Zwischen den Worten. Hinter der Welt

Zwischen den Worten.
Hinter der Welt
Wissenschaftliche und didaktische
Annäherungen an das Unheimliche
Herausgegeben von
Nicola Mitterer und Hajnalka Nagy
unter Mitarbeit von
Sabine Profanter
Die Drucklegung dieses Werkes wurde freundlicherweise unterstützt durch den
Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Förderungsmitteln der
Privatstiftung Kärntner Sparkasse, das Land Nieder­österreich, die MA7 – Kulturabteilung der
Stadt Wien, das Institut für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, den
Kärntner Universitätsbund und durch die Fakultät für Kulturwissenschaften
der Alpen-Adria-Universität.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de>‚ abrufbar.
ISBN 978-3-7065-5418-3
© 2015 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck
E-Mail: [email protected]
Internet: www.studienverlag.at
Umschlag: Studienverlag/Roland Kubanda
Satz: Marlies Ulbing
Umschlagfotos: Tomáš Joščák/Archiv
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie,
Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder
verbreitet werden.
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier.
Inhalt
Einleitung
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy: „Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“.
Über Schönheit, Schrecken und Sinnhaltigkeit des Unheimlichen
9
Literarischer Beitrag
Margit Hahn: Der Lackmantel
35
Philosophische, kunstgeschichtliche und
literaturwissenschaftliche Annäherungen
Anneleen Masschelein: (Un)Concept or Keyword?
Challenges for Conceptual History in the Age of Google
43
Christoph Leitgeb: Die literarische Heimsuchung des unheimlichen
Gehirns im Tank
65
Endre Hárs: Zweifelhafte Gestalten.
Das anthropologische Projekt des 18. Jahrhunderts und dessen
unheimliche Konsequenzen 82
Jens Guthmann: Kind, Tod, Haus.
Streifzüge durch das Unheimliche in der Bildenden Kunst 99
Unheimliches Erzählen in Literatur und Film
Christina Ulm: Being Human?
Das Unheimliche als Topos der Kinder- und Jugendliteratur
121
Erna Pfeiffer: Unheimliches Erzählen in Lateinamerika.
Magischer Realismus und Fantastische Literatur
137
Johannes Binotto: Räume, Gänge, Kammern, Straßen.
Das Unheimliche im Film
157
Gerda E. Moser: Unheimliches Familienglück.
Zur Persistenz traditioneller Gesellschafts- und Geschlechterordnungen
in der Bestseller-Trilogie Fifty Shades of Grey
173
Das Unheimliche verstehen?
Das Unheimliche im didaktischen Kontext
Ulf Abraham: Textbesessenes Lesen.
Das Unheimliche literarischer Verstehensprozesse
195
Ursula Klingenböck: Zum (Nicht)Verstehen verdammt?
Lektüren des Unheimlichen am Beispiel von Thomas Glavinic
210
Marlies Breuss: Das Unheimliche, die Literatur und die Schule.
Gedanken und Erfahrungen einer Deutschlehrerin
228
Die Autorinnen und Autoren241
Danksagung
247
Einleitung
„Keine Sinnhaftigkeit
außer dem Wahn“
Über Schönheit, Schrecken und Sinnhaltigkeit
des Unheimlichen
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
Für unsere Tagung zum Unheimlichen in der Literatur, der Kunst und in Lehr- und
Lernzusammenhängen im Jahr 2013, aus der dieser Sammelband hervorgegangen
ist, haben wir den Titel „Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“ gewählt. Die Wahl
des Titels für eine Tagung ist immer ein wesentlicher, meist von Zufällen und einer
gewissen Intuition geprägter Prozess. So hat auch das Zitat von Elisabeth Bronfen
(zit. nach Heinrich 1998, 5) unser Denken über das Unheimliche lange Zeit begleitet, auch wenn der vorliegende Sammelband nun einen anderen Titel trägt. Wir
wurden oft gefragt, weshalb gerade dieser Satz für uns das Thema ästhetischer Aus­
einandersetzungen mit dem Unheimlichen im Kern zu fassen vermochte. Diese
Frage­lässt sich nicht eindeutig beantworten, vielmehr entzieht sich die Antwort in
dem Maße, wie man sie zu geben und damit eine Erklärung zu finden versucht. Sie
entzieht sich auf dieselbe Art, wie auch jeder Versuch, das Unheimliche zu analysieren, notwendigerweise scheitern muss. Dennoch ist das Bemühen darum, eine Antwort zu finden – hier wie in der Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen ganz
generell – nicht obsolet. Was in einer solchen Auseinandersetzung erfahrbar wird, ist
nicht eine logisch-kausale Begründung, wohl aber ein Blick auf den Grund, vielleicht
in den Ab-Grund, aus dem heraus eine (freie?) Wahl erwächst. „Keine Sinnhaftigkeit
außer dem Wahn“. Dieser Satz schafft zunächst Distanz. Er stellt einen Abstand her
zwischen den LeserInnen und der vermeintlichen Kausalität, die deren Alltag und
auch weit über das Belanglos-Gewohnte hinausreichende Konzepte strukturiert.
Darun­ter lässt sich einerseits jenes „Gleiten der Signifikaten unter dem Signifikanten“ (vgl. Lacan 1978) verstehen, das unsere Sprache auf sandigen Untergrund stellt
und damit als un-heimlich, als am sich entziehenden, wegrutschenden Grunde aller
Dinge­haltloses Hilfskonstrukt enttarnt. Dieser Satz verweist aber ebenso auf eine
Hoffnung: keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn. Im Wahn aber ließe sich demnach
Sinn finden. Ein solchermaßen verstandener Wahn liegt jenseits der Kausalität und
10
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
Dichotomie, die der Sprache als unhintergehbare Struktur innewohnt, er bedingt ein
„neues“ oder „anderes“ Sehen, das auf nichts als seine eigene Prinzipien, seine „Gemachtheit“ und Originarität zurückgeführt werden kann. Es ist ein Wahn, wie er
jedem Kunstwerk – der Literatur, der Musik, den bildenden Künsten etc. – innewohnt. Dieser Wahn hat durchaus auch etwas Bedrohliches, aber er enthält ein
essentielles­Versprechen. Wer sich auf diese Art Wahn einlässt, „kommt womöglich
darin um“ (Abraham 2010, 16), der/die kommt mit Sicherheit um den Verstand,
aber nicht umsonst, nicht ohne Gratifikation. Der „Sinn“, der gerade im Zeitalter
der Post­moderne unablässig als ein „abhandengekommener“ proklamiert wird, soll
also gerade­dort, wo er per definitionem als absent betrachtet wird, zu finden sein.
Das Wesen eines solchen Sinns bestünde dann eben in seiner eingestandenen Ab­
wesenheit, seinem Vorbeigleiten und für kurze Momente, die ins Nichts münden,
Sichtbarwerden, seiner Herkunft aus dem Abgrund dessen, was wir als den gesunden
Menschenverstand bezeichnen. Eine so definierte, geisterhafte Existenz des Sinns ist
unheimlich im Sinne Sigmund Freuds und weit darüber hinaus. Denn Freud war
nicht bereit, sich auf die Unabschließbarkeit des Unheimlichen einzulassen. Er wollte dieses als eine – anthropologisch wie individuell zu durchlaufende – Entwicklungsstufe verstanden wissen, die man früher oder später zu überwinden im Stande sein
müsse. Der Wahn wäre das Andere dieser Überwindung des Unheimlichen, Sinn ist
bei Freud somit eine Sache der Ratio. Was passiert, wenn man sich dem Wahn überlässt, könne man in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann nachlesen. Durch Freuds
„Perspektive“ betrachtet, lässt sich Nathanaels Sturz als ein Fall aus der Höhe der
abendländischen Geschichte, als ein Herausfallen aus der Gesellschaft, der eigenen
Biographie und – nicht zuletzt – aus der proklamierten Sinnhaftigkeit einer etablierten, das Individuum umfassend strukturierenden Ordnung lesen. Um Nathanaels­
geistige Gesundheit wiederherzustellen und die eigene nicht zu gefährden, wird das
Unheimliche bei Freud durch Erklärung gezähmt, der Wahn in das Reich der Zauberer und Puppen verbannt.
Eine andere Perspektive hingegen wird wahrnehmbar, wenn man den Ausführungen Hélène Cixous’ (vgl. Cixous 1976) folgt: Wenn die Puppe lebendig bleibt, der
Wahn aus der Mitte des intakten gesellschaftlichen Empfindens entspringt und niemals gebannt werden kann, weil das Anwesende, Greifbare, Bewältigbare tief in
seiner­eigenen Abwesenheit verwurzelt ist – dann ist die Ordnung Projektion, das
Klare­, Feste und Sichere der Wahn, dem wir uns alle ergeben müssen, wenn wir als
akzep­tiertes Mitglied dieser Gesellschaft leben wollen. Dann liegt der Sinn, als das
Eigentliche, das Reale im Lacan’schen Sinne (vgl. Lacan 1978), genau dort, wo
Nathanaels verzerrte Perspektiven ihn hinführen, nämlich abseits des gesellschaftlich
Akzeptierten und, so lässt sich vermuten, auch abseits des für den Menschen Leb­
baren. Dann ist der Sinn per se unheimlich, weil er uns an ein Erstes, Echtes und
Authen­tisches erinnert, von dem wir, zumindest sobald wir in die symbolische Ord-
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
11
nung eingetreten sind, durch eine fast unüberbrückbare, der Logik geschuldeten
Distan­z getrennt sind. „Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“. Dieser Satz führt
uns an die eben skizzierten und noch viele weitere (Les)Arten des Unheimlichen
heran, die ein unhinter­gehbarer Teil unserer gespaltenen menschlichen Existenz zu
sein scheinen.
