Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz

Diakonisches Werk
Berlin Stadtmitte e.V.
Mobile Beratung
der Geflüchteten
vom Oranienplatz
Eine Dokumentation
April - Dezember 2014
Ein Projekt des
Diakonischen Werkes
Berlin Stadtmitte e.V.
Inhalt
1
Vorwort
3
5
Flüchtlingscamp Oranienplatz
Verhandlungsprozess
7
7
9
Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“
Umsetzungsschwierigkeiten
Beratungszeit
19 Aus der Sicht der Kirche...
21 Danksagung
22 Fluchtgeschichte
25 Endnoten
27 Impressum
Die vorliegende Dokumentation widmet sich
hauptsächlich der Beratung der Geflüchteten vom
Oranienplatz von April bis September 2014 aus
der Sicht des Beratungsteams des Diakonischen
Werkes Berlin Stadtmitte.
Sie erhebt selbstverständlich keinen Anspruch
darauf, alle Perspektiven auf die Flüchtlingsproteste am Oranienplatz vollständig zu erfassen.
Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Vorwort 1
Für Ibrahim � Rasheed � Baderdin � Ahmed � Saidou � Jimoh � Travis � Suleman �
Youssif � Adam � Ali Bashir � Mohammad � Gebril � Alfa � Mamoudou � Boubacar �
Sunday � Lucky � Mohamed � Abubakar � Bonbakary � Awali Alpha � Isaak Ahmed �
Hassan Ali Adil � Jibril � Simon François � Osman � Bojie � Kali � David �
Moammed � Augustine � Alex � Lucky � Issa � Mohammed � Idriss � Abdul Wahab �
Vorwort
Hoffnung - war das große Zauberwort für alle Beteiligten am Oranienplatz-Prozess.
Sissoko � Youba � Mohammed � Mohamed � Taher � Sani � Mamouto � Ali � Heiri �
� Arbeits- und Integrationssenatorin Dilek Kolat hatte gehofft, durch
die Vereinbarung mit den Geflüchteten politische Lösungen für die
Geflüchteten zu erreichen.
Idwal � Bogoma Ali � Oumar Ali � Sef � Dickson � Hike � Djibril � Ibrahim � Saidou �
� Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hatte auf eine friedliche Lösung
für die Beendigung der Besetzung des Oranienplatzes gehofft.
Edris � Yassin � Samundeen � Mohamed � Garba � Yahiya � Ibrahim � Abdullah �
� Kirche, Diakonie und Caritas hatten gehofft, durch Vermittlung
zwischen Politik und Geflüchteten eine humanitäre Lösung zu
erreichen.
Peter � Cajetan � Mohamed � Kokou � Mohammad � Abdul � Dembo � Oumar �
Idriss � Mohammed � Baba � Jonathan � Ali � John � Kelvin � Issa � Mouhamed �
Oumar � Innocent � Moctar � Amir � Valentine � John � Anwar � Abdoul � Yaya �
Mohamed � Richard � Issa � Sidi � Soumaila � Adam Oumar � Harun � Youssouf �
Moussa � Issa � Ali � Mamane Sani � Asif � Issaka � Blesmond � Appiah � Shittu �
Ibrahim � Moussa � Yaya � Ali � Oumar � Alassane � Kelly � Joseph � Ali � Samuel �
Bright � Jude � Ehimen � McCarthy � Mouftau � Haroune � Konne � Hassan �
Thomas � Maiga � Isaac � Innocent � Robert � Daré � Majeed � Sidibe � Paul �
Moussa � Madou � Mahamadou � Issah � Aboubakar � Destiny � Samake � Joy �
Malik � Vincent � Michael � Ibra � Isaac � Sholly � Nuhu � Prince Kwesi � Victor �
Vasco � Alil � Adam � Annabelle � Paul � Abbas � Ibrahim � Kofi � Mikail � Shakina �
Esmond � Charles � Brahim und alle anderen Geflüchteten vom Oranienplatz.
�
Die BeraterInnen hatten gehofft, durch kompetenten Sachverstand
und juristische Unterstützung individuelle Lösungen für einen Auf-
enthaltsstatus in Berlin, Arbeitsmöglichkeiten und Teilhabe an der
Gesellschaft zu erreichen.
� Die Geflüchteten hatten nach langer Zeit des Wartens auf eine
Lösung gehofft - hier in der Stadt zu bleiben und zu arbeiten.
Keiner von den Genannten ist davon ausgegangen, dass alle Hoffnungen erfüllt werden. Jeder der Beteiligten wusste, es werde Zugeständnisse geben müssen und nicht für jeden der Geflüchteten werden alle
Forderungen erfüllt werden. Ein aufwändiger Prozess hat den Versuch,
die Vereinbarung umzusetzen, begleitet. Die Geflüchteten gaben den
Schutz ihrer Anonymität auf und der Beratungsprozess begann, begleitet von wöchentlichen Sitzungen mit der Senatsverwaltung für Inneres,
der Ausländerbehörde, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales,
der Migrationsbeauftragen, dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg
und VertreterInnen aus Diakonie und Caritas.
Nach Anfangsschwierigkeiten erhielten fast alle Geflüchteten eine Unterkunft und finanzielle Unterstützung für den täglichen Lebensunterhalt bis zur aufenthaltsrechtlichen Klärung. Aber weder in der praktischen Zusammenarbeit zwischen Geflüchteten (begleitet von Rechts-
anwältInnen und BeraterInnen) und der Ausländerbehörde noch in den
wöchentlichen Sitzungen gab es eine erfolgreiche Zusammenarbeit
zur Umsetzung der Vereinbarung. Es folgten innerhalb kürzester Zeit
eine Ablehnung nach der anderen der gestellten Anträge. Einwände
von Diakonie, Caritas und der Migrationsbeauftragten gegen das Hauruckverfahren der Ausländerbehörde und den mangelnden Einsatz
für humanitäre Lösungen wurden zurückgewiesen.
Die Hoffnung der Geflüchteten auf erfolgreich beendete Verfahren
schwand mit jedem Ablehnungsbescheid und dem damit verbundenem Verlust der Unterkunft. Es folgte ein tiefes Misstrauen der Geflüchteten gegenüber der Politik und den Behörden. Im September
2014 endete ein verzweifelter Versuch, durch die Dachbesetzung der
Unterkunft Gürtelstraße öffentlich auf die prekäre Situation der Geflüchteten aufmerksam zu machen und zum letzten Mal auf humanitäre
Hilfe zu hoffen.
Bis heute leben ca. 120 Geflüchtete vom Oranienplatz und der GerhartHauptmann-Schule in der Obhut von Kirche und Diakonie und werden
von vielen ehrenamtlichen HelferInnen begleitet und durch Spenden
unterstützt.
Parallel laufen erneut Verhandlungen zwischen Kirche und Senat, für
eine humanitäre Lösung für diese Gruppe von Menschen, die nicht nur
einmal auf ihrem Weg vom afrikanischen Kontinent in unsere Stadt
enttäuscht und in ihrer Würde verletzt wurden. Vertrauen wieder aufzubauen, sowohl für die Geflüchteten vom Oranienplatz, als auch für die
wenigen immer noch in der Gerhart-Hauptmann-Schule lebenden
BewohnerInnen ist ein mühseliges Unterfangen.
Die Verhandlungen dürfen kein zweites Mal scheitern. Wir brauchen
engagierte und selbstbewusste PolitikerInnen, die die Kreativität und
den Mut haben, Ermessensspielräume zu nutzen und humanitäre
Lösungen durchzusetzen.
Danke an alle, die noch immer die Hoffnung nicht verloren
haben.
Evelyn Gülzow
Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e.V.
2 Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Flüchtlingscamp Oranienplatz 3
Flüchtlingscamp Oranienplatz
Flüchtlingscamp Oranienplatz
Die Geschichte von Michael*
Anfang 2013 bin ich auf den Oranienplatz gekommen. Ich stamme aus
einem Land südlich der Sahara, aus dem ich im Jahr 2000 fliehen
musste. Ich habe elf Jahre lang in Libyen gearbeitet, seit dem Jahr
2000. Um nach Libyen zu kommen, bin ich durch die Wüste gegangen,
ich habe überlebt. In Libyen ist es mir gut gegangen. Ich bin Schweisser von Beruf, ich habe sehr gut verdient, ich hatte Papiere und viel
Ansehen. Ich war in verschiedenen Orten, zuletzt in der Nähe der tunesischen Grenze. Im Jahr 2011 begann der Krieg in Libyen. Ich habe zu
der Zeit eine gute Arbeit gehabt, mein Arbeitsplatz wurde bombardiert,
alles war zerstört, alles. Ich sollte nach Benghasi, aber dort wollte ich
nicht hin, ich hatte gehört, dass dort Krieg ist. Ich bin nach Tripolis
gegangen.
Wir Schwarze wurden nun verfolgt, geschlagen, viele sogar getötet.
Viele Menschen wurden in Camps versammelt, auch ich wurde in ein
Camp gebracht, manche waren schon seit längerer Zeit dort. Gaddafi
hatte gesagt, Europa wollte mit den Bomben Afrikas Plan zerstören,
also müssten die Schwarzen nach Europa. Soldaten brachten uns auf
ein kleines Boot, wer sich weigerte einzusteigen, wurde geschlagen,
wir hatten keine Wahl. Wir waren etwa 220 Personen, das Boot war
völlig überfüllt. Es war eigentlich ein offenes Boot, aber es waren
Decksplanken eingebaut worden, so dass unten Leute waren und
oben auch, wir saßen mit angezogenen Knien, damit alle Platz hatten.
Das Boot brachte uns nach Lampedusa, wir durften aber nicht an Land
gehen. Das Boot fuhr weiter, wir schrieen, weil wir nichts zu essen und
zu trinken hatten und an Land gehen wollten, aber das Boot fuhr weiter,
bis nach Sizilien, drei Tage lang. Auch Libyer waren auf dem Boot,
Familien mit kleinen Kindern, Schwangere, es gab nichts zu essen.
Auf Sizilien war ich im Camp, lange, in der Nähe von Agrigent, das war
schrecklich. Es war wie im Gefängnis, ich konnte es nicht ertragen. Ich
habe am Ende einen Aufenthaltstitel für drei Jahre bekommen, aber
ich konnte nicht bleiben, es gab keine Arbeit. In Italien gibt es keine
Arbeit für uns, Tausende sind ohne Arbeit und jeden Tag kommen mehr
Menschen dort an. Ich musste das Lager verlassen, als ich Papiere
erhalten hatte. Die Leute haben gesagt: “go to Germany” und so bin
ich nach Deutschland gegangen. Ich kam nach Berlin auf den Oranienplatz. Dort waren Geflüchtete wie wir: es waren die Leute, die den
Marsch aus Würzburg gemacht hatten. Wir lebten dann dort mit ihnen
in den Zelten. Sie waren Asylbewerber; wIr konnten kein Asyl beantragen wegen Dublin II1 , wir wollten einen humanitären Aufenthaltstitel
und arbeiten. Wir waren immer dort auf dem Platz, 24 Stunden am Tag.
Viele Leute kamen, es war schwierig dort zu schlafen und zu leben. Wir
hatten oft keine Heizung, kein Gas, es war sehr kalt, wir hatten kein
regelmässsiges Essen, keine Möglichkeit zu duschen, es waren Ratten
dort. Es war sehr hart. Wir hätten das wahrscheinlich nicht geschafft
ohne die Hilfe von Menschen wie Taina.
Lampedusa-Flüchtlinge aus 2011 sind anders als andere Geflüchtete:
wir wollten nicht nach Europa kommen. Wir wurden gebracht, gezwungen durch die Nato-Bomben in Nordafrika 2011. Ich hatte einen
Freund in Libyen, der wollte nach Europa gehen, auf der Überfahrt ist
er gestorben, ich war schockiert, ich wollte das nicht. Wozu auch? Es
ging mir gut in Libyen. Vorher war mein Leben gut. Nun ist es nicht
mehr gut. Manchmal sehe ich die Leute vor mir, mit denen ich auf dem
Boot war, manchmal fühle ich, wie das Schiff schwankt.
Ich warte. Ich möchte arbeiten, ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, ich kann nicht nur warten, mein ganzes Leben warten. Das gilt
für alle vom Oranienplatz, die meisten von uns sind noch immer hier,
viele schlafen auf der Straße irgendwo, auch nach der Vereinbarung
zwischen den Geflüchteten vom Oranienplatz und dem Senat.
* Name geändert
Dem Camp auf dem Oranienplatz war ein im September 2012 begonnener Marsch von Geflüchteten und FlüchtlingsaktivistInnen von Würzburg nach Berlin vorausgegangen. Die TeilnehmerInnen wollten ihren
Protest, der sich vor allem gegen die Residenzpflicht, gegen Sammelunterkünfte („Lager“), das Arbeitsverbot und gegen Abschiebungen
richtete, in die Hauptstadt tragen2.
Im Oktober erreichte der Protestmarsch Berlin. Die Geflüchteten errichteten ein Protestcamp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, einige von
ihnen traten in einen zehntägigen Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor. Im Dezember 2012 wurde außerdem die leerstehende GerhartHauptmann-Schule in Kreuzberg besetzt3.
