ÜBERSICHTSARTIKEL 1097 Entscheidungshilfe für die Praxis Erstbehandlung bei Verdacht auf Diabetes mellitus François R. Jornayvaz Abteilung für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne Diabetes, besonders vom Typ 2, ist eine Krankheit, deren Prävalenz stetig wächst und die eine fachgerechte Erstbehandlung erfordert. Die Diagnose des Diabetes wird auf der Grundlage typischer Symptome und Anzeichen gestellt, etwa Polyurie, Polydipsie und eventuell Gewichtsverlust, kann aber auch, wenn keine Symptome vorhanden sind, auf Basis von Laboranalysen erfolgen. Es ist wichtig zu wissen – abhängig von der Schwere der Situation –, welche initialen Behandlungen einzu setzen sind, nämlich Insulin und/oder andere Antidiabetika. Einleitung Die Prävalenz von Diabetes, vor allem von Typ2Diabe tes, nimmt weltweit stetig zu. Man schätzt, dass es in der Schweiz über 350 000 Diabetiker gibt, von denen etwa 90% an Typ2 und 10% an Typ1Diabetes leiden. Dies bedeutet, dass von ungefähr fünfzehn Einwohnern einer von Diabetes betroffen ist oder etwa 6,6% der Schweizer Bevölkerung. Die Prävalenz des Typ2Diabe tes, der am weitesten verbreiteten Form, hängt wohl gemerkt vom Alter, von erblichen Faktoren, aber vor allem vom Ausmass des Übergewichts und des Bewe gungsmangels ab. Diabetes ist also eine häufige Krank heit, und es ist wichtig, dass die ärztlichen Grundver sorger wissen, was zu tun ist, wenn der Verdacht auf Diabetes besteht. Ziel dieses Artikels ist es also, Orien tierungshilfen für die Erstbehandlung beim Verdacht auf Diabetes mellitus in der medizinischen Praxis zu geben. Erster Schritt: Bestätigung der Diagnose bei Verdacht auf Diabetes Diabetes, besonders Typ2Diabetes, wird zwar häufig der Vorteil, dass der Test nicht nüchtern erfolgen muss); zufällig bei Routineuntersuchungen diagnostiziert, – Auf Diabetes hinweisende Symptome (Polyurie, Poly bestimmte Symptome sollten allerdings stets an die dipsie, Gewichtsverlust), die mit plasmareferenzier Möglichkeit eines Diabetes mellitus denken lassen. Zu ten Blutzuckerwerten einhergehen, die im gesamten diesen klassischen Symptomen zählen Polyurie, Poly dipsie und Gewichtsverlust. Derzeit stehen vier Metho François R. Jornayvaz – Glykosyliertes Hämoglobin ≥6,5% (HbA1c; hier besteht Tagesverlauf 11,1 mmol/l nicht unterschreiten; – Plasmareferenzierte Blutzuckerwerte von ≥11,1 mmol/l den zur Verfügung, um Diabetes zu diagnostizieren: zwei Stunden nach einem oralen Glukosetoleranztest – Plasmareferenzierte (orale Gabe von 75 g Glukose nach einer Nüchtern Nüchternblutzuckerwerte ≥7,0 mmol/l (mind. acht Stunden nüchtern); SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(47):1097–1103 phase von mind. acht Stunden). ÜBERSICHTSARTIKEL 1098 Die letzte Methode wird in der Arztpraxis nur selten übergewichtigen oder adipösen Patienten, häufig mit angewandt, da sie relativ unangenehm ist und der Pa positiver Familienanamnese), und in diesem Fall, vor tient mindestens zwei Stunden lang anwesend sein allem wenn wie beschrieben Symptome von Hyper muss. Ein oraler Glukosetoleranztest wird zum Nach glykämie vorliegen, sollten Urinosmolarität und Nie weis eines möglichen Diabetes auch zwischen der 24. renfunktion überprüft werden. Besteht der Verdacht und 28. Woche der Schwangerschaft durchgeführt, die auf Typ1Diabetes (junge, im Allgemeinen schlanke Diagnosekriterien lauten jedoch anders. Dieser Aspekt Patienten), muss besonders im Fall