwandtschaft der Turandot-Handlung mit der der
Penthesilea können wir uns kurz fassen. Die Geschichte von
Turandot - sie ist bekannt durch Schiller-Gozzis Dramatisierung - zeigt eine ehefeindliche Königstochter, eine »männerscheue Unholdin«, wie es bei Schiller heißt. Um sich keinem
Mann unterwerfen zu müssen, läßt sie sämtliche Freier, die ihre
Rätsel nicht lösen können, hinrichten. Als endlich ein ihr ebenbürtiger Held erscheint, ein Gegenrätsel stellt, wählt sie ihn zum
Gemahl, obwohl er ihr schon verfallen ist. In Schiller-Gozzis
Version ließe sich ein ganzer Katalog von Motiven aufzeigen,
die mit Kleists Penthesilea korrespondieren (Ehrgeiz, Grausamkeit, Haß-Liebe, Zwang durch ein »unnatürliches Gesetz«4
usw.). Anders als bei Kleist läuft aber die Turandot-Handlung
nicht aus in Verkrampfung, Wahnsinn, Mord. Die orientalische
Erzählung endet harmonisch, wie sie auch sonst im Verlauf
immer wieder menschlich schöne Züge zeigt, nicht in Perversionen schwelgt. Darin vor allem sah Goethe das »Gesunde«
gegenüber der Dichtung des ihm krankhaft erscheinenden
neuen Romantikers.
Die in das Turandot-Märchen eingeschachtelte Geschichte,
die so auffällig mit dem Amphitryon übereinstimmt, ist recht
umfangreich; ihre Erzählung erstreckt sich in 1001 Tag über die
Zeitspanne vom 49. bis zum 82. Tag. Hier sei der Handlungsverlauf etwas ausführlicher wiedergegeben, um die Ähnlichkeit
mit Kleists Werk erkennbar zu machen. Ein König berichtet
über seine Schicksale. Er war ein glücklicher Herrscher, verehrt
vom Volk, geliebt von seiner Gemahlin. Der Königin Liebe
bedeutete ihm - darin gleicht er Amphitryon - mehr als alles auf
der Welt. Der Zustand vollkommenen Glücks findet jedoch ein
jähes Ende, als ein mit magischen Kräften begabter Wunder207
mann eines Tages mit Hilfe von Zaubertricks die Gestalt des
Königs anzunehmen vermag, den König selbst jedoch in ein Tier
verwandelt. Der falsche König beansprucht in der Folge nicht
nur Thron und Herrschaft über das Reich, sondern auch den
Besitz der Königin. Währenddessen leidet der rechtmäßige König die schlimmsten seelischen Qualen, er lechzt nach Rache für
die seiner Ehre und Liebe angetane Schmach. Die Königin ahnt
von alledem nichts, wie Alkmene in der entsprechenden Situation. Eines Tages aber gelingt es dem rechtmäßigen Herrscher,
seine wahre Gestalt wiederzuerlangen und den Betrüger zu
töten. Nun erfährt die Königin, was sich in Wirklichkeit begeben
hat. Sie zweifelt auch nach seiner Erzählung nicht daran, daß er
ihr wahrer Gemahl sei. Aber sie vermag den Schmerz und
Kummer darüber, daß sie einen anderen als ihren rechtmäßigen
Gemahl beglückt habe, nicht zu überwinden. Sämtliche Beteuerungen des Königs, daß ihre Täuschung sie völlig entschuldige,
alle Versicherungen, daß er sie immer mit derselben Zärtlichkeit lieben werde, geben ihr keinen Trost. Wörtlich heißt es im
Bericht des Königs: }) Wollte der Himmel, daß ihr diese abscheuliche Treulosigkeit für immer verborgen geblieben wäre! Ach
vielleicht lebte sie dann jetzt noch ... Ich konnte ihr diese
widerwärtige Begebenheit nicht aus den Gedanken bringen. Sie
erkrankte, und verschied in meinen Armen, indem sie mich
noch wegen eines Verbrechens um Verzeihung bat, woran sie
unschuldig war, und welches meine Liebe zu ihr um nichts
verminderte.« - Nach ihrem Tod dankt der König ab und lebt,
zurückgezogen in tiefster Einsamkeit, nur noch der Erinnerung
an die geliebte Frau. Damit endet diese Erzählung.
Mit dem Amphitryon hat das Märchen aus 1001 Tag die
Grundzüge der Handlung gemeinsam. Hier wie dort geht es um
den unbewußten Ehebruch einer Königin, die im betrügerischen
Ehebrecher ihren eigenen Gemahl zu umarmen glaubt. Ermöglicht wird ihre Täuschung nur dadurch, daß es dem Liebhaber
auf übernatürliche Weise gelingt, die Gestalt des Ehegatten
anzunehmen. Als Goethe an jenem Sommertag des Jahres
1827, über den. »Kleistischen Unfug« ergrimmt, Erholung
suchte und fand bei dem Turandot-Märchen von 1001 Tag,
dachte er demnach offenkundig speziell an Kleists Amphitryon
und Penthesilea. Für beide Werke gab es hier literarische Parallelen, in denen gleichartige Stoffe nach Goethes Ansicht richti208
ger, erfreulicher behandelt waren als bei Kleist. Deren Betrachtung tat ihm wohl.
Was die mit dem Amphitryon korrespondierende Geschichte
betrifft, so verdankt sie Goethes positive Reaktion natürlich der
Gestaltung ihres Ausgangs, der so ganz anders ist als bei Kleist.
Daß die HeIdin sich über ihren unbewußten Ehebruch nicht
tröstet, daß sie aus Kummer darüber stirbt, wirkt menschlich
schön, wie überhaupt die orientalischen Märchen ja reich an
Zügen tiefer Sittlichkeit sind. Auch des Königs Verhalten am
Schluß ist von solcher schönen Menschlichkeit geprägt. Das
Ende des Kleistschen Stückes sah Goethe dagegen als verfehlt
an. »Klatrig« nannte er es bereits 1807. Wir zitierten oben, was
der Dichter zu Riemer gesagt hatte: der wahre Amphitryon
müsse es sich schließlich »gefallen lassen, daß ihm Zeus diese
Ehre angetan hat«. Sonst sei »die Situation der Alkmene peinlich und die des Amphitryon grausam«.
In eine beinahe unmenschliche Lage werden hier die Hauptgestalten gebracht, besonders Alkmene. Das trat beim Vergleich mit dem orientalischen Märchen in aller Deutlichkeit
zutage. Zieht man dazu in Betracht, daß Goethe ein viel stärker
ausgeprägtes Gefühl für das Schickliche hatte als Kleist, daß
besonders seine Einstellung zur Frau eine ganz andere war, so
ist seine Ablehnung des Amphitryon-Schlusses verständlich genug. Übrigens bleibt Alkmene auch in den Komödien von
Plautus und Moliere von jeglicher peinlichen Bloßstellung verschont. Schon lange vor Ende des Stückes verschwindet sie aus
den Augen des Zuschauers. Das Geschehen kommt ihr nicht zu
Bewußtsein, während Kleist seiner Heidin die qualvolle Konfrontation mit zwei Amphitryonen nicht erspart.
An etwas anderes ist noch zu erinnern. Als Goethe den
Amphitryon Kleists kennenlernte, trug er sich bereits mit dem
Plan zu den Wahlverwandtschaften, dem Roman, in dem ja auch
das Ehebruch-Thema eine zentrale Rolle spielt. Wenn man an
den Ausgang der Wahlverwandtschaften denkt, all dessen tragische Konsequenzen in Betracht zieht, den Tod Ottiliens und den
Tod Eduards, so begreift es sich um so eher, wie schockierend
das Ende des Amphitryon auf Goethe wirken mußte. Mit dem
Ethos der Wahlverwandtschaften war es Goethe sehr ernst.
Indem er sich hier zur Unverletzlichkeit der Ehe bekannte,
stand damit zugleich für ihn fest, daß er auch für sein Leben alle
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persönlichen Konsequenzen zu ziehen und zu diesem Bekenntnis zu stehen habe. Es war eine Entscheidung, die der Dichter
der Wahlverwandtschaften ein für allemal getroffen hatte. Daß
ihm gerade in dieser Lebens- und Schaffensepoche der Amphitryon in die Hände kam, hat sein kritisches Urteil sicherlich
beeinflußt. Goethe war in dieser Zeit gewiß besonders empfindlich gegen die Kleistsche Behandlung des Ehebruchthemas mitsamt der unbedenklichen Gestaltung des Ausgangs.
So tief verwurzelt war Goethes Abneigung gegen den Amphitryon, daß er eine versteckte Polemik gegen Kleist noch in die
1830 geschaffene Klassische Walpurgisnacht einfügte. Hier ist
es wieder die unangemessene Behandlung der Antike, deren
romantisch verfälschende Darstellung durch einen Modernen,
auf die - so scheint es - ein satirisches Wortspiel hindeutet.
Mephistopheles, soeben mit Faust und Homunculus auf klassischem Boden angelangt, schildert den Eindruck, den der Anblick nackter antiker Gestalten auf ihn macht, und sagt dort
(V. 7086 ff.):
Zwar sind auch wir von Herzen unanständig,
Doch das Antike find' ich zu lebendig;
Das müßte man mit neustem Sinn bemeistern
Und mannigfaltig modisch überkleistern.
Die Vermutung liegt nahe, daß die Wendung vom modischen
»Überkleistern« eine Anspielung auf den Namen Kleist
enthält. 5
Ausgang des Agons.
Goethe und das Tragische
Unheimlich zutreffend kennzeichnen überlieferte Zeugnisse das
wechselseitige Verhältnis der bei den Dichter Goethe und Kleist
noch am Ende. Für Goethe bleibt Kleist der Exponent einer
neueren Generation, die in der Kunst das Krankhafte kultiviert.
Jene Bemerkungen über den »Kleistischen Unfug« aus dem
Jahre 1827 mit dem anschließenden Blick auf das TurandotMärchen sprechen hierüber mit einseitiger Härte. Nun waren
dies persönliche Aufzeichnungen, in denen Goethe nur freiweg
niederschrieb, was ihn gerade bewegte. Ein Jahr zuvor hatte er
den gleichen Vorwurf - hinsichtlich des Krankhaften - etwas
bedachtsamer formuliert, als er sich veranlaßt fand, innerhalb
eines für die Öffentlichkeit bestimmten Aufsatzes den Fall
Kleist zu erwähnen. Es handelt sich um die Besprechung Ludwig Tiecks dramaturgische Blätter, die Goethe im Mai 1826
niederschrieb, dann freilich ungedruckt ließ. Darin finden sich
über Kleist folgende Sätze - der Sache nach ebenfalls recht
scharf, im Ausdruck jedoch durch freundlichere Wendungen
gemildert -:
Seine [Tiecks1Pietät gegen Kleist zeigt sich höchst liebenswürdig. Mir
erregte dieser Dichter, bei dem reinsten Vorsatz einer aufrichtigen
Teilnahme, immer Schauder und Abscheu, wie ein von der Natur schön
intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen
wäre. Tieck wendet es um: er betrachtet das Treffliche, was von dem
Natürlichen noch übrig blieb; die Entstellung läßt er bei Seite, entschuldigt mehr, als daß er tadelte; denn eigentlich ist jener talentvolle Mann
auch nur zu bedauern, und darin kommen wir denn beide zuletzt
überein.
Auch das sind starke Worte. Man hat es Goethe verübelt, daß
er Kleist so rigoros als Kranken betrachtete. Indessen ist zu
bedenken: für den alten Goethe galt die Gleichung: das Romantische ist das Kranke, das Klassische ist das Gesunde. In diesem
Sinne ist das Wort >krank< vor allem aus der geistespolitischen
Haltung heraus gesprochen, die Goethe im Alter einnahm.
Nicht zu übersehen sind aber auch die positiveren Akzente, die
hier gesetzt werden. Kleist hatte - das machte seinen Fall für
211
Goethe so bedeutsam - die Anlage zum Klassischen, er war
»von der Natur schön intentioniert«, dann aber durch die
Krankheit der Romantik unheilbar verdorben. Goethe selbst
hatte sich um seine »Heilung« bemüht, als er ihm frühzeitig
Förderung und Rat zuteil werden ließ. War das vergeblich
gewesen, so blieb doch das Gedenken daran wach. Goethes
Beteuerung: »reinster Vorsatz einer aufrichtigen Teilnahme« ist
mehr als Floskel. Sie umfaßt, was früher in dem Wort: »ich habe
ihn geliebt und gehoben« ausgesprochen war: die Erinnerung an
die Krug-Aufführung; sie schließt aber auch die »Teilnahme«
ein, die Goethe zeigte, als er wiederholt in eigenen Dichtungen
kritische Mahnungen an Kleist richtete.
Es macht dieses Zeugnis der Spätzeit so wertvoll, daß in ihm
beides zugleich nochmals scharf bezeichnet ist, Nähe und Ferne.
