Schlummernden Schatz heben

A102, 12.02.2016 08:33:19 - Benutzer: blumf - PROOF
Lokal
Thema
Wer sind die
Bürgerexperten?
Gruppe Neun Themen
Was verbirgt sich hinter dem Begriff Bürgerexperten? Bürgermeister Reiner Kilgen hat zahlreiche
Personen des öffentlichen Lebens,
darunter unter anderem Mitglieder
des Wirtschaftsforums und des Aktionsforums, angeschrieben und um
Mitwirkung an der Gesprächsrunde mit den Stadtentwicklern gebeten. Die Liste der angesprochenen Personen wurde wiederum
von der im Rahmen der Zukunftsinitiative installierten Lenkungsgruppe, die aus Stadtvorstand und
Fraktionsvorsitzenden
besteht,
nach eingehender Diskussion einvernehmlich aufgestellt. Sie umfasst rund 30 Personen, die sich aus
den insgesamt neun Themenbereichen Wirtschaft/Region, Einzelhandel, Wohnen, Freizeit/Tourismus/Kultur,
Inklusion/Soziales/Kirchen, Agenda 21/Naturschutz,
Infrastruktur/Energie,
Schule sowie Sport/Freizeit rekrutieren.
dfb
Besonders gut bei den Neuwiedern kommen die Areale rund um den Deich an – wie beispielsweise die Goethe-Anlagen.
Schlummernden Schatz heben
Interview Die RZ sprach mit Stadtentwickler Dr. Tilman Sperle – Seltene Kombination in Neuwied
M Neuwied. Die nächste Runde der
Zukunftsinitiative Neuwied (ZIN)
steht kurz bevor. Am Samstag, 20.
Februar, trifft sich eine rund 30 Mitglieder starke Gruppe von Bürgerexperten mit den Stadtplanern zum
intensiven Austausch. Die RZ
sprach im Vorfeld mit Dr. Tilman
Sperle von der Reschl Stadtentwicklung, die für das Neuwieder
Projekt zuständig ist.
Stadtplanung ist für Sie Alltagsgeschäft. Dementsprechend groß sind
Ihre Vergleichsmöglichkeiten. Welche Besonderheiten weist Neuwied
im Gegensatz zu anderen Städten
auf, in denen Sie aktiv waren oder
noch sind?
Da ist zunächst die Rheinlage zu
nennen und natürlich die besondere Geschichte der Stadt. Eine
weitere Besonderheit Neuwieds ist
sicherlich die polyzentrale Struktur
mit vielen sehr selbstbewussten
Stadtteilen. Das sind schon eine
ganze Reihe von Eigenschaften,
mit denen man es – noch dazu in
Kombination – nicht häufig zu tun
hat.
deshalb ein Identifikationsproblem?
Wer in einem der Neuwieder Stadtteile geboren und aufgewachsen
ist oder dort schon sehr lange
wohnt und die Kommunalreform
miterlebt hat, der identifiziert sich
natürlich mit seinem Stadtteil. Und
es ist auch nichts dabei, sich zuerst
mit seiner unmittelbaren Nachbarschaft, seinem Wohnquartier
oder seinem Stadtteil zu identifizieren und dann erst mit der gesamten Stadt. Wichtig ist doch zu
erkennen, dass die Stadt Neuwied
nur als große Einheit funktioniert
und als solche Einheit auch nach
außen wirken muss. Es muss daher
auch die gemeinsame Identifikation mit der Stadt geben, die gemeinsame Visitenkarte: zum Beispiel die Innenstadt oder die Deich-
Hat Sie der Wunsch der Verwaltung
überrascht, das Maß an Zustimmung/Ablehnung zu deren Wirken
zu erfragen?
Nein. Ich finde es eher überraschend, wenn Kommunen nicht
den Mut haben, diese Frage zu stellen.
Das heutige Neuwied ist Produkt
einer umfassenden Kommunalreform. Hat Neuwied als Gesamtstadt
Dr. Tilman Sperle
Wie stehen Sie zu folgenden Aussagen?
anlage. Diese Differenzierung ist
auch in der Befragung deutlich geworden.
Was erwarten Sie sich von der öffentlichen Präsentation der Ergebnisse und der „Zukunftswerksatt“
der Bürger am 8./9. April?
Eine ganze Reihe interessanter
Einblicke, Anregungen und Ideen
für die Zukunftsinitiative Neuwied.
Stadtentwicklung ist ein permanenter Prozess, muss sich trotz aller Zukunftspläne immer am realistisch Möglichen orientieren. Wie
viele von den ursprünglichen Projekten sind im Schnitt nach 10 bis
15 Jahren realisiert? Und wie verhindert man, dass eine Zukunftsinitiative zu einer Ansammlung
einzelner Maßnahmen degradiert
wird – statt einer strategischen
Ausrichtung zu folgen?