hyperglykämischer wird im Rahmen dieses Artikels nicht besprochen, da Symptome kontrolliert werden, ob der Patient nicht Schwangerschaftsdiabetes eine eigene Pathologie auf eine ketoazidotische Dekompensation erleidet. Zusätz weist und prinzipiell vom Facharzt behandelt werden lich zum Blutzucker müssen daher die Plasmakonzen muss. Wird nur einer der Diagnosetests eingesetzt, so tration der Ketonkörper, Bicarbonat sowie die Nieren muss dieser bei einem positiven Ergebnis wiederholt funktion bestimmt werden. Um Hinweise zur werden, um die Diabetesdiagnose zu bestätigen. Wenn Diagnose zu erhalten, können auch die Ketonkörper zwei verschiedene Tests verwendet werden und die im Urin bestimmt werden, doch kann es dabei zu Ergebnisse voneinander abweichen, muss der Test, der falsch positiven Ergebnissen kommen (etwa im Fall auf Diabetes hinweist, wiederholt werden. Mit drei längerer Nüchternphasen). Darüber hinaus ist, je nach der vier beschriebenen Methoden kann zudem Prädia klinischem Zustand des Patienten, eine Blutgasanalyse betes diagnostiziert werden, wobei die Werte natürlich indiziert, um den pHWert zu bestimmen und die wei unter den bei Diabetes festgestellten liegen (plasmare tere Behandlung festzulegen. Diese erfolgt stationär, ferenzierte Nüchternblutzuckerwerte 5,6–6,9 mmol/l; falls sich die ketoazidotische Dekompensation bestä HbA1c 5,7–6,4%; plasmareferenzierte Blutzuckerwerte tigt. Die Blutgasanalyse wird im Allgemeinen im Spital zwei Stunden nach einem oralen Glukosetoleranztest durchgeführt. Falls man sich über den vorliegenden 7,8–11,0 mmol/l). Es sei darauf hingewiesen, dass der Diabetestyp nicht sicher ist, besteht im Rahmen der La Ausdruck Prädiabetes sowohl eine gestörte Glukose boruntersuchungen auch die Möglichkeit, bestimmte toleranz als auch abnormale Nüchternglukosewerte Antikörper zu bestimmen (AntiGAD, AntiIA2 und An umfasst. Liegt ein Prädiabetes vor, wird eine jährliche tikörper gegen Inselzellen). Die Messung der Werte des Untersuchung zur Früherkennung von Diabetes emp glykosylierten Hämoglobins ist in jedem Fall von Nut fohlen, da das Risiko der Krankheitsentwicklung er zen, um die richtige Behandlung festzulegen (und um höht ist. die Diagnose zu bestätigen), besonders bei Typ2Dia betes. Grundlage der Therapie bilden ein oder mehrere orale Antidiabetika, in der Akutphase auch Insulin. Im Zweiter Schritt: initiale Laboruntersuchungen Fall der Dekompensation des Diabetes muss natürlich nach auslösenden Ursachen gesucht werden (z.B. In Wenn eine Diabetesdiagnose angenommen wird oder fektionen). Schliesslich sind ausser Typ1 und Typ2 bestätigt ist, müssen die Laboruntersuchungen in Diabetes auch andere, seltenere Formen in Betracht zu Abhängigkeit vom vermuteten Diabetestyp vervoll ziehen (etwa kortikoidinduzierter Diabetes, durch ständigt werden, auch um allfällige Anzeichen einer Immunsuppressiva, nach einer Transplantation ausge Dekompensation aufzuspüren. In den meisten Fällen löster Diabetes oder Diabetes im Rahmen einer Endo liegt ein Typ2Diabetes vor (im Allgemeinen bei älteren, krinopathie). Tabelle 1: Diagnosekriterien für ketoazidotische und hyperosmolare Dekompensation. Mit Anpassungen übernommen von [1]. Ketoazidotische Dekompensation Hyperosmolare Dekompensation Schwach (Plasmagluko- Moderat (Plasmaglukose- Schwer (Plasmaglukose- Plasmaglukosesespiegel >14 mmol/l) spiegel >14 mmol/l) spiegel >14 mmol/l) spiegel >33 mmol/l Arterieller