Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V. Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Eine Dokumentation April - Dezember 2014 Ein Projekt des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e.V. Inhalt 1 Vorwort 3 5 Flüchtlingscamp Oranienplatz Verhandlungsprozess 7 7 9 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzungsschwierigkeiten Beratungszeit 19 Aus der Sicht der Kirche... 21 Danksagung 22 Fluchtgeschichte 25 Endnoten 27 Impressum Die vorliegende Dokumentation widmet sich hauptsächlich der Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz von April bis September 2014 aus der Sicht des Beratungsteams des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte. Sie erhebt selbstverständlich keinen Anspruch darauf, alle Perspektiven auf die Flüchtlingsproteste am Oranienplatz vollständig zu erfassen. Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Vorwort 1 Für Ibrahim � Rasheed � Baderdin � Ahmed � Saidou � Jimoh � Travis � Suleman � Youssif � Adam � Ali Bashir � Mohammad � Gebril � Alfa � Mamoudou � Boubacar � Sunday � Lucky � Mohamed � Abubakar � Bonbakary � Awali Alpha � Isaak Ahmed � Hassan Ali Adil � Jibril � Simon François � Osman � Bojie � Kali � David � Moammed � Augustine � Alex � Lucky � Issa � Mohammed � Idriss � Abdul Wahab � Vorwort Hoffnung - war das große Zauberwort für alle Beteiligten am Oranienplatz-Prozess. Sissoko � Youba � Mohammed � Mohamed � Taher � Sani � Mamouto � Ali � Heiri � � Arbeits- und Integrationssenatorin Dilek Kolat hatte gehofft, durch die Vereinbarung mit den Geflüchteten politische Lösungen für die Geflüchteten zu erreichen. Idwal � Bogoma Ali � Oumar Ali � Sef � Dickson � Hike � Djibril � Ibrahim � Saidou � � Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hatte auf eine friedliche Lösung für die Beendigung der Besetzung des Oranienplatzes gehofft. Edris � Yassin � Samundeen � Mohamed � Garba � Yahiya � Ibrahim � Abdullah � � Kirche, Diakonie und Caritas hatten gehofft, durch Vermittlung zwischen Politik und Geflüchteten eine humanitäre Lösung zu erreichen. Peter � Cajetan � Mohamed � Kokou � Mohammad � Abdul � Dembo � Oumar � Idriss � Mohammed � Baba � Jonathan � Ali � John � Kelvin � Issa � Mouhamed � Oumar � Innocent � Moctar � Amir � Valentine � John � Anwar � Abdoul � Yaya � Mohamed � Richard � Issa � Sidi � Soumaila � Adam Oumar � Harun � Youssouf � Moussa � Issa � Ali � Mamane Sani � Asif � Issaka � Blesmond � Appiah � Shittu � Ibrahim � Moussa � Yaya � Ali � Oumar � Alassane � Kelly � Joseph � Ali � Samuel � Bright � Jude � Ehimen � McCarthy � Mouftau � Haroune � Konne � Hassan � Thomas � Maiga � Isaac � Innocent � Robert � Daré � Majeed � Sidibe � Paul � Moussa � Madou � Mahamadou � Issah � Aboubakar � Destiny � Samake � Joy � Malik � Vincent � Michael � Ibra � Isaac � Sholly � Nuhu � Prince Kwesi � Victor � Vasco � Alil � Adam � Annabelle � Paul � Abbas � Ibrahim � Kofi � Mikail � Shakina � Esmond � Charles � Brahim und alle anderen Geflüchteten vom Oranienplatz. � Die BeraterInnen hatten gehofft, durch kompetenten Sachverstand und juristische Unterstützung individuelle Lösungen für einen Auf- enthaltsstatus in Berlin, Arbeitsmöglichkeiten und Teilhabe an der Gesellschaft zu erreichen. � Die Geflüchteten hatten nach langer Zeit des Wartens auf eine Lösung gehofft - hier in der Stadt zu bleiben und zu arbeiten. Keiner von den Genannten ist davon ausgegangen, dass alle Hoffnungen erfüllt werden. Jeder der Beteiligten wusste, es werde Zugeständnisse geben müssen und nicht für jeden der Geflüchteten werden alle Forderungen erfüllt werden. Ein aufwändiger Prozess hat den Versuch, die Vereinbarung umzusetzen, begleitet. Die Geflüchteten gaben den Schutz ihrer Anonymität auf und der Beratungsprozess begann, begleitet von wöchentlichen Sitzungen mit der Senatsverwaltung für Inneres, der Ausländerbehörde, dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, der Migrationsbeauftragen, dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg und VertreterInnen aus Diakonie und Caritas. Nach Anfangsschwierigkeiten erhielten fast alle Geflüchteten eine Unterkunft und finanzielle Unterstützung für den täglichen Lebensunterhalt bis zur aufenthaltsrechtlichen Klärung. Aber weder in der praktischen Zusammenarbeit zwischen Geflüchteten (begleitet von Rechts- anwältInnen und BeraterInnen) und der Ausländerbehörde noch in den wöchentlichen Sitzungen gab es eine erfolgreiche Zusammenarbeit zur Umsetzung der Vereinbarung. Es folgten innerhalb kürzester Zeit eine Ablehnung nach der anderen der gestellten Anträge. Einwände von Diakonie, Caritas und der Migrationsbeauftragten gegen das Hauruckverfahren der Ausländerbehörde und den mangelnden Einsatz für humanitäre Lösungen wurden zurückgewiesen. Die Hoffnung der Geflüchteten auf erfolgreich beendete Verfahren schwand mit jedem Ablehnungsbescheid und dem damit verbundenem Verlust der Unterkunft. Es folgte ein tiefes Misstrauen der Geflüchteten gegenüber der Politik und den Behörden. Im September 2014 endete ein verzweifelter Versuch, durch die Dachbesetzung der Unterkunft Gürtelstraße öffentlich auf die prekäre Situation der Geflüchteten aufmerksam zu machen und zum letzten Mal auf humanitäre Hilfe zu hoffen. Bis heute leben ca. 120 Geflüchtete vom Oranienplatz und der GerhartHauptmann-Schule in der Obhut von Kirche und Diakonie und werden von vielen ehrenamtlichen HelferInnen begleitet und durch Spenden unterstützt. Parallel laufen erneut Verhandlungen zwischen Kirche und Senat, für