Wichtig ist es, von Beginn an einen realistischen Rahmen einzuhalten. Wenn eine Stadtentwicklungsstrategie wie die Zukunftsinitiative ein reines Wunschkonzert wird, wir uns zu viel vornehmen und uns überfordern, dann ist
sie das Papier nicht wert, auf dem
sie gedruckt ist. Wir machen daher in allen Dialogveranstaltungen deutlich, wo der Boden der
Tatsachen liegt und welche Anstrengungen notwendig sind, um
bestimmte Ziele zu erreichen.
Manchmal stellt sich auch gar
nicht die Frage, ob eine bestimmte Zielsetzung zu erreichen ist,
sondern ob der Wille, die Kraft
und der Mut bestehen, die Ziele
im Alltag nicht aus den Augen zu
verlieren.
Zwei persönlichere Fragen zum
Abschluss: Steigt der Identifikationsgrad mit der betreuten Stadt, je
intensiver man sich mit deren Zukunft befasst, oder bleibt man stets
der kühle Analytiker, der den Blick
von außen auf die Kommune richtet?
Ich habe das Glück, in meinem
Traumjob zu arbeiten. Daher identifiziere ich mich zu einem guten
Teil mit dem, was ich tue. Und so
bleibt es nicht aus, dass man sich
bei Projekten, die eine lange Laufzeit haben, bei denen man zudem
intensiv mit vielen Menschen zusammenarbeitet, bis zu einem gewissen Grad mit der jeweiligen
Stadt identifiziert. Das ist, denke
ich, auch notwendig. Umgekehrt
ist es aber Voraussetzung für meine Tätigkeit, sich die analytische
Kühle und den kühlen Sachverstand zu bewahren.
Jenseits der Bürgerbefragung:
Welche Potenziale liegen Ihrer
persönlichen Meinung nach in
Neuwied am offensichtlichsten
brach?
Da fällt mir zum Ersten das immense Flächenpotenzial im Siedlungsbestand ein, also vor allem
Baulücken. Flächen, für die alle bezahlen, die aber keiner nutzt. Zum
Zweiten das Stadtbild und der öffentliche Raum. Da schlummert ein
großer Schatz, den es zu heben gilt.
Die Fragen stellte Frank Blum
Was gefällt, was missfällt den Bürgern?
Rheinlage/Deichanlage,
die zentrale Lage und
der Schlosspark: Das
gefällt den Neuwiedern
besonders. Das Areal am
Strom und rund um den Deich lag
bei 18,9 Prozent der Befragten ganz
oben auf der Liste, gefolgt von der
geografisch guten Lage (15,4 Prozent) und dem öffentlich zugänglichen Teil des Schlossparks (11,2
Prozent). Interessante Zahl: Nur 4,8
Prozent nannten den Zoo auf der
Liste.
Leerstände, Schmutz
und schlechte Straßen:
Drei Dinge, die Neuwied
unattraktiv machen.
23,4 Prozent der Befragten beklagen den leblosen Charakter der
Stadt, 11,2 Prozent stört der Dreck
auf öffentlichen Plätzen und Wegen.
10,8 Prozent der Bürger monieren
den miesen Zustand der Straßen.
Auch der derzeitige Zustrom von
Asylbewerbern schlägt sich bereits
nieder. 4,5 Prozent sagen, dass es
zu viele Ausländer in der Stadt gibt.
Tolerante Stadt mit
Hang zur Stagnation
Befragung Bürger charakterisieren „ihr“ Neuwied –
Wichtige Hinweise für Planer
Von Bedeutung für die Planer ist
es festzustellen, welche Meinung
die Bürger von „ihrer Stadt“ haben. Dass die Schärjer dabei nicht
nur Realisten, sondern durchaus
Bürger mit Sinn für allgemeingültige ethische Werte sind, machen ihre Antworten auf die Frage „Welche Beschreibung trifft Ihrer Meinung nach am ehesten auf
die Stadt Neuwied zu?“ deutlich,
bei der sie aus zwölf Feststellungen wählen konnten. 15,3 Prozent
der Befragten sehen Neuwied als
Stadt der Märkte, für 22 Prozent
ist es vor allem eine Stadt zum
Wohnen und Arbeiten, doch 24,7
Prozent der Bürger betonen, dass
es „eine tolerante und von Religionsfreiheit geprägte Stadt“ ist.
Die geringste Zustimmung er-
Welche der Themenbereiche halten Sie für die drei wichtigsten?
hielten die Thesen „Sport- und
Freizeitstadt“ mit 3,8 Prozent und
mit jeweils 0,5 Prozent die Attribute „Tourismus- und Erholungsstadt“ sowie „eine ökologisch orientierte Stadt“. Neuwied wird zudem als zentral gelegene, freundliche Kommune wahrgenommen,
deren Bürgern ein aufgeschlossener Charakter zugewiesen wird.
Das Stadtbild wird indes als eher
langweilig bis verwahrlost wahrgenommen. Die Entwicklung Neuwieds bezeichnet die Mehrzahl
der Befragten als stagnierend und
unsicher.
Die Antworten lassen Rückschlüsse darauf zu, wo die Verantwortlichen die Hebel für eine
zukunftsorientierte Stadt ansetzen
müssen.
dfb