Bei Goethe dominiert das Gefühl tiefer Enttäuschung. Den
genialen jüngeren Dichter nach seinem Vorbild zu formen, war
ihm unmöglich gewesen. Kleist bewegte sich »in diametral-entgeg~ngesetzter Richtung« - dies absichtsvolle Wort aus den
Abendblättern hat Goethe vielleicht nicht gekannt, Entsprechendes aber dem Sinn nach voll empfunden. 1
Den Eindruck der Nähe und Ferne zugleich erwecken auch bei
Kleist letzte Zeugnisse für sein Verhältnis zu Goethe. Doch
überwiegen hier in ergreifender Weise Zeichen der Annäherung. Überliefert ist, daß Kleist und Henriette Vogel unmittelbar vor ihrem gemeinsamen Freitod noch die Wahlverwandtschaften lasen. 2 Trifft der Bericht zu, so hätte Kleist sein Schicksal wohl mit dem tragischen Ende des Goetheschen Romans
identifiziert. Aus seiner Verbindung mit Henriette Vogel ergaben sich prinzipiell Analogien zu der Eheproblematik der Wahlverwandtschaften. Henriette war eine verheiratete Frau. Beide
mochten dann für ihr freiwilliges Scheiden aus dem Leben in
Goethes Roman eine innere Rechtfertigung finden. Die Wahlverwandtschaften aber waren das Werk, in dem Goethe auf so
merkwürdige Weise zum Dichter der Penthesilea gesprochen
hatte!
Eindeutig ist noch eine andere Bekundung der Nähe zu Goethe. In Kleists Abschiedsbrief an Sophie Müller, die Frau von
Adam Müller, geschrieben einen Tag vor seinem Tode, findet
sich eine Nachschrift von Henriette Vogels Hand:
212
Doch wie dies alles zugegangen,
Erzähl ich euch zur andren Zeit,
Dazu bin ich zu eilig heut. -
Die Verse stammen von Goethe. Henriette Vogel zitiert (schon
von Pfuel erkannt) mit einigen Freiheiten eine Stelle aus dem
Gedicht Lilis Park. Es folgt Kleists eigenhändige Unterschrift.
So ging das Paar in den Tod gleichsam mit Goetheschen Versen
auf den Lippen. 3 Eine erstaunliche Geste, wenn man bedenkt,
daß Goethes Name später in Gegenwart von Kleists Schwester
nicht genannt werden durfte. Offenbar wußten die Nahestehenden, wieviel Leid sich für Kleist mit dem Namen Goethe verband. Von seiner Nähe zu Goethe scheint ihnen wenig oder
nichts bekannt gewesen zu sein. Henriette Vogel aber, die mit
Kleist wirklich vertraut war, nannte getrost den Freund »mein
Tasso« und »mein Werther« in ihrem panegyrischen Liebesund Abschiedsbrief, geschrieben schon am Rande des Grabes.
Sie war sich gewiß, dem Dichter damit nichts Unliebes zu sagen.
Ein weiteres Zeugnis aus später Zeit verdeutlicht andererseits
nochmals, wo die Gründe zu suchen sind, wenn Kleist an
Goethe litt. Als Achim von Arnim den Brüdern Grimm kurz
nach Kleists Tod das tragische Ende des Dichters zu erklären
suchte, erwähnte er an erster Stelle das Fehlschlagen der Hoffnungen des Bühnenautors Kleist als Ursache, insbesondere aber
den Mißerfolg des Zerbrochnen Krugs in Weimar: 4
Goethes unglückliche Wahl des zerbrochenen Kruges zur Aufführung ... der schlechte Erfolg dieser Aufführung hatten etwas Herbes
in ihm [Kleist1zurückgelassen.
Arnim nennt noch weiter den Mißerfolg des Phöbus und der
Berliner Abendblätter, doch erscheint ihm das offensichtlich
schon sekundär. Der nie verwundene Schock der Krug-Aufführung mit den. vernichtenden Folgen war das eigentliche Kleists
Leben überschattende Ereignis. Arnim hatte genügend Einblick, um hierüber Bescheid zu wissen. Er stand Kleist in den
letzten Jahren sehr nahe, u. a. hatte die Mitarbeit an den
Abendblättern beide verbunden.
Ob und wieweit betreffs der viel diskutierten Ursachen von
Kleists Tod Amims Hinweis Gültigkeit hat, bleibe dahingestellt.
Entscheidend ist, daß ein so gut informierter Beurteiler die
Weimarer Krug-Aufführung mit ihren Auswirkungen über213
haupt damals nannte und so hoch bewertete. Das gibt uns die
Bestätigung dafür, daß jenes Ereignis wirklich in des Dichters
Leben eine so große Rolle spielte, es erklärt, warum er als
Schaffender immer wieder darauf Bezug nahm, besonders eindrücklich im Zweikampf,
Immerhin haben auch andere die Enttäuschung über zu geringe schriftstellerische Erfolge als Hauptmotiv für den Tod Kleists
angesehen. Daß seine »höheren Gaben« nicht erkannt worden
seien, war nach Varnhagen der »Fluch, an welchem unser
unglücklicher Kleist sein Leben verloren hat«. Kleist habe die
Wirkung, die er als Dichter auf seine Freunde ausübte, auch
vom »großen Haufen« verlangt; der Irrtum über die ihm »unverständlich« bleibende teilnahmslose Masse brachte ihm - so
sagt Kleists Freund Pfuel- »Schwermut und endlich den Tod«.
Fouque klagt: »Er ist hin, mein armer ... von falschen Hoffnungen getäuschter Freund«, und deutet damit auf das nämliche
Todesmotiv. Brentano äußerte nach Erhalt der Todesnachricht,
der »grenzenlos eitele« Kleist habe daran gelitten, daß auch die
beträchtlichsten schon erlangten Ehren ihm »nicht genug« waren. Ein Sonett Staegemanns auf den Tod Kleists spricht von
dem »B1ütenkranz der Pieriden«, der des Dichters Locken
umwehte, beklagt aber: »Der innernSaiten stillen Sieges-Preis
/ Errang er nicht«. Auch damit ist in ganz Kleistschen Bildern
auf ähnliches hingewiesen: im Bereich des Ruhmesstrebens
fehlte eine letzte innere Befriedigung. Friedrich Weisser sah ein
entscheidendes Symptom unheilbarer Krankheit in der »Querköpfigkeit« Kleists, die ihn zu »göttlichen Grobheiten gegen
andere Schriftsteller« hingerissen habe. Das war, von seiten
eines Außenstehenden, ein wenig liebevoller Angriff auf den
ehrgeizig kampfbegierigen Kleist. Doch stimmt damit überein
und macht nachdenklich ein unheimliches Wort des Freundes
Arnim über Kleists Ende: »Es ist ein Tod wie Wolfdieterich, als
ihn die Gerippe aller derer totschlagen, die er einst umgebracht
hatte.« Wenn man sich fragt, gegen welchen »anderen Schriftsteller« Kleist die meisten »göttlichen Grobheiten« vorgebracht, oder wer von denen, die er »umbrachte«, der Hervorragendste war, so wird die Antwort immer lauten müssen:
Goethe. 5
Wie Liebe und Haß, Anziehung und Abstoßung, Nähe und
Ferne das Verhältnis der bei den Dichter zugleich bestimmen,
214
das machte ein Zusammenwirken unmöglich. Was zwischen
Kleist und Goethe waltete, war eine hochbrisante Mischung
gefährlich kontrastierender Gefühle. Nicht ein Verhältnis der
Freundschaft ging daraus hervor, sondern des Kampfs, des
Wettkampfs, des Agons im Bereich des Musischen.
Sehr ungleich ist dabei der produktive und menschliche Ertrag.
Für Kleist bedeutete der Kampf mit Goethe trotz aller Qualen
doch auch ein großes Glück. Er wurde für ihn zu einem gewaltigen Stimulans, inspirierte sein Schaffen in wichtigsten Jahren.
Kleist, der Kriegerische, bedurfte eines solchen Gegners, wie er
ihn in Goethe fand. Fast kann man sagen: wäre Goethe nicht
gewesen, er hätte sich ihn erfinden müssen. Jenes Werben um
einen Großen, der Traum, von ihm den Siegeskranz zu erhalten,
seinen Thron zu erben - an das gab Kleist die geeignetsten
Motive und Anregungen zur Freisetzung seiner dichterischen
Kräfte. Dasselbe gilt von den begleitenden Gefühlen: Haß und
Liebe, Trotz und Verehrung. Aber selbst die schlimmste an
Goethe erlebte Enttäuschung machte ihn fruchtbar. Die Ablehnung seiner Werke durch Goethe, besonders dessen Haltung bei
der Aufführung des Zerbrochnen Krugs wirkte durchaus wie ein
Trauma. Doch wieviel schöpferische Inspiration verdankte
Kleist diesem Trauma! Schließlich weckte das Erlebnis Goethes
und seines Widerstands - auch das ist wesentlich - bei Kleist die
Erkenntnis der unabdingbaren Eigenart seiner Dichternatur.
Die Selbstbesinnung steigerte wiederum seine Produktivität.
Aus dem Zusammenwirken sämtlicher Faktoren entstand das
Werk, das den Höhepunkt von Kleists Schaffen bedeutet, zugleich auch die stärkste Annäherung an Goethe: der Prinz von
Homburg.
Demgegenüber war Kleist für Goethe von viel geringerer
Bedeutung. Zwar wurde auch Goethe, der so gern als Schaffender aus Antagonismen Anregung schöpfte, durch Kleist zu
mancher dichterischen Äußerung inspiriert. Doch blieb das
begrenzt, es beschränkte sich auf Episoden einiger Werke in
bestimmten Jahren. Im übrigen sehen wir Goethe in der Haltung des Polemisierenden, das Kunstgesetz verteidigend, für
dessen Geltendmachung er in den späten Lebensjahrzehnten
eintrat. Da aber erschien ihm Kleist als ein Protagonist der
gegen die Klassik gerichteten Bewegung: der Romantik.
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Wurde innerhalb der Forschung die ablehnende Haltung Goethes gegenüber Kleist diskutiert, so fanden vornehmlich Beachtung die tiefgehenden Unterschiede in den Naturen beider
Dichter. Mit Vorliebe stellte man die Verhältnisse etwa so dar:
Goethe, der Harmonische, Humane, Konziliante, habe Kleist,
den Tragischen, Ungebändigten, nicht akzeptieren können, vielmehr sei er bestrebt gewesen, Kleist von sich abzuwehren, um
sich »vor dem Tragischen zu schützen«.6 So bestechend das Bild
erscheinen mag, so wenig kann es befriedigen, betrachtet man
die historischen Gegebenheiten. Die Vorstellung von dem
»konzilianten« Goethe und dem »tragischen« Kleist geht bekanntlich auf Nietzsehe zurück. In Nietzsches Nachlaßaufzeichnungen heißt es einmal: »Goethe über Kleist: fürchtet sich«. An
anderer Stelle wird gesagt: »Was Goethe bei Heinrich von
KIeist empfand, war sein Gefühl des Tragischen, von dem er sich
abwandte: es war die unheilbare Seite der Natur. Er selbst war
konziliant und heilbar.« 7
Im Sinn hat Nietzsehe Goethes Äußerung in einem späten
Brief an Zelter (31. akt. 1831): »Was die Tragödie betrifft, ist
es ein kitzlicher Punkt. Ich bin nicht zum tragischen Dichter
geboren, da meine Natur konziliant ist; daher kann der reintragische Fall mich nicht interessieren, welcher eigentlich von Haus
aus unversöhnlich sein muß, und in dieser übrigens so äußerst
platten Welt kommt mir das Unversöhnliche ganz absurd vor.«
Als ob Goethe gespürt hätte, wie leicht diese Worte Irrtümer
hervorrufen könnten, fügt er hinzu: »Ich darf nicht fortfahren,
denn im Laufe der Rede könnte man doch abirren [I] und das
wollen wir vermeiden.«
Viele Kleistforscher glaubten, sich Nietzsches Folgerungen
aus diesem Brief Goethes an Zelter aneignen zu sollen. Sie
konnten auf ein zweites Zeugnis hinweisen. An Schiller hatte
Goethe früher einmal geschrieben (9. Dez. 1797): »Ohne ein
lebhaftes pathologisches Interesse ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe
sie daher lieber vermie<;len als aufgesucht. Sollte es wohl auch
einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein? daß das
höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die Naturwahrheit mit wirken muß, um ein
solches Werk hervorzubringen. Ich kenne mich zwar nicht selbst
genug, um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben
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könnte, ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen und bin
beinahe überzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch
zerstören könnte.«
Zitiert man, wie es gewöhnlich geschieht, nur den letzten Satz
dieser Briefstelle, so liegt es nahe, den Schluß zu ziehen, Goethe
sei »im Grunde seines Wesens untragisch«.8 Aus dem Zusammenhang aber ergibt sich: Goethe erschrickt vor dem Schreiben
einer »wahren Tragödie«, weil er das »Mitwirken der Naturwahrheit« scheut, und das damit verbundene »pathologische
Interesse«. Als moderner Dichter müßte er - seiner Überzeugung nach - viel mehr als der antike selbsterfahrene Schmerzen
durchkosten, um tragische Situationen zu gestalten. Etwas Gefährdendes sieht Goethe hierin, weil er das unheimliche Ausmaß seiner Leidensfähigkeit kennt. Hatte jenes »pathologische
Interesse« schon für Schiller »viel Angreifendes«9, so wirkte es
auf Goethe »zerstörend«. Der wahre Grund liegt aber nicht in
der »Konzilianz« von Goethes Natur, sondern vielmehr in einer
jedes Normalmaß übersteigenden Leidenschaftlichkeit, - von
der in seinem Dichten Gestalten wie Werther, Tasso, Faust,
Eduard zeugen. Die »konziliante« Haltung war erst das Sekundäre, etwas nach und nach Erworbenes. Mit ihr suchte Goethe
das ihn stets Bedrohende, maßlose Leidenschaft, zu bändigen.