pH-Wert 7,25–7,30 Bicarbonate im Blut (meq/l) 15–18 7,00 bis <7,24 <7,00 >7,30 10 bis <15 <10 >18 Ketokörper im Urin Positiv Positiv Positiv Gering Ketokörper im Serum Positiv Positiv Positiv Gering Serumosmolalität Variabel Variabel Variabel >320 mOsm/kg Anionenlücke >10 >12 >12 Variabel Geistiger Zustand Rege Rege/schläfrig Stupor/Koma Stupor/Koma SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(47):1097–1103 ÜBERSICHTSARTIKEL 1099 Ambulante oder stationäre Behandlung? BasisBolusSchema verabreicht wird. Diese Therapie ist jedoch nicht Thema dieses Artikels und wird in der Es gibt kein besonderes Kriterium, aufgrund dessen Fachliteratur beschrieben [1]. Die Diagnosekriterien die Entscheidung getroffen wird, ob eine ambulante für die hyperosmolare und ketoazidotische Dekompen oder eine stationäre Behandlung angezeigt ist. Mass sation sind in Tabelle 1 zusammengefasst. gebend ist hier das klinische Gespür: Insbesondere bei Verdacht auf hyperosmolare oder ketoazidotische De kompensation sowie in stark symptomatischen Fällen Initiale ambulante Behandlung muss der Patient selbstverständlich in die Notauf Ein Typ1Diabetes sollte möglichst früh von einem nahme eines Spitals gebracht werden. Falls der Patient Facharzt für Endokrinologie/Diabetologie behandelt indes keine oder nur wenige Symptome zeigt und die werden. Zur ambulanten Behandlung eines Patienten initialen Laboruntersuchungen eher beruhigende Er mit Typ2Diabetes, der die Kriterien für eine Hospitali gebnisse liefern, ist eine ambulante Behandlung ins sierung nicht erfüllt, können orale Antidiabetika und/ Auge zu fassen. oder Insulin eingesetzt werden. Generell gesagt ist es nie ein Fehler, Insulin zu verschreiben; die Insulinthe rapie kann zu einem späteren Zeitpunkt unterbrochen Medikamentöse Behandlung oder mit oralen Antidiabetika ergänzt werden. Auch Besteht der Verdacht auf hyperosmolare oder ketoazi wenn die gemeinsamen Leitlinien der amerikanischen dotische Dekompensation, muss der Patient an die Not und europäischen Diabetesgesellschaften recht vage aufnahme eines Spitals überwiesen werden. Die Be bleiben [2], geht man davon aus, dass eine Initial handlung beruht auf einer Insulintherapie, die in der behandlung mit Insulin erforderlich ist, wenn der Plas Anfangsphase intravenös, später subkutan nach dem maglukosespiegel mindestens 16,7–19,4 mmol/l und/ Tabelle 2: Festlegung der individuellen HbA1c -Zielbereiche. Mit Anpassungen übernommen von [2]. Herangehensweise an die Behandlung der Hyperglykämie Eher rigoros HbA1c 7% Weniger rigoros Merkmale Potentiell mit Hypoglykämie zusammenhängende Risiken und Nebenwirkungen anderer Medikamente Gering Hoch Dauer des Diabetes Vor kurzem diagnostiziert Seit langem bestehend Lebenserwartung Lang Kurz Im Allgemeinen nicht modifizierbar Relevante Begleiterkrankungen Keine Wenige Schwerwiegende Keine Wenige Schwerwiegende Nachgewiesene vaskuläre Komplikationen Einstellung des Patienten Sehr motiviert, adhärent Hohe Selbständigkeit Wenig motiviert, nicht adhärent Geringe Selbständigkeit Ressourcen Leicht verfügbar SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(47):1097–1103 Begrenzt verfügbar Unter Umständen modifizierbar ÜBERSICHTSARTIKEL 1100 oder der Wert des glykierten Hämoglobins mindestens Markt zugelassene Glitazon ist das Pioglitazon, dessen 10–12% beträgt. In diesem Fall werden bevorzugt Ba Anwendungsdauer laut dem ArzneimittelCompen salinsuline eingesetzt (NPH, Insulin glargin, detemir dium der Schweiz auf zwei Jahre beschränkt ist, vor oder degludec), eventuell in Kombination mit einem allem aufgrund eines erhöhten Blasenkrebsrisikos kurz wirksamen Insulin (Insulin aspart, lispro, glulisin). (das jüngsten Studien zufolge allerdings umstritten ist). Sofern keine Kontraindikationen bestehen, wird zu Bestimmte Wirkstoffe aus der Klasse der Sulfonylharn sammen mit der Insulintherapie auch die Behandlung stoffe stehen mit dem Risiko der Gewichtszunahme, mit oralen Antidiabetika begonnen. Je nach Entwick der Unterzuckerung und möglicherweise mit einer Er lung der Blutzuckerwerte und nachdem die klassische höhung der kardiovaskulären Mortalität im Zusam Glukotoxizität der Akutphase abgeklungen ist, kann menhang. Verschiedene Studien weisen darauf hin, die Insulintherapie schrittweise verringert und even dass der zurzeit sicherste Sulfonylharnstoff das Glicla tuell wieder abgesetzt werden. zid ist, das in Retardform verwendet wird. Die DPP4In Wenn die Werte des Blutzuckers und/oder des glyko hibitoren führen im Allgemeinen nicht zu Unterzucke sylierten Hämoglobins unter den oben erwähnten rung und Gewichtszunahme. Ihre Kombination mit Werten liegen, ist es möglich, die Behandlung nur mit Metformin ist interessant und wirksam. Derzeit liegt oralen Antidiabetika zu beginnen. Wenn der Anteil des kein Nachweis vor, dass die DPP4Inhibitoren (sowie glykosylierten Hämoglobins mindestens 9% beträgt die GLP1Analoga) im Zusammenhang mit einem er und der Zielwert bei etwa 7% liegt, wird empfohlen, höhten Risiko für Pankreatitis oder Pankreaskarzinom direkt mit zwei oralen Antidiabetika zu starten; es sei stehen. Darüber hinaus haben sich Alogliptin, Sitaglip daran erinnert, dass der HbA1cZielbereich für jeden Pa tin und Saxagliptin als neutral im Hinblick auf das tienten in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren HerzKreislaufSystem erwiesen, allerdings konnte individuell festzulegen ist (Tab. 2). Besteht keine Kon diesbezüglich auch noch keine protektive Wirkung Der HbA1c-Zielbereich ist für jeden Patienten, in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren, individuell festzulegen traindikation, bildet Metformin die pharmakologische nachgewiesen werden. Saxagliptin stand hingegen mit einer Zunahme der Hospitalisierungen aufgrund von Herzinsuffizienz im Zusammenhang, weshalb bei be stehender Herzinsuffizienz dieser Wirkstoff nur mit besonderer Vorsicht anzuwenden ist. Die SGLT2Inhibi Grundlage der Behandlung von Typ2Diabetes. Dar toren sind erst seit verhältnismässig kurzer Zeit ver über hinaus sind Massnahmen zu treffen, die beim fügbar, und bisher wurde ihre Unschädlichkeit für das Lebensstil und der Ernährung ansetzen; sie sind sehr HerzKreislaufSystem nicht nachgewiesen, mit Aus wichtig und wirksam, sofern sie sorgfältig durch nahme von Empagliflozin, für das kürzlich ein Vorteil geführt werden. Um die Nebenwirkungen des Met bezüglich kardiovaskulärer Mortalität gegenüber der formins, die vor allem den Gastrointestinaltrakt be Standardbehandlung gezeigt werden konnte. Diese treffen, so gering wie möglich zu halten, sollte mit Wirkstoffe hemmen die Reabsorption der Glukose in niedrigen Dosen begonnen werden, das heisst 500 mg der Niere und führen so zu einer osmotischen Diurese, ein bis zweimal pro Tag zu oder nach den Mahlzeiten. die für manche Patienten potentiell gefährlich ist (ältere Nach etwa einer