Die Spaltung in Geist und Körper öffnet einen Weg, durch den das Unheimliche
sich zwangsläufig in unser aller Leben drängt. Es existiert „zwischen den Worten,
hinter der Welt“, die wir uns zu einer Gewohnheit und damit tendenziell – um den
Preis des Sinnverlustes – „unschädlich“ gemacht haben. Zwischen den Worten, hinter der Alltagswelt – hier, und nur hier, wo der Anfang über das Bekannte herrscht,
entstehen Geschichten, Bilder und Klänge, die wir als sinnhaft, echt, aber immer
auch ein wenig unheimlich empfinden. In dem Maße, in dem derartige Geschichten
unser Leben beeinflussen, sind wir von Geistern umgeben. Doch viel mehr als das
– andere Geister schleichen sich oftmals dort in unser Leben, wo die Wahrnehmung
besonders objektiv scheint.
Bill Readings bezeichnet gerade die Vermittlung kanonischen Wissens, die Lehre,
in seiner visionären Abhandlung aus dem Jahr 1995 als „haunted“ (vgl. Readings
1996, 156). Obwohl die Reflexion des eigenen Standpunktes spätestens seit Etablierung der Phänomenologie und der postcolonial studies eine ethische Verpflichtung
der Wissenschaften sein sollte, machen wir uns als LehrerInnen die eigenen „Be­
sessenheiten“ viel zu selten bewusst, und wir machen sie unseren SchülerInnen selten
transparent. Doch woher kommt das, was ich weiß und an Wissen weitergebe? Es
kommt in den seltensten Fällen von den Lehrenden selbst, und aus dieser Perspekt­ive
betrachtet ist das Geschäft der Wissensweitergabe ein höchst prekäres und unheim­
liches. Wo kommt das, was ich lehre, her? Wie zufällig und willkürlich war mein
eigener­Bildungsweg und was bedeutet das für meine SchülerInnen? Dürfen die
Geister, die mich als Lehrerin oder Lehrer beseelen, auch von meinen SchülerInnen
Besitz ergreifen? Wie versetze ich mich und meine SchülerInnen in die Lage, die
Unheimlichkeiten des Lehr-Lern-Vorgangs zu reflektieren? Denn schließlich ist es
nicht nur die Lehrperson, die die Herkunft ihres Wissens, ihren persönlichen Lehrstil und eine Menge biographischer Erfahrungen mitbringt, sondern sind es auch die
Schü­lerInnen. Um wie viel mehr Geister als SchülerInnen sitzen in einem durch­
schnitt­lichen Klassenzimmer? Das sind nur einige und die unserer Erfahrung nach
seltener reflektierten Aspekte des Unheimlichen an der Lehre und den Wissenschaften. Hinzu kommt, dass gerade junge Menschen, die ihre Ordnung noch nicht als
eine unverrückbare etabliert haben, dem Unheimlichen gegenüber oft eine besondere Affinität verspüren. Diese Offenheit gegenüber den Rissen, durch die das
Verdrängt­e, Nicht-­Etablierte, Randständige und gänzlich Unbekannte in das Selbstverständliche hereindrängt, dieses in Frage stellt und bricht, ließe sich vielleicht als
eine Grundkonstante der Didaktik, vor allem einer Didaktik des ästhetischen
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Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
Lernens­, nutzen. Seit Kon­struktivismus und Dekonstruktivismus ist diese Dimen­
sion des Fremden im Eigenen in den Wissenschaften zu einer beachteten Kategorie
geworden. In der Vermittlung von Wissen – wo auch immer diese stattfindet, an
Schulen, an Hochschulen oder auch im öffentlichen Raum – ist es hingegen noch
immer ungewöhnlich und ungewohnt, wenn die „Wiedergänger“, die die Szenerie
der Vermittlung beherrschen und das unheimliche Szenario der Wissensweitergabe
an sich, thematisiert werden.
Fest steht, wir sind von „Geistern“ umgeben, von guten wie von bösen. Von jenen
beispielsweise, die uns den Geruch alter Buchseiten als besonders schön empfinden
lassen, weil er uns in die eigene Kindheit und eventuell auch ein konkretes fiktives
Szenario zurückversetzt, das die Realität nie hat einholen können. Oder aber jenen,
die uns vor einem Ort flüchten lassen, ohne dass wir genau sagen könnten, weshalb.
Weil er uns Angst macht, uns unheimlich ist, weil er also symbolisch oder in seiner
konkreten historischen Dimension auf etwas verweist, das wir fürchten. Diese
„Geister­“ begleiten unser Leben und aus ihnen erwächst Sinn, weil sie eine Un­
mittelbarkeit ermöglichen oder aufzwingen, die die Routinen der alltäglichen
Wahrnehmu­ng zeitweilig außer Kraft setzt und uns an ein originäres Erleben heranführt.
Die Begegnung mit dem Unheimlichen kann auf diese Weise befreiend wirken
und eine Verlebendigung des Erstarrten ermöglichen. Nichtsdestotrotz ist der Erfahrung des Unheimlichen jene des existenziellen Fremdseins in dieser Welt unauslöschlich eingeschrieben. Im Wortsinne „eingeschrieben“, nämlich insofern, als bereits die
Sprache, mit deren Hilfe wir versuchen, unsere eigensten Gedanken, Wünsche und
Bedürfnisse auszudrücken, lediglich ein von Anderswo und von Anderen her Kommendes ist. So betrachtet bedienen wir uns alle und jederzeit einer Fremdsprache,
deren Strukturen und begriffliche Bandbreite, deren Enge und Auslassungen, unserem Denken, ja aller Wahrscheinlichkeit nach sogar unserem Fühlen und Wahrnehmen, Grenzen auferlegt oder dieses zumindest in bestimmte Bahnen lenkt und
Abweich­ungen von diesen nur schwer oder gar nicht – wie könnten wir es wissen –
zulässt. Diese Grenzen, die in Form von Normen, Strukturen und (gemachten oder
unterlassenen) Differenzierungen unsere Sprache und unser Denken bestimmen,
sind keineswegs selbst-bestimmt und selbst-gemacht. Umso bedeutender ist für uns
als Sprachwesen die Liminalität, die das Unheimliche auch als sprachliches und lautliches Phänomen mit sich bringt. Wenn wir mit der Entfremdung, die, wie schon
Lacan zeigt, mit dem Spracherwerb beginnt, konfrontiert werden und Geister sehen,
dann geraten wir auch sprachlich ins Stocken, ins Stolpern, wir beginnen uns in den
Wendungen und Windungen der uns scheinbar vertrauten Sprache zu verheddern
und kommen schließlich zu Fall: Das Wort gebricht. Aus dieser Lücke heraus, aus
der Leerstelle, kann etwas Neues entstehen, sie enthält aber auch eine Menge bedroh­
liches Potential. Der mögliche Fall in die Leer(stell)e, die Hilf- und Haltlosigkeit, die
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
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das fehlende Wort mit sich bringt, all das ist ohne eine Einübung in das Unheimliche
nur schwer zu bewältigen. Wer nicht gelernt hat, dass sich an der Grenze zur Sprachlosigkeit nicht immer, nur unter großen Mühen, aber manchmal eben doch, ein
neuer Begriff schöpfen lässt, der den Zusammenhang zwischen Ich und Welt für eine
kurze Weile, aber intensiver als jede vorgeprägte Sprachschablone, herzustellen
vermag­, der wird diese Grenzen zu vermeiden bemüht sein. Diese sprachlichen und
erlebnishaften Grenzerfahrungen sind nicht gefällig und reichen weit über die Angstlust hinaus – die Teil einer solchen Erfahrung sein kann, aber nicht unbedingt
vorhanden­sein muss. An dieser Grenze zwischen der individuellen und oft auch
unheim­lichen Erfahrung und den Ordnungssystemen, in die wir hineingeboren werden, liegt jener Ur-Ort der unheimlichen Erfahrung. Vermeiden wir diese Grenze,
vermeiden wir entweder die Welt, wie sie sich aus den Vorgaben der Kultur als eine
überlebbare etabliert hat und verlieren uns unwiderbringlich im Wahn-Sinn, oder
aber – was viel häufiger der Fall ist – wir verlieren den Zugang zu den Erfahrungen,
die nur abseits der ausgetretenen Pfade des Heidegger’schen „Man“ (vgl. Heidegger
2006, 126 ff.) möglich sind. Diese Dimension des Lebens preiszugeben ist jedoch
ebenfalls fatal, denn sie ist primär gegenüber allem, was uns an Ordnungssystemen
zur Verfügung gestellt wird. Denn zuerst kommt die Erfahrung, die eigene, ursprüngliche Erfahrung und erst danach die Welt, wie sie von der Kultur artikuliert wird, die
Welt der Anderen. Diese Anfänglichkeit wurde von Heidegger übersehen – vielleicht,
weil sie ihm in ihrer Inkommensurabilität und durch ihre weibliche Konnotation
unheimlich war? –, für Hannah Arendt jedenfalls war diese einer der wichtigsten
Bezugspunkte ihres Denkens: „Das, was vor dem Menschen war, ist nicht Nichts,
sondern Niemand; seine Erschaffung ist nicht der Beginn von etwas, das, ist es erst
einmal erschaffen, in seinem Wesen da ist, sich entwickelt, andauert oder auch vergeht, sondern das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähig­keit ist anzufangen: es ist der Anfang des Anfangs oder das Anfangen selbst.“ (Arendt 2002, 166)
Dieser Anfang ist eine ursprüngliche, unteilbare Erfahrung, die jedoch nicht anhält,
sondern von konservativen Momenten des Daseins abgelöst wird, auch wenn es –
zumindest als potenzielle Fähigkeit – niemals ganz verschwindet. Dieses „danach“
der originären Erfahrung hat einen ganz entscheidenden Vorteil: Es befreit uns vom
Gefühl körperlicher Abhängigkeit. Dieses „danach“ ermöglicht es uns erst, uns als
ein Ganzes und Vollkommenes zu imaginieren und darüber vergessen wir meist,
welchen Preis wir für diese Möglichkeit „Ich“ zu sagen und dieses als eine feststehende, durch die Setzung intentionaler Akte bestimmte Einheit zu denken, bezahlen.