eine humanitäre Lösung für diese Gruppe von Menschen, die nicht nur einmal auf ihrem Weg vom afrikanischen Kontinent in unsere Stadt enttäuscht und in ihrer Würde verletzt wurden. Vertrauen wieder aufzubauen, sowohl für die Geflüchteten vom Oranienplatz, als auch für die wenigen immer noch in der Gerhart-Hauptmann-Schule lebenden BewohnerInnen ist ein mühseliges Unterfangen. Die Verhandlungen dürfen kein zweites Mal scheitern. Wir brauchen engagierte und selbstbewusste PolitikerInnen, die die Kreativität und den Mut haben, Ermessensspielräume zu nutzen und humanitäre Lösungen durchzusetzen. Danke an alle, die noch immer die Hoffnung nicht verloren haben. Evelyn Gülzow Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte e.V. 2 Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Flüchtlingscamp Oranienplatz 3 Flüchtlingscamp Oranienplatz Flüchtlingscamp Oranienplatz Die Geschichte von Michael* Anfang 2013 bin ich auf den Oranienplatz gekommen. Ich stamme aus einem Land südlich der Sahara, aus dem ich im Jahr 2000 fliehen musste. Ich habe elf Jahre lang in Libyen gearbeitet, seit dem Jahr 2000. Um nach Libyen zu kommen, bin ich durch die Wüste gegangen, ich habe überlebt. In Libyen ist es mir gut gegangen. Ich bin Schweisser von Beruf, ich habe sehr gut verdient, ich hatte Papiere und viel Ansehen. Ich war in verschiedenen Orten, zuletzt in der Nähe der tunesischen Grenze. Im Jahr 2011 begann der Krieg in Libyen. Ich habe zu der Zeit eine gute Arbeit gehabt, mein Arbeitsplatz wurde bombardiert, alles war zerstört, alles. Ich sollte nach Benghasi, aber dort wollte ich nicht hin, ich hatte gehört, dass dort Krieg ist. Ich bin nach Tripolis gegangen. Wir Schwarze wurden nun verfolgt, geschlagen, viele sogar getötet. Viele Menschen wurden in Camps versammelt, auch ich wurde in ein Camp gebracht, manche waren schon seit längerer Zeit dort. Gaddafi hatte gesagt, Europa wollte mit den Bomben Afrikas Plan zerstören, also müssten die Schwarzen nach Europa. Soldaten brachten uns auf ein kleines Boot, wer sich weigerte einzusteigen, wurde geschlagen, wir hatten keine Wahl. Wir waren etwa 220 Personen, das Boot war völlig überfüllt. Es war eigentlich ein offenes Boot, aber es waren Decksplanken eingebaut worden, so dass unten Leute waren und oben auch, wir saßen mit angezogenen Knien, damit alle Platz hatten. Das Boot brachte uns nach Lampedusa, wir durften aber nicht an Land gehen. Das Boot fuhr weiter, wir schrieen, weil wir nichts zu essen und zu trinken hatten und an Land gehen wollten, aber das Boot fuhr weiter, bis nach Sizilien, drei Tage lang. Auch Libyer waren auf dem Boot, Familien mit kleinen Kindern, Schwangere, es gab nichts zu essen. Auf Sizilien war ich im Camp, lange, in der Nähe von Agrigent, das war schrecklich. Es war wie im Gefängnis, ich konnte es nicht ertragen. Ich habe am Ende einen Aufenthaltstitel für drei Jahre bekommen, aber ich konnte nicht bleiben, es gab keine Arbeit. In Italien gibt es keine Arbeit für uns, Tausende sind ohne Arbeit und jeden Tag kommen mehr Menschen dort an. Ich musste das Lager verlassen, als ich Papiere erhalten hatte. Die Leute haben gesagt: “go to Germany” und so bin ich nach Deutschland gegangen. Ich kam nach Berlin auf den Oranienplatz. Dort waren Geflüchtete wie wir: es waren die Leute, die den Marsch aus Würzburg gemacht hatten. Wir lebten dann dort mit ihnen in den Zelten. Sie waren Asylbewerber; wIr konnten kein Asyl beantragen wegen Dublin II1 , wir wollten einen humanitären Aufenthaltstitel und arbeiten. Wir waren immer dort auf dem Platz, 24 Stunden am Tag. Viele Leute kamen, es war schwierig dort zu schlafen und zu leben. Wir hatten oft keine Heizung, kein Gas, es war sehr kalt, wir hatten kein regelmässsiges Essen, keine Möglichkeit zu duschen, es waren Ratten dort. Es war sehr hart. Wir hätten das wahrscheinlich nicht geschafft ohne die Hilfe von Menschen wie Taina. Lampedusa-Flüchtlinge aus 2011 sind anders als andere Geflüchtete: wir wollten nicht nach Europa kommen. Wir wurden gebracht, gezwungen durch die Nato-Bomben in Nordafrika 2011. Ich hatte einen Freund in Libyen, der wollte nach Europa gehen, auf der Überfahrt ist er gestorben, ich war schockiert, ich wollte das nicht. Wozu auch? Es ging mir gut in Libyen. Vorher war mein Leben gut. Nun ist es nicht mehr gut. Manchmal sehe ich die Leute vor mir, mit denen ich auf dem Boot war, manchmal fühle ich, wie das Schiff schwankt. Ich warte. Ich möchte arbeiten, ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen, ich kann nicht nur warten, mein ganzes Leben warten. Das gilt für alle vom Oranienplatz, die meisten von uns sind noch immer hier, viele schlafen auf der Straße irgendwo, auch nach der Vereinbarung zwischen den Geflüchteten vom Oranienplatz und dem Senat. * Name geändert Dem Camp auf dem Oranienplatz war ein im September 2012 begonnener Marsch von Geflüchteten und FlüchtlingsaktivistInnen von Würzburg nach Berlin vorausgegangen. Die TeilnehmerInnen wollten ihren Protest, der sich vor allem gegen die Residenzpflicht, gegen Sammelunterkünfte („Lager“), das Arbeitsverbot und gegen Abschiebungen richtete, in die Hauptstadt tragen2. Im Oktober erreichte der Protestmarsch Berlin. Die Geflüchteten errichteten ein Protestcamp auf dem Oranienplatz in Kreuzberg, einige von ihnen traten in einen zehntägigen Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor. Im Dezember 2012 wurde außerdem die leerstehende GerhartHauptmann-Schule in Kreuzberg besetzt3. Die Zusammensetzung des Flüchtlingscamps änderte sich im Laufe der Zeit immer wieder und der Protest weitete sich aus. Auf dem Platz lebten nun vor allem Menschen wie Michael4, sogenannte „LampedusaFlüchtlinge“5: junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren, die ursprünglich aufgrund politischer oder religiöser Konflikte oder aus wirtschaftlicher Not aus ihren Heimatländern südlich der Sahara geflohen waren und viele Jahre in Libyen gearbeitet hatten. Mit Ausbruch des Krieges in Libyen 2011 waren sie gezwungen worden, mit Booten auf die italienische Insel Lampedusa zu fliehen. In Italien erhielten die meisten von ihnen Aufenthaltspapiere. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit dort Arbeit und Unterkunft zu finden, sahen sie sich gezwungen, Italien zu verlassen. Ein Teil der Geflüchteten hatte auch in Deutschland Asyl beantragt und war dementsprechend einem anderen Bundesland als Berlin zugeteilt worden.6 18 Monate lang campierten und protestierten die verschiedenen Flüchtlingsgruppen auf dem Oranienplatz für Bewegungsfreiheit und Zugang zu Arbeit und Bildung und verbrachten dort auch den Winter 2012/2013. Die Meinungen in der Bevölkerung hinsichtlich des Camps waren geteilt: es gab einerseits Ablehnung wegen der Besetzung des Platzes, andererseits hielten viele die Forderungen der Geflüchteten für legitim und unterstützten sie. So wurde das Camp geduldet, obgleich die rechtliche Lage umstritten war und auch keine wirkliche Lösung in Sicht war. Die Berliner Behörden unternahmen lange Zeit nichts gegen das Camp und seine Bewohner. Im November 2013 jedoch forderte der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU), die zuständige Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) auf, das Camp bis Mitte Dezember 2013 räumen zu lassen.7 Der Bezirk entschloss sich jedoch, von einer Räumung des Platzes durch die Polizei abzusehen, woraufhin der Innensenator mit einer Räumung durch den Senat drohte.8 Im Januar 2014 entschied der Senat jedoch, von einer Räumung vorerst Abstand zu nehmen.9 Stattdessen beauftragte der Senat die Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen Dilek Kolat (SPD), Gespräche mit den Geflüchteten zu führen. Die sogenannte Residenzpflicht verpflichtet Asylbewerber und Geduldete, sich nur in dem von der zuständigen Behörde festgelegten Bereich aufzuhalten. Dies können die Grenzen eines Bundeslandes sein, manchmal nur die eines Regierungsbezirks. Die Residenzpflicht wurde zwar zum 1.01.2015 gelockert, so dass sie grundsätzlich nach drei Monaten enden soll. Da das Gesetz jedoch zahlreiche Ausnahmeregelungen vorsieht, werden vermutlich viele Geflüchtete nicht von der Lockerung profitieren. Seit November 2014 können Asylsuchende und Geduldete nach drei Monaten Aufenthalt eine Arbeitserlaubnis beantragen (vorher neun bzw. zwölf Monate). Danach besteht grundsätzlich ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang (bevorrechtigte Arbeitnehmer sind Deutsche, EU-Bürger und anerkannte Flüchtlinge). Nach 15 Monaten entfällt die Vorrangprüfung und nach 48 Monaten gibt es einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch diese Vorschriften enthalten Ausnahmeregelungen, so dass viele Geflüchtete trotz ihres längeren Aufenthalts in Deutschland nicht arbeiten dürfen. Flüchtlingscamp Flüchtlingscamp Oranienplatz Verhandlungsprozess 5 Interview mit Bashir Zakarayau Bashir Zakaryau aus Nigeria gehörte zur Delegation von Geflüchteten, die mit Senatorin Dilek Kolat verhandelt hat. Herr Zakaryau, Sie haben an den Verhandlungen zwischen den Geflüchteten und Frau Kolat teilgenommen. In dem „Agreement“, das ausgehandelt wurde, steht nicht viel Konkretes drin. Dennoch wurde es unterzeichnet, auch von einem Teil der Geflüchteten. Warum eigentlich? Uns wurde von Frau Kolat versprochen, dass der Senat alles tun würde, damit wir bleiben und arbeiten können, dass diejenigen, deren Verfahren in anderen Bundesländern laufen, nach Berlin umverteilt werden. Dass uns die Behörde von Frau Kolat mit allen Mitteln unter- stützen würde, bei der Ausländerbehörde, notfalls vor Gericht oder auch in der Härtefallkommission. Natürlich war immer klar, dass es nicht für alle eine positive Entscheidung geben würde, aber uns wurde zugesagt, dass 80% bleiben könnten. Aber niemand arbeitet! Wir wurden einfach weggeschickt. Wir wurden aus Italien weggeschickt, nun aus Deutschland. Wo sollen wir denn hin? Was haben die Flüchtlinge sich von der Vereinbarung mit dem Senat konkret erhofft? Viele haben gar nichts erwartet, sie haben nicht geglaubt, dass sich für uns etwas ändern würde. Aber andere haben auch gedacht, dass sich ihre Situation verbessern würde, jedenfalls ein wenig. Sie haben gedacht, dass wir Unterstützung bekommen würden, weil wir schließlich keine Kriminellen sind. Und was haben Sie persönlich von der Vereinbarung erwartet? Nicht viel. Aber ich dachte auch, dass wir vielleicht etwas erreichen können. Jeder einzelne hat sich angestrengt: wir haben deutsch gelernt, wir haben die Regeln hier beachtet, wir haben den Platz verlassen. Wir haben unsere Papiere gezeigt, unsere Geschichte erzählt, unsere Namen, alles, was wir hatten, haben wir auf den Tisch gelegt. Denn das ist alles, was wir haben. Das haben wir getan, weil wir Hilfe benötigen, nicht, damit man uns fortschickt oder sogar anklagt. Haben Sie die „Vereinbarung“ unterzeichnet? Ja natürlich. Wissen Sie, wir hatten gar keine Wahl. Wenn wir das nicht getan hätten, wäre der Oranienplatz doch von der Polizei ge- räumt worden, viele unserer Freunde