Die Zusammensetzung des Flüchtlingscamps änderte sich im Laufe der
Zeit immer wieder und der Protest weitete sich aus. Auf dem Platz
lebten nun vor allem Menschen wie Michael4, sogenannte „LampedusaFlüchtlinge“5: junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren, die ursprünglich aufgrund politischer oder religiöser Konflikte oder aus wirtschaftlicher Not aus ihren Heimatländern südlich der Sahara geflohen
waren und viele Jahre in Libyen gearbeitet hatten. Mit Ausbruch des
Krieges in Libyen 2011 waren sie gezwungen worden, mit Booten auf
die italienische Insel Lampedusa zu fliehen. In Italien erhielten die
meisten von ihnen Aufenthaltspapiere. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit dort Arbeit und Unterkunft zu finden, sahen sie sich gezwungen, Italien zu verlassen. Ein Teil der Geflüchteten hatte auch in
Deutschland Asyl beantragt und war dementsprechend einem anderen Bundesland als Berlin zugeteilt worden.6
18 Monate lang campierten und protestierten die verschiedenen
Flüchtlingsgruppen auf dem Oranienplatz für Bewegungsfreiheit und
Zugang zu Arbeit und Bildung und verbrachten dort auch den Winter
2012/2013. Die Meinungen in der Bevölkerung hinsichtlich des Camps
waren geteilt: es gab einerseits Ablehnung wegen der Besetzung des
Platzes, andererseits hielten viele die Forderungen der Geflüchteten
für legitim und unterstützten sie. So wurde das Camp geduldet, obgleich die rechtliche Lage umstritten war und auch keine wirkliche
Lösung in Sicht war. Die Berliner Behörden unternahmen lange Zeit
nichts gegen das Camp und seine Bewohner. Im November 2013
jedoch forderte der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU), die
zuständige Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann
(Grüne) auf, das Camp bis Mitte Dezember 2013 räumen zu lassen.7
Der Bezirk entschloss sich jedoch, von einer Räumung des Platzes
durch die Polizei abzusehen, woraufhin der Innensenator mit einer
Räumung durch den Senat drohte.8 Im Januar 2014 entschied der
Senat jedoch, von einer Räumung vorerst Abstand zu nehmen.9 Stattdessen beauftragte der Senat die Senatorin für Arbeit, Integration und
Frauen Dilek Kolat (SPD), Gespräche mit den Geflüchteten zu führen.
Die sogenannte Residenzpflicht verpflichtet Asylbewerber und
Geduldete, sich nur in dem von der zuständigen Behörde festgelegten Bereich aufzuhalten. Dies können die Grenzen eines Bundeslandes sein, manchmal nur die eines Regierungsbezirks. Die
Residenzpflicht wurde zwar zum 1.01.2015 gelockert, so dass sie
grundsätzlich nach drei Monaten enden soll. Da das Gesetz jedoch
zahlreiche Ausnahmeregelungen vorsieht, werden vermutlich viele
Geflüchtete nicht von der Lockerung profitieren.
Seit November 2014 können Asylsuchende und Geduldete nach
drei Monaten Aufenthalt eine Arbeitserlaubnis beantragen (vorher neun bzw. zwölf Monate). Danach besteht grundsätzlich ein
nachrangiger Arbeitsmarktzugang (bevorrechtigte Arbeitnehmer
sind Deutsche, EU-Bürger und anerkannte Flüchtlinge). Nach 15
Monaten entfällt die Vorrangprüfung und nach 48 Monaten gibt es
einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch diese
Vorschriften enthalten Ausnahmeregelungen, so dass viele Geflüchtete trotz ihres längeren Aufenthalts in Deutschland nicht
arbeiten dürfen.
Flüchtlingscamp Flüchtlingscamp Oranienplatz Verhandlungsprozess 5
Interview mit Bashir Zakarayau
Bashir Zakaryau aus Nigeria gehörte zur Delegation von Geflüchteten, die mit Senatorin
Dilek Kolat verhandelt hat.
Herr Zakaryau, Sie haben an den Verhandlungen zwischen den Geflüchteten und Frau Kolat teilgenommen. In dem „Agreement“, das
ausgehandelt wurde, steht nicht viel Konkretes drin. Dennoch wurde
es unterzeichnet, auch von einem Teil der Geflüchteten. Warum
eigentlich?
Uns wurde von Frau Kolat versprochen, dass der Senat alles tun
würde, damit wir bleiben und arbeiten können, dass diejenigen, deren
Verfahren in anderen Bundesländern laufen, nach Berlin umverteilt
werden. Dass uns die Behörde von Frau Kolat mit allen Mitteln unter-
stützen würde, bei der Ausländerbehörde, notfalls vor Gericht oder
auch in der Härtefallkommission. Natürlich war immer klar, dass es
nicht für alle eine positive Entscheidung geben würde, aber uns wurde
zugesagt, dass 80% bleiben könnten. Aber niemand arbeitet! Wir wurden einfach weggeschickt. Wir wurden aus Italien weggeschickt, nun
aus Deutschland. Wo sollen wir denn hin?
Was haben die Flüchtlinge sich von der Vereinbarung mit dem Senat
konkret erhofft?
Viele haben gar nichts erwartet, sie haben nicht geglaubt, dass sich
für uns etwas ändern würde. Aber andere haben auch gedacht, dass
sich ihre Situation verbessern würde, jedenfalls ein wenig. Sie haben
gedacht, dass wir Unterstützung bekommen würden, weil wir schließlich keine Kriminellen sind.
Und was haben Sie persönlich von der Vereinbarung erwartet?
Nicht viel. Aber ich dachte auch, dass wir vielleicht etwas erreichen
können. Jeder einzelne hat sich angestrengt: wir haben deutsch gelernt, wir haben die Regeln hier beachtet, wir haben den Platz verlassen. Wir haben unsere Papiere gezeigt, unsere Geschichte erzählt,
unsere Namen, alles, was wir hatten, haben wir auf den Tisch gelegt.
Denn das ist alles, was wir haben. Das haben wir getan, weil wir Hilfe
benötigen, nicht, damit man uns fortschickt oder sogar anklagt.
Haben Sie die „Vereinbarung“ unterzeichnet?
Ja natürlich. Wissen Sie, wir hatten gar keine Wahl. Wenn wir das
nicht getan hätten, wäre der Oranienplatz doch von der Polizei ge-
räumt worden, viele unserer Freunde wären zu Schaden gekommen,
dieses Risiko konnten wir nicht eingehen. Außerdem wäre niemand
mehr auf unserer Seite gewesen: alle hätten gesagt „Berlin bietet Euch
Verhandlungen und Hilfe an und Ihr lehnt alles ab. Ihr seid selber
schuld, wenn dann die Polizei kommt und räumt“. Wir mussten erst
zeigen, wer sie sind, dass sie uns überhaupt nicht helfen wollten. Dass
es keinerlei politischen Willen zur Unterstützung von Geflüchteten gibt.
Die Vereinbarung war ja ihr Vorschlag, nicht unser Vorschlag - und den
haben sie nicht eingehalten, sie haben auf der ganzen Linie versagt
und uns sehr enttäuscht. Das ist jetzt allen klar.
Und wie geht es jetzt für Sie weiter?
Unser politischer Kampf geht weiter, uns bleibt gar nicht anderes
übrig: wir können ja nirgendwo hin. Ja, viele von uns sind als Flüchtlinge in Italien anerkannt, aber sie sind hergekommen, weil es in Italien
für sie keine Zukunft gibt, es gibt dort keine Arbeit, nur Obdachlosigkeit, das ist doch kein menschenwürdiges Leben! Also geht unser
Kampf weiter, wir kämpfen weiter, er geht weiter so lange wir leben.
Unser Kampf ist friedlich, anders geht es auch gar nicht: wenn wir
Gewalt anwenden, wendet die Polizei auch Gewalt an. Unsere Bewegung ist stark, weil wir uns korrekt verhalten. Die meisten Geflüchteten
vom Oranienplatz sind noch immer hier oder sie kommen wieder. Der
Senat wollte eine Lösung für den Oranienplatz, aber wir wollten keine
Lösung für den Oranienplatz, sondern für die Menschen vom Oranienplatz. Es gibt keine Lösung für den Oranienplatz, denn wir SIND der
Oranienplatz. Es muss also weiter nach Lösungen für die Menschen
gesucht werden.
Viele von Ihnen haben Papiere in Italien. Wie Sie sagten, Sie und die
anderen sind gekommen, weil Sie in Italien keine Zukunft hatten.
Warum führen sie ihren politischen Kampf nicht in Italien?
Auch in Italien gibt es viele Proteste und politische Aktivitäten, um
die Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Aber es ist klar, dass Italien
sich nicht um so viele Menschen kümmern kann. Jeden Tag kommen
Hunderte dort an. Und Deutschland ist ein starkes Land, das auch auf
Italien Einfluss nehmen kann, das wollen wir erreichen. Außerdem gibt
es Deutschland andere Probleme im Umgang mit Geflüchteten als in
Italien, wie z.B. die Residenzpflicht, deshalb muss unser Protest auch
in Deutschland stattfinden. Verstehen Sie, wir kämpfen nicht für die
Lösung von einzelnen Fällen, unseren Fällen, sondern um die Verbesserung der Lage der Geflüchteten insgesamt.
Verhandlungsprozess
� Zugang zu Bildung
Im Januar 2014 nahm Integrationssenatorin Dilek Kolat im Auftrag des
Berliner Senats Gespräche mit einer Delegation von Geflüchteten des
Protestcamps am Oranienplatz auf, um eine freiwillige Räumung des
Oranienplatzes zu erwirken. Für die Geflüchteten sah es so aus, als
hätten ihre politischen Forderungen endlich Gehör gefunden. An den
intensiven Verhandlungen, die zwischen dem 13. Januar und dem 17.
März 2014 unter der Leitung von Frau Kolat stattfanden, nahm auf
Seiten der Geflüchteten eine Delegation von jeweils acht bis zehn Personen teil. Diese waren in einem selbstorganisierten Plenum gewählt
worden und sollten die Gruppen der Geflüchteten mit jeweils unterschiedlichem Rechtsstatus widerspiegeln.10 Daneben nahmen der
Flüchtlingsrat Berlin und die Rechtsanwältin Berenice Böhlo in beratender Funktion an den Verhandlungen teil.
� Recht auf Arbeit
Auf der Seite des Senates waren neben Frau Kolat auch die Integrationsbeauftragte Monika Lüke sowie die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John vom Paritätischen Wohlfahrtsverband beteiligt.
Weder Innensenator Henkel noch Vertreter der ihm unterstehenden
Ausländerbehörde nahmen unmittelbar an den Verhandlungen teil, obgleich wesentliche Teile des späteren „Einigungspapiers“ in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Die Delegation der Geflüchteten und der
Flüchtlingsrat Berlin wiesen immer wieder auf die Notwendigkeit einer
Beteiligung des Innensenats hin.11 Allerdings war Herr Henkel an der
senatsinternen Abstimmung des späteren „Einigungspapiers“ beteiligt
und soll auch die Endfassung des Textes mit Frau Kolat abgestimmt
haben.12
Während es das Hauptziel des Senates war, die friedliche Räumung
des Platzes zu erreichen, wurden von Seiten der Geflüchteten auch die
oben genannten politischen Forderungen, die zur Bildung der Protestbewegung und des Camps geführt hatten, in die Verhandlungen getragen, insbesondere:
� Abschaffung der Residenzpflicht
� Abschaffung der Lagerpflicht
� Abschaffung der Abschiebungen
� Bleiberecht für alle im Rahmen einer Gruppenlösung (nach §23
AufenthG)
� Recht auf EU-weite Freizügigkeit
Geldleistungen, wie sie den Geflüchteten später durch das Land Berlin
gewährt wurden, waren nicht Teil ihrer Forderungen – im Gegenteil,
das Recht auf Arbeit gehörte zu den Kernanliegen der Delegation. Eine
Gruppenlösung wurde von Seiten des Senats abgelehnt, stattdessen
wurden Einzelfallprüfungen und die Beratung der einzelnen Geflüchteten angeboten.13 Die Verhandlungen hatten sich damit weit von den
ursprünglichen Forderungen des Camps entfernt.14
Die Verhandlungen standen unter großem Zeit- und Erfolgsdruck, da
die angedrohte polizeiliche Räumung des Oranienplatzes nach wie
vor im Raum stand. Frau Kolat drängte daher auf eine rasche Einigung. Praktisch wichtige Detailfragen wurden nicht geklärt, obwohl
dies von Seiten der Delegationsmitglieder und ihrer Berater immer
wieder eingefordert wurde.15 Die Regelung der Einzelfragen sollte auf
die Phase der Umsetzung verschoben werden. Darüberhinaus ließ
Innensenator Frank Henkel die ursprüngliche Formulierung einer
„wohlwollenden Prüfung“ der aufenthaltsrechtlichen Anträge der Geflüchteten durch die letztlich nichtssagenden Worte „umfassende
Prüfung“ ersetzen.