Die Unheimlichkeit erinnert uns sowohl an diesen Verlust als auch an die überwundene Gefahr.
Das, was Lacan als die „symbolische Ordnung“ bezeichnet, kann sozusagen als
eine fremde Ordnung betrachtet werden, der sich das Ich unterwirft, um sich als
solches denken und setzen zu können. Ist dieses Ich männlich, wird es die volle Gra-
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Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
tifikation dieser Setzung erfahren, ist es weiblich, lernt es die nichtenden Aspekte, die
diesem wie jedem anderen binären System zu Grunde liegen, zwangsläufig kennen:
„La femme n’existe pas“. Doch auch das männliche Ich konstituiert sich um den
Preis der Verdrängung eines früheren Weltzugangs, der, derart verschüttet-verdrängt,
im Verborgenen bleibt und geisternd weiterwirkt. Dieses Andere in uns ist, so betrachtet, unheimlich, weil es sich außerhalb jeglicher Ordnung befindet, weil es aber
gleichzeitig die heimlichsten, ureigensten Erfahrungen unseres Ichs bezeichnet,
beziehun­gsweise diesem Ich vorausgegangen ist. Für dieses unheimliche Andere im
Ich – Erfahrungen also, die sich nicht in den vorgegebenen Strukturen und mit den
zur Verfügung stehenden Begriffen fassen lassen – gibt es keine Sprache, keinen
Name­n. Hier, auf der Schattenseite der Sprache, sind wir, ob wir uns nun damit auseinandersetzen wollen oder nicht, unseren eigenen, un-heimlichen Geistern ausge­
liefert, die zwar auf verschiedene Art benannt und somit gebannt werden können –
etwa als Tod, als Angst, als Unbehagen etc. –, die jedoch in ihrer Unsagbarkeit und
Un(be)greifbarkeit immer wieder zurückkehren. Dies ist eine Rückkehr, die die
Grenzen unserer Sprache und unserer Existenz bewusst macht, wie es beispielsweise
in Ingeborg Bachmanns Erzählung Ein Wildermuth geschieht. Hier setzt die Hauptfigur der logo­zentrischen Ordnung mit einem unartikulierten Schrei ein Ende. Sein
Schrei treibt nicht nur Risse in die Wand der sprachlichen Ordnung, sondern macht
auf die Existenz eines verborgenen Ich-Anteils aufmerksam: „Wer hat bloß in meinem Gehirn genächtigt? Wer hat mit meiner Zunge gesprochen? Wer hat geschrien
aus mir?“ (Bachmann 1978, 252)
„Fremde sind wir uns selbst“ (Kristeva 2001), auch durch diese Spuren des Anderen und der Anderen, die die Sprache uns einsagt und die Schrift später tief in uns
einschreibt. Erst durch diese Übernahme einer fremden Ordnung kann Kommunikation und dadurch wiederum Bedeutung entstehen. So betrachtet sind wir ein Anderer, noch lange bevor wir das Eigene klar bestimmen können.
Doch die Präsenz des Vergangenen, der Anderen und des Anderen in dem, was
wir sagen, tun und sind, legt uns nicht auf dieses Vergangene fest. Die Sprache, die
vom Anderen her kommt, machen wir uns zu einem gewissen Grad immer und
zwangsläufig auch „zu eigen“, wir fügen ihr durch unser individuelles Erleben etwas
hinzu, das die abstrakten Wort-Konzepte um eine sinnliche Komponente bereichert.
Die Konnotationen, die ein Wort im Laufe unseres Lebens erhält, machen es erst
sinn-voll für uns. Ein so einfaches Wort wie „Hand“ etwa kann, wenn wir es mit
genügend Aufmerksamkeit betrachten, ein ganzes Leben „nacherzählen“. Ich denke
bei diesem Begriff, zumal dann, wenn er im literarischen Kontext vorkommt, nicht
zu allererst an die platonische „Idee der Hand“ (außer der Kontext legt dies nahe),
sondern vielleicht an die Hand eines mir vertrauten Menschen, die ich als Kind oft
gehalten habe, an die Hand eines alten Menschen, deren Aderngeflecht in ihren
Verästelungen rätselhaft wirkt. An das Gefühl, wenn ich meine Hand an einen kalten
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
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Spiegel lege, an die unheimlichen Hände, die in zahlreichen Geschichten und Filmen aus Wänden ragen, oder auch an die Handabdrücke auf dem Walk of Fame, die
als eine Spur ikonenhafter Existenzen einen Weg bilden, an dem sich die Individuen,
die hinter diesen Namen steck(t)en, ebenso wie künftige Generationen, abarbeiten
müssen. In dem Assoziationsgewebe, in das mich ein Wort einspinnt, sobald ich
mich näher auf seine Betrachtung einlasse, werden immer auch unheimliche Bilder
enthalten sein. Im Falle dieses Beispiels etwa die körperlosen Hände, die sich beispielsweise in Roman Polanskis Film Ekel wie Äste aus der Wand strecken und nach
der Protagonistin greifen, die vor allem nicht berührt werden möchte.
Als „das Unheimliche“ bezeichnen wir meist solche und ähnliche beängstigende
Assoziationen, die wir zu einem bestimmten Wort oder Bild entwickeln. Der Philosoph Martin Heidegger hat das Unheimliche anders definiert, in einem existenzielleren Sinn, der unserem Alltagsverständnis des Wortes zuwider läuft. Er hat als das
Unheimliche das bezeichnet, was nicht weiß, wovor es sich fürchtet, welches also den
Grund seiner Angst nicht benennen kann. Diese „grundlose“ Angst vor dem Sein,
vor der Unmöglichkeit des Sein- und Nicht-Sein-Könnens an sich, sei die tiefste­und
wertvollste Dimension des Unheimlichen, weil sie uns aus der masken- und schablonenhaften Welt der Routinen herausreiße und uns den Blick auf das „Eigentliche“
erlaube: „Die Angst dagegen holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in
der ‚Welt‘ zurück. Die alltägliche Vertrautheit bricht in sich zusammen. Das Dasein
ist vereinzelt, das jedoch als In-der-Welt-sein. Das In-Sein kommt in den existenzialen ‚Modus‘ des Un-zuhause. Nichts anderes meint die Rede von der ‚Unheimlichkeit‘.“ (Heidegger 2006, 189) Das steht vielleicht gar nicht in Widerspruch zu den
eben genannten Beispielen. Die Hand in ihrer erschreckenden, schaurigen Dimension, ist letztlich die Angst davor, einen Körper zu haben und ein Körper zu sein, der
uns als Ganzes und in allen seinen Einzelteilen als Menschen gleichzeitig auch als
Be-deutendes gegenübertritt. „Die Hand sieht aus wie …“, „sie erinnert mich an …“
– Derartige Modi des Wahrnehmens sind für das menschliche Bewusstsein fast unausweichlich und das wiederum bedingt, dass alles, was offensichtlich, klar, konturiert erscheint, uns immer auch als ein Unheimliches gegenübertreten kann. Hinter
dieser Erfahrung verborgen liegt die ganze Paradoxie unseres menschlichen Seins, das
sich immer in ein unmittelbares Erleben und ein daneben-stehendes Beobachten
spaltet. Das menschliche Sein ist, so betrachtet, zutiefst unheimlich. Wir bringen
also, wenn wir über das Unheimliche sprechen, egal ob im privaten, im institutionellen oder im künstlerischen Raum, in jedem Fall eine existenzielle Thematik zur Sprache. Das Sprechen über das Unheimliche ist, so betrachtet, ein Blick in die Abgründe
des Mensch-Seins selbst und gleichzeitig auch eine Möglichkeit, sich durch literarisch vermittelte Bilder mit diesen auseinanderzusetzen. Eine solche Auseinandersetzung mit dem, was eigentlich unberührbar, fremd und damit beängstigend ist, schafft
nicht nur Unmittelbarkeit, sondern gerade durch die ästhetische Überformung –
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Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
relative­n, nicht absoluten – Trost. Die Bilder, in denen etwa in literarischen Texten
das Unheimliche zum Ausdruck kommt, legen sich wie ein Mantel um das in seiner
Nacktheit unerträgliche Dilemma der menschlichen Existenz (vgl. Taureck
2004,168).
Le gouffre
Pascal avait son gouffre, avec lui se mouvant.
– Hélas ! tout est abîme, – action, désir, rêve,
Parole ! et sur mon poil qui tout droit se relève
Maintes fois de la Peur je sens passer le vent.
En haut, en bas, partout, la profondeur, la grève,
Le silence, l’espace affreux et captivant …
Sur le fond de mes nuits Dieu de son doigt savant
Dessine un cauchemar multiforme et sans trêve.
J’ai peur du sommeil comme on a peur d’un grand trou,
Tout plein de vague horreur, menant on ne sait où;
Je ne vois qu’infini par toutes les fenêtres,
Et mon esprit, toujours du vertige hanté,
Jalouse du néant l’insensibilité.
Ah! ne jamais sortir des Nombres et des Etres!
(Baudelaire 1974)
Der Abgrund
Ein Abgrund höhlte Pascals Brust: im Gehen
Ging der mit ihm. – Ach! Abgrund alles:
Wort, Begehren, Traum, die Tat! In einem fort
Haucht Angst in mein gesträubtes Haar ihr Wehen.