wären zu Schaden gekommen, dieses Risiko konnten wir nicht eingehen. Außerdem wäre niemand mehr auf unserer Seite gewesen: alle hätten gesagt „Berlin bietet Euch Verhandlungen und Hilfe an und Ihr lehnt alles ab. Ihr seid selber schuld, wenn dann die Polizei kommt und räumt“. Wir mussten erst zeigen, wer sie sind, dass sie uns überhaupt nicht helfen wollten. Dass es keinerlei politischen Willen zur Unterstützung von Geflüchteten gibt. Die Vereinbarung war ja ihr Vorschlag, nicht unser Vorschlag - und den haben sie nicht eingehalten, sie haben auf der ganzen Linie versagt und uns sehr enttäuscht. Das ist jetzt allen klar. Und wie geht es jetzt für Sie weiter? Unser politischer Kampf geht weiter, uns bleibt gar nicht anderes übrig: wir können ja nirgendwo hin. Ja, viele von uns sind als Flüchtlinge in Italien anerkannt, aber sie sind hergekommen, weil es in Italien für sie keine Zukunft gibt, es gibt dort keine Arbeit, nur Obdachlosigkeit, das ist doch kein menschenwürdiges Leben! Also geht unser Kampf weiter, wir kämpfen weiter, er geht weiter so lange wir leben. Unser Kampf ist friedlich, anders geht es auch gar nicht: wenn wir Gewalt anwenden, wendet die Polizei auch Gewalt an. Unsere Bewegung ist stark, weil wir uns korrekt verhalten. Die meisten Geflüchteten vom Oranienplatz sind noch immer hier oder sie kommen wieder. Der Senat wollte eine Lösung für den Oranienplatz, aber wir wollten keine Lösung für den Oranienplatz, sondern für die Menschen vom Oranienplatz. Es gibt keine Lösung für den Oranienplatz, denn wir SIND der Oranienplatz. Es muss also weiter nach Lösungen für die Menschen gesucht werden. Viele von Ihnen haben Papiere in Italien. Wie Sie sagten, Sie und die anderen sind gekommen, weil Sie in Italien keine Zukunft hatten. Warum führen sie ihren politischen Kampf nicht in Italien? Auch in Italien gibt es viele Proteste und politische Aktivitäten, um die Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Aber es ist klar, dass Italien sich nicht um so viele Menschen kümmern kann. Jeden Tag kommen Hunderte dort an. Und Deutschland ist ein starkes Land, das auch auf Italien Einfluss nehmen kann, das wollen wir erreichen. Außerdem gibt es Deutschland andere Probleme im Umgang mit Geflüchteten als in Italien, wie z.B. die Residenzpflicht, deshalb muss unser Protest auch in Deutschland stattfinden. Verstehen Sie, wir kämpfen nicht für die Lösung von einzelnen Fällen, unseren Fällen, sondern um die Verbesserung der Lage der Geflüchteten insgesamt. Verhandlungsprozess � Zugang zu Bildung Im Januar 2014 nahm Integrationssenatorin Dilek Kolat im Auftrag des Berliner Senats Gespräche mit einer Delegation von Geflüchteten des Protestcamps am Oranienplatz auf, um eine freiwillige Räumung des Oranienplatzes zu erwirken. Für die Geflüchteten sah es so aus, als hätten ihre politischen Forderungen endlich Gehör gefunden. An den intensiven Verhandlungen, die zwischen dem 13. Januar und dem 17. März 2014 unter der Leitung von Frau Kolat stattfanden, nahm auf Seiten der Geflüchteten eine Delegation von jeweils acht bis zehn Personen teil. Diese waren in einem selbstorganisierten Plenum gewählt worden und sollten die Gruppen der Geflüchteten mit jeweils unterschiedlichem Rechtsstatus widerspiegeln.10 Daneben nahmen der Flüchtlingsrat Berlin und die Rechtsanwältin Berenice Böhlo in beratender Funktion an den Verhandlungen teil. � Recht auf Arbeit Auf der Seite des Senates waren neben Frau Kolat auch die Integrationsbeauftragte Monika Lüke sowie die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John vom Paritätischen Wohlfahrtsverband beteiligt. Weder Innensenator Henkel noch Vertreter der ihm unterstehenden Ausländerbehörde nahmen unmittelbar an den Verhandlungen teil, obgleich wesentliche Teile des späteren „Einigungspapiers“ in ihren Zuständigkeitsbereich fielen. Die Delegation der Geflüchteten und der Flüchtlingsrat Berlin wiesen immer wieder auf die Notwendigkeit einer Beteiligung des Innensenats hin.11 Allerdings war Herr Henkel an der senatsinternen Abstimmung des späteren „Einigungspapiers“ beteiligt und soll auch die Endfassung des Textes mit Frau Kolat abgestimmt haben.12 Während es das Hauptziel des Senates war, die friedliche Räumung des Platzes zu erreichen, wurden von Seiten der Geflüchteten auch die oben genannten politischen Forderungen, die zur Bildung der Protestbewegung und des Camps geführt hatten, in die Verhandlungen getragen, insbesondere: � Abschaffung der Residenzpflicht � Abschaffung der Lagerpflicht � Abschaffung der Abschiebungen � Bleiberecht für alle im Rahmen einer Gruppenlösung (nach §23 AufenthG) � Recht auf EU-weite Freizügigkeit Geldleistungen, wie sie den Geflüchteten später durch das Land Berlin gewährt wurden, waren nicht Teil ihrer Forderungen – im Gegenteil, das Recht auf Arbeit gehörte zu den Kernanliegen der Delegation. Eine Gruppenlösung wurde von Seiten des Senats abgelehnt, stattdessen wurden Einzelfallprüfungen und die Beratung der einzelnen Geflüchteten angeboten.13 Die Verhandlungen hatten sich damit weit von den ursprünglichen Forderungen des Camps entfernt.14 Die Verhandlungen standen unter großem Zeit- und Erfolgsdruck, da die angedrohte polizeiliche Räumung des Oranienplatzes nach wie vor im Raum stand. Frau Kolat drängte daher auf eine rasche Einigung. Praktisch wichtige Detailfragen wurden nicht geklärt, obwohl dies von Seiten der Delegationsmitglieder und ihrer Berater immer wieder eingefordert wurde.15 Die Regelung der Einzelfragen sollte auf die Phase