Am Ende der Verhandlungen stand ein „Einigungspapier“ mit zahlreichen eher ungenau und allgemein gehaltenen Formulierungen, verbindliche Zusagen enthielt es kaum. Dies hatte zur Folge, dass nur drei
Mitglieder der Delegation die „Vereinbarung“ unterschrieben, in der
Hoffnung, dass in der Umsetzungsphase positive Ergebnisse für sie
erzielt werden könnten. Die anderen lehnten es mangels konkreter Zusagen ab.16 Am 18. März wurde das „Einigungspapier“ durch den
Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, Innensenator Frank Henkel und Integrationssenatorin Dilek Kolat auf einer gemeinsamen Pressekonferenz vorgestellt. Die Spaltung der Delegationsmitglieder spiegelte sich auch in der Haltung der BewohnerInnen des Camps wieder:
während viele die Räumung befürworteten waren andere dagegen,
den Platz als Ort des Protestes aufzugeben. Dennoch verließen die
Geflüchteten am 8. April 2014 den Oranienplatz.17 Ein Teil von ihnen
wurde zunächst in Sammelunterkünften in Friedrichshain, Marienfelde
und im Wedding untergebracht.
6 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzungsschwierigkeiten 7
Umsetzungsschwierigkeiten
Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“
EINIGUNGSPAPIER ORANIENPLATZ
1. Wir sind uns darüber einig, dass die Bedingungen für schutzsuchende Flüchtlinge in
Europa und in Deutschland verbessert werden müssen.
2. Der Oranienplatz bleibt als Informations- und Protestplattform für die Rechte von
Flüchtlingen erhalten. Die Ausgestaltung wird durch die derzeitigen Bewohnerinnen und
Bewohner und die UnterstützerInnen selbstbestimmt entschieden. Das Campieren auf dem
Oranienplatz und damit die im Widerspruch zur genehmigungsfähigen rechtlichen Situation
stehende Form des Protestes wird auf Dauer beendet. Die Flüchtlinge organisieren
selbstständig den Abbau aller Zelte bzw. Unterkünfte bis auf das Info-Zelt und wirken
darauf hin, diesen Zustand dauerhaft zu erhalten.
3. Die Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen unterstützt im Rahmen ihrer politischen
Verantwortlichkeit die Kernanliegen der Flüchtlinge – insbesondere der verbesserte Zugang
zum Arbeitsmarkt, eine dringend notwendige Reform von Dublin III sowie die Abschaffung
der Residenzpflicht. Sie unterstützt die Flüchtlinge und UnterstützerInnen, ihre politischen
Forderungen in die Gremien im Land Berlin, auf die Bundesebene und nach Europa zu
tragen.
4. Auf Grundlage der von den Flüchtlingen erstellten und der Senatorin bereits in
anonymisierter Form überreichten Liste erfolgt nach Abbau der Zelte am Oranienplatz
gemäß Punkt 2 und nach dem Auszug der namentlich auf der Liste geführten Flüchtlinge
aus der Gerhart-Hauptmann-Schule auf Antrag eine umfassende Prüfung der
Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten (Beantragung einer
Aufenthaltsgenehmigung, Anträge auf Umverteilung nach §51 AsylVfG, etc.). Der Nachweis
des Auszuges aus der Schule muss erbracht werden.
In diesem Sinne wird die Ausländerbehörde die Antragstellerinnen und Antragsteller
während des Verfahrens beratend unterstützen. Die Übergabe der Namensliste wird von
der Ausländerbehörde bestätigt. Die Vorsprache bei der Ausländerbehörde wird im
Rahmen dieser Vereinbarung bestätigt.
Die auf der Liste benannten Personen erhalten bei ihren Einzelverfahren Unterstützung
durch den Unterstützungspool, der von den Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie
sowie der Integrationsbeauftragten des Landes Berlin sichergestellt wird. Für die Zeit der
Prüfung der jeweiligen Einzelfallverfahren bleibt die Abschiebung ausgesetzt. Bei
Beantragung eines Aufenthaltstitels verbleiben sämtliche von einem anderen
Schengenstaat ausgestellten gültigen Ausweisdokumente nach Fertigung beglaubigter
Kopien bei den Antragstellerinnen und Antragstellern. Die Ausländerbehörde wird keine
Ausreiseverweigerung aussprechen.
5. Die Flüchtlinge erhalten Unterstützung und Begleitung bei der Entwicklung ihrer beruflichen
Perspektiven. Dazu gehören insbesondere der Zugang zu Deutschkursen, die
Anerkennung ihrer beruflichen Kompetenzen und Beratungen zur beruflichen Entwicklung
sowie der Zugang zur Berufsausbildung, zum Studium und zum Arbeitsmarkt.
Gemeinsam mit der Caritas hatte das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte den Beratungsauftrag für die ehemals auf dem Protestcamp
Oranienplatz lebenden Geflüchteten übernommen. Bereits am 9. April
2014 – einen Tag nach der Räumung des Oranienplatzes – begannen
zwölf BeraterInnen unterschiedlicher Professionen in der Tätigkeit als
SozialarbeiterInnen im Beratungsteam des Diakonischen Werks Berlin
Stadtmitte mit der mobilen Flüchtlingsberatung. Grundlage für die
Arbeit des Beratungsteams war das zwischen der Delegation der Geflüchteten und der Integrationssenatorin Dilek Kolat verhandelte „Einigungspapier Oranienplatz“.
Das Beratungsteam war zur Unterstützung der TeilnehmerInnen der
Oranienplatz-Vereinbarung im Einzelfallverfahren eingesetzt. Ferner
sollten die BeraterInnen bei der Entwicklung einer beruflichen Perspektive unterstützen und begleiten.
Die Aufgabe des Beratungsteams war es, für die unter die Vereinbarung fallenden Menschen ein an ihren Bedürfnissen orientiertes Beratungsangebot bereitzustellen. Das Beratungsangebot beinhaltete die
Einzelfallberatung zu aufenthaltsrechtlichen Fragen, zu gesundheitlichen und sozialen Problemen und die Unterstützung der Ratsuchenden bei der Entwicklung ihrer persönlichen Schul- und Berufsperspektiven. Die Hauptaufgabe lag in der Unterstützung der Menschen bei
der Verbesserung ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation mit dem Ziel, eine
Verbesserung der gesamten Lebenssituation zu erreichen und somit bei
der Entwicklung einer Lebensperspektive unterstützend zu wirken.
Hierfür arbeiteten die BeraterInnen der mobilen Flüchtlingsberatung je
nach Einzelfall eng mit AnwältInnen, MedizinerInnen, Beratungsstellen
für Aus- und Weiterbildung und zahlreichen flüchtlingssolidarischen
Unterstützungsgruppen und Einzelpersonen zusammen. Sie fungierten
dabei als VermittlerInnen zwischen den jeweiligen PraktikerInnen und
KlientInnen.
Das Beratungsteam des Diakonischen Werks war anfänglich in drei
und später in zwei Berliner Flüchtlingsunterkünften und für kurze Zeit
auch in der Gerhart-Hauptmann-Schule vor Ort und hatte über den
gesamten Zeitraum eine Beratungsstelle in Kreuzberg. Im Beratungszeitraum haben zwölf bzw. später elf BeraterInnen über 200 Personen
unterstützt. Die Beratungszeit war anfänglich auf sechs Monate angelegt mit einer Option auf Verlängerung.
Umsetzungsschwierigkeiten
Zwischen der Unterzeichnung des „Einigungspapiers“ und der Räumung des Oranienplatzes lagen etwa drei Wochen. Im Zuge der Verhandlungen waren viele Einzelfragen nicht geklärt worden, weshalb
sich die Umsetzung der sogenannten Vereinbarung in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht als sehr schwierig gestaltete. Zu Beginn
der Beratungszeit standen nicht genügend Schlafplätze zur Verfügung. Die beabsichtigte Registrierung gestaltete sich langwierig und
ungeordnet und es gab Schwierigkeiten bei der Versorgung der Menschen. Bevor diese existentiellen Fragen nicht geklärt waren, war eine
Beratung praktisch nicht möglich. Die BeraterInnen mussten einen Teil
der Koordinierungsleistungen des Senats übernehmen und sahen sich
immer wieder gezwungen, zwischen Senat und den enttäuschten
und oft wütenden Menschen, die mehrfach damit drohten, den Oranienplatz erneut zu besetzen, zu vermitteln.
Registrierung und Unterbringung
Lange Zeit war völlig unklar, wer von den in die Beratung kommenden
Menschen tatsächlich unter die mit dem Senat geschlossene Vereinbarung fiel. Ein Registrierungsverfahren sollte Klarheit bringen. 467
Personen standen auf einer Liste, die die Geflüchteten dem Berliner
Senat übergeben hatten. Dabei war versäumt worden, zu klären, was
mit denen geschehen sollte, die während der Erstellung der Liste nicht
vor Ort waren. Es war auch nicht geklärt, wie die Personen, die auf der
Liste standen, zu identifizieren waren. Aus Angst oder Misstrauen hatten
nämlich nicht alle Menschen bei der Erstellung der Liste ihren richtigen
Namen angegeben oder ihr Name wurde offenbar gar nicht erst in die
Liste eingetragen, weshalb nicht alle Menschen, die zu den Registrierungen kamen auch als TeilnehmerIn der Vereinbarung registriert werden konnten. Personen, deren Namen sich auf der Liste wiederfanden,
erhielten eine weiße Plastikkarte, die sie als TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung auswies und freiwillige Sozialleistungen in Anlehnung an das Asylbewerberleistungsgesetz. Sofern verfügbar bekamen sie einen Platz in einer vom Senat bereitgestellten Unterkunft.
Für diejenigen, die trotz Karte nicht gleich einen offiziellen Schlafplatz
bekamen, oder eben gar nicht auf der Liste standen, organisierten die
BeraterInnen alternative Schlafplätze. Das gesamte Registrierungsverfahren zog sich über zwei Monate hin.
Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 9
„Barfußsprechstunde“
Circa 100, vorwiegend nordafrikanische Geflüchtete haben nach Schließung des Lagers auf dem Oranienplatz in einem ehemaligen Hostel in
der Friedrichshainer Gürtelstraße eine Bleibe gefunden. Da sie vom
Senat zwar Unterkunft und Geldleistungen erhielten, aber weiterhin
keine Krankenversicherung und keine reguläre medizinische Versorgung hatten, entschlossen wir uns im April 2014, dort einmal wöchentlich eine ärztliche Sprechstunde abzuhalten. Wir, das waren Ofelia
Arias, eine Ärztin aus Mexiko, und ich, Thea Jordan, Ärztin aus Berlin.
Die Bedingungen für die Sprechstunde waren äußerst spartanisch. Wir
konnten für diese 2-3 Stunden das Zimmer der Sozialarbeiter im Keller
nutzen, die sich dann in einem anderen Raum aufhalten mussten. Es
gab dort nur einige Stühle, einen Schreibtisch, aber keine Liege, keine
Waschgelegenheit. Die „Patienten“ mussten an der Treppe warten.
Anfangs konnten die BetreuerInnen der Diakonie dolmetschen, später
mussten wir allein mit Englisch zurechtkommen, Ofelia auch mit Spanisch. Mittels Händen und gutem Willen kam man mehr oder weniger
gut zum Ziel. Benötigte Medikamente wurden über Spenden von ärztlichen Kolleginnen und Kollegen oder aus Apotheken beschafft.
Schwierig gestaltete sich die die Erkennung und Behandlung der häufigen psychischen Störungen (PTBS); zum einen war die Sprachbarriere
für uns ein Problem, zum anderen war die Kapazität der Psychiater
und Psychologen durch die hohen Flüchtlingszahlen in Berlin ausgeschöpft. Bei Überweisungen zu Fachärzten nutzten wir u.a. unsere
persönlichen Verbindungen zu Kollegen, das Büro für Medizinische
Flüchtlingshilfe und die Ambulanz für Wohnungslose am Bahnhof Zoo.
Ein großes Problem war die zahnärztliche Betreuung, die fast nur als
Notbehandlung in den Krankenhäusern erfolgen konnte. Die Vorstellung von akut erkrankten Patienten war nach einer Absprache mit dem
Senat in den Vivantes- Kliniken ab 20:00 Uhr möglich. Notfälle konnten
jeder Zeit in jede Klinik gehen.
Unterstützt wurden wir von den sehr engagierten BetreuerInnen der
Diakonie, die soweit es ihnen möglich war, Patienten zu Psychotherapeuten und Ärzten begleiteten, Dolmetscher besorgten und das Vertrauensverhältnis zu den Geflüchteten herstellten. Leider gab es keine
ehrenamtlichen Helfer, die einen großen Teil dieser Aufgaben hätten
erledigen können.
An Erkrankungen waren Erkältungen, Wirbelsäulenbeschwerden, Zahnbeschwerden, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, psychische Probleme
und Erkrankungen sowie Bauchbeschwerden, Fußschmerzen durch
Verhornungen und Augenprobleme sehr häufig. Vereinzelt traten Herzerkrankungen, Lungenleiden und chronische Lebererkrankungen auf.
Nicht immer konnten wir aus den o.g. Gründen die Geflüchteten ausreichend behandeln. Außerdem war die Erwartungshaltung vieler Geflüchteter an die Möglichkeiten der Medizin in Deutschland sehr hoch.
Häufig verbargen sich auch psychische Störungen hinter körperlichen
Krankheiten, was für die Geflüchteten selbst nicht erkennbar war. Für
die Behandler erschwerten die Sprachbarrieren und die nicht ausreichende Verfügbarkeit psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten die Diagnostik und Therapie. Auf die Notwendigkeit verstärkter
psychosozialer Unterstützung der Geflüchteten, die unter der langanhaltenden Perspektivlosigkeit deutlich litten, haben wir als Ärzte sowie die BeraterInnen mehrfach hingewiesen, leider ohne jeden Erfolg.