In allem – oben, unten – Tiefe, Sand,
Das Schweigen, fesselnder, furchtbarer Raum …
Auf meiner Nächte Grund malt bösen Traum
Vielfältig Gott mit fester Meisterhand.
Ich fürchte den Schlaf wie einen tiefen Schlund
Voll Graun und unbekannter Schrecken Mund;
In jedem Blick ich Grenzenloses finde.
Mein Geist, den Schwindel heimsucht, schaut, von Neid
Umfangen, auf des Nichts Fühllosigkeit.
– Ach, daß ich nimmer Zeit und Raum entschwinde!
(Baudelaire 1976, 244; übertragen von Carlo Schmid)
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
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Vielleicht liegt das besondere Potential der Literatur gerade darin, dass sie dem
Unheimli­chen eine Sprache zu geben vermag. Literatur benennt aber nicht einfach
das Unsagbare, sondern sie reflektiert das Unheimliche in seiner sprachlichen Un­
artikulierb­arkeit. Beim Lesen literarischer Texte fühlen wir uns einerseits bestätigt in
unseren Gefühlen, Ängsten und Unsicherheiten, wir erkennen unsere oder den unseren sehr ähnliche Geister wieder, wir begreifen andererseits aber auch, dass die Literatur selber um ihre Sprache ringt. Das, was Literatur leisten kann, ist die ringende
An­näherung an dieses Unheimlich-Unsagbare und die Versprachlichung dieses
Ringens­selbst. Und dennoch: Das Unheimliche zieht sich stets aus der Sprache zurück, es „zeigt sich“ nur zwischen den Zeilen, Worten und Buchstaben, als Bedeutungsspur.
Eine solche Art, Literatur zu betrachten, würde auch eine andere Art, Literatur zu
vermitteln, nach sich ziehen. Die Tagung „MittelLiteraturPunkt“, ebenso wie die zugehörigen Sammelbände, möchten sich wieder stärker auf die Literaturdidaktik und
deren theoretische Fundierung beziehen. Das ist einer Spur geschuldet, die diese
Veranstaltung schon vor langer Zeit gelegt hat und die wir wieder stärker verfolgen
möchten. Es ist dies die Spur, Wissenschaft als ein gesellschaftlich relevantes Gebiet
zu begreifen, das in schulischen Institutionen an jene herangetragen wird, die noch
unvorbelastet von den Geistern der Wissens-Ordnungen sind. Ebenso wenig, wie die
Bedeutung des Wortes „Hand“ die „Idee der Hand“ ist, kann Wissen als sinn-haft
und sinn-voll erfahren werden, wenn die bildungstheoretische Annahme dahintersteckt, man könne Wissens- oder Kompetenz„pakete“ von a nach b transferieren.
Sinn-volles Wissen ist Wissen, in dem die Geister der Vergangenheit sichtbar werden
und in einer neuen, zeit-gemäßen Form zu jenen der Zukunft werden. Das bedeutet
keineswegs, dass Wissen aus dem Weitergeben des Althergebrachten bestünde. Lernen und Lehren ist, aus dieser Perspektive besehen, ein „begeisternder“ Prozess, der
die Vergangenheit in die Gegenwart bringt und sie dort – im Idealfall – in einer noch
nie dagewesenen Form zu neuem Leben erweckt. Kompetenzen können sich im
Zuge dieses Prozesses entwickeln, ja sie entwickeln sich sogar ganz bestimmt und
sozusagen unvermeidlich – aber sie sollen und dürfen nicht zum Fetisch sämtlicher
Bildungsprozesse werden (vgl. Liessmann 2014, 28 f.).
Das Postulat der Sinnhaftigkeit muss für jedes Lehren und Lernen gelten dürfen,
auch für das naturwissenschaftliche (vgl. Combe 2015, 54 ff.). Für das literarische
Lernen aber gilt diese Forderung in besonderem Maße, denn schließlich gilt es hier
eine Korrespondenz herzustellen zwischen den beiden Seiten jener Grenze, die die
menschliche Ratio vom inkommensurablen Erleben trennt. Diese Grenze ist das
Hoheits­gebiet des Unheimlichen und hier erwächst der Sinn vor allem aus dem, was
im ersten Moment unverständlich, unerklärlich, eben un-heimlich ist. Denn der
Litera­tur und allen anderen Künsten ist diese unheimliche „Fremdheit“ inhärent und
zwar „von ihrer Ästhetik her: als von der Norm abweichender Umgang mit Sprache
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Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
mit Hilfe fremder Elemente [und] von ihrer Wirkung her: als ‚Des-Automatisierung‘
der (kulturell beeinflussten) Wahrnehmung“ (Wintersteiner 2006, 92).
Die Auseinandersetzung mit Literatur ist somit immer unheimlich, auch wenn es
der behandelte Text auf der Inhaltsebene nicht ist. Was vermutlich all jenen, die an
Schulen arbeiten oder über literaturdidaktische Fragen nachdenken geläufig ist, ist
die Erfahrung, dass das Unheimliche auf junge Menschen besonders faszinierend
wirkt. Auch die eigene Erinnerung lässt vielleicht vermuten, dass das Unheimliche
gerade auf der Entwicklungsstufe zwischen Kindheit und Erwachsenenalter in den
meisten Fällen eine besondere Anziehungskraft ausübt. Von einem gesteigerten
Interes­se Jugendlicher am Unheimlichen zeugt die Begeisterung im Unterricht, wenn
dieses Thema zur Sprache kommt, davon zeugen auch die populärliterarischen Bestseller, die in letzter Zeit zumindest häufig mit unheimlichen Motiven spielen (vgl.
die Beiträge von Gerda Moser und Christina Ulm in diesem Band). Vielleicht ist das
Unheimliche jungen Menschen deshalb so nah, weil sie sich selbst in einer Phase des
Übergangs befinden und sie sich auf dieser Schwelle, die das Unheimliche markiert,
heimischer fühlen als jene, die bereits in die Ordnungssysteme integriert sind. Mit
Sicherheit ist auch die Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein Grund für diese „Begeisterung“, die wir alle zumindest manchmal noch für
das Unheimliche hegen. Den Zugang zum Unheimlichen können wir dabei ja nicht
nur in seiner unangenehmen und schockierenden Dimension erfahren, sondern auch
als eine Lust erleben. Die Geisterbahn, der Gruselfilm und das Horror-­Gro­schen­
heftchen, sie alle leben von diesem Genuss an dem, was uns als fremd und unergründlich, aber doch nicht nur angsteinflößend, sondern eben auch anziehend gegenüber tritt.
Die Anziehungskraft des Unheimlichen entspringt allerdings vor allem dann,
wenn diese massenwirksam ist, eher der konkret-inhaltlichen Dimension und seltener der ästhetischen Besonderheit eines Textes. Dieser Sammelband wendet sich jedoch vor allem dieser ästhetischen Dimension zu und fragt nicht nur danach, welche
Erzählmodi und Perspektiven eine unheimliche Lesart evozieren, sondern auch danach, wie sich das Unheimliche im Leser/in der Leserin, – also während des Lesens
oder in verschiedenen Rezeptionssituationen – neu konstruiert und konstituiert. In
diesem Zusammenhang berühren wir grundlegende ästhetische Fragen, etwa, ob
Verschriftlichung notwendigerweise auch ein Unheimlichwerden der Sprache bedeutet und ob und inwiefern das unheimliche Potential eines literarischen Textes durch
jegliche Interpreta­tion reduziert, gezähmt oder sogar vernichtet wird. Ist der Interpretation und dem Sprechen über das Unheimliche die Domestizierung inhärent?
Wie können wir diesem Paradoxon in wissenschaftlichen Kontexten oder im Rahmen des Literatur­unterrichts gerecht werden? Und wieder münden alle diese Fragen
in die Auseinandersetzung mit der Sprache, in die Frage nach den Möglichkeiten des
Zur-Sprache-Bringens einer Erfahrung, die eigentlich nicht benannt werden kann.
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
19
Als wir in einem didaktischen Kontext darüber nachgedacht haben, ist uns ein Märchen der Gebrüder Grimm in den Sinn gekommen: das Märchen von einem, der
auszog, das Fürchten zu lernen. Der Protagonist dieses Märchens ist gewillt, das Unheimliche kennenzulernen, und doch scheitern all jene, die ihm, diesem „unbelehrbaren“ Jungen, das Fürchten beibringen wollen. Wenn wir dieses Märchen als
Allegor­ie unseres didaktischen Tuns begreifen, dann ist es die Aufgabe der Lehrenden, SchülerInnen für das Unheimliche in einem Text zu sensibilisieren, ihre Wahrnehmung auch in Bezug auf das Unerklärliche zu schärfen, weil ihnen andernfalls
eine wichtige Dimen­sion des menschlichen Seins gänzlich verschlossen bleibt. Denn
– und das wissen wir seit Hofmanns Sandmann-Erzählung – nicht jeder/jede hat
Augen, das Unheimliche zu sehen:
Das „Unheimliche“ ereignet sich […] im Leser und ist ein Erkennen – oder auch: Wieder­
erkennen – verschütteter, unbewußter oder verdrängter Erfahrung von Wirklichkeit, die
anders ist als das, was er gemeinhin dafür hält und anerkennt. […] Das heißt, die Erzählung
erhält ihren Sinn nicht als Illustration oder Einkleidung einer ihr vorgegebenen Bedeutung,
die der Rezipient etwa durch Analyse und Interpretation freizulegen hätte, sondern sie ist
erzähltechnisch so organisiert, daß der Leser zwingend am Zustandekommen einer Bedeutung beteiligt wird: unabhängig von ihm ist gleichsam keine da. […] Mit anderen Worten:
angelegt und provoziert ist eine Rezeption, die aus dem Inneren des Rezipienten heraus
schöpferisch wird, die nicht nur passive Konsumption, sondern auch aktive Produktion ist.