Weil er hierüber nicht reden mochte, brechen jene Bekenntnisse in dem späten Brief an Zelter ab, bleiben unvollständig und
- in ihrer ironischen Bescheidenheit - mißverständlich. Auch
Nietzsche ließ sich durch sie irreführen. Sein Satz, Goethe sei im
Gegensatz zu Kleist konziliant und heilbar, würde richtiger
lauten: in seinem Verhältnis zum Tragischen war Goethe womöglich noch »unheilbarer« als Kleist. Gerade deswegen
scheute er als Dichter das Aufsuchen tragischer Situationen, das
»Unversöhnliche« des »reintragischen Falls«.
Es ist das Verdienst Bernhard Blumes, mit Entschiedenheit
darauf hingewiesen zu haben, daß Understatement, »Milde« des
Alters die Selbstcharakteristik Goethes in jenem späten Brief an
Zelter bestimmte, und daß man Nietzsches Folgerungen daraus
»allzu oft und allzu geflissentlich nachsprach«. Mit Recht
machte Blume geltend, es sei dabei außer Betracht gelassen, daß
Goethe doch zahlreiche Werke geschrieben hat, »die aus den
tragischen Leidenstiefen der menschlichen Natur heraufgeholt
sind«, Werke wie Werther, Ur/aust, Clavigo, Tasso, Helena-
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Tragödie, Wahlverwandtschaften. Überdies habe gerade Kleist
ganz ähnlich wie Goethe sich immer wieder vom Tragischen
weggewandt, zur Komödie, zum Schauspiel, zum Märchen. lo
Blume hat gezeigt, daß sich überhaupt mit ebenso guten
Gründen Ähnlichkeiten zwischen Kleist und Goethe nachweisen lassen wie Unterschiede. So vertrat auch Benno von Wiese
die Ansicht, daß es bei beiden, Goethe wie Kleist, um Tragik
gegangen sei. Während besonders die neueste Forschung es
liebt, die »Furcht« Goethes vor dem »tragischen« Kleist zu
betonen, behandelt B. v. Wiese das Problem behutsamer mit
anderer, und wie es uns scheint, richtigerer Akzentuierung:
Goethe habe »die Kleistsche Entscheidung für das unberechenbar Irrationale als eine explosive Gefahr empfinden« müssen,
weil er nämlich hier »die von ihm [Goethe] bekämpften inhumanen und barbarischen Möglichkeiten des Deutschtums witterte«Y
Allerdings hat diese Definition den Vorzug, viel besser in
Einklang zu stehen mit den Kategorien, nach denen Kleist in
den zahlreichen tadelnden Worten Goethes gemessen wird.
Innerhalb dieser Äußerungen existiert nämlich nicht ein einziges Wort, aus dem sich der Schluß ziehen ließe, daß Goethe an
Kleist »das Tragische« unheimlich gewesen sei und daß er ihn
deshalb »gefürchtet« habe. An dem tragischsten Bühnenwerk
Kleists, der Penthesilea, bemängelte Goethe gerade ein »Hochkomisches« in »einigen Stellen«.12 Dagegen findet man immer
wieder bei Goethe das Inhumane als Gegenstand seiner strengen Kritik: so wenn er die »peinliche« und »grausame Situation« beim Amphitryon-Schluß rügt, wenn er die Gewaltsamkeit
und Streitsucht der Penthesilea verurteilt oder im Falle des
Michael Kohlhaas das Geltendmachen »gründlicher Hypochondrie im Weltlaufe«.
Betrachtet man Goethes kritische Äußerungen über Kleist
einzeln und in ihrer Gesamtheit, so ergibt sich, daß Kleists
Dichtungen eher unangenehm auf Goethe gewirkt haben als
unheimlich. Wenn Goethe »Schauder und Abscheu« empfand,
so nicht vor Kleists Tragik als solcher, sondern deshalb, weil
dieser Dichter ihm erschien »wie ein von der Natur schön
intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit
ergriffen wäre«. Das ursprünglich Gegebene in Kleists Natur
erkannte Goethe an, doch fand er, daß das »Natürliche« durch
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»Entstellung« verdorben war. Weniger vor der Gesamterscheinung Kleists regte sich Goethes Widerwille, als vor vielen
Einzelzügen seines Werks. Hier stieß er auf Peinliches, Unmenschliches, Pathologisches, das dem »reinsten Vorsatz einer
aufrichtigen Teilnahme« störend entgegentrat. All das ist weit
entfernt von der »Ablehnung des tragischen Weltbildes« und
dem Entgegenstellen eines »prinzipiellen Moralismus« 13, - man
wird Goethe nicht gerecht, wollte man derartiges aus seinen
Äußerungen über Kleist herauslesen.
Doch ist es auch nötig, Folgendes zu bedenken. Selbst wenn
man die Behauptung des alten Goethe, er sei nicht zum tragischen Dichter geboren, gelten lassen wollte ohne Berücksichtigung seiner vielen tragischen Werke, selbst dann ließe sich nur
sagen, daß Goethe bei seinem eigenen Produzieren dem Tragischen, speziell der Tragödie gegenüber eine gewisse Distanz
hielt. Keineswegs wäre die Folgerung berechtigt, Goethe habe
deswegen dem Schaffen anderer tragischer Dichter seine Anteilnahme versagen, es von sich fernhalten müssen. Hiermit stände
die Tatsache nicht in Einklang, daß Goethe als Literaturkenner,
Kunstbetrachter, besonders auch als Theaterfachmann jedweder tragischen Dichtung gegenüber so aufgeschlossen wie nur
möglich war. Hat er nicht die antike Tragödie verehrt, Shakespeare gepriesen, den Tragiker Schiller hochgeschätzt? Von
Calder6n bis zu den Trauerspieldichtern der romantischen Gegenwart nahm er positiven Anteil an Tragischem, auch wenn es
seiner eigenen Richtung nicht eigentlich entsprach. Zahllose
schriftliche und mündliche Äußerungen bezeugen derartige Interessen Goethes. Vergebens würde man in ihnen eine grundsätzliche Ablehnung des Tragischen suchen. Wieviele Produktionen zeitgenössischer Tragiker hat Goethe in Weimar zur
Aufführung gebracht! Der Fall des Abweisens der Penthesilea
stellt eine Ausnahme dar. Dabei hat aber nicht das Tragische an
Penthesilea, eher das Gegenteil Goethes Ablehnung bewirkt.
Es blieb auch nicht aus, daß Goethe in den Dichtungen
zeitgenössischer Tragiker auf Züge traf, ähnlich jenen, die ihn
angeblich vor Kleist zurückschrecken ließen. Ein gutes Beispiel
hierfür bieten die enkomiastischen Aufsätze, mit denen er sich
wiederholt für den Tragiker Manzoni einsetzte. In Manzonis Jl
conte di Carmagnola findet Goethe den Stoff »vollkommen
prägnant, tragisch«, nämlich »unausgleichbar«. Er spricht von
219
dem Sichgegenüberstehen »unvereinbarer, einander widersprechender Massen«, zweier »entgegengesetzter Denkweisen«. Bei
dem Manzonischen Helden beruhe alles auf einer »gewaltsamen, weder Bedingung noch Hindernis anerkennenden Persönlichkeit«, sein Charakter sei »heftig, störrisch, eigenwillig«, zur
»Gewalttätigkeit hinstrebend«.14 Keineswegs aber läßt Goethe
sich durch all das irritieren, was doch zu erwarten wäre, wollte
man jene Äußerungen über das Verhältnis zum Tragischen in
dem späten Brief an Zelter verabsolutierend auffassen. Das
»Unversöhnliche« im »rein tragischen Fall«, das Goethe dort
als ihn nicht interessierend, als »absurd« bezeichnet - hier, wo
es ihm im Trauerspiel eines anderen zeitgenössischen Dichters
entgegentritt, sieht er es als bedeutsam an, nichts daran stört
ihn. Damit bestätigt sich: wie Goethe als Dichter zum Tragischen steht, das bestimmt nicht die Maßstäbe, nach denen er als
Literatur- und Theaterfachmann wertet und urteilt.
Die Gründe aber, um derentwillen Goethe den Tragiker
Manzoni - anders als Kleist - akzeptiert, werden ersichtlich aus
den von ihm gesetzten lobenden Akzenten. Er findet in dessen
Tragödie alles »natur- und kunstgemäß«, preist darin die »natürlich-freie bequeme Ansicht der sittlichen Welt«, sowie eine
Sprache »frei, edel, voll und reich ... , durch große, edle, aus
dem Zustand herfließende Gedanken erhebend und erfreuend«.
Ähnlich lobt Goethe an Manzonis Tragödie Adelchi den »reinen, humanen Sinn«, die »zarten Gesinnungen und Gefühle«,
mit denen die doch einer »halbbarbarischen Zeit« entstammenden Helden ausgestattet seien. 15 Das Gefallen Goethes an Manzoni war so groß, daß er ihn sogar gegen die Bezichtigung des
»Romantizismus« in Schutz nimmt. Da bei Manzoni »männlicher Ernst und Klarheit zusammenwalten«, möchte Goethe den
Conte di Carmagnola ausdrücklich als »klassisch« bezeichnet
wissen. »Unsere guten deutschen Jünglinge könnten an ihm ein
Beispiel sehen, wie man in einfacher Größe natürlich waltet«
- bei diesem Wink mag Goethe noch an Kleist und dessen
postume Wirkung mitgedacht haben. 16 Jedenfalls vermißte er an
Kleist all die Züge, die er an Manzoni preist: das NatürlichFreie, Erhebende, Humane usw. Weil derartiges ihm in Penthesilea, im Kohlhaas zu fehlen schien, lehnte Goethe diese Werke
ab, nicht weil darin zuviel des »Tragischen« warY
Ähnliche Resultate ergeben sich, wenn man Goethes positive
220
Einstellung zu Byron mit seiner Ablehnung Kleists vergleicht.
Auch Byrons Tragödien gegenüber gab es bei Goethe kein
Fürchten und Erschrecken. Dabei hat er an Byron, so sehr er
ihn bewunderte, vieles getadelt, was er auch Kleist vorwarf.
Byrons Streitsucht z. B. war immer wieder Gegenstand solchen
Tadels, Goethe fand die »ewige Opposition und Mißbilligung
seinen vortrefflichen Werken selbst ... höchst schädlich«. An
seiner »unseligen polemischen Richtung«, dem »Mißverhältnis
mit der Welt«, sei Byron schließlich zugrunde gegangen. 18 In
Goethes grundsätzlich bewundernder Charakteristik von Byrons Man/red wird doch gesprochen von der Hypochondrie, der
»düsteren Glut einer grenzenlosen reuigen Verzweiflung«, die
»am Ende lästig werde«. Byron wühle »höchst grausam in
seinen eignen Eingeweiden«, er »wiederkäue seinen unerträglichen Schmerz«, schleppe sich mit Gespenstern herum. »Übermut, Starrsinn, rauhes Betragen«, das seien Züge, mit denen
Byron sein »tragisches Ebenbild belaste«.19 Den Don Juan
nennt Goethe ein »grenzenlos-geniales Werk«, doch sei der
Inhalt »wild, schonungslos« und vielfach »menschenfeindlich
bis zur herbsten Grausamkeit«. Das »Unsittlichste, was jemals
die Dichtkunst hervorgebracht«, sei Byrons Don Juan. 20 Kritisch vermerkte Goethe auch, daß in Byrons Werken »fast nicht
ein einziges heitres Sujet« behandelt worden sei. Im übrigen
fand er sämtliche Dramen Byrons auch nicht theatergerecht. 21
All diese und andere Einwände gegen Byron gleichen weitgehend denen, die Goethe gegen Kleist erhob. Dennoch wurde
Byron von ihm verehrt: ein weiterer Beweis, daß aus den späten
Bekenntnissen im Brief an Zelter keine zu weit gehenden
Schlüsse gezogen werden dürfen. Die »Konzilianz« seines eigenen Wesens mußte Goethe nicht unbedingt davon abhalten,
einen Dichter und Tragiker von ganz entgegengesetztem Naturell anzuerkennen, zu lieben. Am Falle Byron wird deutlich, daß
auch der sittliche Aspekt für Goethes Bewerten nicht den
Ausschlag gab. Von einem »prinzipiellen Moralismus«22, den
Goethe dem Tragischen gegenübergestellt habe, sollte besser
nicht gesprochen werden, auch nicht im Zusammenhang mit
Kleist.