In der Folge mussten dann mehrere Geflüchtete stationär psychiatrisch behandelt werden.
Eine schwierige Situation ergab sich, als ein großer Teil der Oranienplatzflüchtlinge das Haus verlassen sollte und einige am 26.08.2014
aus Protest auf das Dach des Hauses flüchteten. Neben der akuten
Bedrohung durch ein Herunterstürzen vom Dach bestand die Gefahr
der Austrocknung, da sie nach unseren Informationen während ihres
dreizehntägigen Aufenthaltes auf dem Dach nicht ausreichend Flüssigkeit und Nahrung erhielten. Genauere Angaben darüber und auch
über den gesundheitlichen Zustand der Geflüchteten auf dem Dach
bekamen wir weder vom Polizeiärztlichen Dienst noch von der Polizei.
Dr. Thea Jordan
Internistin und Mitglied des Menschenrechtsausschusses
der Berliner Ärztekammer
Auszahlung „freiwillige Sozialleistungen“
Aufenthaltssrechtliche Beratung
Die TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung erhielten für die
Zeit der aufenthaltsrechtlichen Prüfung „freiwillige Leistungen“ vom
Land Berlin. In den Monaten April und Mai zahlten die Betreiber die
Geldleistungen in den einzelnen Unterbringungen aus. In der Umsetzung gab es jedoch große Unterschiede zwischen den einzelnen
Heimbetreibern. Lange Zeit gab es auch für diejenigen keine Lösung,
die zwar als TeilnehmerIn der Vereinbarung registriert waren, aber immer
noch keinen Schlafplatz hatten. Sie erhielten in dieser Zeit keine Geldleistungen.
Parallel zu den beschriebenen Schwierigkeiten in der Umsetzung des
Einigungspapiers bauten die BeraterInnen Beratungsstrukturen und mit der Unterstützung einzelner AnwältInnen - einen Rechtsanwält-
Innenpool für die KlientInnen und für die Unterstützung der BeraterInnen auf. Für die aufenthaltsrechtliche Beratung und Unterstützung
waren folgende Punkte aus der Vereinbarung relevant:
Ab Juni wurde die Geldauszahlung in den Bezirkskassen vorgenommen. Die BeraterInnen haben die Geflüchteten jeden Monat zur Geldauszahlung begleitet. Die Begleitung war notwendig, da es jeden
Monat aufs Neue Probleme bei der Geldauszahlung gab. So kam es
nicht selten vor, dass Personen von der „Auszahlungsliste“ rutschten,
obgleich sie noch anspruchsberechtigt waren.
Beratungszeit
Medizinische Versorgung
Gleich in den ersten Wochen der Beratungszeit stellte sich heraus,
dass eine Vielzahl der Geflüchteten durch die lange Zeit auf dem
Oranienplatz und aufgrund ihrer Fluchterfahrungen physisch und
psychisch sehr angeschlagen waren und ärztlicher Hilfe bedurften.
Aufgrund der Tatsache, dass das Land Berlin den TeilnehmerInnen
der Oranienplatz–Vereinbarung eine reguläre medizinische Versorgung verweigerte, waren die erkrankten Personen gezwungen, auf
die Notfallhilfe der Krankenhäuser auszuweichen sowie spenden-
finanzierte Hilfsorganisationen und ehrenamtlich arbeitende ÄrztInnen
aufzusuchen.
Angesichts der völlig überlasteten ehrenamtlichen Strukturen in Berlin gestaltete sich die Organisation der Versorgung sehr zeitaufwendig und führte somit zu einer massiven Belastung der Beratungskapazitäten. Berliner ÄrztInnen18, der Flüchtlingsrat Berlin19 und die
BeraterInnen von Diakonie und Caritas haben sich mehrmals erfolglos an die Sozialverwaltung gewendet und auf die Probleme bei der
gesundheitlichen Versorgung der Oranienplatz-Geflüchteten hingewiesen.
� Umfassende Prüfung der Einzelverfahren auf Antrag im Rahmen
aller rechtlichen Möglichkeiten
� Aussetzung der Abschiebung für die Zeit der Prüfung der jeweiligen
Einzelverfahren
In den ersten Beratungsgesprächen wurde neben der gesundheitlichen auch die aufenthaltsrechtliche Situation der KlientInnen erfasst.
Von der aufenthaltsrechtlichen Situation war abhängig, welche weiteren Schritte gegangen werden mussten. Die Klärung der rechtlichen
Aufenthaltssituation war jedoch nicht immer in einem der ersten Gespräche möglich. Die ersten Beratungsgespräche waren teilweise von
Diskussionen über den Inhalt und die Auslegung des Einigungspapiers
geprägt. Es kursierten verschiedene mündliche Interpretationen über
die Verhandlungen und Versprechungen an die Protestierenden vom
Oranienplatz. Die Erwartungen an das Einigungspapier und an die
BeraterInnen, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, waren sehr groß.
Schon bei den Verhandlungen war bekannt, dass sich unter den Geflüchteten fünf verschiedene aufenthaltsrechtliche Gruppen befanden:
1. Lampedusa-Flüchtlinge: Personen mit einer Flüchtlingsanerken-
nung, einem subsidiären Schutzstatus oder einem humanitären
Aufenthaltstitel aus Italien ohne Verfahren in Deutschland
2. Lampedusa-Flüchtlinge: Personen mit einem Aufenthaltstitel aus
Italien und mit laufendem Asylverfahren in einem anderen Bundesland
3. Personen mit laufendem Asylverfahren in einem anderen Bundes-
land und ohne Bezug zu Italien
4. Personen mit abgeschlossenem Asylverfahren, mit oder ohne gültige
Duldung
5. Personen mit abgelehntem oder als unzulässig zurückgewiesenem
Asylantrag und Abschiebungsanordnung in einen anderen EU-
Staat, überwiegend Italien
10 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 11
„Ich dachte, dass die Regierung von Berlin uns helfen
wollte, ein neues Leben
aufzubauen; dass wir aus dem
Dreck auf dem Oranienplatz in
saubere Unterkünfte gebracht
würden und man uns helfen
würde, Schritt für Schritt ein
neues Leben aufzubauen und
dass wir das Recht bekommen
würden, hier zu arbeiten, um
uns versorgen zu können.“
„Wir haben nie vorgehabt, nach
Europa zu kommen. Uns ging es
gut. Europa hat uns die Waffen
geschickt, Freunde und Familien
wurden getötet. Wir mussten
fliehen, um unser Leben zu
retten, wer hätte das nicht
getan? Hätte Europa keine
Waffen geschickt, wären wir
nicht hergekommen.“
Geflüchteter
Geflüchteter
„Ich will nichts geschenkt
bekommen. Ich habe zwei
starke Hände, mit denen kann
ich arbeiten, ich habe mir immer
meinen Lebensunterhalt selbst
verdient. Ich will doch nichts
Besonderes, nur arbeiten, eine
Wohnung, wenn es geht, eine
Familie gründen und, ja, auch
Steuern zahlen, denn man muss
der Gesellschaft in der man lebt,
auch etwas geben, nicht nur
nehmen, sonst gibt es Streit,
wie in einer Ehe, wenn nur einer
etwas leistet.“
Geflüchteter
„Da wo ich eigentlich sein
müsste, da haben wir nichts zu
tun, nur schlafen, essen,
schlafen, essen, sonst nichts.
Manche Geflüchtete in dem
Heim machen das schon seit
Jahren so, sie sind völlig
abgestumpft. Ich kann das nicht.
Es ist ein kleiner Ort, es ist
hübsch, ja das schon, aber es
gibt dort nichts für mich.
Niemanden, mit dem ich
sprechen könnte. Ich bin zur
Untätigkeit verdammt. Ich werde
dort verrückt. Wenn ich da bin,
dann kiffe und rauche ich den
ganzen Tag, sonst halte ich es
nicht aus. Was soll ich da?“
Geflüchteter
„Viele Geflüchtete haben
versucht, eine Arbeit zu finden
und das zum Teil auch geschafft. Wenn wir ihnen sagen
mussten, dass sie keine Arbeitserlaubnis erhalten würden,
waren sie völlig fassungslos und
maßlos enttäuscht. Sie konnten
überhaupt nicht verstehen,
warum sie nicht selbst das Geld
für ihren Lebensunterhalt verdienen dürfen, warum der Staat
ihnen lieber Geld geben will, als
ihnen zu erlauben, zu arbeiten,
Steuern und Beiträge zur
Krankenversicherung zu zahlen.
Warum sie keinen Beitrag leisten
dürfen. Warum sie nur nehmen
und nichts geben dürfen.
Ehrlich gesagt, verstehe ich das
auch nicht.“
Beraterin
Im April kam es zur ersten Verhaftung eines Geflüchteten mit Oranienplatzkarte, als er bei seiner für ihn zuständigen Ausländerbehörde in Sachsen-Anhalt seine Duldung verlängern lassen wollte.
Der junge Mann kam in Abschiebungshaft, weil sein Asylantrag in
Deutschland bereits abgelehnt worden war. Er sollte nach Italien
zurückgeschoben werden, wo er zuerst in die EU eingereist war.
Für die Ausländerbehörde in Sachsen-Anhalt war er ein Dublin-Fall
wie jeder andere auch. Dabei war den TeilnehmerInnen für die Dauer
der aufenthaltsrechtlichen Einzelfallprüfungen ein Abschiebestopp
zugesagt worden. Voraussetzung dafür wäre jedoch gewesen, dass
sich die Berliner Ausländerbehörde für die TeilnehmerInnen der
Oranienplatz-Vereinbarung verbindlich zuständig erklärt hätte.
Die BeraterInnen haben die zuständigen Senatsverwaltungen früh-
zeitig darauf hingewiesen, dass für die TeilnehmerInnen der Oranienplatz–Vereinbarung, deren Zuständigkeit in einem anderen Bundesland
lag, eine Lösung gefunden werden musste und appellierten an den
dafür notwendigen politischen Willen des Berliner Senats. Die BeraterInnen informierten regelmäßig die Integrationsbeauftragte Monika
Lüke in anonymisierter Form über die gesammelten Umverteilungsfälle.
Lange Zeit sah es aus, als ob es eine politische Lösung geben könnte.
Unterdessen liefen in den Koordinierungsrunden zwischen Senatsverwaltung, Ausländerbehörde, Diakonie und Caritas Gespräche darüber,
wann und wie mit den Einzelfallprüfungen vor der Ausländerbehörde
begonnen werden sollte. Diakonie und Caritas plädierten für freiwillige
Vorsprachemöglichkeiten und abgestimmte Termine und, angesichts
des schwierigen Umsetzungsbeginns, für mehr Beratungszeit.
Entgegen der durch Diakonie und Caritas geäußerten Bedenken hinsichtlich eines zeitnahen Beginns der Einzelfallprüfungen verschickte
die Ausländerbehörde Mitte Juni die ersten Vorladungen. Bis dahin
waren bereits Menschen beraten worden, aber nicht unbedingt diejenigen, die nun von der Ausländerbehörde zur Vorsprache eingeladen
wurden. Ohne konkrete Informationen, nach welchem Verfahren und
welche Personen die Ausländerbehörde auswählt, wurden zeitweise
zwischen 30 und 60 Personen pro Woche eingeladen. Zwischen Erhalt der Einladung und Einladungstermin lagen teilweise nur vier bis
sechs Tage. Angesichts der Vielzahl der KlientInnen konnten intensive
Beratungsgespräche jedoch nicht unmittelbar von einem auf den anderen Tag stattfinden.
Diese oftmals zeitaufwendigen Beratungsgespräche waren notwendig, um die für einen Antrag erforderlichen Informationen zusammenzutragen und einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zu verfassen.
Außerdem bestand aufgrund des durch den Senat versagten Zugangs zur medizinischen Versorgung ein erhöhter Aufwand, um Arzttermine für notwendige Untersuchungen zu bekommen und somit
auch für Atteste und Gutachten, um darzulegen, dass dem Antragstellenden beispielsweise die Ausreise nach Italien weder möglich
noch zumutbar ist. Bitten um Terminverschiebungen seitens der BeraterInnen, um die Vielzahl der Einladungen überhaupt vorbereiten zu
können, wurden ignoriert. Nach Versäumnis des ersten Termins folgte
binnen weniger Tage die zweite Einladung, wenngleich der Ausländerbehörde eine begründete Bitte um Terminverschiebung vorlag, um
Beratungsgespräche in Anspruch nehmen zu können.
12 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 13
Beratungszeit
Zu den Vorsprachen bei der Ausländerbehörde sind die Menschen
von den BeraterInnen begleitet worden. Teilweise erhielten die KlientInnen schon direkt nach der Vorsprache bei der Ausländerbehörde
ein Schreiben, in dem die Behörde ihnen mitteilte, dass sie beabsichtige, ihren Antrag abzulehnen. Sie erhielten im Regelfall eine Woche
und in Ausnahmefällen zwei bis drei Wochen Zeit zur Antragsbegründung. Innerhalb dieser Zeit mussten die Antragstellenden alle Gründe
vortragen und Dokumente vorlegen. Anträge auf Fristverlängerung
lehnte die Ausländerbehörde - teilweise ohne die Menschen darüber
zu informieren - ab.