(Jürgen Walter, zit. nach Drux 2003, 88 f.)
In diesem Sinne – und nicht zuletzt – ist das Unheimliche immer auch eine Auseinandersetzung mit den unerklärlichen und unergründlichen Anteilen unseres eigenen
Selbst und der existenziellen Einsamkeit, in der wir uns befinden – Julia Kristeva hat
dieses Faktum der Selbst-Entfremdung in die Formel „Fremde sind wir uns selbst“
gepackt und diese ist zurecht so berühmt geworden, denn sie rührt an der Wurzel
unserer existenziellen Verbundenheit mit der Thematik des Unheimlichen. Dass diese so nah an uns selbst ist, bedingt auch, dass es so viele Facetten des Unheimlichen
gibt, wie es unterschiedliche Biographien, Geschichten und Bilder gibt. Das Thema
ist somit per se unergründlich und an dem Versuch, es rational zu erfassen, ist bereits
Sigmund Freud auf großartige Weise gescheitert. Auch darauf werden die Beiträge
dieses Bandes immer wieder zu sprechen kommen. Wir können also weder hier, noch
sonst irgendwo, jemals auf ein vollständiges „Verstehen“ hoffen, gerade wenn es um
das Unheimliche geht. So betrachtet ist das Unheimliche eng mit der Literatur verwandt, einer zutiefst unheimlichen Ausdrucksform, die sich niemals erschöpfend
behandeln lässt. Die literarischen Darstellungsweisen des Unheimlichen sind so zahlreich wie die „unheimlichen“ Texte, die im Laufe der Zeit entstanden sind, auch
wenn sich gewisse ästhetische Modi des Unheimlichen finden und aufzählen lassen.
Unser Wunsch als Herausgeberinnen ist es jedoch, unseren LeserInnen möglichst
20
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
viele und unterschiedliche Perspektiven auf das Thema zu eröffnen und wir sind
überzeugt davon, mit der Auswahl unserer AutorInnen und den von ihnen behandelten Themen eine gute Basis dafür geschaffen zu haben.
Zu den Beiträgen dieses Bandes
Es ist vielleicht nicht übertrieben, wenn man als eine der größten Herausforderungen der wissenschaftlichen Forschung zum Unheimlichen die Bestimmung des
Gegen­standes selbst betrachtet. Auf die Frage, worüber wir sprechen, wenn wir das
Wort „unheimlich“ oder den Begriff „das Unheimliche“ verwenden, geben die Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften unterschiedliche Antworten, auch wenn sie
scheinbar auf den gleichen Gründungstext, Freuds Essay über Das Unheimliche,
Bezug­nehmen. Der erste Teil des Sammelbandes versucht demgemäß diese Debatte
über mögliche Konzeptualisierungen des Unheimlichen weiterzuführen und das
Unheimli­che in seinem kunst-, kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext abzustecken. Dabei präsentieren die Beiträge nicht nur verschiedene theoretische Zugänge, sondern zeichnen auch jenen heterogenen, diskursiven Rahmen nach, in welchem das Reden über die Unheimlichkeit des menschlichen Wesens verortet ist.
In ihren einführenden Überlegungen verfolgt Anneleen Masschelein die Spuren des
Unheimlichen in den Theorien des 20. Jahrhunderts. Masschelein bezeichnet das
Unheimliche als „Unkonzept“, weil es sowohl als ästhetisches als auch als negatives
Konzept, das seinen Ursprung in der Ambivalenz der Verneinung des „Heimlichen“
fin­det, paradox ist und trotz jeder Bemühung flüchtig und ungreifbar bleibt (vgl. 43).
Masscheleins Untersuchung zielt aber nicht darauf ab, das Unheimliche begrifflich
zu schärfen, sondern darauf, jene theoretischen Entwicklungen nachzuzeichnen, entlang derer Konzepte des Unheimlichen entstanden sind beziehungsweise heute noch
entstehen. Hierzu muss unbedingt zwischen dem Wort und dem Konzept unterschieden werden – dies zeigt auch ihre Untersuchung durch „Google N-gram
viewer­“, mit dessen Hilfe sie nicht nur diachronisch das Auftauchen des Wortes
„unheim­lich“ im Web verfolgen, sondern auch die Kontexte, in denen das Wort
erschein­t, differenzieren kann, um dadurch mit dem Unheimlichen verwandte
Konzepte­zu eruieren. Die Google-Analyse ermöglicht Masschelein ebenfalls zu bestimmen, wann, wo und wer die substan­tivierte Form des Wortes „unheimlich“ zum
Zweck der Theoriebildung verwendet. Der Beitrag präsentiert dabei keinen simplen
historischen Abriss mit chronologischer Reihenfolge von Entstehung (mit Freud als
Gründungsvater) über Kanonisierung (Todoro­v, Cixous, Derrida) bis zur Verbreitung und Dissemination (ab den späten 1990er Jahren), sondern versucht ein diskur-
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
21
sives Netz zu entwerfen, das dynamische Bewegungen und kontingente Übernahmen des Begriffs gleichsam berücksichtigt. Dabei macht Masschelein immer wieder
auf die Differenzen dieser Theorien im deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum aufmerksam, die je nach gewähltem Schwerpunkt das Freud’sche Unheim­
lich­e in einen neuen diskursiven (psychoanalytischen, strukturalistischen, poststrukturalistischen) Rahmen stellen. Nicht zuletzt macht Masschelein deutlich, wie schwer
festlegbar das Unheimliche ist, zumal sich das Konzept „rhizomatisch“ ent­wickelt
und das Wort selbst sehr leicht für ganz andere Kontexte – zum Beispiel in den technischen Bereichen wie Computeranimation und Roboter-Design – angewendet werden kann. Masscheleins genaues Mapping des Unheimlichen zeigt uns letztlich, wie
ko­n­tingent jede Theoriebildung sein kann und – im Fall des Unheimlichen – wie
unterschiedlich die Bedeutungen sind, die wir mit dem Wort verbinden.
Auch Christoph Leitgeb versucht, indem er diverse Theorien des Unheimlichen
mit literarischen Texten verbindet, eine mögliche Lesart des Phänomens anzubieten.
Seine leitende Frage ist dabei, ob die von Hilary Putnam geliehene Denkfigur „Gehirn im Tank“ das Grundproblem der Unheimlichkeitstheorien, „ihren Gegenstand
in Konzepten zu fassen“, überwinden kann (68). Das Experiment „Gehirn im Tank“
scheint – so Leitgebs Grundthese – für das Unheimliche wie geschaffen, ist es doch
mit Ängsten verbunden, die gewöhnlich das Unheimliche auslöst: das Lebend­begraben-Sein, die Verwandlung des Menschen in eine Maschine und nicht zuletzt
die Unverfügbarkeit der Sprache, der Welt und der eigenen Person. Leitgeb interessieren jedoch nicht diese unheimlichen Motive, sondern die Frage, inwieweit die
Denkfigur „Gehirn im Tank“ mit jener Theorietradition verbunden werden kann,
die sich von 1900 bis ins neue Jahrtausend um eine Begriffsbestimmung des Unheimlichen bemüht hat. Auf der Folie des Putnam’schen Gedankenexperiments
unter­zieht Leitgeb die Theorien des Unheimlichen von Freud über Lacan bis hin zu
Cavell einer Re-lektüre, um die eigenartige Überlagerung der Definitionen aufzu­
zeigen. Wie auch immer das Unheimliche letztlich definiert wird – als „Verunsicherung sprachlicher Kategorisierung“ (Jentsch), als „erinnerte Kastrationsangst“
(Freud), als Einbruch des Realen und „einen Moment äußerster Selbstentfremdung
und Gefährdung“ (Laca­n, 72 in diesem Band), als Verunsicherung der Grenze von
Fiktion und Wirklichkeit (Todorov, Cixou­s) oder aber als Erkenntnis über die Unheimlichkeit der „gewöhnlichen Kommunikation“ und über unser Gefangen-Sein in
den Konventionen der Sprache (Cavel­l) – bleibt die zentrale Frage Leitgebs offen,
weil eben „[k]ein sprachlicher Standpunkt ‚außerhalb‘ vorstellbar [ist], der sich der
Unabhängigkeit seiner Referenz sicher genug sein könnte, um sich dem Szenario
eines­‚Brain in the vat‘ zu entziehen“ (76). Literatur – dies zeigen schließlich Leitgebs
Analysen zu Elfriede­Jelinek, Danilo Kiš, Stanisław Lem, Henri Michaux, Walter
Moers und Oswal­d Wiener – vermag dennoch dieses theoretische Dilemma zu erhellen, indem sie das „Gehirn im Tank“ nicht nur als Motiv, sondern als literarisches
22
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
Verfahren einsetzt und immer wieder die Grenzen zwischen Realität und Zeichen
verwischt.