Was die vielen bewundernden Äußerungen Goethes über
Byron angeht, so finden wir z. B. Vortrefflichkeit der Motivierung gelobt, Schönheit und »Idealität seiner Frauengestalten«,
221
Zartheit der Gefühle, - lauter Züge, die Goethe bei Kleist
vermißte. Vor allem staunte er über die unvergleichliche Erfindungsgabe, die Weite, »Umsicht«, die »Wahrheit und Großheit«, die »große Gegenwart aller Dinge« in Byrons Dichtungen. 23 »Grandiosität« ist ein oft wiederkehrendes Wort, wenn
G6ethe das Außerordentliche an Byron zu bezeichnen sucht.
Als Eckermann einmal bezweifeln wollte, ob aus Byrons Schriften für die reine Menschenbildung Gewinn zu schöpfen sei,
widersprach Goethe: »Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? - Wir müssen uns hüten, es
stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen.
- Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.«24
An Kleisthatte Goethe entsprechende Qualitäten nicht zu
sehen vermocht. Auch die spezifische Grandiosität Kleists
sprach nicht zu ihm. Moralische Kategorien können dabei - wie
das letzte Zitat abermals lehrt - nicht ausschlaggebend gewesen
sein, ebensowenig das »Tragische«. Offenbar gehörte Kleist in
Goethes Augen eher zu den Gedrückten, durch Charakter und
Lebensverhältnisse Eingeengten, wie Jean Paul, wie Hölderlin.
So wählte Goethe Byron, nicht Kleist, als er in der EuphorionGestalt des Faust II den repräsentativen Dichter der Zeit feierte. Als er diese Wahl einmal Eckermann gegenüber begründete,
nennt er Züge, die wiederum an Kleist erinnern: »Ich konnte als
Repräsentanten der neu esten poetischen Zeit, sagte Goethe,
niemanden gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte
Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann, Byron ist
nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der
gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben. Auch
paßte er übrigens .ganz wegen seines unbefriedigten Naturells
und seiner kriegerischen Tendenz, woran er in Missolunghi zu
Grunde ging. «25
Auch an Kleist hatte Goethe beobachtet: das Verhältnis zu
Antike und Romantik (Amphitryon), das unbefriedigte Naturell
(Kohlhaas), die kriegerische Tendenz (Penthesilea, Phöbus).
Doch immer war seine Reaktion vorwiegend negativ gewesen.
Warum wurde Byron ihm, unter solchen Gesichtspunkten betrachtet, nicht verleidet? Die Antwort läßt sich zusammenfassen
in zwei Versen der Nänie auf Euphorion im Faust:
Dir in kiar- und trüben Tagen
Lied und Mut war schön und groß.
222
Byrons Wesen und Dichtung konnte Goethe durch diese
Worte resümierend bezeichnen, Kleists nicht. Ein Fazit solcher
Art mußte er ziehen können, sollte ein Dichter vor ihm bestehen. Das Tragische - es wird durchaus in den Versen gesehen
- mußte balanciert sein durch Eigenschaften wie Mut, Grandiosität, Schönheitssinn. 26 Konnte Goethe dies bei Kleist nicht
finden, vermochte er ihn nicht im Euphorion zu feiern, so
machte er doch in der Euphorion-Szene - dies darf nicht
unbemerkt bleiben - ausgiebig Gebrauch von einem typisch
Kleistischen Motiv. Es ist das Motiv der gewaltsamen Liebeswerbung, das Goethe an der Penthesilea so beeindruckt hat. Die
Szene zwischen Euphorion und dem jungen Mädchen gleicht in
ihrer Struktur auffällig der Penthesilea-Handlung: wilde Verfolgung des geliebten Partners, nach Art einer Jagd (»Ich bin der
Jäger, / Ihr seid das Wild« ... »Klingt es doch wie Hörnerblasen«), Liebe verbindet sich mit der Lust am Zwang (»Nur das
Erzwungene / Ergetzt mich schier«). Sehr Kleistisch erscheinen
besonders die Verse Euphorions, als er das junge Mädchen,
»von dem ganzen Haufen die Wildeste«, hereinträgt:
Schlepp' ich her die derbe Kleine
Zu erzwungenem Genusse.
Mir zur Wonne, mir zur Lust
Drück' ich widerspenstige Brust,
Küss' ich widerwärtigen Mund,
Tue Kraft und Willen kund.
In der Pandora, in den Wunderlichen Nachbarskindern, im
Neuen Paris hatte Goethe Paare gezeigt, die sich mit ähnlich
streitbarer Haßliebe begegnen. Darin lag Kritik an.Kleists Penthesilea, Kritik besonders in dem Sinne, daß das Motiv solcher
Haßliebe auf jugendliche Unreife hinweist. Kennzeichen der
Jugend und ihrer Maßlosigkeit aber ist auch die Liebesverfolgung in der Euphorion-Szene. So erscheint es nicht unmöglich,
daß Goethe in dieser Partie der Faust-Dichtung, die vom Geist
zeitgenössischer Dichtung handelt, auch Kleists nochmals gedacht hat. Es wäre das eine Erinnerung an die Zeit, in der die
Beschäftigung mit Kleist am intensivsten war, die Zeit der
relativ größten Nähe beider Dichter.
Während dieser Epoche hatte Kleist sein Interesse erweckt
vor allem durch das augenfällige Bestreben, mit Goethe zu
223
wetteifern. Zu fragen ist, ob nicht am Ende der Euphorion-Szene ein auffälliger Zug hierauf anspielt. Das Thema vom agonalen Verhältnis unter Dichtern erscheint nämlich in den Versen,
die Mephistopheles spricht, als er die »Exuvien« des entschwundenen Euphorion im Proszenium emporhebt - Kleid, Mantel
und Lyra, die Attribute des Apollon -:
Die Flamme freilich ist verschwunden,
Doch ist mir um die Welt nicht leid.
Hier 'bleibt genug, Poeten einzuweihen,
Zu stiften Gild- und Handwerksneid.
[Zuerst: Genug den Dichterling zu weihen
Zu reichem Gild- und Handwerksneid.)
Gesprochen nach der feierlichen Nänie auf Euphorion-Byron
wirken die Verse wahrhaft befremdlich. Weder mit Euphorion
noch mit Byron ergibt sich ein Bezug. Byron lag wiederholt mit
seinen Rezensenten in Fehde. 27 Das war aber kein Streit mit
Dichterkollegen. Charakteristisch für Byron war eher das harmonische Verhältnis zu Dichtern: mit Shelley verband ihn enge
Freundschaft; Goethe hat er bis zuletzt öffentlich gehuldigt,
ohne allen Neid. Dagegen war Kleist zu Goethe selbst in ein
agonales Verhältnis getreten. »Gild- und Handwerksneid« unter Dichtern - das Phänomen hatte Goethe beschäftigt, als er
sich mit Kleist auseinandersetzte. Im Phöbus war es ihm entgegengetreten. An Kleists Phöbus-Gedicht Vokation erinnert besonders die seltsame Wendung vom »Einweihen« des Poeten,
des Dichterlings. 28 Wo gäbe es hier einen Bezug auf Byron, auf
Euphorion? Daß Mephistopheles den Gedanken des Poetenneids verbindet mit den Apollo-Attributen, hat zudem im Phöbus eine Parallele. Dort erscheinen die Attribute, u. a. die Lyra,
dargestellt auf dem Umschlagbild, und Kleist betrachtete sie
offenkundig als Symbole dichterischen Rivalisierens. 29 So wäre
es wohl denkbar, daß in den Mephistopheles-Versen, ähnlich
wie in der Liebesszene der Euphorion-Partie, Erinnerungen an
Kleist festgehalten sind. Der derb-ironische Ton der Verse hat
Parallelen im West-östlichen Divan, wo Goethe inzwischen vom
Dichter-Agon als überall wiederkehrender Erscheinung humorvoll gesprochen hatte:
Keinen Reimer wird man finden,
Der sich nicht den besten hielte ...
224
Gesteht'st die Dichter des Orients
Sind größer als wir des Okzidents.
Worin wir sie aber völlig erreichen,
Das ist im Haß auf unsresgleichen. 30
Stellen wir jetzt nochmals die Frage, was Goethe eigentlich
zur Ablehnung Kleists geführt hat, so müssen wir sagen: das
»Tragische« bei Kleist entfällt als Ursache, da es bei Goethe
keine grundsätzlich negative Einstellung zu tragischer Dichtung
gab; moralische Einwände können nicht ausschlaggebend gewesen sein - am »Sittlichen« bemaß Goethe nicht unbedingt die
Größe eines Kunstwerks und dessen »bildende« Wirkung.
(Goethes eigene Dichtung war oft genug der Unsittlichkeit
bezichtigt worden.) Bleibt als ein wichtigster Faktor das romantisch Krankhafte, das Goethe an Kleist empfand. Wirklich ließ
dies in ihm etwas entstehen wie unüberwindliche Abneigung,
jenes Urgefühl, das so oft Menschen unerbittlich trennt, das
Goethe im Faust bezeichnet mit dem Wort: »Du hast nun die
Antipathie.« Weil Kleist ihm »unheilbar krank« erschien,
konnte Goethe ihn nicht akzeptieren wie Byron. Er sah ihn
vielmehr in einer Reihe mit romantischen Dichtern nach Art
von Fouque oder Victor Hugo.Fouque galt ihm - bei allem
Talent - als krank, behaftet von den »Röteln der Zeit«.31
Deshalb weigerte er sich lange, dessen Zauberring auch nur zu
lesen: »denn: das ist mir verboten von meinen Obern«.32 Ähnlich sah Goethe Victor Hugo mit seinem »entschiedenen Talent« - »ganz in der unselig-romantischen Richtung der Zeit
befangen«. Neben dem Schönen fand er hier das »Allerunerträglichste und Häßlichste«. »Warum« - fragte er - »sollte ein
Mensch, der sich bis in's hohe Alter einen natürlichen Sinn zu
erhalten suchte, sich mit solchen Abominationen abgeben?«
Besonders tadelte Goethe, daß die Darstellung bei Hugo »ohne
alle Natur und ohne alle Wahrheit« sei, er gestalte »keine
Menschen mit lebendigem Fleisch und Blut, sondern elende
hölzerne Puppen . . . die er allerlei Verzerrungen und Fratzen
machen läßt«.33 Mit solchen Perspektiven müssen wir rechnen,
wenn Goethe, im Hinblick auf Kleist, von den »Gespenstern
dieser Kranken« spricht. 34 Er hat eine ganze Kunstrichtung im
Blick, der es an jener »gesunden Natur« fehlt, die er bei Kleist
vermißt. Stets machte Goethe die Verderbtheit der Epoche, der
»Zeit« hierfür verantwortlich. Ausdrücklich bezeichnete er ein-
225
mal Kleists »Ausbildung« als »durch die Zeit gestört« - darum
»halte er nicht, was er zugesagt«.35
Solange Kleist lebte, hatte Goethe noch versucht, auf dessen
»Ausbildung« einzuwirken, durch Briefe, durch Winke, die er in
seinen Schriften gab. Er sah vielversprechende Anlagen, ein
»schön Intentioniertes« in Kleists Natur, und anfangs auch die
scheinbare Bereitschaft, sich ihm anzuschließen: Doch blieben
all diese Möglichkeiten ungenutzt, Kleist schien sich vielmehr
eigenwillig Zu entfernen. Die Enttäuschung hierüber verstärkte
Goethes Antipathie, sie war der zweite Hauptgrund für seine
Ablehnung Kleists. Hier mag noch eines charakteristischen
Unterschieds gedacht werden, der zwischen dem Verhältnis
Goethes zu Kleist und dem zu Byron erkennbar wird. Es ist
überliefert, daß Goethe von Lord Byron zu reden pflegte »mit
vieler Liebe, fast wie ein Vater von seinem Sohne«.36 Solche
Anerkennung als Sohn, Erbe, Nachfolger Goethes, sie war das
- von Kleist erträumte Wunschziel. Goethe wußte das sehr wohl.