Barbara Wessel, Rechtsanwältin von mehreren Mandant-
Innen vom Oranienplatz bezeichnet die Umgangsweise und
das Vorgehen der Berliner Ausländerbehörde als vergleichsweise restriktiv. „Die AntragsstellerInnen vom Oranienplatz
sind deutlich restriktiver behandelt worden als andere anwaltlich vertretene AntragsstellerInnen. Normalerweise wird den
AntragstellerInnen eine Fristverlängerung von drei bis vier
Wochen eingeräumt. Erschwerend kommt hinzu, dass die
Menschen lange Zeit gar nicht wussten, auf welche Art von
Anhörung sie sich vorbereiten sollten und auf was sie sich im
sogenannten Oranienplatzverfahren einlassen. Das Vorgehen
der Ausländerbehörde legt nahe, dass die Verfahren der Oranienplatz–TeilnehmerInnen so schnell wie möglich beendet
werden sollten und das „Einigungspapier Oranienplatz“ keine
Berücksichtigung zugunsten der Geflüchteten fand.“
anwaltlich vertreten. In Fällen ohne anwaltliche Vertretung haben die
BeraterInnen mit den KlientInnen Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verfasst.
„Beratungsgutscheine für die KlientInnen wären hilfreich gewesen, um die BeraterInnen auch zu entlasten, damit die
Menschen eine anwaltliche Beratung nutzen können“, sagt
Barbara Wessel.
Entgegen dem „Einigungspapier“ konnten nicht alle Menschen ihren
Antrag bei der Berliner Ausländerbehörde stellen. Personen, denen bei
der ersten Vorsprache unerlaubte Einreise vorgeworfen wurde, war es
nicht möglich, ihr Verfahren in Berlin zu betreiben. Sie erhielten eine
Verteilentscheidung und die Aufforderung, ihr Verfahren in einem anderen Bundesland zu betreiben.
Eine umfassende rechtliche Prüfung, wie es die Vereinbarung vorsah,
blieb für diesen Personenkreis aus. Andere Personen erhielten bei ihrer
ersten Vorsprache Anzeigen wegen illegalen Aufenthalts in Berlin. Obwohl allen Behörden einschließlich Innensenat und Ausländerbehörde
schon vor den Verhandlungen und dem Abschluss des „Einigungspapiers“ bekannt war, dass sich die Personen mit Papieren aus einem
anderen Schengen-Staat schon länger als drei Monate visumfrei in
Deutschland aufhalten.
„Es ist als ein absoluter Skandal zu bewerten“, so Rechtsanwältin Barbara Wessel, „dass die Menschen Anzeigen
wegen illegalen Aufenthalts bekommen haben.“ Nach Auffassung von Barbara Wessel könnte man den Menschen
Die kurzen Einladungsfristen und die ebenso ungewöhnlich kurzen nicht zur Last legen, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung
Fristen zur Antragsbegründung vor dem Hintergrund der Vielzahl an schon länger als die erlaubten drei Monate in Berlin waren.
zu beratenden Menschen, wurden gegenüber der Innenverwaltung Allen Beteiligten war das bekannt. „Man hätte sie gar nicht
mehrfach problematisiert. Trotz des großen Zeitdrucks konnten Klient-
fragen dürfen, wann sie eingereist sind.“
Innen mit Hilfe des Beratungsteams oder durch anwaltliche Vertretung Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stellen.
In Fällen von anwaltlicher Vertretung haben die BeraterInnen eine unterstützende Funktion ausgeübt und bei der Beschaffung von Dokumenten und der Kommunikation zwischen KlientInnen und AnwältInnen
geholfen. Nicht alle Menschen hatten die finanziellen Mittel und waren
Die ersten Menschen erhielten ihre Ablehnungen schon wenige Wochen
nach Antragsstellung, noch bevor alle KlientInnen erstmalig eingeladen worden waren. Dieser Umstand führte ebenso wie eine Inhaftnahme bei der Ausländerbehörde zu großer Verunsicherung unter den
verbliebenen Menschen, die dazu führte, dass sich einige von ihnen
entschieden, den Einladungen zur Ausländerbehörde nicht zu folgen.
Im Beratungszeitraum der Diakonie haben lediglich zwei Personen
eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis durch die Ausländerbehörde
erhalten. Beide Bescheide können jedoch nicht auf die OranienplatzVereinbarung zurückgeführt werden. Die Menschen hatten als daueraufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige ohnehin ein Recht auf
Zugang zum Arbeitsmarkt.
Rechtsanwältin Inken Stern ist der Auffassung, dass „sicherlich auch andere Entscheidungen möglich gewesen wären,
wenn es mehr Zeit für das Einholen von Gutachten und für
Behandlungen gegeben hätte.“ Sie hatte ebenso wie Barbara
Wessel MandantInnen vom Oranienplatz vertreten.
Anträge und rechtliche Möglichkeiten
Menschen mit italienischen Aufenthaltstiteln und ohne Registrierung
in Deutschland haben in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis aus
humanitären Gründen beantragt.
Eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach §
25 Abs. 5 AufenthG kann erteilt werden, wenn aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eine Ausreise auf absehbare Zeit nicht möglich ist. Eine Aufenthaltserlaubnis gem. §
25 Abs. 2 oder 3 AufenthG ist möglich, wenn eine Rückkehr
z.B. nach Italien nicht zumutbar ist und eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Für die anerkannten Flüchtlinge fühlt sich in Italien niemand zuständig.
Die Möglichkeit, in Italien eine Arbeit zu finden, ist aufgrund des angespannten Arbeitsmarktes ausgesprochen gering. Ein Sozialsystem,
dass die Menschen auffangen könnte, ist in Italien nicht vorhanden.
Sie werden mit Erteilung ihres Aufenthaltstitels obdachlos und infolgedessen auch vom Zugang zur Krankenversorgung ausgeschlossen.
Die Krankenversorgung ist nämlich wiederum an die Wohnsitznahme
gebunden. Somit besteht für die Menschen bei Rückkehr nach Italien
die begründete Gefahr, wieder obdachlos zu sein. Zur Untermauerung
kann hier auf das Gutachten von borderline europe, Menschenrechte
ohne Grenzen e.V. vom Dezember 2012 für das VG Braunschweig verwiesen werden. Demnach muss davon ausgegangen werden, dass
eine erhebliche Anzahl (auch) der zurückgeführten Personen nicht auf
menschenwürdige Weise untergebracht werden und dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert ist, wenn sie nicht mehr in einer staatlichen
Unterkunft lebten. Es wird festgestellt, dass Asylsuchende und Schutzberechtigte, die nicht mehr in einer staatlichen Unterkunft lebten,
keinen Anspruch auf Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Taschengeld und
sonstige Leistungen haben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Ent-
scheidung vom 21.01.2011 klargestellt, dass völlige Mittellosigkeit,
behördliche Gleichgültigkeit gegenüber ernsthafter Armut, die ständige
Furcht, angegriffen oder bestohlen zu werden und das Fehlen jeder
Aussicht auf Verbesserung eine erniedrigende Behandlung darstellt
und einen Mangel an Respekt für die Würde der Betroffenen zum Ausdruck bringt (EGMR, Urteil vom 21.01.2011, 30696/09 M.S.S gegen
Belgien und Griechenland).
18 Kapitelthema Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 15
Seitenthema
§ 23 I Aufenthaltsgesetz
Im Rahmen der Proteste von Flüchtlingen in Berlin ist die
Diskussion um § 23 I AufenthG neu entflammt. Rechtsanwältin Berenice Böhlo schreibt über den Inhalt von § 23 I
AufenthG und macht Vorschläge zur weiteren Diskussion:
In der Vergangenheit fand die Regelung vor allem auf jüdische Kontingentflüchtlinge, traumatisierte bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge
sowie Personen, die im Rahmen einer Bleiberechtsregelung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, Anwendung. Festzustellen ist, dass
sie – abgesehen von den Bleiberechtsregelungen – nur in eng begrenzten Ausnahmefällen angewandt wurde. Viele forderten nun, dass § 23 I
AufenthG auch im Fall der protestierenden Flüchtlinge aus Hamburg
und Berlin zur Anwendung kommen solle.
Satz 1 des Paragraphen lautet wie folgt wie folgt:
„(1) Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder
humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen
der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus
bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.“
Ergänzt wird die Bestimmung um Satz 3 und nach diesem gilt:
„Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung
des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern.“
In der Norm wird also geregelt, dass einer Gruppe aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
werden kann, wenn das Bundesministerium des Innern sein Einvernehmen erklärt.
werden, ist nicht ganz einsichtig, warum dann § 23 I AufenthG zur
Anwendung kommen soll.
Der Forderung nach einer Gruppenlösung im Sinne von § 23 I AufenthG wohnt zudem etwas überwiegend Appellatives inne. Der Angesprochene – wie Innensenator Henkel - reagiert gar nicht oder mit klarem Nein. Damit ist der rechtliche Handlungsrahmen eng abgesteckt
und es besteht die Gefahr, argumentativ festzustecken.
Andererseits gilt auch für § 23 I AufenthG nur, was ebenso für alle anderen denkbar einschlägigen Normen im AufenthG – selbst wenn sie
individuelle Rechtsansprüche formulieren -, festzustellen ist:
Um sie anzuwenden, braucht es den entsprechenden politischen Willen. Ein politischer Wille, der die im Protest durch die Flüchtlinge benannten Probleme und Forderungen als rechtlich relevant anerkennt.
In der Virginia Declaration of Rights von 1776 heißt es in Art. 1:
Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche
sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder
entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und
Erlangen von Glück und Sicherheit.
Darin sind zum ersten Mal die politischen, sozialen und ökonomischen Menschenrechte formuliert. Genau dies sprechen auch die
Flüchtlinge an. Wir sind der Auffassung, dass es um diese individuellen
Rechte jedes Einzelnen geht. Der Kampf ihrer Sichtbarmachung wird
erst zu Ende sein, wenn diese Rechtsfragen in fairen Verfahren rechtlich beantwortet werden.
Damit werden drei zentrale Probleme dieser Bestimmung benannt:
Profitieren kann nur eine abgegrenzte Gruppe und die Landesbehörde
kann dies nur gewähren, wenn die Zustimmung des Bundesministeriums des Innern ergeht. Hinzu kommt: Wir bewegen uns im Bereich
des Ermessens, es gibt keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf Anwendung von § 23 I AufenthG.
Eine nicht zu Ende diskutierte Problematik bei der Anwendung des §
23 I AufenthG besteht darin, wie die jeweilige Gruppe zu definieren und
wo die Grenze zu ziehen wäre. Soll eine solche Grenze nicht gezogen
Berenice Böhlo
Rechtsanwältin
Menschen mit Aufenthaltstitel aus Italien und dem Angebot, einen
Bundesfreiwilligendienst zu absolvieren, haben einen Antrag zur
Ausübung des Freiwilligendienstes gestellt.
Bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung
eines Freiwilligendienstes kann vom Ermessen Gebrauch
gemacht werden. „Die Ausländerbehörde kann wegen besonderer Härte vom Visumsverfahren absehen, oder eine
Vorabzustimmung zum Visum erteilen. Ermessensspielräume
hätte es gegeben, wenn der politische Wille bestanden hätte“,
erklärt Inken Stern.
materiell-rechtliche Vergünstigungen noch eine pauschale Zusicherung der Berliner Ausländerbehörde, humanitäre Titel oder Duldungen
zu erteilen. Zu guter Letzt hat Innensenator Henkel jegliche Verantwortung für sich und seine Behörde abgelehnt, indem er feststellte, dass
er die Vereinbarung nicht unterschrieben habe.21
Das Verwaltungsgericht Berlin widerspricht in einem ersten Beschluss
der Innenverwaltung und misst dem Einigungspapier sehr wohl rechtliche Wirkungen bei. In diesem Fall hatte ein Teilnehmer der Vereinbarung gegen die Verteilung von Berlin nach Bayern im Rahmen des
Oranienplatz-Verfahrens geklagt. Das Gericht gab dem Eilantrag des
Mannes statt, so dass er bis zur Entscheidung über die eigentliche
Klage gegen die Verteilung nach Bayern in Berlin bleiben kann.
Aufgrund der Vielzahl an schnellen Ablehnungen und der restriktiven
Rechtsauslegung war eine Beratung in beruflichen Fragen nur begrenzt möglich und sinnvoll. In Einzelfällen konnte Kontakt zu potentiellen Arbeitgebern aufgebaut und Freiwilligendienste angefragt werden.
Letztlich ist es am politischen Willen gescheitert, den es gebraucht
hätte, um den Menschen eine berufliche Perspektive zu ermöglichen.
Das Gericht bezieht sich in seiner Begründung auf das „Einigungspapier Oranienplatz“. Demnach bestünden „ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit“ der Zuweisung des Mannes nach Bayern. Es bestünden keine Zweifel daran, dass es sich beim „Einigungspapier Oranienplatz“ nicht um eine bloße politische Absichtserklärung, ohne jegliche
Rechtswirkung handele.
Menschen mit Asylverfahren und Wohnsitzauflage in einem anderen Bundesland haben Anträge auf Umverteilung nach Berlin gestellt.