Was passiert jedoch, wenn der Mensch sich nicht nur als genuin unheimliches
Wesen herausstellt, sondern als „Gattungswesen“ zum Gegenstand der systematischen Vermessung einer unheimlichen Wissenschaft wird, die seine Diskurse selbst
zu ver-rücken beginnt. Endre Hárs untersucht in seinem Beitrag „das anthropologische Projekt des 18. Jahrhunderts“, das im Dialog diverser wissenschaftlicher Disziplinen – wie Natur- und Kulturgeschichte, Völkerkunde oder Kunst- und Literaturgeschichte – an der Konzeptualisierung der Natur des Menschen arbeitet. Dabei
sollen „Mittelgeschöpfe“ wie Monster, Missgeburten und Figurationen des Übergangs zwischen Mensch und Tier (und höheren Wesen) „ein Vergleichsverhältnis
begründen, in das der Mensch zu sich selbst gesetzt und durch das er zugleich seiner
Kenntlichkeit beraubt wird“.1 Für dieses unheimliche Unternehmen findet Hárs
beim Philosophen Giorgio Agamben eine Bezeichnung, „die anthropologische
Maschine­“, die die unendliche Produktion und Reproduktion der Diskurse über den
Menschen auf den Punkt zu bringen vermag. Demnach sei der Mensch das Resultat
„von unablässigen Teilungen und Zäsuren“ (Agamben, zit. nach Hárs, 82), der sich
durch dichotome Setzungen wie Mensch/Tier, human/inhuman, normal/anormal
konstituiert, wobei die Grenzen immer wieder überschritten werden, um wieder
neue Grenzziehungen zu produzieren. Somit gibt es keinen fixen Bezugspunkt – wie
zum Beispiel Vernunft oder Erkenntnisfähigkeit – mehr, von dem ausgehend der
Mensch definiert werden könnte. Dieses unendliche Vorantreiben der Differenzierungen und Klassifizierungen belegen auch die von Hárs analysierten Schriften – ein
Textausschnitt von Gottfried Wilhelm Leibniz mit seiner Bemühung um die Bestimmung der Grenzen zwischen Mensch, Tier und Monstrositäten; und ein Text von
Georg Forster, der die Doppelrolle des Menschen als Individuum und Gattungs­
wesen problematisiert. Hárs beobachtet bei beiden Autoren eine „regelrechte Fixierung auf Mittelgeschöpfe, Zwischenwesen und klassifikatorische Anomalien“, die
sich „in den Rissen und Spalten der Systeme Platz [macht] und die Unheimlichkeit
der conditio humana [belegt]“ (85). Das Unheimliche der Argumentation beider
Texte­ergibt sich jedoch nicht nur daraus, was über den Menschen ausgesagt wird,
sondern daraus, wie diese Argumente den Menschen zu einer „Figur der Sprache“
machen. Leibnitz und Forster arbeiten nämlich mit „Gedankenexperimenten“, in
denen­Mischwesen lediglich in der Fiktion, in der sprachlichen „Erdichtung“ existieren (88). Durch diese sprachlichen Konstruktionen entsteht nicht nur ein Wesen,
das die Fähigkeit besitzt, seine eigene Menschwerdung und Entmenschlichung beschauen zu können, sondern eine (auch sprachlich) verzerrte Gestalt, die sich letztlich nur noch „als ständige Abweichung von sich selbst“ (93) erfahren kann.
Jens Guthmann stellt im letzten Beitrag des Kapitels die Frage, ob das Unheimliche
als ein ästhetisches Merkmal zu definieren und somit auf der Produktionsseite zu
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
23
situiere­n wäre oder ob es vorrangig als ein Effekt betrachtet werden sollte, der auf der
Rezeptionsseite bestimmte Gefühle und Reaktionen hervorrufe. Eine Antwort ist
anhand der „klassischen Medien der Bildenden Kunst“ – wie er bemerkt – von vornherein mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, zumal es keine expliziten Kunst­
formen gibt, die zu jedem Zeitpunkt bei jedem/jeder Betrachter/in „zwangsläufig das
Gefühl des Unheimlichen zu evozieren“ imstande wären (100). Zudem arbeiten
Werke­der bildenden Kunst anders als literarische Texte nicht mit Strate­gien, die das
„Lesen“ der Bilder verlangsamen könnten: Um dem Unheimlichen in einem Bild
nachzuspüren, braucht jeder/jede Einzelne einen gewissen Grad an emotioneller
Involviert­heit und kontemplativer Annäherung, bei der die distanzierte Betrach­
terInnen-Position zugunsten einer aktiven Beteiligung an der Konstruktion der
Bedeutu­ng aufgegeben werden soll. Mit der Untersuchung typischer Motive des Unheimlichen, wie des toten Körpers, un-heimeliger Behausungen und befremdend
wirkender Kinderdarstellungen in den Werken der bildenden Kunst und der
Architek­tur, wird eine Definition des Unheimlichen in gewissem Sinne möglich,
etwa als Ver­störung­der gewohnten Betrachtungsweise. Nichtsdestoweniger betont
Guthmann auch, dass weder das evozierte Gefühl des Kontrollverlustes und des
„Eindringen[s] des Unerklärlichen“ (107), noch das Merkmal des Grenzgangs zwischen Leben/Tod (vgl. zum Beispiel Andres Serranos Serie The Morgue ), Vertrautheit/Befremdung (Thomas Demands Werk Klause I–V ), Künstlichkeit/Natürlichkeit (Inez van Lamsweerde­s Fotografien mit dem Titel Final Fantasy) genügen, um
eine unheimliche Wirkung zu erzeugen. Vielmehr entfaltet sich das Unheimliche in
dem Moment, in dem sich die Grenzen zwischen Betrachtendem und Betrachtetem
verwischen und eine Sorgwirkung entsteht, der sich die BetrachterInnen nicht entziehen können. Das Unheimliche blitzt also laut Guthmann besonders in jenen
Momente­n auf, wo es uns unmöglich wird, uns dem Dargestellten gegenüber als
Subjekte zu positionieren – in Momenten also, wo das Unheimliche nicht länger
außen verortet, sondern im Eigenen erkannt wird und unser Selbstverständnis radikal in Frage stellt.
Die Beiträge im zweiten Teil untersuchen ästhetische Erscheinungsformen des Unheimlichen in filmischen Produktionen, kinder- und jugendliterarischen Werken,
den lateinamerikanischen Literaturen und nicht zuletzt in der Populärkultur. Die
Analysen machen nicht nur die Diversität der Motive offensichtlich, sondern auch
die Vielfalt der theoretischen Positionen der AutorInnen, die jeweils andere Definitionen des Unheimlichen in den Vordergrund rücken. Dieser Teil wird von einem
Beitrag eröffnet, der das vielleicht beliebteste Motiv des Unheimlichen behandelt:
Anthropologische Grenzgänge, die nach den (Un)möglichkeiten einer Existenz außerhalb des traditionell Humanen fragen. Figuren der Liminalität, in einem zeit­
lichen und/oder räumlichen Zwischenraum angesiedelt, haben immer schon an die
24
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
Urängste des Menschen vor Kontroll- und Selbstverlust gerührt. Übergänge zwischen Mensch und Tier, Mensch und Maschine beziehungsweise lebendigem und
totem Körper führen doch eine existenzielle Verunsicherung von dem, was bisher als
„Mensch“ beziehungsweise „menschlich“ galt, herbei, dem nicht nur sein Ich mitsamt Sprache und Denkvermögen, sondern auch sein Körper fremd, das heißt unheimlich, geworden ist. Unheimlich im doppelten Sinne des Wortes: als nicht Verfügbares, das in die vertraute Ordnung der Identität, der Sprache oder des Körpers
nicht mehr integrierbar ist und als diesseitig gewordenes Jenseitiges, das die Grenzen
zwischen Innen und Außen – also Ich und Nicht-Ich – verflüssigt und auflöst.
Liminale­Zwischenwesen wie Vampire, Zombies, Geister oder Werwölfe, die ihre
Faszination auf Kinder und Jugendliche gerade aus diesem Unheimlich-Werden der
eigenen Existenz gewinnen, sind inzwischen gängige Motive und Topoi der Kinderund Jugendliteratur, die diverse Momente des Transits und der Verwandlung oft mit
der allgemeinen Frage nach der Identität eines/einer Pubertierenden verbindet.
Dieser liminalen Anthropologie geht Christina Ulm in ihrem Beitrag zu aktuellen
Werken der Kinder- und Jugendliteratur nach, indem sie drei Tendenzen genauer in
den Blick nimmt: Die Kategorie des animalischen Körpers (Werwölfe in Harry Potter
und Twilight), die des (halb)toten Körpers (Zombies, Vampire, Geister in Being
Human­, Golem stiller Bruder, Warm Bodies) und des synthetischen Körpers (Cyborgs­,
Klone und „künstliche“ Wesen, in Zweiunddieselbe). Dabei konzentriert sie sich auf
die Frage, inwiefern die Romanfiguren neue Identitätskonzepte zu entwerfen ver­
mögen, indem sie – wie zum Beispiel das Cyborg Jenna – Dualismen wie Geist/
Körper, Mann/Frau, Natur/Kultur aufbrechen, „Abjektes“ in Subjekthaftes verwandeln und durch die Bewusstmachung der inhärenten Unheimlichkeit menschlicher
Existenz Hybridität als eine Rückgewinnung des Humanen feiern (vgl. 128). Dies
dürfte auch der Grund dafür sein, warum so viele Texte der fantastischen Kinderund Jugend­literatur Mischwesen nicht länger als Schreckensvision, sondern als begehrte, an­mutige Geschöpfe imaginieren, die zwar in einem gesellschaftlichen
Außer­halb, aber keineswegs außerhalb der domestizierenden Ordnung des eng gestreckten traditionellen bürgerlichen Gesellschaftssystems leben.