der Umsetzung verschoben werden. Darüberhinaus ließ Innensenator Frank Henkel die ursprüngliche Formulierung einer „wohlwollenden Prüfung“ der aufenthaltsrechtlichen Anträge der Geflüchteten durch die letztlich nichtssagenden Worte „umfassende Prüfung“ ersetzen. Am Ende der Verhandlungen stand ein „Einigungspapier“ mit zahlreichen eher ungenau und allgemein gehaltenen Formulierungen, verbindliche Zusagen enthielt es kaum. Dies hatte zur Folge, dass nur drei Mitglieder der Delegation die „Vereinbarung“ unterschrieben, in der Hoffnung, dass in der Umsetzungsphase positive Ergebnisse für sie erzielt werden könnten. Die anderen lehnten es mangels konkreter Zusagen ab.16 Am 18. März wurde das „Einigungspapier“ durch den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, Innensenator Frank Henkel und Integrationssenatorin Dilek Kolat auf einer gemeinsamen Pressekonferenz vorgestellt. Die Spaltung der Delegationsmitglieder spiegelte sich auch in der Haltung der BewohnerInnen des Camps wieder: während viele die Räumung befürworteten waren andere dagegen, den Platz als Ort des Protestes aufzugeben. Dennoch verließen die Geflüchteten am 8. April 2014 den Oranienplatz.17 Ein Teil von ihnen wurde zunächst in Sammelunterkünften in Friedrichshain, Marienfelde und im Wedding untergebracht. 6 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzungsschwierigkeiten 7 Umsetzungsschwierigkeiten Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ EINIGUNGSPAPIER ORANIENPLATZ 1. Wir sind uns darüber einig, dass die Bedingungen für schutzsuchende Flüchtlinge in Europa und in Deutschland verbessert werden müssen. 2. Der Oranienplatz bleibt als Informations- und Protestplattform für die Rechte von Flüchtlingen erhalten. Die Ausgestaltung wird durch die derzeitigen Bewohnerinnen und Bewohner und die UnterstützerInnen selbstbestimmt entschieden. Das Campieren auf dem Oranienplatz und damit die im Widerspruch zur genehmigungsfähigen rechtlichen Situation stehende Form des Protestes wird auf Dauer beendet. Die Flüchtlinge organisieren selbstständig den Abbau aller Zelte bzw. Unterkünfte bis auf das Info-Zelt und wirken darauf hin, diesen Zustand dauerhaft zu erhalten. 3. Die Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen unterstützt im Rahmen ihrer politischen Verantwortlichkeit die Kernanliegen der Flüchtlinge – insbesondere der verbesserte Zugang zum Arbeitsmarkt, eine dringend notwendige Reform von Dublin III sowie die Abschaffung der Residenzpflicht. Sie unterstützt die Flüchtlinge und UnterstützerInnen, ihre politischen Forderungen in die Gremien im Land Berlin, auf die Bundesebene und nach Europa zu tragen. 4. Auf Grundlage der von den Flüchtlingen erstellten und der Senatorin bereits in anonymisierter Form überreichten Liste erfolgt nach Abbau der Zelte am Oranienplatz gemäß Punkt 2 und nach dem Auszug der namentlich auf der Liste geführten Flüchtlinge aus der Gerhart-Hauptmann-Schule auf Antrag eine umfassende Prüfung der Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten (Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung, Anträge auf Umverteilung nach §51 AsylVfG, etc.). Der Nachweis des Auszuges aus der Schule muss erbracht werden. In diesem Sinne wird die Ausländerbehörde die Antragstellerinnen und Antragsteller während des Verfahrens beratend unterstützen. Die Übergabe der Namensliste wird von der Ausländerbehörde bestätigt. Die Vorsprache bei der Ausländerbehörde wird im Rahmen dieser Vereinbarung bestätigt. Die auf der Liste benannten Personen erhalten bei ihren Einzelverfahren Unterstützung durch den Unterstützungspool, der von den Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie sowie der Integrationsbeauftragten des Landes Berlin sichergestellt wird. Für die Zeit der Prüfung der jeweiligen Einzelfallverfahren bleibt die Abschiebung ausgesetzt. Bei Beantragung eines Aufenthaltstitels verbleiben sämtliche von einem anderen Schengenstaat ausgestellten gültigen Ausweisdokumente nach Fertigung beglaubigter Kopien bei den Antragstellerinnen und Antragstellern. Die Ausländerbehörde wird keine Ausreiseverweigerung aussprechen. 5. Die Flüchtlinge erhalten Unterstützung und Begleitung bei der Entwicklung ihrer beruflichen Perspektiven. Dazu gehören insbesondere der Zugang zu Deutschkursen, die Anerkennung ihrer beruflichen Kompetenzen und Beratungen zur beruflichen Entwicklung sowie der Zugang zur Berufsausbildung, zum Studium und zum Arbeitsmarkt. Gemeinsam mit der Caritas hatte das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte den Beratungsauftrag für die ehemals auf dem Protestcamp Oranienplatz lebenden Geflüchteten übernommen. Bereits am 9. April 2014 – einen Tag nach der Räumung des Oranienplatzes – begannen zwölf BeraterInnen unterschiedlicher Professionen in der Tätigkeit als SozialarbeiterInnen im Beratungsteam des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte mit der mobilen Flüchtlingsberatung. Grundlage für die Arbeit des Beratungsteams war das zwischen der Delegation der Geflüchteten und der Integrationssenatorin Dilek Kolat verhandelte „Einigungspapier Oranienplatz“. Das Beratungsteam war zur Unterstützung der TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung im Einzelfallverfahren eingesetzt. Ferner sollten die BeraterInnen bei der Entwicklung einer beruflichen Perspektive unterstützen und begleiten. Die Aufgabe des Beratungsteams war es, für die unter die Vereinbarung fallenden Menschen ein an ihren Bedürfnissen orientiertes Beratungsangebot bereitzustellen. Das