Die Einigung sei vielmehr dahingehend auszulegen, dass es für die
Betroffenen eine „umfassende Prüfung“ im Rahmen „aller rechtlichen
Möglichkeiten“ geben solle und alle rechtlichen Entscheidungsspielräume ausgeschöpft würden. Mit dem Grundsatz von Treu und Glauben sei es nur schwer zu vereinbaren, der Einigung nachträglich keinerlei rechtliche Bedeutung beizumessen. Schließlich habe der Sinn
und Zweck der Vereinbarung darin gelegen, den Platz zu räumen und
dafür gewisse Zugeständnisse an die Betroffenen zu machen. 22
Für eine Umverteilung ist gem. § 51 Abs. 1 AsylVfG ein Antrag der betroffenen Person erforderlich. Die Verteilentscheidung kann auf familiären Aspekten, aber auch auf anderen
humanitären Gründen beruhen.
Prof. Dr. Fischer-Lescano (Universität Bremen) vertritt in dem von der
Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen in Auftrag gegebenen Gutachten zur rechtlichen Situation der Geflüchteten vom Oranienplatz die Auffassung, dass die Menschen infolge der „OranienplatzVereinbarung“ und einer faktischen Duldung durch das Land Berlin
einen verbindlichen Rechtsanspruch darauf haben, dass das Land Berlin die Zuständigkeit für sie übernimmt.20
Die Ausländerbehörde wies die AntragstellerInnen allerdings darauf
hin, dass die Teilnahme an der „Vereinbarung Oranienplatz“ keine Ansprüche begründen könne. Aus dem „Einigungspapier“ folgten weder
Ende Oranienplatz-Verfahren
Am 26. August 2014 mussten die ersten 108 TeilnehmerInnen der
Oranienplatz-Vereinbarung die vormals vom Senat bereitgestellten
Unterkünfte alternativlos verlassen. Die Menschen wurden teilweise
erst am Nachmittag des vorherigen Tages durch den Aushang einer
Namensliste informiert, dass sie ihre Unterkünfte bis zum nächsten
Tag 8 Uhr verlassen müssen. Nach der umstrittenen Auffassung der
Ausländerbehörde war in diesen Fällen die aufenthaltsrechtliche Prüfung abgeschlossen. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales
forderte daraufhin die Menschen auf, ihre Unterkünfte zu verlassen.
16
Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 17
„Es ist bedrückend, wie oft
Flüchtlinge pauschal kriminalisiert werden, oft nach dem
Motto „schwarz = Drogendealer“. Das ist doch zu simpel,
man kann ja auch nicht einfach
sagen „weiß = Drogenkonsument“. Die meisten unserer
früheren Klienten lehnen
kriminelle Verhaltensweisen
jeder Art strikt ab – wie jeder
andere normale Bürger auch,
und das trotz ihrer Not“
Ehrenamtliche Helferin
„Besonders betroffen gemacht
hat mich, dass Geflüchtete ins
Gefängnis kommen können, weil
sie z.B. schwarzgefahren sind
oder den Ort, dem sie in
Deutschland zugewiesen
wurden, verlassen haben. So
sollte jemand eine Freiheitsstrafe
verbüßen, weil er bei seiner
Einreise kein Bahnticket hatte, er
wurde kontrolliert, dann konnte
die entsprechende Zahlungsaufforderung ihm nicht zugestellt
werden, weil er noch gar keinen
Wohnort hatte. Der Richter hat
die Geldstrafe dann in Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt.
Manche Menschen wissen
überhaupt nichts davon, dass sie
etwas falsch gemacht haben
oder etwas zahlen sollen und
müssen trotzdem ins Gefängnis.
Das ist doch schockierend!“
Journalistin
„Immer wieder höre ich das
Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“ und frage mich immer
wieder, warum das kein „echter“
Flüchtling sein soll. Ist es
weniger schlimm, aus Not an
Hunger oder Durchfall zu
sterben als wegen der Religion
oder politischer Ansichten?“
Berliner Bürger
„Im November 2012 erhielt ich
in Italien einen Aufenthaltstitel.
Kurz danach wurde das Lager
geschlossen. Wir bekamen 500
Euro und man sagte uns, wir
sollten in ein anderes Land
fahren. Wir wurden auf die
Straße geschickt. Wir haben
versucht, im Lager zu bleiben,
da wir keine andere Unterkunft
hatten, aber die Polizei kam,
unsere Sachen wurden auf die
Straße gestellt und alles
abgeschlossen, damit wir nicht
mehr in die Unterkunft hineinkommen konnten. Ich dachte,
ich würde in Italien Schutz erhalten. Aber ich habe nur ein
Papier bekommen.“
Geflüchteter
„Die Menschen hier haben keine
Zeit. Wenn der Zug fünf Minuten
zu spät kommt, dann werden sie
ungeduldig. Aber wir haben
auch keine Zeit. Wir wollen
leben. Stattdessen müssen wir
warten. Warten auf Papiere,
warten bei der Ausländerbehörde, warten auf eine Arbeitserlaubnis, warten auf unser
Leben. Wir dürfen nichts tun,
es macht uns verrückt, unser
Leben wird verschwendet.“
Geflüchteter
Neun der Geflüchteten weigerten sich, ihre Unterkunft in Friedrichshain zu verlassen und besetzten in ihrer Verzweiflung das Dach des
Gebäudes. Nach 13 Tagen beendeten sie die Besetzung und verließen
das Dach. Während der gesamten Zeit hatte die Polizei das Gebäude
und den Zugang zum Dach abgeriegelt. Die Geflüchteten protestierten
mit ihrer Besetzung gegen das unmenschliche Vorgehen der Behörden
und für eine umfassende Prüfung der Einzelfälle, wie es ihnen im „Einigungspapier“ zugesichert worden war, und für die Ausnutzung aller
rechtlichen Möglichkeiten, um eine Bleibeperspektive in Berlin zu bekommen. Während der Zeit der Besetzung erhielten die Menschen
nach eigenen Aussagen lediglich eine minimale Versorgung mit Wasser
und Lebensmitteln. Die durch ÄrztInnen ihres Vertrauens angebotene
medizinische Versorgung untersagte die Polizei und ließ auch keine
unabhängigen ÄrztInnen zu den Geflüchteten.
Fortan folgte fast wöchentlich der Rauswurf von weiteren TeilnehmerInnen. Teilweise wurden die untergebrachten Menschen erst am
selben Tag frühmorgens unter Anwesenheit der Polizei aufgefordert,
ihre Unterkunft zu verlassen. Folge dieses Handelns des Landesamts
für Gesundheit und Soziales waren psychische Zusammenbrüche bis
hin zu Suizidversuchen. Gleichwohl in einigen Fällen die aufenthaltsrechtlichen Prüfungen noch nicht abgeschlossen waren, scheute sich
die Sozialverwaltung nicht, diese Menschen mittellos der Obdachlosigkeit auszusetzen. In Einzelfällen verpflichtete das Sozialgericht nach
Antragstellung auf Eilrechtsschutz die Behörde zur vorläufigen Fortzahlung von Geldleistungen und Unterbringung in einer Unterkunft.
Mitte September besetzten fast hundert durch den Auszug obdachlos
gewordene Geflüchtete die St. Thomas Kirche am Mariannenplatz in
Kreuzberg. Nach viertägigen Verhandlungen mit der Kirchenleitung
brachte die Kirche die Geflüchtete in kirchlichen Einrichtungen unter.
Seitdem leben etwa 110 Menschen in Unterkünften des evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadtmitte. Andere obdachlos gewordene
Menschen leben in wechselnden Wohnungen und Zimmern von UnterstützerInnen. Wiederum andere Personen sind nach Italien zurückgegangen und planen jedoch zurückzukommen, weil sie keine Perspektive
in Italien sehen.
Ende September hat das Beratungsteam des Diakonischen Werks
Berlin Stadtmitte seine Arbeit eingestellt. Eine ursprünglich angedachte Verlängerung und Ausweitung des Beratungsauftrags auf die
ehemaligen BewohnerInnen der Gerhart-Hauptmann-Schule lehnten
die BeraterInnen und der Träger unter den oben beschriebenen Bedingungen ab.
22 Kapitelthema Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Aus der Sicht der Kirche... 19
Seitenthema
Interview mit Marita Leßny
Die Unterstützung von Geflüchteten, die nicht arbeiten dürfen und sich daher nicht selbst
versorgen können, ist eine aufwendige und herausfordernde Tätigkeit. Eine große Zahl von
Freiwilligen engagiert sich in Berlin für die Menschen vom Oranienplatz und andere Geflüchtete. Marita Leßny beschreibt, wie diese Arbeit für sie aussieht:
Frau Leßny, wie viele Personen betreuen Sie denn?
Es sind 13 junge Männer zwischen 19 und 30 Jahren, die vorher auf
dem Oranienplatz gelebt haben.
Wo sind die Menschen denn untergebracht?
Die Kirche hat sie aufgenommen, denn sie haben keinen anderen
Ort, an dem sie leben könnten. Sie wohnen in einem Gebäude auf einem
Friedhof. Zuerst fanden sie das sehr unheimlich, aber inzwischen haben sie sich daran gewöhnt.
Und was tun Sie konkret für diese Personen?
Ganz verschiedene Dinge: ich habe für sie einen Deutschkurs organisiert: drei Mal pro Woche gibt eine ehrenamtliche Lehrerin ihnen
Unterricht. Manchmal organisiere ich Arztbesuche und begleite den
Kranken dann meistens auch. Einmal in der Woche gehen wir zu den
Pfadfindern, da können wir Tischtennis spielen und kickern. Im Moment
versuche ich, einen Sportverein zu finden, der Flüchtlinge aufnimmt,
aber das ist gar nicht so einfach. Wir haben die Unterkunft hergerichtet
und bewohnbar gemacht. Ich zahle auch das Geld aus, denn jeder
Flüchtling erhält von der Kirche fünf Euro am Tag aus Spendengeldern.
Viel Zeit nimmt auch die Akquisition von Materialspenden in Anspruch.
Zu Beginn hatte ich Großes vor: diese jungen Leute möchten gerne
lernen und eine Ausbildung machen, wie junge Deutsche auch. Ich
habe alles versucht, um ihnen das zu ermöglichen. Wir haben viele
Gespräche geführt, bis hin zur Staatssekretärsebene. Aber es war
nichts zu machen, es gibt dafür leider keinen politischen Willen, auch
wie schnell Politiker aller Ebenen diese Menschen mit Kriminellen in
einen Topf werfen. Deshalb bin ich jetzt pragmatischer geworden und
möchte, dass sie eine gute Zeit bei uns verbringen, damit sie wieder
etwas Kraft tanken können. Oft bin ich einfach nur Ansprechpartnerin
für die täglichen Sorgen: es ist für diese jungen Leute extrem wichtig,
dass überhaupt jemand für sie da ist.
Das klingt nach viel Arbeit. Wie viel Zeit investieren Sie denn?
Es mögen etwa zehn Stunden pro Woche sein, eher mehr…
Und wie sind Sie dazu gekommen, sich so zu engagieren?
Ich bin da so „hineingerutscht“: am Anfang habe ich nur in der
Kirchengemeinde einmal ausgeholfen, dann wurde ich immer häufiger
gebeten, mit anzupacken und schließlich fragten mich auch die Flüchtlinge, wann ich denn wiederkäme… Inzwischen hat sich zu jedem der
Betroffenen auch eine persönliche Beziehung entwickelt. Die Menschen sind durch alles, was sie erlebt haben, sehr erschöpft und benötigen dringend Fürsorge. Sie haben sonst niemanden, auf den sie sich
verlassen könnten. Manch einem rutscht schon mal das Wort „Mama“
heraus…. Ich kann diesen Menschen etwas von dieser Fürsorge geben, die ihnen wieder ein wenig Halt gibt. Und es gehört auch zu
meinem Selbstverständnis als Christin, dass ich Menschen, die Hilfe
brauchen, auch Hilfe leiste.
Kostet dieses Engagement nicht auch viel Kraft?
Manchmal ist es schon anstrengend und auch frustrierend. Vor allem,
weil jede Kleinigkeit mit viel Aufwand verbunden ist. Manche Flüchtlinge
sind so erschöpft, vor allem psychisch, dass sie selbst Dinge, die uns
banal erscheinen, nicht bewältigen können. Schon Dinge wie die Orientierung und Fortbewegung in der Stadt sind für einige eine riesige Hürde. Ganz zu schweigen natürlich von Problemen wie medizinische Versorgung, rechtliche Beratung oder Polizeikontakte. Man kann natürlich
nicht alle Polizisten über einen Kamm scheren, aber so manche Flüchtlinge haben schon wirklich schockierende Dinge erlebt. Aber es wäre
ein Irrtum zu glauben, dass diese Arbeit ein einseitiges Geben meinerseits wäre. Die Arbeit macht auch viel Freude: die jungen Männer freuen
sich über die Aufmerksamkeit oft wie kleine Kinder und sie möchten
auch ihrerseits etwas geben. Ich denke, dass dies eine wertvolle Arbeit
ist. Außerdem ist es eine Arbeit, bei der es sehr viel zu lernen gibt.
Dadurch, dass diese Menschen anders sind als ich, halten sie mir auch
immer wieder einen Spiegel vor. Niemand macht diese Arbeit nur für
die anderen, wir bekommen und lernen alle auch etwas dabei. Das ist
sehr bereichernd.