In der strukturalistischen Erzählforschung hat Todorovs Unterscheidung zwischen
dem Fantastischen, Unheimlichen und Wunderbaren besondere Beachtung gefunden. Diese Begriffe werden oft mit dem Magischen Realismus in Verbindung gebracht, auch wenn Todorovs Typologie nur auf bestimmte Richtungen der lateinamerikanischen Literatur zutrifft. Erna Pfeiffer versucht in ihrem Beitrag diese verschiedenen Richtungen – „konstruktivistisch-szientistische“ Literatur à la Borges,
Fantastische Literatur, Magischen Realismus à la García Márquez und das Real
Maravillo­so à la Carpentier – auszudifferenzieren und deren Umgang mit dem Unheimlichen zu klären. Dabei untersucht sie die Wirkung unheimlicher Elemente mit
Campra auf drei verschiedene Instanzen des Textes: ErzählerInnen, ProtagonistInnen
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
25
und AdressatInnen. Somit gelingt ihr eine Unterscheidung, die nicht nur Textmerkmale und Motive des Unheimlichen beachtet, sondern auch die Frage, inwiefern
ErzählerInnen und LeserInnen Geschehnisse oder Figuren als unheimlich wahrnehmen. Dies erlaubt auch eine grundlegende Gegenüberstellung von Fantastischer
Literatu­r und Magischem Realismus. Während also in ersterer „der Schwerpunkt
[…] eindeutig auf dem Unheimlichen, Gruseligen, Gespenstischen, Angstbesetzten
[liegt]“ (142), das als Riss im System wahrgenommen wird und sowohl auf die
Erzähl­instanz und Figuren als auch auf die LeserInnen befremdend, weil nicht eindeutig interpretierbar, wirkt, verhält es sich im Fall des Magischen Realismus genau
umgekehrt. Hier wird der Fokus auf Wundersames, Übersinnlich-Unerklärbares gelegt, das jedoch als natürlicher Teil der Textwelt erscheint und daher weder vom
Erzähle­r noch von den Figuren der Handlung als irritierend empfunden wird. Die
Rolle des Unheimlichen in den lateinamerikanischen Literaturen ist nicht zuletzt
auch im (post)kolonialen Kontext zu sehen, indem das verdrängte Andere in Form
von Geistern, indigenen Ritualen, Gespenstern in die kulturell positiv besetzte, normale Ordnung dringt und den Kolonialherren verfolgt. Somit weisen sowohl die
Fantastische Litera­tur (wenngleich nur indirekt) als auch der Magische Realismus
eine starke gesellschaftskritische Tendenz auf, wobei für LeserInnen durch das
Aufblitzen­des Unheim­lichen Machtverhältnisse jeglicher Art sichtbar und durchschaubar werden.
Während die Beiträge von Christina Ulm und Erna Pfeiffer unheimliche Motive
und Figuren untersuchen, betrachtet Johannes Binotto das Unheimliche – angelehnt
an psychoanalytische Konzepte von Freud und Lacan – als „ein räumlich-topologisches Phänomen“, als „paradoxen, verdrehten Raum, in welchem Hier und Dort,
Innen und Außen nicht mehr unterschieden werden können“ und somit traditio­
nelle Subjekt-Objekt-Relationen in Frage gestellt werden (158). Seine Analyse zum
filmischen­Umgang mit unheimlichen Raumkonstellationen macht nicht nur die
Vielfalt filmischer Räume und die besondere Rolle der Kameraführung und Tontechnik in deren Gestaltung sichtbar, sondern macht auch deutlich, dass der Film als
Me­dium­, aber auch der Kinosaal selbst, mit Foucault als Heterotopos par excellence
definiert, zum Träger des Unheimlichen werden kann. Um diesem besonderen
Potenti­al des Unheimlichen des Films nachzuspüren, reflektiert Binotto in den einzelnen Analysen zu Fritz Lang, Dario Argento, David Lynch und Jonathan Glazer
immer wieder die Medialität des Films und erläutert, wie die Kamera den Raum
modifiziert, Innen und Außen vertauscht und somit „[…] die Dichotomie von
realem­und irrealem, physischem und psychischem Raum laufend überwindet“
(161). Die Verwirrung der Positionen von Betrachtendem und Betrachtetem, das
Aufbrechen alltäglicher Raumerfahrungen, die Inszenierung labyrinthartiger Gänge
und dunkler, fensterloser Kammern, aus denen es kein Entkommen gibt, bringen
nicht nur den Orientierungssinn der Filmfiguren, sondern auch den des Publikums
26
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
durcheinander. Dario Argento potenziert diese Verstörung abermals, wenn er zwischen dem menschlichen Körper als Innenraum und dem Außenraum der Um­
gebung keinen Unterschied mehr macht und auf diese Weise „Zellgewebe und Bausubstanz“ miteinander vermischt und gleichsam demontiert. Jonathan Glazer gelingt
es, in Gestalt eines „schwarzen Lochs“ den bislang unheimlichsten Raum zu erschaffen, zumal dies – wie Binotto bemerkt – die Figuren und die ZuschauerInnen mit
der „reinen Absenz“, mit dem „pure[n] Nichts“ konfrontiert (170), wo jegliche Sinngebung scheitert.
Gerda E. Moser bestimmt in ihrem Beitrag wiederum zwei Kategorien des Unheimlichen, um der Frage nachzugehen, in welcher Weise die Bestseller-Trilogie Fifty
Shades of Grey Unheimliches inszeniert. Nach dieser Unterscheidung könnte das Unheimliche der Kategorie I als eine von außen kommende Bedrohung der Ordnung
definiert werden, während das Unheimliche der Kategorie II als eine Bedrohung,
„die von Ordnung selbst ihren Ausgang nimmt“ (173), aufzufassen ist. Die mittlerweile weltberühmte „Liebesgeschichte“ von Ana und Christian, gespickt mit erotischen und sadomasochistischen Szenen, kommt unter dem Deckmantel des
Unheimlic­hen der ersten Kategorie daher, suggerieren doch die unverblümte Darstellung der brutalen Sexualität und die krankhafte Zeichnung der männlichen
Hauptfigur, dass hier die bürgerliche Weltordnung und das rational denkende Subjekt durch das Triebhafte, ins Unbewusste geschobene Verdrängte eingeholt und
bedroh­t wird. Eine psychoanalytische Deutung der Figuren à la Freud wäre ebenso
naheliegend wie die Behauptung, die erregten Reaktionen der LeserInnen wären auf
die Rückkehr der Kastrationsangst – bei Freud die Quelle des Unheimlichen – zurückzuführen. Deswegen lohnt es sich – wie Moser bemerkt – die Entwicklung der
Handlungsführung und der Figurenzeichnung einerseits und die Postings der
LeserIn­nen bei „Amazon.de“ genauer zu analysieren. Nur so lässt sich nämlich erkennen, dass die Geschichte weniger durch ihre Freizügigkeit, als vielmehr durch ihre
konservative und konventionelle Auffassung von Liebe und Ehe besticht. Die Tri­
logie tradiert überholte Rollenklischees weiter und stellt eine passive und hilflose, in
ihrer Mädchenhaftigkeit unschuldige, tugendhafte Frau als Idealbild dar. Zudem
schreiben die Romane kritiklos alte Machtgefälle der Mann-Frau-Beziehung fort
und feiern Geschlechterasymmetrien, die längst als überwunden galten (vgl. 175 f.).
In Mosers­Lesart enthält somit die Trilogie vor allem Unheimlichkeit zweiter Kategorie als eine Bedrohung der mühsam erlangten Freiheit (der Frauen), die bei den
meisten LeserInnen berechtigterweise Empörung, Abwehr und sogar Aggression hervorruft.
Während die Beiträge im zweiten Teil des Bandes das Unheimliche in seiner Diversität als literarisches und filmisches Motiv erkennbar machen, rücken die Beiträge des
letzten Abschnittes das Unheimliche der Verstehens- und Leseprozesse als ein genui-
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
27
nes Kennzeichen jeglicher Bedeutungskonstruktion in den Vordergrund. Texte entfalten ihre unheimliche Wirkung auf LeserInnen nicht nur dadurch, dass sie Sinn
und Bedeutung verweigern oder mit unheimlichen Motiven arbeiten, vielmehr sind
es die LeserInnen selbst, die das Unheimliche durch ihre Vorstellungskraft hervorbringen – so die Hauptthese von Ulf Abraham, der in seinem Beitrag das Unheim­
liche nicht als Textqualität, sondern als ein der Textrezeption innewohnendes Merkmal untersucht. Einen zentralen Bezugspunkt für seine Argumentation bildet hierzu
das Konzept des „textbesessenen Lesens“, das die Position des lesenden Subjekts in
ihrer Ambiguität nachzuzeichnen versucht: „Textbesessen zu lesen bedeutet auf jeden
Fall beinahe zwanghafte Produktion innerer Bilder und Stimmen, gesteuert durch
einen Text, der Besitz von seinem Leser/seiner Leserin ergriffen hat und ihn/sie von
innen her ausfüllt.“ (199) Gegenüber herkömmlichen Konzepten der Rezeptions­
ästhetik und der Literaturdidaktik, die dem lesenden Subjekt eine aktive und machtvolle Rolle attestieren, sieht Abraham die RezipientInnen in vielen Situationen als
ihrer Souveränität entzogen. Angesichts der Ohnmacht unserer eigenen Vorstellungsfähigkeit, die uns ungeheuerliche, erschreckende Bilder und Handlungen imaginieren lässt, wird einem nämlich die Unheimlichkeit des Rezeptionsprozesses
schmerzhaft bewusst: Wir sind beim Lesen „an etwas“ ausgeliefert, das „in uns zu
denken und aus uns zu sprechen“ scheint, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen
könnten (196). Eine solche Unverfügbarkeit des Lesers/der Leserin hinsichtlich des
eigenen Leseaktes ist jedoch für das literarische Verstehen grundlegend. Ohne uns
auf das Spiel des Textes einzulassen, können wir – so Abrahams weitere These –
einem­literarischen Text nicht adäquat begegnen. Erst dort, wo das Eigene und das
Fremde ineinandergreifen, wird auch Verstehen möglich. Dies ist jedoch kein Ver­
stehen im kognitiven Sinne, es ist vielmehr ein Nachvollziehen neuer Sinnhorizonte,
das die Abgründigkeit der Bedeutungskonstruktion ebenso bewusst macht wie das in
dieser Abgründigkeit aufscheinende Nicht-Verstehbare.