Woche wird dann die Erhaltungsdosis oder mit Diuretika behandelte Patienten), verursachen verabreicht, die 1000 mg jeweils morgens und abends aber auch einen Kalorienverlust über den Urin. Dadurch beträgt. Wenn eine Kontraindikation für Metformin kommt es zu einem (oft erwünschten) Gewichtsver besteht, gastrointestinale Unverträglichkeit auftritt lust, der sich nach einigen Monaten jedoch auf einem oder ein oder mehrere orale Antidiabetika hinzuge bestimmten Niveau einpendelt, da die Patienten häu fügt werden müssen, sind die Indikationen und Kon fig mehr essen, um den Kalorienverlust auszugleichen. traindikationen dieser Wirkstoffe genau abzuwägen; Die SGLT2Inhibitoren senken überdies leicht den Blut sie sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Laut den jüngs druck, was bei hypertensiven Patienten von Vorteil ist. ten Leitlinien ist es möglich, im Anschluss an eine Besonders bei Verwendung des Canagliflozins liegen MetforminTherapie unter den verschiedenen Wirk Hinweise vor, dass es zu einer Hyperkaliämie kommen stoffen frei zu wählen und zu kombinieren [2]. Als kann; deren Ursache ist nicht geklärt, man muss dieses SecondlineMedikamente kommen also in Frage: Sul Risiko indes im Rahmen von Kombinationen mit ACE fonylharnstoffe, Glitazone (Thiazolidindione), Dipepti Hemmern oder Sartanen und natürlich mit kalium dylpeptidase4(DPP4)Inhibitoren (Gliptine), Inhibi sparenden Diuretika in Betracht ziehen. Bei Einnahme toren des NatriumGlukoseKotransporters 2 (SGLT2) dieser Wirkstoffe wurde ein erhöhtes Risiko von Genital (Gliflozine), Analoga des Glukagonähnlichen Peptids 1 und Harnwegsinfektionen beobachtet, die allerdings (GLP1) sowie Insulin. Das einzige für den Schweizer harmlos und nicht chronisch verlaufen. Bei Männern, SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(47):1097–1103 SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(47):1097–1103 Aktivierung der Insulinrezeptoren Schnell wirkende Insulinanaloga – lispro – aspart – glulisin Mittellange Wirkung – NPH Insulinanaloga mit langer Wirkdauer – glargin – detemir – degludec Vorgemischte Insulinpräparate (verschiedene Arten) Insulin Physiologische Hauptwirkung ↑ Aufnahme von Glukose in der Peripherie ↓ Glukoseproduktion in der Leber ↑ Insulinsekretion (glukoseabhängig) ↓ Glukagonsekretion (glukoseabhängig) Verlangsamte Magen entleerung ↑ Sättigungsgefühl Hemmung der Reabsorption von Glukose in der Niere und Förderung der Glukosurie ↑ Insulinsekretion (glukoseabhängig) ↓ Glukagonsekretion (glukoseabhängig) ↑ Empfindlichkeit des Gewebes für Insulin ↑ Insulinsekretion ↑ Insulinsekretion ↓ Glukoseproduktion in der Leber Vorteile Wirkung theoretisch unbegrenzt ↓ Mikrovaskuläres Risiko (UKPDS) Keine Hypoglykämien ↓ Gewicht ↓ Postprandiale Glukose Wöchentliche Verabreichung (Exenatid mit verlängerter Freisetzung, Dulaglutid) Keine Hypoglykämien ↓ Gewicht ↓ Blutdruck Wirksam in allen Phasen von Typ-2-Diabetes Keine Hypoglykämie ↑ HDL-Cholesterin ↓ Triglyzeride (Pioglitazon) ?