Doch Kleist als Sohn zu betrachten, war ihm unmöglich. Mochte
Kleist ihm auch mit mancher Geste huldigen, sein Wirken
schien dem nicht zu entsprechen. Bei Goethe entschied der
Eindruck, ähnlich wie im Fall Friedrich Schlegels, getäuscht,
hintergangen zu werden. Den angeblichen Verehrer betrachtete
er nun als Widersacher. Im Prinzen von Homburg wurde Goethe nochmals in fast rührender Weise von Kleist verehrungsvoll
als Vatergestalt gesehen - doch hat Goethe davon wohl nichts
mehr wahrgenommen.
Die an Kleist gemahnenden Partien der Euphorion-Szene
deuten im übrigen nochmals darauf hin, daß Goethes Teilnahme
an Kleist in seinen Altersjahren nicht ganz geschwunden war.
Besonders Mephistos Wort vom »Gild- und Handwerksneid«
unter Poeten ist geeignet, an das Wesentliche zu erinnern: das
agonale Verhältnis zwischen Goethe und Kleist. Der Agon zeigt
insgesamt - das haben unsere Betrachtungen ergeben - bei
beiden einen unterschiedlichen Aspekt. Kleists Wetteifern mit
Goethe resultiert vor allem aus persönlichem Ehrgeiz. Ihm ging
es darum, als erster Dichter der Zeit gekrönt zu werden. Soweit
Goethe sich herbeiläßt, mit Kleist in die Schranken zu treten,
bestimmen ihn sachliche, überpersönliche Absichten. Er verteidigt ein Kunstprinzip, für das er steht, will die überlegenheit
und Herrschaft der Klassik anerkannt wissen.
226
Eher für Kleists Verhalten könnte demnach das Wort vom
»Gild- und Handwerksneid« Gültigkeit haben, wobei es im
Sinne Hesiods aufzufassen wäre, nicht kleinlich in seiner Bedeutung. Für Goethe war Kleist kein neiderregender Rivale. Dies
zu betonen mag nötig sein, damit unsere Charakteristik von
Goethes Verhältnis zu Manzoni und Byron nicht falsche Vorstellungen aufkommen läßt. Es könnte die Meinung entstehen,
daß Goethe bedeutende Dichter des Auslandes williger anerkannt habe, weil sie als ernstliche Rivalen für ihn nicht in
Betracht kamen. Seine Ablehnung Kleists aber resultiere letzten
Endes aus Furcht vor gefährlicher Konkurrenz eines deutschen
Dichters.
Vermutungen dieser Art würden aber jeder Grundlage entbehren. In Betracht zu ziehen ist:
1. Goethes Äußerungen gegen Kleist zeugen durchweg von
einer elementaren inneren Abneigung, nicht von äußeren diplomatischen Absichten.
2. Alle diese Äußerungen sind privater Natur. Soweit Goethe
öffentlich gegen Kleist {luftrat, geschah es nur zu dessen Lebzeiten in dichterischen Andeutungen, bestimmt zu persönlicher
Belehrung des jüngeren Künstlers und Gildegenossen.
3. Kritische Sätze gegen Kleist, die der späte Goethe gelegentlich niederschrieb mit dem Gedanken der Veröffentlichung, ließ
er nicht zum Druck gelangen. So unterdrückte er einen für die
Tag- und Jahres-Hefte bestimmten Passus; so ließ er auch den
Tieck-Aufsatz mit seinen scharfen Formulierungen über den
»unheilbar kranken« Kleist ungedruckt. 37
4. Bezeichnend für Goethes Haltung sind die im Tagebuch
1827 angestellten Betrachtungen über Hothos Kleist-Rezension
sowie der Vergleich- von Amphitryon und 1001 Tag. Das Bedürfnis, sich klarzumachen, was er gegen Kleist auf dem Herzen
hat, ist bei Goethe etwas Bleibendes, es führt ihn noch im hohen
Alter zu ausführlichen Betrachtungen. Doch beschränkt er sich
dabei auf Selbstgespräch oder private Unterhaltung. Kein öffentlicher Angriff erfolgt. Gerade damals betont Goethe - im
Gespräch über Kleist - die Absicht, »unsern Weg still fortzugehen«.38
Wenn Goethe es später unterließ, in der Öffentlichkeit werbend für Kleist einzutreten, so kann aus diesem Schweigen
gleichfalls nicht auf Konkurrenzneid gegenüber einem deut227
sehen Dichterrivalen geschlossen werden. Dem stände entgegen
die Vielzahl der Fälle, in denen erfolgreiche Dichter Deutschlands Goethes Anerkennung, Lob, Protektion in weitesten Ausmaßen erfahren haben. Besonders wäre an Schiller zu denken,
der im deutschen Bereich ein echter, der größte Konkurrent
Goethes war und dessen Wirkung tatsächlich in den Schatten
stellte. Doch wurde Goethe nie müde, Schiller öffentlich zu
preisen. Was Kleist betrifft, so plante Goethe immerhin eine
Ehrung nach dessen Tod durch nochmalige Aufführung des
verbesserten Zerbrochnen Krugs. Andere erfolgreiche deutsche
Dichter aus Kleists Generation wurden neidlos von Goethe
gefördert. Sein Eintreten für Zacharias Werner kann als eindrucksvolles Beispiel gelten. Obwohl auch Werners Richtung
Goethe nie recht behagte, führte er doch dessen Tragödien
immer wieder auf, Ruhm und Publikumserfolg ihm gerne gönnend. Das Zutagetreten dichterischen Wetteifernszwischen Goethe und Werner kennzeichnet den Geist der Jahre, in die auch
Kleists Wirken fiel. 39
Nach alldem wäre es nicht möglich, von Konkurrenzneid bei
Goethe zu sprechen. Vorwürfe in dieser Richtung hat der
Dichter jedoch schon zu seinen Lebzeiten über sich ergehen
lassen müssen. Eckermann weiß darüber zu berichten. »Da man
nun an meinem Talent nicht rühren kann«, sagte Goethe einmal
zu ihm, »so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz
sein, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente . .. Sie
kennen mich nun seit Jahren hinlänglich und fühlen, was an all
dem Gerede ist ... Ein deutscher Schriftsteller, ein deutscher
Märtyrer!« Bei anderer Gelegenheit betont Goethe: »Ein treffliches Werk eines Andern soll niemals Neid in mir erregen.«40
Dem Mephistopheles-Wort vom »Gild- und Handwerksneid«
der Poeten ist ergänzend zur Seite zu stellen Goethes denkwürdiges Bekenntnis aus der Sammlung Sprichwörtlich (Y. 410 f.):
Und was ich auch für Wege geloffen,
Auf'm Neidpfad habt ihr mich nie betroffen.
*
Die Zeit des eigentlichen Wettkampfes zwischen Kleist und
Goethe waren die Jahre 1808 bis 1811. Durchaus nicht nur
Fehde und Kritik traten damals in Erscheinung. Beide Dichter
erwiesen sich auch, trotz aller Differenzen, gegenseitig Achtung
228
und Ehre - mehr als man bisher wahrnahm, wie sich zeigen ließ.
Der Agon erhält damit Züge einer Noblesse, die das düstere
Bild schicksalhafter Fremdheit mildern. Es sei aber daran erinnert: wo immer in der Geschichte der Künste es zu einer Epoche
der wirklich reichen Blüte kam, werden wir geniale Künstler,
Hauptexponenten einer solchen Epoche, in einem streitbaren,
agonalen Verhältnis finden. Der Große vermag den Großen oft
am wenigsten zu verstehen, er weiß ihn aber zu achten. Daraus
entstehender fruchtbarer Streit wiederholt sich in der Geschichte der Literatur, der bildenden Kunst, ja der Musik, seit den
Tagen, als der Sage nach von HomeT und Hesiod der musische
Agon erfunden wurde. In solchen Blütezeiten kommt es auch
dazu, daß die wetteifernden Künstler in ihren Werken sich
gegenseitig anregen, daß sie sich zitieren, wie etwa die Meis.ter
der gotischen Baukunst, oder die Maler der Renaissance voneinander Motive übernahmen und auf die Weise einander steigerten. In der Goethezeit bieten Kleist und Goethe ein solches
Schauspiel und gemahnen dar an - wenn es dessen bedürfte -,
daß diese Epoche eine der letzten großen Blütezeiten der Kunst
war.
Nachspiel
1. Holteis Chaos-Prolog
Das erste Heft des Phöbus hatte Kleist mit einem Gedicht
Prolog eröffnet, dessen Bestimmung es war, den Titel der
Zeitschrift zu interpretieren und zugleich ihr Programm anzukündigen. Herausfordernd deuten die ersten Verse auf die
progressive Haltung:
Wettre hinein, 0 du, mit deinen flammenden Rossen,
Phöbus, Bringer des Tags, in den unendlichen Raum!
Gib den Horen dich hin! Nicht um dich, neben, noch rückwärts,
Vorwärts wende den Blick ...
Die Nennung der Horen erweckt absichtsvoll Erinnerungen
an Schillers Horen-Zeitschrift. Mit der Forderung, nicht rückwärts zu schauen, ist angedeutet, daß Phöbus die Schillersehen
Horen hinter sich läßt, er ist der Bringer eines neuen »Tags«.
Goethe gab in die Eröffnungsnummer des Chaos (September
1829) ein Gedicht, das sich wie eine scherzhafte Replik auf
Kleists Prolog-Verse ausnimmt. Auch hier werden »Phöbus
Rosse« mit den »Horen« konfrontiert, nur ist die Sehweise
anders:
Wenn Phöbus Rosse sich zu schnell
In Dunst und Nebel stürzen,
Geselligkeit wird, blendend hell,
Die längste Nacht verkürzen.
Und wenn sich wieder auf zum Licht
Die Horen eilig drängen,
So wird ein liebend Frohgesicht
Den längsten Tag verlängen.
Der Sonnengott ist nicht wie bei Kleist »Bringer des Tags«,
sondern der langen Winternächte. Die Horen bewirken die
Wiederkehr des Lichts, erscheinen also in bevorzugter Rolle.
Goethes Verse interpretieren nicht wie Kleists Prolog den Titel
der neuen Zeitschrift, enthalten aber wohl- gleich jenem - eine
Andeutung des Programms: ein gesellig buntes Spiel soll der
Aufheiterung in lichtloser Jahreszeit dienen.
Die Annahme, daß mit »Phöbus Rossen« und den »Horen«
an Kleist gedacht war, wird durch einen besonderen Umstand
230
gerechtfertigt. In der ersten Nummer des Chaos war auch ein
enthusiastischer Bewunderer Kleists zu Wort gekommen, der
schon damals als Dichter und Theatermann bekannte Kar! von
Holtei. Und zwar hatte Holtei einen zwei Seiten langen Prolog
gedichtet," der, in Analogie zum Phöbus, die Zeitschrift Chaos
einleitete, den Titel interpretierte und ihr Programm ankündigte.'
Drei Hauptpunkte dieses Programms mögen bei Goethe, dem
Mitberater des Chaos-Unternehmens, Mißfallen und Erinnerungen an die Tage des Phöbus geweckt haben. 1. Das »Chaotische« der Zeitschrift will Holtei vor allem in den literarischen
Formen manifestiert sehen, d. h. in der Formlosigkeit. Gleich in
den ersten Zeilen fordert e.r mit pomphaften Formulierungen zu
einem Vernachlässigen von »Form und Regel« auf, plädiert für
ein »planloses«, phantastisches Dichten nach Art der Romantiker. 1 2. Den »chaotischen« Zustand wünscht Holtei kontinuierlich erhalten zu sehen. (»Chaotisch liegt die Zukunft vor uns
da.«) Nie solle der Ruf ertönen: »Es werde Licht.« Mit NovalisTönen verherrlicht er die »Nacht«. An Kleists Verwirrung des
Gefühls erinnert der Ruf nach »holdseigern Wahnsinn, wirrenden Gedanken«. 3. Für ein solches regel- und lichtfeindliches
Programm wird von Goethe Begünstigung erhofft. Schmeichelhafte Worte feiern ihn: »unser hoher Greis, der weise Dichter,
der Meister«.
Holteis Prolog rief in den ersten Nummern des Chaos mehrere
Gegenaktionen hervor, wobei er in allen drei Punkten korrigiert
wurde. Am Anfang des 2. und 3. Hefts erschienen nochmals
»Prologe«, der eine in englischer Sprache (von Knox) , der
andere in französischer (von Soret). Der englische Prolog widerruft zu Beginn Holteis romantisierende Lichtphilosophie:
In twilight Chaos struggled day and night,
A voice said, be there light! and there was light!