Auch Ursula Klingenböck plädiert für eine „differenzbetonte Operation des NichtVerstehens als eine Option des Umgangs mit literarischen Texten“ (223), das bislang
in Vermittlungskontexten wie dem Literaturunterricht, der sich in der Tradition von
hermeneutischen, rezeptionsästhetischen, handlungs- und produktionsorientierten
sowie poststrukturalistischen Ansätzen immer schon an einer verstehenden Interpretation festhielt, weitgehend ausgeblendet wurde. Umso mehr gilt dies für das Ver­
stehen des Unheimlichen, dem das Nicht-Verstehbare – wie Klingenböck bemerkt
– von vornherein innewohnt. Somit definiert sie das Unheimliche – ähnlich wie
Guthmann und Abraham – nicht nur als Textmerkmal, sondern als Effekt, der in
LeserInnen bestimmte Affekte auszulösen imstande ist. Um diese zwei Aspekte und
deren Zusammenspiel zu veranschaulichen, werden zwei Glavinic-Texte (Die Arbeit
der Nacht; Das Leben der Wünsche) entlang zweier Fragestellungen nach dem „erzählten Unheimlichen“ auf der Ebene der histoire und nach dem „unheimlichen Erzäh-
28
Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
len“ auf der Ebene des discours analysiert. Dabei wird zunächst eine strukturalistischnarratologische Lektüre angeboten, die auf die Analyse jenes irritierenden Handlungsmoments, der zur „realitätssystemische[n] Unvertrautheit“, zur Verunsicherung
des Normsystems der Textwelt führt, ihren Fokus legt (213). Anschließend wird
durch eine psychoanalytische Lektüre anhand der Theorien von Freud, Lacan und
Kristeva die Untersuchung des Unbewussten möglich, die die Spiegelungen des Unheimlichen und die Infragestellung eines sich unheimlich gewordenen Subjekts unter­
anderem im Aufspüren des Doppelgänger-Motivs und von dessen medialen Abbildern nachzeichnet. In einem letzten Schritt wirft Klingenböck einen kritischen Blick
auf den eigenen Leseprozess, um die Relativität jeden Verstehens deutlich zu machen: „Will man also für literarische Texte das Verstehen in Anschlag bringen, so
kann es sich dabei bestenfalls um ein Verstehen (konkret: um ein durch strukturalistisch/psychoanalytisch beziehungsweise durch die Psychoanalyse nach Freud/nach
Lacan/nach Kristeva modelliertes Verstehen) handeln, das durch den theoretischen
Rahmen ermöglicht, aber auch durch diesen begrenzt wird, indem ein anderes
Verstehen­/ein Andersverstehen gar nicht erst in den Blick rückt/rücken darf.“ (222)
Es wird somit auch ersichtlich, dass das literarische Verstehen, das jeder Planbarkeit
entgegensteht, für Lehr- und Lernprozesse nur schwer instrumentalisier- und operationalisierbar ist. Aber gerade die Kontingenz der Verstehensleistungen kann in
Unter­richtskontexten mit deutlichem Gewinn aufwarten, indem das Nicht-Verstehen „als aktive und konstruktive (Gedächtnis-)Leistung“ gedacht wird, „die nicht in
die Sinnlosigkeit, sondern zu Sinnleere führt“ (223).
Der Frage, wie DeutschlehrerInnen konkret mit dem Abhandenkommen des
Sinns und jenen Irritationen, die schwierige Texte hervorrufen, umgehen können,
geht Marlies Breuss im abschließenden Beitrag des Bandes nach. Dabei beleuchtet sie
jene Gratwanderung zwischen „Befremden“ und „Vertrautmachen“, die den schulischen Umgang mit Literatur im Allgemeinen und mit unheimlichen Erzählungen im
Besonderen auszeichnet. Vor allem die didaktische Forderung nach Irritation und
nach der Akzeptanz des Nicht-Verstehbaren mag viele Lehrkräfte verunsichern, die
ihre Aufgabe in erster Linie darin sehen, SchülerInnen an eine möglichst vollständige
Erschließung literarischer Texte heranzuführen und Deutungsansätze anzubieten. In
Breuss’ Erkenntnis kann aber das Insistieren der SchülerInnen auf ein vollkommenes
Verstehen-Wollen des Textes beziehungsweise ihre Ablehnung, schwierige Texte zu
lesen, gerade dann gebrochen werden, wenn es LehrerInnen gelingt, „in der ersten
Phase der Textbegegnung […] Schülerinnen und Schülern Mut zu machen, genau
dem (und dem genau) nachzuspüren, was sie persönlich an einem literarischen Text
so stört“ (229). Die Beschäftigung mit dem Unheimlichen eignet sich in diesem
Sinne in einem besonderem Maße, poetisches Verstehen zu fördern, indem Schü­
lerInnen lernen, mit Mehrdeutigkeit umzugehen, Irritationen auszuhalten und
Unverständlichk­eit zu akzeptieren. Darüber hinaus berührt das Unheimliche viele
„Keine Sinnhaftigkeit außer dem Wahn“
29
existenzielle Fragen der Adoleszenz, so „die Erfahrung des Sich-selbst-fremd-­Werdens
und der Unvertrautheit mit der Welt, ihren Normen und Strukturen“ (229). In
dieser­Hinsicht ermöglicht unheimliche Literatur die Auseinandersetzung mit den
eigenen Ängsten, aber auch mit der Lust am Grauenhaften, das Erleben von
Differenz­erfahrung im Erproben von Eigenem und Fremdem und nicht zuletzt das
Probe­handeln durch eine literarische Parallelexistenz. Literat­ur wirkt also nicht nur
ver­störend, so Breuss, sondern kann auch „eine mögliche Trost-Wirkung, eine unterstützende Funktion“ übernehmen, zumal SchülerInnen in der Erfahrung fremder
Figuren ihr eigenes Grauen wiederfinden (231). Hierzu warnt jedoch Breuss vor „der
Instrumentalisierung der Literatur für reine Identitätsarbeit“, die das Ästhetische des
literarischen Textes weitgehend verfehlen kann. Abschließend wird anhand zweier
konkreter Beispiele (des Vampir-Romans Bis(s) zum Morgengrauen und Jessica
Hausners­ Film Hotel ) gezeigt, wie die Lese- und Medienerfahrungen der SchülerInnen sinnvoll genutzt werden können, um Textstrategien unheimlichen Erzählens
sichtbar zu machen, das Unheimliche in seinen literatur- und kulturhistorischen
Kontexten zu situieren und die kulturelle Bedeutung des Unheimlichen zu erfahren.
Im Unterricht sollte aber den Vorstellungen der Schü­lerInnen ebenfalls genügend
Raum gegeben werden – in Form von handlungs- und produktionsorientierten Aktivitäten und kreativem Schreiben – sodass sich diese der Macht ihrer eigenen Phantasie bewusst werden können und die Vorstellungsbildung gefördert wird. Ohne dies
wäre ja das Unheimliche seiner besonderen Wirkung beraubt.
Ein Essay, auf das in diesem Band (auch) immer wieder Bezug genommen wird, ist
Hélène Cixous’ dekonstruktive Relektüre des Freud-Essays. Hier wird das Unheim­
liche nicht als einer unter zahlreichen anderen literarischen Effekten betrachtet, sondern als das Merkmal überhaupt, das das Wesen der (post)modernen Literatur am
besten zu beschreiben vermag. Die Literatur des 20. Jahrhunderts wäre somit also
per se als unheimlich zu definieren, da sie die Abgründigkeit der menschlichen
Existenz­in den Unmöglichkeiten und Paradoxien des Schreibens reflektiert (vgl.
dazu Masschelei­n in diesem Band). Margit Hahns Erzählung Der Lackmantel, der
ihrem ersten Erzählband, Einsamkeit der Lust (1992) entnommen wurde, zeugt ebenfalls von diesem besonderen unheimlichen Potential der Literatur. Wir haben diesen
Text den Beiträgen des Bandes vorangestellt, damit subtile Verbindungen zwischen
dem literarischen Text und den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Literatur und Kunst entstehen können. Die Erzählung, die Anfang und Ende nahtlos in­
einanderfließen lässt und somit auf die bereits von Johannes Binotto erwähnte
Möbius­schleife als ästhetische Form des Unheimlichen zurückverweist, präsentiert
eine verstörende Geschichte, die nicht nur die Grenzen der Wirklichkeit, sondern
auch die der Identität verwischt. Im Zusammenfallen von Beobachtendem und
Beobachtete­m werden herkömmliche Täter-Opfer-Konstellationen aufgebrochen
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Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy
und die zerstörenden Kräfte des Außen ins Innere des Menschen verlagert. Die
Ungeheuer­lichkeit der menschlichen Natur wird so im Spiegel ihrer eigenen Monstro­
sität entlarvt. Wenn es also einen gemeinsamen Nenner in den Beiträgen dieses Bandes gibt, dann ist es vielleicht dies: die Bestimmung des Unheimlichen als eine
schmerzhafte Erkenntnis über die Geister unseres Selbst, deren Tun wir zwar mit
eigene­n Augen beobachten können, denen wir dennoch machtlos ausgeliefert sind.
Die Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur eröffnet uns die Möglichkeit, diese
Machtlosigkeit nicht nur als einen Mangel, sondern als einen wesentlichen Teil des
Menschseins zu begreifen. In der ästhetischen Erfahrung wird mitunter sichtbar, dass
das, was wir als das Eigene zu bezeichnen gewohnt sind, immer schon vom Fremden
her strukturiert wird. Diese Tatsache enthebt jedoch nicht nur unsere Souveränität,
sondern auch unsere existenzielle Einsamkeit der Absolutheit. Dies ist ein unheim­
licher und tröstender, ein unheimlich tröstender Gedanke.
Anmerkung
1Quelle:
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