Schließlich möchten wir noch wissen, wie die Zukunft für die Menschen aussieht.
Das ist eine gute Frage.…. Unser Projekt läuft noch bis Ostern. Was
danach wird, lässt sich noch nicht sagen. In der Kirche gibt es viele
Pläne und Projekte, aber der politische Dialog stockt zurzeit. Was konkret aus diesen Menschen werden soll, das ist völlig ungewiss. Sie
sind hier, wo sollen sie sonst hin?
Aus der Sicht der Kirche...
Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und das Land Berlin waren sich
über lange Zeit nicht einig, wie mit den Bewohnern des Flüchtlingscamps am Oranienplatz und in der Gerhart-Hauptmann-Schule umzugehen sei. Auch das „Oranienplatzabkommen“ zwischen Senat und
Geflüchteten wurde innerhalb der Senatsverwaltungen unterschiedlich
interpretiert bzw. seine Gültigkeit gänzlich geleugnet. Damit ist das
humanitäre Problem nicht gelöst. Zwar sieht sich der Senat nach Prüfung der Ausländerbehörde für diese Menschen nicht mehr verantwortlich, doch sie sind, nachdem sie die Unterkünfte verlassen mussten,
noch da und hangeln sich obdachlos von einer Schlafmöglichkeit zur
anderen. Obwohl die Geflüchteten sich in ganz unterschiedlichen
Rechtslagen befinden, ist ihnen gemein, dass sie nach einer langen
Odyssee nach Berlin kamen und teilweise schon lange hier leben. Sie
bleiben, weil sie auch an anderen Orten keine Perspektive sehen.
Im Wissen um den Zuspruch des allen Menschen in Jesus Christus
begegnenden Gottes, im Hören auf die Not und die Erfahrungen der
Geflüchteten in unserer Stadt, im Hören auf den das Leben schaffenden und erhaltenden Gott, in der Hoffnung auf eine Lösung des seit
Langem gärenden Problems, zu Gunsten der Geflüchteten und der
Stadt setzen wir uns auch weiterhin für eine humanitäre Lösung ein,
die den Geflüchteten eine echte Perspektive in Berlin ermöglicht.
Die Evangelische Kirche mit ihrer Diakonie hat sich in der Vergangenheit für eine humanitäre Lösung für diese Personengruppe eingesetzt
und will dazu auch zukünftig einen Beitrag leisten.
� dass die Geflüchteten danach wieder obdachlos sind und jegliches
Vertrauen verlieren.
Evangelische Gemeinden und diakonische Einrichtungen haben nach
der Besetzung der Thomaskirche am 11. September 2014 circa 110
Geflüchtete in ihrer ungeklärten Situation in Notunterkünften aufgenommen (ähnlich der Kältehilfe) und versorgen sie mit dem Nötigsten. Als Kirchengemeinden haben wir diese Geflüchtete sieben
Monate lang ehrenamtlich und aus Spendenmitteln in kirchlichen
Räumen beherbergt.
In einem ersten Schritt bedarf es dazu einer Duldung, die eine Arbeitserlaubnis beinhaltet. So könnten Verfahren fortgeführt werden und die
rechtlichen Voraussetzungen für Aufenthaltserlaubnisse geschaffen
werden. Darüber hinaus würde eine Arbeitserlaubnis endlich integrative
Maßnahmen, wie Praktika, Ausbildungen und Arbeit ermöglichen.
Dies würde verhindern,
� dass sich Menschen radikalisieren und der innerstädtische Konflikt
sich weiter zuspitzt.
�
dass ausgerechnet angesichts der Herausforderung, vor die die
Flüchtlingsfrage die Stadtgesellschaft stellt, ein Vertrauensverlust
zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen ent-
steht.
Die Evangelische Kirche ist bereit, dem Senat von Berlin - zusätzlich zu
den bisherigen Anstrengungen - Flächen an mindestens zehn Standorten für dezentrale Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung zu stellen
und diese durch diakonische Träger zu betreiben. Die Bereitstellung
der Grundstücke erfolgt in den ersten Jahren kostenlos.
Pfarrer Peter Storck
Ev. Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion
20
Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Danksagung 21
Danksagung
Zu danken ist dem Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte e.V., dem
Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und
seiner Pressestelle für das uns entgegengebrachte Vertrauen.
Diese Broschüre ist den Geflüchteten vom Oranienplatz gewidmet. Ob
sie von Anfang an dabei waren, oder erst später dazugekommen sind
– sie alle kamen aus Not, wie jeder Geflüchtete. Sie haben auf dem
Platz einen Kampf um ein würdiges Leben geführt. Wir sollten dafür da
sein, sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Sicher konnte diese Aufgabe
nicht in der Form erfüllt werden, wie die Geflüchteten und wir selber
uns das vorgestellt hatten. Zu groß waren die Probleme, zu klein war
der Wille einiger, zu kurz war auch die Zeit. Manche Geflüchteten
haben wir nie beraten können, obwohl sie es gewünscht hätten. Zu
anderen haben wir nie Vertrauen aufbauen können. Vielen haben wir
nach bestem Wissen versucht zu helfen, mit allen uns zur Verfügung
stehenden Mitteln. Aber selbst die beste Beratung ist sinnlos, wenn
die Ablehnung schon feststeht, bevor der Antrag überhaupt gestellt
ist. Wir haben mit dieser Dokumentation versucht, Antworten anzudeuten, wie es dazu kommen konnte, warum ein Erfolg unserer Arbeit
kaum sichtbar ist.
Vielen, die die Geflüchteten und uns unterstützt haben, ist Dank zu
sagen. Vor allem AnwältInnen und MedizinerInnen, aber auch viele andere Menschen haben in großartiger Weise Solidarität bewiesen, Zeit
und Energie aufgebracht und die Arbeit des Beratungsteams damit
maßgeblich unterstützt. Stellvertretend für alle sei Thea Jordan und
Jürgen Hölzinger gedankt, die als ÄrztInnen ehrenamtlich und unermüdlich die Menschen in der Gürtelstraße versorgt haben - und noch
immer versorgen - und auch für uns immer ein offenes Ohr und ein
gutes Wort hatten.
Dank gebührt aber vor allem den Geflüchteten selbst:
Dank an Richard, für Dein Vertrauen, Dank an Jimoh, für den Löwen,
Dank an Rhissa, für die Ehrlichkeit Deiner Wut, Dank an Valentine, der
das Essen nicht wollte, Dank an Asif, für die Freude mit Deinen Freunden, Dank an Saidou, für Deine Ruhe und Dein Lächeln, Dank an
Anwar, für Dein Essen, Dank an Kelvin, für Dein Gemecker und das
Gegenteil, Dank an Baba, für Deine Geduld, Dank an Abdoul, für Dein
Misstrauen, das dann doch Vertrauen wurde, Dank an Ibrahim, für
Deine Würde, auch als es nicht mehr weiterging, Dank an Rasheed,
für Deinen Willen wieder auf die Beine zu kommen… Dank an Euch
für alles, was wir mit Euch lernen konnten (sehr viel!), für Euren Respekt, für Eure Geduld mit uns, für Eure Geschichten, für Euer Vertrauen,
für Euren Willen, für Eure Solidarität, für Euer aufrechtes Ringen um
würdigen Platz in der Zukunft.
Wir haben eine Vorstellung davon bekommen, wie schwierig Eure Lage
ist und wünschen Euch ein erfolgreiches Gelingen für ein Leben in
unserer Stadt!
Im Namen des Beratungsteams
Cecilia und Katharina
22
Beratung
der Geflüchteten vom Oranienplatz 26 Mobile
Kapitelthema Seitenthema
Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Kapitelthema Fluchtgeschichte Seitenthema 27
23
Fluchtgeschichte
Fluchtgeschichte
Ich wurde 1985 einem Land südlich der Sahara geboren und habe
dort bis zum Jahr 2010 gelebt und gearbeitet. Ich habe dort eine
Ausbildung als Zweiradmechaniker gemacht und eine eigene Werk-
statt betrieben. Um ein ausreichendes und regelmässiges Einkommen
zu erhalten und so auch für meine Familie, insbesondere meinen
Sohn sorgen zu können, habe ich eine Ausbildung in der Gartenpflege
gemacht und dann eine Stelle bei dem Sohn des früheren Präsidenten
angetreten. Ich war als Gärtner in seinem Privathaus tätig. Dort habe
ich mehrere Jahre lang gearbeitet.
Mein Arbeitgeber war im Streit mit einem Konkurrenten, es gab Un-
ruhen. Wegen dieser politischen Differenzen drangen bewaffnete
Personen in das Wohngebäude meines Arbeitgebers ein. Zwei meiner
Kollegen wurden dabei angeschossen, andere wurden entführt. Nun
wurden alle Angestellten und Anhänger gesucht. Ich bin nicht wieder
zur Arbeit gegangen, stattdessen brachte ich meinen Sohn und meine
Frau in das Dorf zu meinen Eltern. Dann bin ich nach Niger ausgereist
und weiter dann nach Libyen gefahren, nach Tripolis. Als die die
Rebellion gegen Gaddafi begann, wurde ich auf der Straße verhaftet.
Ich wurde verdächtigt, Soldat von Gaddafi zu sein. Ich trage im
Gesicht Markierungen (Skarifizierungen) meines Volkes und wurde
daher sofort als nicht-lybischer Schwarzer erkannt.
Wir verbrachten ungefähr sechs Monate in einem Gefängnis und
wurden dann entlassen. Ein paar Monate lang haben wir uns mit
Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, dann wurden wir erneut verhaftet,
weil wir keine gültigen Papiere zeigen konnten. Wir verbrachten
mehrere Monate in einer Art Polizeiwache, es war ein Haus mit vielen
Zimmern, vor den Fenstern waren Gitter, in jedem Zimmer waren
etwa acht bis zehn Gefangene untergebracht, wir waren acht. Es gab
nur alte Matratzen auf dem Boden. Wir bekamen jeden Tag ein langes
Brot und eine Dose Sardinen zu essen, jeden Tag dasselbe, sonst
gab es nichts. Wir mussten oft arbeiten, auf dem Bau, wir mussten
Sand, Steine und Zement tragen und ähnliches, schwere Arbeit. Aber
wenn wir arbeiteten, dann bekamen wir richtiges Essen, mit Reis und
Sauce. Bei der Arbeit wurden wir ständig bewacht, ein oder mehrere
Soldaten saßen mit ihrem Gewehr neben uns und beobachteten uns
ständig. Wir wurden beschimpft und auch geschlagen. Wer nicht
arbeiten wollte, wurde geschlagen. Wir wurden geohrfeigt und mit
den Füssen getreten, auch mit dem Gürtel der Soldaten wurden wir
geschlagen. Manchmal war ich angekettet, ich habe Narben davon
am Handgelenk. Ich habe auch Narben auf dem Rücken und am Knie von den Schlägen. Wir wurden gedemütigt, ich kann nicht sagen,
was noch alles geschehen ist. Ich weiss nicht, wie lange wir dort
waren, mehrere Monate. Später wurde ich an einem anderen Ort
ungefähr zwei Wochen lang festgehalten, mit vielen anderen Menschen zusammen. Man sagte, man würde uns in ein anderes Land
bringen. In einer Nacht wurden wir zum Wasser gebracht. Wir waren
viele Menschen, vielleicht 250. Es waren Menschen aus vielen
Ländern, Männer und Frauen, auch Kinder und schwangere Frauen
waren dabei. Wir mussten auf ein grosses Schiff und wurden
weggebracht, nach Lampedusa. Vier Tage hat die Fahrt gedauert. Wir bekamen Kekse zu essen.
Ich kam in das Lager in Mineo auf Sizilien. Das ist ein sehr großes
Lager, wir waren sicher mehr als Tausend Geflüchtete dort. Es ist
eines der größten Lager, die es in Italien und Europa gibt. Es waren
dort schlimme Zustände. Wir waren in Häusern, die einmal für
Amerikaner gebaut worden waren. Wir waren acht oder zehn
Personen in einem Zimmer, es gab eine Küche. Das Essen im Lager
war so, dass man es kaum essen konnte. Es gab jeden Tag Reis,
jeden Tag, er war meistens gar nicht fertig gekocht, immer Reis mit
einer Sauce, die man wirklich nicht essen konnte. Ich glaube, die
Leute wollten richtig kochen, aber wir waren viel zu viele, für so viele
Menschen konnten sie nicht kochen. Wir bekamen 2,50 Euro am Tag
(„two and a half“). Davon haben wir dann z.B. Tomaten gekauft und
eine Sauce gemacht und den Reis fertig gekocht, damit wir etwas
Richtiges zu essen hatten. Während meiner Anwesenheit dort in
Mineo gab es mehrmals Rebellionen der Geflüchteten, weil die
Bedingungen dort so katastrophal waren. Wir haben gewartet,
konnten nichts tun. Der nächste Ort ist mehrere Kilometer weit weg.
Auf der Überfahrt nach Lampedusa war ich krank geworden. Auf
Lampedusa wurde ich untersucht und bekam Tabletten, ich hatte
sehr starke Schmerzen, ich konnte nicht sitzen und hatte Fieber. Ich
wurde in der Krankenstation untersucht und eine Operation wurde
angeraten. Stattdessen bekam ich aber Medikamente, allerdings
auch das nicht immer, oft gab es gar keine. Es war sehr mühsam,
überhaupt welche zu erhalten. Und manchmal wurde die für eine
Person bestimmte Dosis auf zwei Personen aufgeteilt, weil es nicht
mehr gab, der Krankenschwester tat das auch leid, aber sie hatte
nicht mehr Medikamente.