Beratungsangebot beinhaltete die Einzelfallberatung zu aufenthaltsrechtlichen Fragen, zu gesundheitlichen und sozialen Problemen und die Unterstützung der Ratsuchenden bei der Entwicklung ihrer persönlichen Schul- und Berufsperspektiven. Die Hauptaufgabe lag in der Unterstützung der Menschen bei der Verbesserung ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation mit dem Ziel, eine Verbesserung der gesamten Lebenssituation zu erreichen und somit bei der Entwicklung einer Lebensperspektive unterstützend zu wirken. Hierfür arbeiteten die BeraterInnen der mobilen Flüchtlingsberatung je nach Einzelfall eng mit AnwältInnen, MedizinerInnen, Beratungsstellen für Aus- und Weiterbildung und zahlreichen flüchtlingssolidarischen Unterstützungsgruppen und Einzelpersonen zusammen. Sie fungierten dabei als VermittlerInnen zwischen den jeweiligen PraktikerInnen und KlientInnen. Das Beratungsteam des Diakonischen Werks war anfänglich in drei und später in zwei Berliner Flüchtlingsunterkünften und für kurze Zeit auch in der Gerhart-Hauptmann-Schule vor Ort und hatte über den gesamten Zeitraum eine Beratungsstelle in Kreuzberg. Im Beratungszeitraum haben zwölf bzw. später elf BeraterInnen über 200 Personen unterstützt. Die Beratungszeit war anfänglich auf sechs Monate angelegt mit einer Option auf Verlängerung. Umsetzungsschwierigkeiten Zwischen der Unterzeichnung des „Einigungspapiers“ und der Räumung des Oranienplatzes lagen etwa drei Wochen. Im Zuge der Verhandlungen waren viele Einzelfragen nicht geklärt worden, weshalb sich die Umsetzung der sogenannten Vereinbarung in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht als sehr schwierig gestaltete. Zu Beginn der Beratungszeit standen nicht genügend Schlafplätze zur Verfügung. Die beabsichtigte Registrierung gestaltete sich langwierig und ungeordnet und es gab Schwierigkeiten bei der Versorgung der Menschen. Bevor diese existentiellen Fragen nicht geklärt waren, war eine Beratung praktisch nicht möglich. Die BeraterInnen mussten einen Teil der Koordinierungsleistungen des Senats übernehmen und sahen sich immer wieder gezwungen, zwischen Senat und den enttäuschten und oft wütenden Menschen, die mehrfach damit drohten, den Oranienplatz erneut zu besetzen, zu vermitteln. Registrierung und Unterbringung Lange Zeit war völlig unklar, wer von den in die Beratung kommenden Menschen tatsächlich unter die mit dem Senat geschlossene Vereinbarung fiel. Ein Registrierungsverfahren sollte Klarheit bringen. 467 Personen standen auf einer Liste, die die Geflüchteten dem Berliner Senat übergeben hatten. Dabei war versäumt worden, zu klären, was mit denen geschehen sollte, die während der Erstellung der Liste nicht vor Ort waren. Es war auch nicht geklärt, wie die Personen, die auf der Liste standen, zu identifizieren waren. Aus Angst oder Misstrauen hatten nämlich nicht alle Menschen bei der Erstellung der Liste ihren richtigen Namen angegeben oder ihr Name wurde offenbar gar nicht erst in die Liste eingetragen, weshalb nicht alle Menschen, die zu den Registrierungen kamen auch als TeilnehmerIn der Vereinbarung registriert werden konnten. Personen, deren Namen sich auf der Liste wiederfanden, erhielten eine weiße Plastikkarte, die sie als TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung auswies und freiwillige Sozialleistungen in Anlehnung an das Asylbewerberleistungsgesetz. Sofern verfügbar bekamen sie einen Platz in einer vom Senat bereitgestellten Unterkunft. Für diejenigen, die trotz Karte nicht gleich einen offiziellen Schlafplatz bekamen, oder eben gar nicht auf der Liste standen, organisierten die BeraterInnen alternative Schlafplätze. Das gesamte Registrierungsverfahren zog sich über zwei Monate hin. Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 9 „Barfußsprechstunde“ Circa 100, vorwiegend nordafrikanische Geflüchtete haben nach Schließung des Lagers auf dem Oranienplatz in einem ehemaligen Hostel in der Friedrichshainer Gürtelstraße eine Bleibe gefunden. Da sie vom Senat zwar Unterkunft und Geldleistungen erhielten, aber weiterhin keine Krankenversicherung und keine reguläre medizinische Versorgung hatten, entschlossen wir uns im April 2014, dort einmal wöchentlich eine ärztliche Sprechstunde abzuhalten. Wir, das waren Ofelia Arias, eine Ärztin aus Mexiko, und ich, Thea Jordan, Ärztin aus Berlin. Die Bedingungen für die Sprechstunde waren äußerst spartanisch. Wir konnten für diese 2-3 Stunden das Zimmer der Sozialarbeiter im Keller nutzen, die sich dann in einem anderen Raum aufhalten mussten. Es gab dort nur einige Stühle, einen Schreibtisch, aber keine Liege, keine Waschgelegenheit. Die „Patienten“ mussten an der Treppe warten. Anfangs konnten die BetreuerInnen der Diakonie dolmetschen, später mussten wir allein mit Englisch zurechtkommen, Ofelia auch mit Spanisch. Mittels Händen und gutem Willen kam man mehr oder weniger gut zum Ziel. Benötigte Medikamente wurden über Spenden von ärztlichen Kolleginnen und Kollegen oder aus Apotheken beschafft. Schwierig gestaltete sich die die Erkennung und Behandlung der häufigen psychischen Störungen (PTBS); zum einen war die Sprachbarriere für uns ein Problem, zum anderen war die Kapazität der Psychiater und Psychologen durch die hohen Flüchtlingszahlen in Berlin ausgeschöpft. Bei Überweisungen zu Fachärzten nutzten wir u.a. unsere persönlichen Verbindungen zu Kollegen, das Büro für Medizinische Flüchtlingshilfe und die Ambulanz für Wohnungslose am Bahnhof Zoo. Ein großes Problem war die zahnärztliche