Diese beiden Anfangszeilen sind durch Strich vom Nachfolgenden getrennt und nehmen sich wie ein Epigramm aus . Vermutlich beruht das auf Einwirkung Goethes, der das Typographische mit überwachte: der Widerspruch gegen Holteis Satz,
»nie« solle es Licht werden, fällt so besonders ins Auge. Der
französische Prolog betont, daß Chaos nicht als Dauerzustand
gemeint sei:
231
D'un desordre apparent mon Chaos est l'image;
Mais un jour du Chaos fut produit l'univers.
Auch diese beiden Verse sind im Druck epigrammartig abgetrennt, dadurch hervorgehoben. Der Gesichtspunkt, daß aus
»Chaos« die »Kreation« hervorgehen müsse, bildet weiterhin
ein Leitthema der Zeitschrift bis zu ihrem Ende. Beide Prologe
stellen richtig: der Zeitschrifttitel deutet nicht auf einen bestimmten literarischen Formgeschmack, sondern auf äußerste
Liberalität bei Wahl der Beiträge: viele Nationen kommen zu
Wort, äußern sich in/ihrer Sprache, verschiedene Gesinnungen
kommen zum Ausdruck (auch politisch), es ist an gesellige
Unterhaltung durch Scherz und Ernst gedacht, die Anonymität
der Beiträge dient der Redefreiheit. »L'esprit tout-a-fait liberal
du Chaos« heißt es in einem Brief des zweiten Hefts.
Erst in dem dritten Prolog werden von Soret die drei Sprachen
erwähnt, in denen vor allem geschrieben wird: Deutsch, Französisch, Englisch. Offenbar hatte es dem nationalistisch, preußisch
gesinnten Holtei nicht über die Zunge gehen wollen, dies
Hauptcharakteristikum in seinem Eingangsprolog zu erwähnen.
Im ganzen entsprechen die Prologe der Nummern 2· und 3
einer Anregung Ottilies von Goethe, der Redakteurin des
Chaos. Ottilie gab Soret für seinen Prolog den Rat: »Könnte ich
Verse machen, so würde ich das wundersame Chaos was eigentlich in Weimar existiert zum Stoff nehmen, doch muß man
Dichtern nichts vorschreiben.«2 Was das Chaos sei, hat Goethe
ähnlich charakterisiert: einerseits ein »dilettantischer Spaß«,
andererseits auch ein »geistiger Mittelpunkt«, der der Jugend in
Weimar »Gegenstände der Besprechung und Unterhaltung bietet«; damit aber werde das Blatt »ein Spiegel der geistigen Höhe
unserer jetzigen Weimarischen Gesellschaft«.3 In der Tat spiegelt sich im Chaos ein gesellschaftliches Leben, wie es in
Deutschland einzig war: der Zustand Weimars in den 20er
Jahren, als das »Dm-Athen« zum Reiseziel für Intellektuelle des
In- und Auslandes geworden war, als vor allem viele junge
Engländer den Ort zur Bildungsstätte wählten. Das Außergewöhnliche war, daß einmal das Interesse für Dichtung viele
Menschen zu einem Ort hinzog und daß der Ort zum internationalen Treffpunkt wurde (das »Babel an der Ilm«, hieß es bald
witzig im Chaos) - all das ohne jegliche Institutionalisierung von
Festspielen und dergleichen. In diesem internationalen Weimar
232
verstanden viele, die Feder zu führen. Eine Zeitschrift zu schaffen, die den Zustand des damaligen Weimar verewigen könnte,
war ein sehr guter Gedanke. Die deutschsprachigen Chaos-Beiträge halten sich auf einer mittleren Höhe der durch Goethe
geschaffenen Sprache; ein englisches Gedicht war so gut, daß
kein geringerer als Chamisso davon eine deutsche Übersetzung
schuf und sie gleichfalls ins Chaos gab.
Zu Unrecht wurde das Chaos von der Goetheforschung meist
viel zu kritisch beurteilt. Schuld daran und an dem Zögern,
einen Neudruck zu veranstalten, war vermutlich der internationale Charakter, der schon Holtei mißfiel. Goethes Interesse für
Weltliteratur nahm man allenfalls hin. Wie stark dies Interesse
jedoch durch die internationale Weimarer Gesellschaft der 20er
Jahre genährt wurde, blieb unbeachtet. 4 In diesen Jahren erlebte Goethe noch, wie in Deutschland die ersten Großsalven
gegen ihn abgefeuert wurden. Anerkennung kam ihm vom
Ausland. Nicht zuletzt darauf beruht sein Interesse an Ausländern, auch an denen, die nach Weimar gepilgert kamen.
Für die Zeitschrift, die jene gesellschaftliche Blütezeit inWeimar
spiegeln sollte, galt es einen Titel zu finden, der nicht anmaßend wirkte - denn diese Blütezeit war ein Verdienst Goethes,
ähnlich wie die seiner ersten Weimarer Jahre. Mit der Bezeichnung Chaos wich man aus ins Understatement - ein sehr Goethesches Verfahren, und es ist durchaus denkbar, daß der Titel
von Goethe stammt, wie es, wenn auch unsicher, überliefert ist.
Es versteht sich, daß Holteis Eröffnungsprolog mit seiner
eigenwilligen Erklärung des Titels Chaos den Herausgebern
verfehlt erscheinen mußte. Es war nicht die Absicht, ein literarisches Programm zu verfechten, schon gar nicht ein solches, das
mehr Kleistscher Gesinnung als Goethescher entsprach. Diskussionen des Titels Chaos und seiner Bedeutung setzten sich noch
lange fort in heiteren und ernsten Versen. Ein Beispiel sei
angeführt, weil darin auch Holteis Befürwortung von »Wahnsinn« und Kleistscher Gefühlsverwirrung abgewiesen wird
(Zum Neujahr, in Nr. 20):
Sey das Chaos recht chaotisch,
Patriotisch und exotisch,
Britisch, gallisch, welsch und gothisch,
Liberal, servil, despotisch,
Alles sey's - nur nicht narkotisch.
233
Den internationalen Charakter des Chaos betont mit ähnlichen Wendungen noch ein Gedicht in Nr. 17, das sich als
Parodie von Holteis Prolog erweist. (Verfasser war Goethes
Freund Nikolaus Meyer.) Holtei hatte das Chaos langatmig
verglichen mit Zweig, Blatt, Knospen eines »großen Baumes«,
besonders mit einem Zweig (das Wort erscheint fett gedruckt),
wobei der Baum wohl auf Goethe deuten soll. Die Metapher
wird aufgegriffen, jedoch abgewandelt in jenem Gedicht, das
die Linde als »meist verehrten« Baum besingt. Die Linde,
herkömmlicher Sammelplatz geselligen Lebens, steht als Metapher für das Verhältnis des Chaos zu einer internationalen
Gesellschaft. Über diesen Punkt, von dem Holtei zu wenig
gesagt hatte, belehrt nun das Sonett Zum Chaos. Zueignung mit
.
Holteischen Bildern:
. . . Wie auch der Zweig chaotisch erst sich kehre,
Sich kreuze, wend' im widerspenst'gen Spreiten,
- Bald bricht das Blatt, die Knospe, Duft verbreiten
Die Blüthen, daß man Bienen-Summen höre.
Und in dem trauten Schatten, den sie spendet,
Versammeln sich die Freund' am kühlen Abend,
Von Ost und Westen, Britten, Deutsche, Franken;
Der Römer auch sich zu der Linde wendet ...
Von Goethe selbst gibt es verschiedene Reaktionen auf Holteis Prolog. Da erschien zunächst das oben zitierte Gedicht
»Wenn Phöbus Rosse« in der Eröffnungsnummer des Chaos.
Anmutig und prätentionslos deuten die Verse darauf hin, was
das Blatt zunächst sein will: ein belebendes Element für Geselligkeit in trüben und hellen Tagen. Der Hinweis auf die gesellschaftliche Aufgabe korrigiert das in Holteis Prolog skizzierte
Programm. Das Ausmalen des Wieder-zum-Licht-Drängens der
Jahreszeit wirkt wie eine Entgegnung auf Holteis Nachtverherrlichung. Das Erwähnen von »Phöbus Rossen« und »Horen«
bekommt im Zusammenhang mit Holteis Prolog einen leicht
polemischen Akzent. Es deutet an: die Kleistsche Einfärbung
des Holteischen Chaos-Programms ist erkannt. Goethe pariert
den Hieb, indem er Phöbus Rosse und Horen vorführt - ähnlich
wie Kleist im Phöbus, doch mit anderer Wertung. 5
Die These Holteis, »Chaos« solle als »Fehlen von Form und
234
Regel« verstanden werden, rief vor allem Goethes Widerspruch
hervor. Schien. doch mit dieser These der Geist des Phöbus in
sein eigenes Haus einzudringen, lange nach Kleists Tod. 6 Nochmals wurde Goethe die Haltung dessen, der das Kunstgesetz
verteidigen muß, aufgedrängt. Indessen richtete er es so ein, daß
die unmittelbare Gegenaktion von anderen ausging. Mit den
liberalen Grundsätzen des Chaos wäre ein Machtwort von seiner Seite nicht vereinbar gewesen. Doch fand auch Goethe
selbst ein wirksames Mittel, indirekt zu polemisieren. Im dritten
Heft des Chaos ließ er das Gedicht Der Bräutigam erscheinen.
Es war der weitaus bedeutendste Beitrag, den die Zeitschrift je
von ihm empfing, übrigens die späteste Drucklegung eines
großen Goetheschen Gedichts zu seinen Lebzeiten. Im Bräutigam aber herrschen Form und Regel in sublimster Weise. Hatte
Holtei mit seinem Konzept die Klassik totsagen wollen - wie vor
ihm Kleist -, so war er widerlegt. Hier war Klassik lebendig, und
es drängte Goethe offensichtlich, das zu demonstrieren.
Noch in anderer Hinsicht stellt Der Bräutigam eine Reaktion
auf Holteis Prolog dar. Ganz besonders mußte Goethe verstimmen, daß Holtei ihn als »Greis« bezeichnet hatte. Verbindet
sich doch mit dem Wort gewöhnlich die Vorstellung vom Verlebtsein. (Vgl. Grimms Wörterbuch.) Erinnerungen wurden geweckt an die Zeit, da Kleist im Phöbus mit vielen taktlosen
Anspielungen auf Goethes Alter sein aggressives Spiel trieb.
Indem Goethe jetzt als Dichter des Bräutigam hervortrat, gab er
zu erkennen, daß er alles andere als ein verlebter Greis war. Die
Rolle des Bräutigams ist eine jugendliche, und wie Goethe sich
in sie hineinversetzt, das bekundet auch in hohem Alter den
ewigen Jüngling.
In das nächste Heft des Chaos (Nr. 4) gab Goethe das an
Marianne von Willemer gerichtete Gedicht Mit einem buntgestickten Kissen (»Nicht soll's von Ihrer Seite kommen«). Es sind
Verse der Liebe, die wiederum mit dem Prädikat greisenhaft
nicht zusammenstimmen. 7 Chaos Nr. 11 brachte das Gedicht
Die neue Sirene, eine leidenschaftliche Huldigung an »Helena«
von seiten des Divan-Dichters (des »öst- und westlichen Schiffers«). Mit der Bekundungseiner Jugendfrische verbindet Goethe hier einen Chaos-Scherz. Die neue Sirene gab sich als
Übersetzung. Ein griechisches »Original«, von Göttling angefertigt, stand vorweg mit der »Quellen«-Angabe: »Aus der
235
chaotischen Anthologie.« Beides, auffällig gedruckt, nahm die
erste Seite der Nr. 11 ein.
Dieselbe Nr. 11 des Chaos enthält von Goethe noch ein
anderes Gedicht, das eine Reaktion auf Holtei darstellt, und
zwar auf dessen Brief, der Nr. 5 einleitet: An eine Wohl-unbekannte Redaktion der Zeitschrift Chaos in Weimar/Holtei hatte
darin halb neckisch, halb ernst, beim Chaos Beschwerde geführt
über die Anonymität der Beiträge, 'vor allem jedoch über das
sprachliche Durcheinander. Unbefriedigt stellt er fest: »Es ist
und bleibt ein weimarischer Maskeradenspaß!« Dies Wort griff
Goethe auf. Sein Gedicht An Sie in Nr. 11 beginnt so:
Ist das Chaos doch, bei'm Himmel!
Wie ein Maskenball zu achten.
Welch ein wunderlich Getümmel!
Allerlei verschiedne Trachten!
Aber ich will es benutzen
Wie die andern Maskenbälle,
Nicht mich eitel aufzustutzen,
Unbekannt auf jede Fälle ...