Ich hatte die ganze Zeit über starke Schmerzen und konnte nichts
tun, meistens habe ich nur im Zimmer gelegen, ich habe mich sehr
schlecht gefühlt. Ich war sehr niedergeschlagen und hatte große
Angst, weil ich nicht wusste, was aus mir werden würde. Ich konnte
nicht zum Unterricht und auch sonst nichts tun, so war es viele
Monate. Oft war ich so verzweifelt, dass ich daran gedacht habe, mir
das Leben zu nehmen. Erst nach mehr als fünf Monaten, im September 2013, wurde die Operation durchgeführt. Die Operation und die
Nachsorge waren aber sehr unzureichend. Ich bekam nur ein paar
Tage lang Tabletten, dann gab es keine mehr, alle. So wurde schon
bald, ich glaube in November 2013, der Bedarf für eine weitere
Operation diagnostiziert. Anfang 2014 habe ich dann meine Papiere
bekommen. Da musste ich dann aus dem Lager, innerhalb von drei
Tagen.
Jetzt war ich plötzlich komplett auf mich gestellt. Mir wurde keinerlei
Schutz oder Unterstützung zuteil, weder erhielt ich eine Unterkunft,
noch Lebensmittel oder finanzielle Unterstützung, geschweige denn
irgendeine medizinische Versorgung oder die dringend notwendige
Operation. Arbeit fand ich nicht. Ich kann ja auch kein Italienisch. Ich
lebte von Almosen, dafür musste ich Menschen auf der Straße irgend-
wie darum bitten, an manchen Tagen habe ich fast nichts gegessen.
Wozu geben die Italiener uns dieses Papier, diese Plastikkarte? Zwei
Wochen lang schlief ich nur auf der Straße, dann half mir ein Mann in
einer Kirche, ich durfte auch bei ihm übernachten. Ich versuchte vor
allem, medizinische Hilfe zu erhalten, damit die dringend erforderliche
Operation durchgeführt wurde, mir ging es sehr schlecht. Mir wurde
allerdings mitgeteilt, dass dies nur mit einem Papier der Krankenschwester des Lagers möglich sei. Dieses Papier wurde mir jedoch
verweigert, da ich nun nicht mehr Bewohner des Camps war.
Anderweitige Behandlung wurde mir verwehrt, bzw. es gab keinerlei
Unterstützung dafür, diese zu finden. Ich war sehr verzweifelt, hatte
große Angst um mein Leben.
Da ich keinerlei Unterstützung oder medizinische Versorgung erhielt
und es keinen anderen Ausweg gab, half mir der Mann, der mich bei
sich hatte übernachten lassen, ein Ticket zu kaufen und ich flog im
Februar 2014 nach Berlin. Ich wollte einen Freund suchen, von dem
ich wusste, dass er in Deutschland war, um zu sehen, ob er mir
helfen konnte. In Berlin habe ich mich den Flüchtlingen auf dem
Oranienplatz angeschlossen.
Im April 2014 wurde ich im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin
operiert. Mir geht es nicht gut. Ich habe nach wie vor Selbstmord-
gedanken aufgrund meiner fragilen Gesundheit und weil in meinem
Leben so viele Dinge geschehen sind, dass ich ganz verwirrt bin. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren und muss ständig an
die Vergangenheit denken. Nachts kann ich nicht schlafen und wenn,
dann habe ich oft schlimme Träume. Ich will nicht wieder auf der
Straße leben. Aber auch wenn ich heute nicht weiß, wohin mein
Leben führen wird und mich noch oft antriebslos, hilflos und durcheinander fühle, möchte ich doch mein Leben wieder selbst in die
Hände nehmen.
Es war nie mein Plan nach Europa zu kommen, aber die Umstände
haben es so gewollt und mich hierher gebracht. In meinem Heimatland konnte ich nicht leben, in Libyen nicht und in Italien auch nicht
und jetzt habe ich endlich wieder eine Chance, mein Leben wieder
auf eine Bahn zu bringen. Neben der Therapie mache ich jetzt auch
einen intensiven Deutschkurs, vier Mal in der Woche, das motiviert
mich sehr. Ich habe auch schon einige Menschen kennengelernt, zu
denen ich Vertrauen haben kann. Und wenn ich auch noch arbeiten
und wieder für mich selber sorgen könnte, ja dann denke ich, dass
das gehen könnte mit meinem Leben.
24
Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Endnoten 25
„Ich saß in einer Runde, jeder
stellte sich vor: der eine war
Krankenpfleger, eine Frau Ärztin,
eine andere Sozialarbeiterin, ich
- der Flüchtling. Das war nicht
gut, Flüchtling ist doch kein
Beruf. Wie würden Sie sich
fühlen?“
Geflüchteter
„Manche Leute behandeln die
Geflüchteten sehr von oben
herab. Sie sollen doch bitte
nehmen, was man ihnen
anbietet! Wir haben z.B. einen
Fahrradaufruf gemacht. Manche
Leute waren sauer, weil wir ihre
Fahrradleichen abgelehnt
haben. Die Geflüchteten sollen
nehmen, was wir nicht mehr
haben wollen, damit wir uns gut
und großzügig fühlen können
und dann sollen sie auch noch
brav „danke“ sagen.“
Ehrenamtlicher Berater
„Was bleibt von einem
Menschen, der nichts mehr hat:
Keine Heimat, keine Familie,
keine Freunde, keine Wohnung,
keinen Besitz, kein Vertrauen,
keine Arbeit, keine Papiere,
keine Perspektive: es bleibt nur
der Mensch mit seiner Würde.
Ein hohes Maß an Würde haben
die Flüchtlinge vom Oranienplatz
sich bewahrt, den wenigsten
Deutschen wäre das gelungen.
Ich bin beeindruckt von der
Stärke dieser Menschen, viel
können wir von ihnen lernen.“
Arzt
„Innensenator Henkel: Ist er
nicht selbst aus der DDR in ein
besseres Leben geflohen? Hat er
nicht auch erwartet, im anderen
Deutschland willkommen zu sein
und Hilfe zu erlangen? Ist das
alles wirklich nur eine Frage des
Reisepasses oder der
Hautfarbe?“
Berliner Bürgerin
„In der Presse stand zu lesen,
die Flüchtlinge würden den
deutschen Staat „erpressen“.
Auch der Senator Henkel soll so
etwas gesagt haben. Erpressung ist eine Straftat. Auch die
ersten Frauen, die studieren
oder gar wählen wollten, waren
also Straftäterinnen? Auch die
Schwarze Rosa Parks, die ihren
Platz im Bus nicht einer Weißen
freimachen wollte, war also eine
Straftäterin? Die Französische
Revolution – das Werk von
Straftätern? Streikende, die
bessere Arbeitsbedingungen
fordern – alles Straftäter? Es
gibt doch einen Unterschied
zwischen einer Straftat und
politischem Kampf!“
Endnoten
1
Dublin II und Dublin III: Europäische Verordnungen, nach denen ein Geflüchteter in
dem Land Schutz zu suchen hat, in dem er angekommen ist.
16
Der Protest der Flüchtlinge wurde durch den Selbstmord eines iranischen
Flüchtlings in einer bayerischen Gemeinschaftsunterkunft ausgelöst.
17
2
Die meisten Geflüchteten verliessen die Gerhart-Hauptmann-Schule, in der
zeitweise schätzungsweise 200 Geflüchtete lebten, im Juni 2014 unter massiver
Polizeipräsenz. Rund 40 Geflüchtete weigerten sich, das Gebäude zu verlassen.
Nach Verhandlungn durften sie bis auf weiteres in der Schule verbleiben.
3
4
Namen aus datenschutz-rechtlichen Gründen geändert.
Der Begriff “Flüchtling” wird hier wie auch an anderen Stelle nicht im juristischen
Sinne verwendet (danach ist “Flüchtling” nur, wer als solcher anerkannt wurde),
sondern im weiteren Sinne einer “Person, die geflohen ist”.
5
Bis zum 31. März 2014 unterzeichneten dann noch vier weitere Geflüchtete das
Einigungspapier.
Dies geschah unter grosser Polizeipräsenz. Filmsequenzen von der Räumung
können eingesehen werden unter https://www.youtube.com/watch?v=x2iwR47qYcU.
Dabei wird auch sehr deutlich, dass sich die Bewohner nicht einig waren.
Offener Brief von Berliner ÄrztInnen an den ehemaligen Regierenden Bürgermeister
Wowereit und Sozialsenator Czaja vom 22.06.2014, abrufbar unter: http://www.fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/OffenerBrief_
medVersorgung.pdf.
18
19
Flüchtlingsrat Berlin, Presseerklärung vom 16.07.14: Senat verweigert medizinische Versorung für Oranienplatz-Flüchtlinge, abrufbar unter: http://www.
fluechtlingsrat-berlin.de/print_pe2.php?post_id=683.
20
Diskussionsbeitrag
Asylbewerber können sich ihren Wohnort nicht aussuchen, sondern werden nach
dem sog. “Königsteiner Schlüssel” auf die Bundesländer verteilt, unabhängig davon,
ob sie an anderen Orten bereits diverse Anbindungen haben.
6
7
Ultimatum des Senators für Inneres und Sport vom 26.11.2013, unter http://www.
berlin.de/sen/inneres/aktuelles/artikel.55226.php
8
Pressemitteilung des Senators für Inneres und Sport vom 17.12.2013 unter http://
www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2013/pressemitteilung.59088.
php
Andreas Fischer-Lescano und Matthias Lehnert: „Rechtliche Situation der
Flüchtlinge vom Oranienplatz - Gutachten vor dem Hintergrund des „Einigungspapiers Oranienplatz“ und des Umgangs mit den Personen und dem Protestcamp
durch das Land Berlin“, abrufbar unter: http://www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/
themen/auslaender_asylrecht/140618_Rechtliche_Situation_der_Fluechtlinge_vom_
Oranienplatz.pdf. S. 11.
9
„Im Libanon ist mittlerweile
jeder vierte ein Flüchtling. Der
Libanon ist halb so groß wie
Hessen, hat vier Millionen
Einwohner. Mittlerweile leben
dort über eine Million Flüchtlinge. In Berlin schafft man es
nicht, gerade mal 500 Menschen vom Oranienplatz eine
Aufenthaltsperspektive zu
ermöglichen“
Unterstützer
10
Gutachten Fischer-Lescano S. 11f.
Pressemitteilung des Flüchtlingsrates vom 16.4.2014 unter http://www.fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/BilanzRaeumung.pdf.
11
Siehe TAZ vom 12.5.2014 unter http://www.taz.de/!134739/, Pressemitteilung des
Republikanischen Anwaltsvereins vom 22.9.2014 unter http://www.rav.de/
publikationen/mitteilungen/mitteilung/senatorin-kolat-schafft-klarheit-371/.
12
13
Gutachten Fischer-Lescano S. 12.
Zum Teil waren diese allerdings auch durch das Land Berlin nicht erfüllbar, da sie in
die Zuständigkeit des Bundes oder der EU fallen.
14
15
Dazu die Pressemitteilung des Flüchtlingsrates vom 16.4.2014 unter http://www.
fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/BilanzRaeumung.pdf; ebenso Berliner
Zeitung vom 22.3.2014 unter http://www.berliner-zeitung.de/berlin/fluechtlinge-vomoranienplatz-fluechtlingsrat-fordert-transparenz-vom-senat,10809148,26627904.
html. Zum Zeit- und Erfolgsdruck auch http://www.taz.de/!134739/.
Siehe Gutachten Fischer-Lescano
Heiser, Thomas; Gürgen, Malene: Berliner Senat betrügt O-Platz Flüchtlinge. In:
taz, 1.9.2014, abrufbar unter: http://www.taz.de/!145209/.
21
22
Vgl. Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 4. 11.2014 Az. 24 L 293.14.,
abrufbar unter; http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/
portal/t/279b/bs/10/page/sammlung.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&
js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=yes&do
c.id=JURE140017996&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint.
Kapitelthema 31
Mobile Beratung der Geflüchteten vom
Oranienplatz Seitenthema Impressum 27
Impressum
Herausgeber
Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V.
Wilhelmstr. 115
10963 Berlin
Tel: (030) 69 03 82 44
E-Mail: geschaeftsstelle@
diakonie-stadtmitte.de
Das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte ist auf
Spenden angewiesen, um weiterhin Geflüchtete
in Berlin unterstützen zu können.
Spendenkonto
Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V.
KD-BANK | BLZ 350 601 90 | Konto-Nr. 155 798 30 62
IBAN DE97 3506 0190 1557 9830 62 | BIC GENODEF1DKD
Texte und Interviews
Katharina Müller
Cecilia Juretzka
Evelyn Gülzow
Geflüchteter Michael
Bashir Zakarayau
Dr. Thea Jordan
Berenice Böhlo
Marita Leßny
Peter Storck
Fotos mit freundlicher
Genehmigung von:
Medibüro-
Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin
Anke Nehrig
Taina Gärtner
Titelbild
und Fotos Seite 17,19, 20
Florian Boillot
www.florianboillot.com
www.diakonie-stadtmtte.de