Betreuung, die fast nur als Notbehandlung in den Krankenhäusern erfolgen konnte. Die Vorstellung von akut erkrankten Patienten war nach einer Absprache mit dem Senat in den Vivantes- Kliniken ab 20:00 Uhr möglich. Notfälle konnten jeder Zeit in jede Klinik gehen. Unterstützt wurden wir von den sehr engagierten BetreuerInnen der Diakonie, die soweit es ihnen möglich war, Patienten zu Psychotherapeuten und Ärzten begleiteten, Dolmetscher besorgten und das Vertrauensverhältnis zu den Geflüchteten herstellten. Leider gab es keine ehrenamtlichen Helfer, die einen großen Teil dieser Aufgaben hätten erledigen können. An Erkrankungen waren Erkältungen, Wirbelsäulenbeschwerden, Zahnbeschwerden, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, psychische Probleme und Erkrankungen sowie Bauchbeschwerden, Fußschmerzen durch Verhornungen und Augenprobleme sehr häufig. Vereinzelt traten Herzerkrankungen, Lungenleiden und chronische Lebererkrankungen auf. Nicht immer konnten wir aus den o.g. Gründen die Geflüchteten ausreichend behandeln. Außerdem war die Erwartungshaltung vieler Geflüchteter an die Möglichkeiten der Medizin in Deutschland sehr hoch. Häufig verbargen sich auch psychische Störungen hinter körperlichen Krankheiten, was für die Geflüchteten selbst nicht erkennbar war. Für die Behandler erschwerten die Sprachbarrieren und die nicht ausreichende Verfügbarkeit psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten die Diagnostik und Therapie. Auf die Notwendigkeit verstärkter psychosozialer Unterstützung der Geflüchteten, die unter der langanhaltenden Perspektivlosigkeit deutlich litten, haben wir als Ärzte sowie die BeraterInnen mehrfach hingewiesen, leider ohne jeden Erfolg. In der Folge mussten dann mehrere Geflüchtete stationär psychiatrisch behandelt werden. Eine schwierige Situation ergab sich, als ein großer Teil der Oranienplatzflüchtlinge das Haus verlassen sollte und einige am 26.08.2014 aus Protest auf das Dach des Hauses flüchteten. Neben der akuten Bedrohung durch ein Herunterstürzen vom Dach bestand die Gefahr der Austrocknung, da sie nach unseren Informationen während ihres dreizehntägigen Aufenthaltes auf dem Dach nicht ausreichend Flüssigkeit und Nahrung erhielten. Genauere Angaben darüber und auch über den gesundheitlichen Zustand der Geflüchteten auf dem Dach bekamen wir weder vom Polizeiärztlichen Dienst noch von der Polizei. Dr. Thea Jordan Internistin und Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Berliner Ärztekammer Auszahlung „freiwillige Sozialleistungen“ Aufenthaltssrechtliche Beratung Die TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung erhielten für die Zeit der aufenthaltsrechtlichen Prüfung „freiwillige Leistungen“ vom Land Berlin. In den Monaten April und Mai zahlten die Betreiber die Geldleistungen in den einzelnen Unterbringungen aus. In der Umsetzung gab es jedoch große Unterschiede zwischen den einzelnen Heimbetreibern. Lange Zeit gab es auch für diejenigen keine Lösung, die zwar als TeilnehmerIn der Vereinbarung registriert waren, aber immer noch keinen Schlafplatz hatten. Sie erhielten in dieser Zeit keine Geldleistungen. Parallel zu den beschriebenen Schwierigkeiten in der Umsetzung des Einigungspapiers bauten die BeraterInnen Beratungsstrukturen und mit der Unterstützung einzelner AnwältInnen - einen Rechtsanwält- Innenpool für die KlientInnen und für die Unterstützung der BeraterInnen auf. Für die aufenthaltsrechtliche Beratung und Unterstützung waren folgende Punkte aus der Vereinbarung relevant: Ab Juni wurde die Geldauszahlung in den Bezirkskassen vorgenommen. Die BeraterInnen haben die Geflüchteten jeden Monat zur Geldauszahlung begleitet. Die Begleitung war notwendig, da es jeden Monat aufs Neue Probleme bei der Geldauszahlung gab. So kam es nicht selten vor, dass Personen von der „Auszahlungsliste“ rutschten, obgleich sie noch anspruchsberechtigt waren. Beratungszeit Medizinische Versorgung Gleich in den ersten Wochen der Beratungszeit stellte sich heraus, dass eine Vielzahl der Geflüchteten durch die lange Zeit auf dem Oranienplatz und aufgrund ihrer Fluchterfahrungen physisch und psychisch sehr angeschlagen waren und ärztlicher Hilfe bedurften. Aufgrund der Tatsache, dass das Land Berlin den TeilnehmerInnen der Oranienplatz–Vereinbarung eine reguläre medizinische Versorgung verweigerte, waren die erkrankten Personen gezwungen, auf die Notfallhilfe der Krankenhäuser auszuweichen sowie spenden- finanzierte Hilfsorganisationen und ehrenamtlich arbeitende ÄrztInnen aufzusuchen. Angesichts der völlig überlasteten ehrenamtlichen Strukturen in Berlin gestaltete sich die Organisation der Versorgung sehr zeitaufwendig und führte somit zu einer massiven Belastung der Beratungskapazitäten. Berliner ÄrztInnen18, der Flüchtlingsrat Berlin19 und die BeraterInnen von Diakonie und Caritas haben sich mehrmals erfolglos an die Sozialverwaltung gewendet und auf die Probleme bei der gesundheitlichen Versorgung der Oranienplatz-Geflüchteten hingewiesen. � Umfassende Prüfung der Einzelverfahren auf Antrag im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten � Aussetzung der Abschiebung für die Zeit der Prüfung der jeweiligen Einzelverfahren In den ersten Beratungsgesprächen wurde neben der gesundheitlichen auch die aufenthaltsrechtliche Situation der KlientInnen erfasst. Von der aufenthaltsrechtlichen Situation war abhängig, welche weiteren Schritte gegangen werden mussten. Die Klärung der rechtlichen Aufenthaltssituation war jedoch nicht immer