↓ Herz-Kreislauf-Ereignisse (Studie PROactive) Keine Hypoglykämien Gute Verträglichkeit ↓ Postprandiale Glukose Flexible Dosierung Lange Erfahrungen ↓ Mikrovaskuläres Risiko (UKPDS) Lange Erfahrungen Keine Hypoglykämien ↓ Herz-Kreislauf-Ereignisse (UKPDS) Nachteile Hypoglykämien ↑ Gewicht Mitogene Effekte? Injektion Vorbehalte der Patienten Schulung nötig Harnwegsinfekte Polyurie Hypovolämie, Hypotonie, Schwindel ↑ LDL-Cholesterin ↑ Kreatinin (vorübergehend) Hyperkaliämie (Canagliflozin)? Gastrointestinale Nebenwirkungen (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) ↑ Herzfrequenz Bei Tieren C-Zell-Hyperplasie und medulläres Schilddrüsenkarzinom Injektion Schulung nötig Hypoglykämien ↑ Gewicht Prädisponierung für Myokardischämie? Kurze Wirkdauer, häufige Einnahme ↑ Gewicht Herzinsuffizienz, Ödeme Knochenbrüche ↑ Makulaödem ↑ Blasenkrebs? Angioödem, Urtikaria und andere immunologische Hautreaktionen ↑ Hospitalisierungen aufgrund von Herzinsuffizienz (Saxagliptin) Gastrointestinale Nebenwirkungen (Durchfall, Bauchschmerzen) Risiko von Laktatazidose (selten) Vitamin-B12-Mangel Vielfältige Kontraindikationen: Chronisches Nierenversagen, Azidose, Hypoxie, Dehydratation usw. Hypoglykämien ↑ Gewicht Prädisponierung für Myokardischämie? Wirkdauer begrenzt GIP = Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid; mGPD = Mitochondriale Isoform der Glycerin-3-phosphat-Dehydrogenase; PPAR-γ = Peroxisom-Proliferator-aktivierter Rezeptor γ; PROactive = Prospective Pioglitazone Clinical Trial in Macrovascular Events; UKPDS = UK Prospective Diabetes Study. Aktivierung der GLP1-Rezeptoren – Exenatid – Exenatid mit verlängerter Freisetzung – Liraglutid – Dulaglutid Hemmung der Aktivität der DDP4 Erhöhung der postprandialen Konzentrationen der Inkretine (GLP1, GIP) Hemmung des SGLT2 im proximalen Tubulus Blockade der ATP-sensitiven Kaliumkanäle der β-Zellen GLP1-Analoga SGLT2-Inhibitoren DDP4-Inhibitoren Sitagliptin Vildagliptin Saxagliptin Linagliptin Alogliptin Canagliflozin Dapagliflozin Empagliflozin Aktivierung der PPAR-γ – Pioglitazon Glitazone – – – – – – – – Blockade der ATP-sensitiven Kaliumkanäle der β-Zellen Glinide Zweite Generation – Glyburid/Glibenclamid – Glipizid – Gliclazid – Glimepirid – Repaglinid – Nateglinid Sulfonylharnstoffe Aktivierung der AMPaktivierten Proteinkinase Hemmung der mGPD Zellulärer Wirkmechanismus Wirkstoff – Metformin Wirkstoffklasse Biguanide Tabelle 3: Eigenschaften blutzuckersenkender Wirkstoffe zur Behandlung von Typ-2-Diabetes. Mit Anpassungen übernommen von [2]. ÜBERSICHTSARTIKEL 1101 ÜBERSICHTSARTIKEL 1102 Wirkstoffe einige Tage vor einem chirurgischen Ein Tabelle 4: Wirksamkeit blutzuckersenkender Behandlungen. griff abzusetzen und sie Patienten mit verminderter Erwartete Senkung des HbA1c Werts bei Monotherapie (%) Intervention Lebensstil (Gewichtsreduzierung und vermehrte körperliche Aktivität) 1,0–2,0 Metformin 1,0–2,0 Glukoneogenese (übermässiger Alkoholkonsum usw.) nicht zu verabreichen. Die GLP1Analoga werden inji ziert und gehen häufig und vor allem am Beginn der Behandlung mit gastrointestinalen Nebenwirkungen Insulin 1,5–3,5 wie Übelkeit einher, ermöglichen indes eine gute Kon Sulfonylharnstoffe 1,0–2,0 trolle des Blutzuckers im nüchternen Zustand und Glitazone 0,5–1,4 nach dem Essen und führen bei den meisten Patienten GLP1-Analoga 0,5–1,0 zu einer Gewichtsreduzierung. Für diese Medikamente Glinide 0,5–1,5 stehen zudem Formulierungen zur Verfügung, die ein DPP4-Inhibitoren 0,5–0,8 SGLT2-Inhibitoren 0,5–1,0 mal pro Woche zu verabreichen sind. Bestimmte Pa tienten sprechen allerdings nicht auf diese Wirkstoff klasse an; zurzeit kann aber noch nicht mit Sicherheit vor allem bei beschnittenen, treten die Genitalinfek vorhergesagt werden, welche Patienten ansprechen tionen seltener auf als bei Frauen. Schliesslich wurden werden und welche nicht. Damit