»Wie ein Maskenball« - damit gab Goethe selbst eine Interpretation des problematischen Chaos. Mit ihr wurde auf das
vielsprachig internationale Gepräge hingewiesen, auf Maskenbällen erfreut das Kostüm verschiedener Völker. »Denkt nicht,
ihr seid in deutschen Grenzen«, so beginnt die MummenschanzSzene im Faust. Eine Feinheit besteht darin, daß Goethes
Interpretation aus jenem Wort Holteis vom »weimarischen
Maskeradenspaß« entwickelt wird, das eigentlich kritisch gemeint war. Ausgedrückt ist damit: als Benörgler des Chaos hatte
Holtei unversehens den wichtigsten Punkt gut getroffen, den er
in seinem Prolog nicht bezeichnen mochte, weil sein Patriotismus sich dagegen sträubte. Polemische Tendenz zeigt sich in den
Versen An Sie auch in anderer Hinsicht. Wieder tritt Goethe
betont jugendlich auf. Er selbst mischt sich unter das Maskenballtreiben in der Rolle des Teilnehmers und gibt damit auch
weiterhin den Ton an. Das Gedicht rief im Chaos viele Antworten und Gegenantworten hervor mit lustigem. Quiproquo. 8 Ein
Bestreben Goethes, zu erweisen, er sei der Greis nicht, zu dem
Jüngere wie Kleist und Holtei ihn abstempeln wollten, ist öfter
in seinen Beiträgen zum Chaos zu erkennen - bezeichnender-
236
weise nur in den frühen, auf Holteis Prolog folgenden Num..
mern, späterhin nicht mehr.
2. Nachspiel in der Klassischen Walpurgisnacht
War Goethes Auseinandersetzung mit Holteis Chaos-Prolog
ein Nachspiel zu seinem Konflikt mit Kleist, so gibt es noch ein
Nachspiel des Nachspiels, das besonderes Interesse verdient.
Wenige Monate nachdem das Chaos zu erscheinen begonnen
hatte, nahm Goethe im Zuge seiner Faust-Arbeiten die Klassische Walpurgisnacht in Angriff. Hier stoßen wir nun auf folgendes Auffällige. Die Wendung vom »modischen Überkleistern«
der Antike, in der man mit Recht eine Anspielung auf Kleist
vermutet hae, findet sich ganz zu Anfang der Klassischen
Walpurgisnacht, d. h. in der am frühsten - Dezember 1829
- entstandenen Partie. Sie steht in dem ersten Monolog des
Mephistopheles, den dieser spricht, als er die Klassische Walpurgisnacht zu durchschweifen beginnt und zunächst auf Greifen und Sphinxe stößt. Unmittelbar anschließend an das Wort
vom »modischen Überkleistern« kommt es, und das darf uns zu
denken geben, zu einem Ausfall gegen das Wort »Greis«, der im
Schaffen Goethes einzig dasteht. Dort heißt es:
Mephistopheles.
Zwar sind auch wir von Herzen unanständig,
Doch das Antike find' ich zu lebendig;
Das müßte man mit neustem Sinn bemeistern
Und mannigfaltig modisch überkleistern ...
Ein widrig Volk! doch darf mich's nicht verdrießen,
Als neuer Gast anständig sie zu grüßen ...
Glückzu! den schönen Fraun, den klugen Greisen!
Greif schnarrend
Nicht Greisen! Greifen! - Niemand hört es gern
Daß man ihn Greis nennt. Jedem Worte klingt
Der Ursprung nach wo es sich her bedingt:
Grau, grämlich, griesgram, greulich, Gräber, grimmig,
Etymologisch gleicherweise stimmig,
Verstimmen uns.
237
Das unmittelbare Aufeinanderfolgen der Mephistophelesverse und der »Greisen«-Invektive ist in verschiedener Hinsicht
aufschlußreich. Es bestätigt, daß die Wendung vom »modischen
Überkleisterll« wirklich auf Kleist gemünzt war. Denn Goethe
schrieb sie nieder, als er durch Holtei soeben an Kleist erinnert
worden war, an dessen taktlose Hinweise auf sein Alter. Es zeigt
sich ferner, wie nachhaltig Goethe durch Holteis Prolog verstimmt war. Das Wort »Greis«, aus dem Munde eines Kleistenthusiasten stammend, war ihm als Kennzeichnung so zuwider,
daß er seinem Unwillen noch Ausdruck zu geben strebte in den
Greifen-Versen der Klassischen Walpurgisnacht.
Bezeichnend ist, daß es zu diesen kaum eine Parallele gibt.
Besonders ausführlich hatte Goethe das Thema vom Alter, vom
Verhältnis des Alters zur Jugend, behandelt in den ersten
Büchern der Zahmen Xenien. Manche dieser zwischen 1815 und
1821 entstandenen Spruchgedichte mögen noch die Erfahrungen mit Kleist und dem Phöbus widerspiegeln. Doch erscheint
in ihnen nirgends das Wort »Greis«. (»Senex« im Horaz-Motto
von Buch 1 ist nicht gleichbedeutend mit »Greis«.) Eine weitere
Parallele findet sich in der Baccalaureus-Szene von Faust II,
Anfang zweiter Akt. Des Baccalaureus Aggressivität äußert sich
in einer wahren Altersschelte. Hier kommt auch das Wort
»Greis« einmal vor - »Der erste Greis, den ich vernünftig fand«
-, was zu dem famosen Dialog führt: »Du weißt wohl nicht,
mein Freund, wie grob du bist?« - »Im Deutschen lügt man,
wenn man höflich ist.« Die Möglichkeit besteht jedoch, daß
diese Verse erst Anfang Dezember 1829, also auch in der
Chaos-Zeit, geschrieben wurden. IO Jedenfalls ließ Goethe sich
nicht abhalten, demselben Akt bald folgend die »Greisen«-Invektive beizufügen. Die thematische Verdoppelung störte ihn
nicht, er führte sie bewußt herbei. Auch hier war das immer
gleiche Motiv wirksam: Gereiztheit wegen des Kieist-Mißklangs
in Holteis Chaos-Prolog.
Daß die Arbeit am Beginn der Klassischen Walpurgisnacht in
die Zeit der Anfänge des Chaos fiel, dürfte noch die Entstehung
eines weiteren Details verursacht haben. Wenige Verse nach
der »Greisen«-Invektive berührt eine merkwürdige, einschubartige Stelle das Thema der Mehrsprachigkeit, derselben
Eigenschaft, die dem Chaos sein Gepräge gab, die dem Patrioten Holtei so unsympathisch war, wobei seine Aversion sich
238
besonders gegen Englisch richtete.
Mephistopheles, von den Sphinxen nach seinem Namen gefragt, besinnt sich, in welcher Sprache er antworten soll, und
entschließt sich - überraschend in dem antiken Milieu - zu
Englisch! Eine frühere handschriftliche Fassung der Stelle zeigt
die Einwirkung der Chaos-Erfahrungen besonders deutlich.
Hier beantwortet Mephistopheles die Frage nach seinem Namen so:
Mephistopheles
In welcher Sprache weis doch selbst nicht wie
Sind Britten hier sie reisen sonst so viel
In ihrem Bühnenspiel
Erschein ich oft als old Iniquity.
Sphynx
Du brauchst fürwahr dich nicht zu übersetzen
Als alten Scha1ck weiß man dich wohl zu schätzen.
Mephistopheles in Beziehung zu bringen zur englischen, Shakespeareschen Bühnendichtung, war ein Konzept Goethes, bedeutungsvoll für den Handlungsverlauf; es bereitet seine Rolle
im Helena-Akt vor, wo er Autor und Mitwirkender eines Bühnenstücks ist. 11 Daß Goethe bei der Realisierung dieses Konzepts so schlicht-alltägliche Motive benutzt wie: Zweifel, in
»welcher Sprache« er antworten soll, Hinweis, »Übersetzen« sei
»fürwahr« nicht nötig - das ist noch jüngsten Erlebnissen des
Dichters zu verdanken. Die Frage, in welcher Sprache gesprochen werden soll, stellte sich im Chaos mit jedem Heft, sie
führte zu Kontroversen. Übersetzen spielte eine große Rolle,
darauf bezog sich Goethes Scherz mit der Neuen Sirene. Da die
vielen englischsprachigen Beiträge doch nicht für alle Leser
leicht verständlich waren, erschienen öfter bedeutendere englische Gedichte nachträglich in deutscher Übertragung. Wiederholt finden sich auch Übersetzungen Goethescher Gedichte in
englische und französische Verse. Daß später Carlyle und
Thackeray zur Mitarbeit herangezogen wurden, beweist, welehen Wert man auf das Englische legte.
Die sprachlichen Probleme ergaben sich, weil eben in Weimar
wirklich angereiste »Briten -hier waren«. Hätte Goethe die
Klassische Walpurgisnacht bald veröffentlicht, woran er 1829
239
noch gedacht haben mag, so wären die Verse vom englisch
sprechenden Mephistopheles als witzige Anspielung auf aktuelle Vorgänge erschienen, als Spitze gegen Anglophobie der Art,
wie sie bei Holtei hervorgetreten war.
Die Verse, die Sprachzweifel und Übersetzungsproblem zu
deutlich ausdrückten, eliminierte Goethe später durch Ändern
und Streichen, weil sie doch in die Klassische Walpurgisnacht
nicht recht paßten. Die Anwesenheit von reisenden Briten wird
so motiviert, daß deren Ziele wirklich an Griechenland denken
lassen: »Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen, / Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen.« Doch ist daran zu
erinnern: die Bezeichnung des Reiseziels als »klassisch dumpfe
Stellen« trifft doch auch auf das damalige Weimar zu, wie es sich
im Chaos spiegelte. Gerade die Engländer sprachen in dichterischen Beiträgen gern vom »German Athens« usw., und schon
im 7. Heft des Chaos ist in einem launigen englischen Preisgedicht auf W.eimar zu lesen:
Anew we tread
On Classic ground ...
Here Goethe lives and Schiller died ...
Here Kotzebue, Wieland won fair farne
And Herder an immortal name.
Ganz offenbar halfen Goethe zu Beginn der Arbeit an der
Klassischen Walpurgisnacht Reminiszenzen an die Anfänge des
Chaos-Blatts, sich auf.den Ton der riesigen, vor ihm liegenden
Szene einzustimmen, besonders auf den der Scherzreden, Wortspiele, Rätsel, die der ersten Mephistopheles-Szene ihr eigenes
Gepräge gaben. 12
3. Kleist in der Klassischen Walpurgisnacht
»Jeder sei auf seine Art ein Grieche!
Aber er sei's.«
Goethe in: Antik und Modern
Nachdem die Vermutung, daß die Wendung vom »modischen
Überkleistern« der Antike eine Anspielung auf Kleist enthält,
sich als richtig bestätigt hat, erhebt sich die Frage: was war es,
das Goethe veranlaßte, an Kleist zu erinnern, als er die Mephistopheles-Verse schrieb, mit denen die Klassische Walpurgis-
240
nacht beginnt? Aufschluß erhalten wir, indem wir die Verse im
Zusammenhang mit dem Handlungsverlauf betrachten. Innerhalb der Klassischen Walpurgisnacht erscheint Mephistophe1es
als derjenige, der für die Antike kein Verständnis hat, im
Gegensatz zu Faust und Homunculus. Während die drei nordischen Wanderer auf getrennten Wegen die Klassische Walpurgisnacht durchziehen, zeigt sich an Faust und Homunculus stets
eine unmittelbare Affinität zu den Griechen, beide fühlen sich
unter ihnen heimisch. Für Mephistopheles bleiben die Griechen
dagegen ein »widrig Volk«, er findet sich »ganz und gar entfremdet«, sehnt sich nach seiner nordischen Heimat zurück. Auf
diese Gesinnung des Mephistopheles deutet dessen erste Rede
hin:
Und wie ich diese Feuerchen durchschweife,
So find' ich mich doch ganz und gar entfremdet,
Fastalles nackt, nur hie und da behemdet:
Die Sphinxe schamlos, unverschämt die Greife,
Und was nicht alles, lockig und beflügelt,
Von vorn und hinten sich im Auge spiegelt ...
Zwar sind auch wir von Herzen unanständig,
Doch das Antike find' ich zu lebendig;
Das müßte man mit neustem Sinn bemeistern
Und mannigfaltig modisch überkleistern ...
Ein widrig Volk!
Somit ergibt sich: als Goethe eine wichtige Gestalt in der
Rolle dessen darstellte, der von der Antike nichts versteht, der
auf griechischem Boden sich griechenfeindlich erweist, fiel ihm
Kleist ein. Er sieht ihn als Parallelfall von so großer Bedeutung,
daß er auf ihn hinzuweisen gedrängt wird. Die Kleistanspielung
verrät, welche Vorstellung die Dichtung Kleists vor allem bei
Goethe hinterlassen hatte. Der Haupteinwand blieb, nach jahrzehntelangem Abstand: Kleist versteht von der Antike nichts,
ist eigentlich ihr Gegner. Sofern er sich dichtend mit der Antike
befaßt, wird das Griechische entstellt. Modische, romantische
Übermalung verfälscht das Bild der Antike. Kleists »Griechen«
haben nichts Vorbildliches mehr, wirken eher abstoßend.