die Krankenkasse die bei Patienten, die SGLT2Inhibitoren einnahmen, Fälle Medikamente bezahlt, muss der Patient zu Beginn der ketoazidotischer Dekompensation ohne Hyperglyk Behandlung einen Body Mass Index von mindestens ämie beobachtet. Derzeit liegen noch keine eindeuti 28 kg/m2 aufweisen. Auch für diese Wirkstoffklasse gen Empfehlungen im Hinblick auf diese Komplikation laufen derzeit Studien hinsichtlich ihrer kardiovasku vor, es ist jedoch besonders darauf zu achten, diese lären Sicherheit. Schliesslich kann als Secondline Verdacht auf Diabetes mellitus Bestätigung der Diagnose Patient symptomatisch (Polyurie, Polydipsie, Gewichtsverlust) Typ-2-Diabetes, Patient asymptomatisch Typ-1-Diabetes Insulintherapie von Anfang an zwingend; Überweisung an Facharzt für weitere Behandlung Ambulante Behandlung (initiale Tests), orale Antidiabetika gemäss Tabelle 3 Initiale Laboruntersuchungen (Blutzucker, Kreatinin, Ketonkörper in Urin und Plasma, Bicarbonate) Kriterien, die auf eine schwere Entgleisung hinweisen Überweisung des Patienten auf die Notfallstation eines Spitals Keine Kriterien für eine schwere Entgleisung Nachbetreuung in der Arztpraxis Plasmaglukosewerte ≥16,4–19,4 mmol/l und/oder HbA1c ≥10–12% Ja Nein Insulintherapie (Basalinsulin ± kurz wirksames), dann möglichst bald orale Antidiabetika (Tab. 3) Abbildung 1: Algorithmus für die initiale Behandlung beim Verdacht auf Diabetes mellitus. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2015;15(47):1097–1103 ÜBERSICHTSARTIKEL Korrespondenz: François R. Jornayvaz Service d’endocrinologie, 1103 Behandlung, nach Metformin, eine Insulintherapie Injektionstechniken für Insulin und GLP1Analoga, Er begonnen werden. Diese geht jedoch mit dem Risiko kennen und Korrigieren von Hypoglykämien usw.). einer Gewichtszunahme und von Hypoglykämien ein Eine initiale und eventuell dauerhafte Betreuung Centre Hospitalier Univer her. Häufig werden deshalb andere Kombinations durch einen Ernährungsberater ist ebenfalls dringend sitaire Vaudois (CHUV) therapien versucht, bevor Insulin eingesetzt wird. Falls zu empfehlen. Je nach Patientenprofil wird die Betreu diabétologie et métabolisme Rue du Bugnon 46 CH1011 Lausanne francois.jornayvaz[at]chuv.ch eine Insulintherapie begonnen wird, startet man im ung individuell noch erweitert. Nicht vernachlässigt Allgemeinen mit einem Basalinsulin mit langer Wirk werden darf dabei, die Empfehlungen für das Steuern dauer in einer Dosierung von täglich 10 IE oder 0,1– von Kraftfahrzeugen zu besprechen, besonders, wenn 0,2 IE/kg; die Dosis wird ein bis zweimal in der Woche Wirkstoffe verabreicht werden, die mit dem Risiko um 2–4 IE erhöht, um den Zielwert des Nüchtern einer Hypoglykämie einhergehen (Sulfonylharnstoffe, blutzuckers zu erreichen. Die zusätzliche Verwendung Glinide, Insulin). Dies sollte im Patientendossier aus kurz wirksamer Insuline zur Senkung der postpran rechtlichen Gründen festgehalten werden. dialen Blutzuckerwerte ist im Allgemeinen ein späte rer Schritt, der zu einem erhöhten Risiko von Gewichts zunahme und Hypoglykämien führt. In einigen Fällen Überblick über die Komplikationen kann anstelle eines kurz wirksamen Insulins ein GLP1 Diabetes mellitus, gleich welchen Typs, steht mit dem Analogon versucht werden, um diese unerwünschten Risiko mikro und makrovaskulärer Erkrankungen im Wirkungen zu minimieren. Bei Niereninsuffizienz Zusammenhang. Der Patient kann insbesondere schon