Werte, die die Klassiker am griechischen Altertum gesehen
hatten - im Anschluß an Renaissance, Humanismus, Winckelmann - waren eliminiert.
Griechenfeindschaft seitens der Romantik war seit Kleists
241
Tagen unmittelbarer und heftiger hervorgetreten. Eichendorffs
Marmorbild (1819) lag schon in wiederholten Drucken vor. Für
Goethe blieb Kleist aber der epochemachende Initiator. Daß
durch die Wahl griechischer Stoffe scheinbar Anschluß an die
Klassik gesucht war, daß Kleist vorgeblich noch Goetheals
Protektor zu gewinnen trachtete, gab diesen Beispielen ein
zwielichtiges Gepräge, geeignet, Verwirrung zu stiften. Schließlich war Penthesilea die stärkste Gegenaktion gegen das Bestreben der Klassik, ein Verständnis der Antike im Zeitalter zu
verankern.
Die Parallelisierung Kleists mit Mephistopheles, genauer gesagt: mit dem griechenfeindlichen Mephistopheles der Klassischen Walpurgisnacht, berechtigt zu dem Schluß: wie Goethe
das Thema Mephistopheles und die Antike behandelt, erweist
zugleich, in welchem Licht er das Verhältnis Kleists zur Antike
sah. Die Entsprechungen sind aufschlußreich.
Mephistopheles' Unverständnis für die Antike zeigt Goethe
an zwei beispielhaften Zügen. Mephistopheles hat keinen Sinn
für die Leibfreudigkeit der Antike. Und zweitens: ihm geht die
Fähigkeit ab, antike Großheit zu erkennen. In beiden Mängeln
sah Goethe »modische« Erscheinungen der nachklassischen,
romantischen Epoche, sie schmerzten ihn am meisten bei Kleist.
An griechischer Nacktheit nimmt Mephistopheles Anstoß in
den Eingangsversen der Klassischen Walpurgisnacht. Kurz zuvor, in der Laboratorium-Szene, wurde das Thema schon angeschnitten. Griechische Erotik ist Mephistopheles zu »frei«. Sein
moderner Sinn verlangt nach christlicher Einschnürung, Verdüsterung:
Manch Brockenstückchen wäre durchzuproben,
Doch Heidenriegel find' ich vorgeschoben.
Das Griechenvolk, es taugte nie recht viel!
Doch blendet's euch mit freiem Sinnen-Spiel,
Verlockt des Menschen Brust zu heitern Sünden,
Die unsern wird man immer düster finden.
Entsprechend unfrei, »düster« erschien Goethe an Kleists
Griechenstücken die Behandlung des Erotischen. In der »mystischen« Amphitryon-Komödie sah er das Erotische verdüstert
durch christliche Motive, es fehlte die Heiterkeit. Den erotischen Verführer Jupiter hatte Kleist in ein nahezu teuflisches,
aber religiös bramarbasierendes Wesen verwandelt 13 , mit dieser
,
242
Gestaltung der obersten Gottheit des klassischen Altertums
alles was die antike Komödie an Göttertravestie kennt, weit
hinter sith lassend. 14 Die Penthesilea- Tragödie brachte mit Perversions-Reizen eine überkleisterte Erotik völlig unantiker Art.
Einzelnes wirkte auf Goethe »hochkomisch«, dergleichen fand
er passend für das neue Neapel, nicht für das griechische AItertum. 15
Daß Mephistopheles unfähig ist, antike Großheit zu erkennen, lehrt das Ende seines ersten Rundgangs durch die Klassische Walpurgisnacht. Goethe legt es dar, indem er Fausts Sinn
für griechische Größe dem Unverständnis Mephistopheles' gegenüberstellt. (So sind auch Fausts Leda-Visionen die Folie für
MephistopheIes' Ablehnen griechischer Sinnenfreude.) Nachdem Mephistopheles an einer ganzen Reihe von antiken Mythenwesen vorübergegangen ist, erklärt er sie allesamt für »Ungeheuer«, die man »wegfluchen« sollte. (V. 7191 ff.) Faust
dagegen zieht ein anderes Fazit. Genau dieselben Wesenheiten,
die Mephistopheles abstießen, wirken auf ihn erhebend, sie
gemahnen an bedeutende Mythen, an Ödipus, an Odysseus. So
findet er für jede ein Wort der Bewunderung:
Wie wunderbar! das Anschaun tut mir G'nüge,
Im Widerwärtigen große, tüchtige Züge ...
Vom frischen Geiste fühl' ich mich durchdrungen,
Gestalten groß; groß die Erinnerungen.
Antike Großheit wird Kleist so wenig gewahr wie Mephistopheles, er verkennt sie. Goethes gewichtigster Einwand gegen
Kleist ist damit an dieser späten Stelle des Faust ausgesprochen.
Keine Gestalt der Penthesilea erweckt »große Erinnerungen«
auf Grund ihrer mythischen Herkunft. Keine könnte die Welt
mit »frischem Geiste« erfüllen. Für Erziehung des Menschengeschlechts, die der klassische Dichter doch immer anstrebte,
wären sie nicht tauglich. Das gewisse Überdimensionale, Monströs-Große, das man an ihnen wahrnimmt, beruht auf dem
Genie eines modemen Menschen, des Individuums Kleist, auf
»Schmutz und Glanz« seiner Seele. 16 Griechische Gestalten
wählt Kleist nur, um seine Phantasie mit berühmten Namen und
Motiven schalten zu lassen. Sonst sind sie ihm gleichgültig. Es
. verschlägt ihm nichts, diese Gestalten zu travestieren, zu barbarisieren, ja Ungeheuer aus ihnen zu machen.
Zum Ungeheuer wird Penthesilea, als sie Achilles mit Hunden
243
zerfleischt. »Die Ungeheuerste« wird sie am Schluß auch wirklich genannt. (V. 3000.) Scheltende Bezeichnungen deuten aber
schon von Anfang an auf ihre Entwicklung zum Ungeheuer:
Hyäne, Megäre, Wölfin, Dogge, Hündin, verreckende Katze
usw. Wie Kleist seiner »antiken« HeIdin den Zug bestialischer
Grausamkeit beilegt, das steht nun aber speziell in Parallele zu
der Sehweise des Mephistopheles in der Klassischen Walpurgisnacht, der griechische Gestalten als Ungeheuer schilt und verflucht. Goethe hat damit ein Hauptcharakteristikum des Griechendichters Kleist angeprangert.
Was Penth~sileas Zusammenspiel mit den Hunden betrifft,
das ihre ungeheuerliche Seite vor allem offenbart, so tat Kleist
sein möglichstes, den Geist der Szene auffällig vorzubereiten.
Mit seltsamer Hartnäckigkeit und ganz übermäßig rückt er die
Hunde in den Vordergrund. Dutzende Male läßt er sie erwähnen. Von Hunden abgeleitete Gleichnisse treten in Menge
hinzu. (Amazonenheere »wie Köter«, Achilles ein »Höllenhund«, Begierden, »die wie losgelassene Hunde bellen« etc.)
Hunde, wohin man sieht, und das in einer »griechischen« Tragödie. Die Hunde sucht Kleist noch eigens zu antikisieren,
indem er ihnen griechische Namen gibt, aus Hederichs mythologischem Lexikon beflissen hervorgesucht. Griechischer Geist
wird damit so wenig beschworen, wie das dauernde Ausrufen
»beim Styx«, »beim Hades«, »beim Jupiter« die Helden zu
Griechen macht.
Es gibt keine Dichtung vergleichbaren Ranges, in der Hunde
eine solche Rolle spielen. In der Penthesilea treten die Hunde
noch dazu wirklich auf der Bühne auf, die HeIdin redet mit der
Meute, diese heult zurück, eine lange Szene. Goethes bekannte
Abneigung gegen Hunde und ihr Auftreten auf dem Theater
hätte allein schon Anlaß zur Ablehnung der Penthesilea geben
müssen. Von dieser Hundefeindschaft, die· Goethe später zur
Aufgabe der Theaterleitung in Weimar zwang, hat Kleist gewußt. In giftigen Phöbus-Epigrammen führte er ja die Penthesilea-Hunde gegen den Theaterleiter Goethe ins Feld. Aus einem
dieser Epigramme durfte Goethe die Drohung des rachedürstigen Kleist herauslesen: die Penthesilea- Hunde würden auch ihn,
Goethe, »zerreißen« und »mit Haut und Haaren auffressen«.
(Vgl. oben S. 86-89.)
Die Phöbus- Epigramme waren dazu angetan, daß Goethe sich
244
die Eigenschaft der Penthesilea als »Hundekomödie« für immer
einprägen mußte. In dem Epigramm Komödienzettel hatte
Kleist noch mit seltsamem Nachdruck auf diesen Aspekt seines
Werkes hingewiest;n:
2. Komödienzettel
Heute zum ersten Mal mit Vergunst: die Penthesilea,
Hundekomödie; Acteurs: Helden und Köter und Fraun.
Mit Hohn und Spott charakterisiert Kleist, wie seines Wissens
nach Goethe die Penthesilea aufnehmen mußte. Doch läßt er
auch, doppeldeutig, einen gewissen Übermut durchblicken: er
hatte gewagt, eine antike Tragödie durch den Hundeapparat zu
profanieren (modisch zu überkleistern!). Es war ein Herostratenstolz. Wirklich hatte Kleist die Fackel an das Gebäude der
Klassik gelegt.
Unmittelbare Gegenäußerungen Goethes sind nicht überliefert. Doch bringt die Eingangsszene der Klassischen Walpurgisnacht mit ihrer Parallelisierung von Mephistopheles und .Kleist
versteckt eine späte Erwiderung. Ein Hauptsinn der Szene liegt
darin, daß Goethe hier auf die Überlegenheit antiker Dichterphantasie hindeutet, selbst wenn sie nur Tiere darstellt. Sämtliche Mythengestalten, denen Mephistopheles begegnet, in
denen er nur »Ungeheuer« zu sehen vermag - während sie
Faust mit Bewunderung erfüllen-, sind Tiere oder Halbtiere:
Greife, Ameisen, Arimaspen, Sphinxe, Sirenen. Im tierisch
»Widerwärtigen« der antiken Dichtung »große, tüchtige Züge«
zu erkennen, bedarf es der Affinität zur Antike, wie sie Faust
besitzt, nicht Mephistopheles, nicht Kleist. In einem Dialog
zwischen Mephistopheles und den Sphinxen bringt Goethe seine
Sicht auf die Formel: das Tier in antiker Dichtung ist »gesund«,
daher kann ein moderner Teufel mit ihm in keinen »Bund«
treten:
Mephistopheles.
Du bist recht appetitlich oben anzuschauen,
Doch unten hin. die Bestie macht mir Grauen.
Sphinx.
Du Falscher kommst zu deiner bittern Buße,
Denn unsre Tatzen sind gesund;
Dir mit verschrumpftem Pferdefuße
Behagt es nicht in unserem Bund.
245
Der Sinn ist: wer .»falsch«, wer selber krank ist, den weist
sogar das antike Tier ab. Der Romantiker muß es wie Mephistopheles »bitter büßen«, wenn er antike Tiere darstellt, bei ihm
werden daraus »Grauen machende Bestien«. Entsprechend
bringt antike Dichtung auch Tier und Mensch in ein glückliches
Verhältnis. Ödipus hat beim Zusammentreffen mit der Sphinx,
an das Faust erinnert, nichts zu fürchten. In der modernen
Penthesilea ist das Verhältnis umgekehrt. Die Hunde mit den
griechischen Namen zerreißen den größten Helden der Antike.
So enthält also nicht allein das Wort vom »modischen überkleistern« der Antike eine Hindeutung auf Kleist. Es hat sich
erwiesen, daß Goethe der gesamten ersten Szene der Klassischen Walpurgisnacht einen aktuellen Bezug gab, indem er
Mephistopheles mit Kleist in Parallele setzt. Die Klassische
Walpurgisnacht benutzte Goethe auch sonst zu mancherlei Verspottung von Gegenwartserscheinungen. Bekannt sind die Anzüglichkeiten, mit denen er zeitgenössischen Mythologen Nichtverstehen der Griechen, falschen Umgang mit antiker Tradition
vorwarf. (Kabirenszene.) Hierzu ist die erste MephistophelesSzene ein Seitenstück. Das Nichtverstehen der Griechen im
Bereich moderner Dichtung, worauf sie anspielt, war allerdings
für Goethe eine größere Sorge, deshalb hat die Szene besonderes Gewicht. Goethe befürchtete, daß Kleist als Dichter der
Penthesilea Schule machen könnte. Genau dies ist eingetreten.
Wirklich gilt die Penthesilea heute als Beginn einer literarischen
Behandlung der Griechen, bei der die Antike nur stoffliche
Grundlage abgibt für Darstellung rein modernen Erlebens.