muss die Dosis dieser oral verabreichbaren oder inji zum Zeitpunkt der Initialdiagnose eines Typ2Diabe zierbaren Wirkstoffe angepasst und in schweren Fällen tes unter Komplikationen leiden und muss in diesem die Behandlung ganz abgesetzt werden [3]. Fall an einen Ophthalmologen überwiesen werden, da mit eine Augenspiegelung durchgeführt und eine all Nicht-pharmakologische Behandlung Wie oben erwähnt ist es wichtig, dem Patienten gegen fällige diabetische Retinopathie erkannt wird. Sobald der Diabetes stabilisiert ist, muss überdies die Nieren funktion überprüft werden, um festzustellen, ob eine über die Bedeutung der Massnahmen zu betonen, die Mikroalbuminurie vorliegt. Mithilfe einer mit 128 Hz den Lebensstil und die Ernährung betreffen. Diese be schwingenden, am grossen Zeh angesetzten Stimm stehen darin, weniger und gesünder zu essen und sich gabel (Pallästhesie) bzw. eines Monofilaments wird mehr zu bewegen. Werden diese Massnahmen adäquat untersucht, ob eine periphere Neuropathie und somit umgesetzt, ermöglichen sie die Verringerung des gly das Risiko von Läsionen wie dem diabetischen Fuss be kosylierten Hämoglobins um 1 bis 2%, was mit der Wir steht. Im Hinblick auf die makrovaskulären Komplika kung mancher Antidiabetika vergleichbar ist (Tab. 4). tionen sind die Untersuchungen in Abhängigkeit der Natürlich ist diesbezüglich die therapeutische Bera klinischen Symptome durchzuführen. Bei asymptoma tung des Patienten von zentraler Bedeutung. Gegebe tischen Patienten sind systematische Tests zur Erken nenfalls muss der Patient durch Fachkräfte entspre nung einer koronaren Herzkrankheit nicht indiziert. chend geschult werden (BlutzuckerSelbstkontrolle, Der Autor möchte sich bei Dr. Xavier Risse (Facharzt für Allgemein medizin, BussignyprèsLausanne) für die kritische Lektüre des Manu skripts sowie bei Frau Isabelle CohenSalmon für die Unterstützung beim Verfassen des Artikels bedanken. Das Wichtigste für die Praxis Diabetes, besonders vom Typ 2, ist eine Krankheit, deren Prävalenz in unserem Land stetig wächst. Es ist daher wichtig zu wissen, was beim Verdacht auf Diabetes zu tun ist, und im Rahmen der initialen Behandlung die geeigneten Laboruntersuchungen durchzuführen; darauf beruht insbesondere die Entscheidung, ob eine ambulante oder stationäre Behandlung erforderlich ist. Im Falle einer ambulanten Behandlung stehen den ärztlichen Grundversorgern derzeit zahlreiche orale oder injizierbare Antidiabetika zur Verfügung. Die Indikationen und Kontraindikationen dieser Wirkstoffe müssen allerdings in Betracht gezogen werden. In Abbildung 1 wird ein Algorithmus vorgeschlagen, mithilfe dessen beim Verdacht auf Diabetes Hinweise darauf gewonnen werden können, welche initialen Behandlungen vorzunehmen sind. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM Danksagung 2015;15(47):1097–1103 Disclosure statement Der Autor erklärt, dass keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit dem Artikel bestehen. Titelbild © Teresa Kasprzycka | Dreamstime.com Literatur 1 2 3 Kitabchi AB, Umpierrez UE, Miles JM, Fisher JN. Hyperglycemic crisis in patients with diabetes. Diabetes Care. 2009;32:1335–43. Inzucchi SE, Bergenstal RM, Buse JB, Diamant M, Ferrannini E, Nauck M, et al. Management of hyperglycemia in type 2 diabetes, 2015:a patientcentered approach. Diabetes Care. 2015;38:140–9. Zanchi A, Lehmann R, Philippe J. 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