in einem der ersten Gespräche möglich. Die ersten Beratungsgespräche waren teilweise von Diskussionen über den Inhalt und die Auslegung des Einigungspapiers geprägt. Es kursierten verschiedene mündliche Interpretationen über die Verhandlungen und Versprechungen an die Protestierenden vom Oranienplatz. Die Erwartungen an das Einigungspapier und an die BeraterInnen, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen, waren sehr groß. Schon bei den Verhandlungen war bekannt, dass sich unter den Geflüchteten fünf verschiedene aufenthaltsrechtliche Gruppen befanden: 1. Lampedusa-Flüchtlinge: Personen mit einer Flüchtlingsanerken- nung, einem subsidiären Schutzstatus oder einem humanitären Aufenthaltstitel aus Italien ohne Verfahren in Deutschland 2. Lampedusa-Flüchtlinge: Personen mit einem Aufenthaltstitel aus Italien und mit laufendem Asylverfahren in einem anderen Bundesland 3. Personen mit laufendem Asylverfahren in einem anderen Bundes- land und ohne Bezug zu Italien 4. Personen mit abgeschlossenem Asylverfahren, mit oder ohne gültige Duldung 5. Personen mit abgelehntem oder als unzulässig zurückgewiesenem Asylantrag und Abschiebungsanordnung in einen anderen EU- Staat, überwiegend Italien 10 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 11 „Ich dachte, dass die Regierung von Berlin uns helfen wollte, ein neues Leben aufzubauen; dass wir aus dem Dreck auf dem Oranienplatz in saubere Unterkünfte gebracht würden und man uns helfen würde, Schritt für Schritt ein neues Leben aufzubauen und dass wir das Recht bekommen würden, hier zu arbeiten, um uns versorgen zu können.“ „Wir haben nie vorgehabt, nach Europa zu kommen. Uns ging es gut. Europa hat uns die Waffen geschickt, Freunde und Familien wurden getötet. Wir mussten fliehen, um unser Leben zu retten, wer hätte das nicht getan? Hätte Europa keine Waffen geschickt, wären wir nicht hergekommen.“ Geflüchteter Geflüchteter „Ich will nichts geschenkt bekommen. Ich habe zwei starke Hände, mit denen kann ich arbeiten, ich habe mir immer meinen Lebensunterhalt selbst verdient. Ich will doch nichts Besonderes, nur arbeiten, eine Wohnung, wenn es geht, eine Familie gründen und, ja, auch Steuern zahlen, denn man muss der Gesellschaft in der man lebt, auch etwas geben, nicht nur nehmen, sonst gibt es Streit, wie in einer Ehe, wenn nur einer etwas leistet.“ Geflüchteter „Da wo ich eigentlich sein müsste, da haben wir nichts zu tun, nur schlafen, essen, schlafen, essen, sonst nichts. Manche Geflüchtete in dem Heim machen das schon seit Jahren so, sie sind völlig abgestumpft. Ich kann das nicht. Es ist ein kleiner Ort, es ist hübsch, ja das schon, aber es gibt dort nichts für mich. Niemanden, mit dem ich sprechen könnte. Ich bin zur Untätigkeit verdammt. Ich werde dort verrückt. Wenn ich da bin, dann kiffe und rauche ich den ganzen Tag, sonst halte ich es nicht aus. Was soll ich da?“ Geflüchteter „Viele Geflüchtete haben versucht, eine Arbeit zu finden und das zum Teil auch geschafft. Wenn wir ihnen sagen mussten, dass sie keine Arbeitserlaubnis erhalten würden, waren sie völlig fassungslos und maßlos enttäuscht. Sie konnten überhaupt nicht verstehen, warum sie nicht selbst das Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen dürfen, warum der Staat ihnen lieber Geld geben will, als ihnen zu erlauben, zu arbeiten, Steuern und Beiträge zur Krankenversicherung zu zahlen. Warum sie keinen Beitrag leisten dürfen. Warum sie nur nehmen und nichts geben dürfen. Ehrlich gesagt, verstehe ich das auch nicht.“ Beraterin Im April kam es zur ersten Verhaftung eines Geflüchteten mit Oranienplatzkarte, als er bei seiner für ihn zuständigen Ausländerbehörde in Sachsen-Anhalt seine Duldung verlängern lassen wollte. Der junge Mann kam in Abschiebungshaft, weil sein Asylantrag in Deutschland bereits abgelehnt worden war. Er sollte nach Italien zurückgeschoben werden, wo er zuerst in die EU eingereist war. Für die Ausländerbehörde in Sachsen-Anhalt war er ein Dublin-Fall wie jeder andere auch. Dabei war den TeilnehmerInnen für die Dauer der aufenthaltsrechtlichen Einzelfallprüfungen ein Abschiebestopp zugesagt worden. Voraussetzung dafür wäre jedoch gewesen, dass sich die Berliner Ausländerbehörde für die TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung verbindlich zuständig erklärt hätte. Die BeraterInnen haben die zuständigen Senatsverwaltungen früh- zeitig darauf hingewiesen, dass für die TeilnehmerInnen der Oranienplatz–Vereinbarung, deren Zuständigkeit in einem anderen Bundesland lag, eine Lösung gefunden werden musste und appellierten an den dafür notwendigen politischen Willen des Berliner Senats. Die BeraterInnen informierten regelmäßig die Integrationsbeauftragte Monika Lüke in anonymisierter Form über die gesammelten Umverteilungsfälle. Lange Zeit sah es aus, als ob es eine politische Lösung geben könnte. Unterdessen liefen in den Koordinierungsrunden zwischen Senatsverwaltung, Ausländerbehörde, Diakonie und Caritas Gespräche darüber, wann und wie mit den Einzelfallprüfungen vor der Ausländerbehörde begonnen werden sollte. Diakonie und Caritas plädierten für freiwillige Vorsprachemöglichkeiten und abgestimmte Termine und, angesichts des schwierigen Umsetzungsbeginns, für mehr Beratungszeit. Entgegen der durch Diakonie und Caritas geäußerten Bedenken hinsichtlich eines zeitnahen Beginns der Einzelfallprüfungen verschickte die Ausländerbehörde Mitte Juni die ersten Vorladungen. Bis dahin waren bereits Menschen beraten worden, aber nicht unbedingt diejenigen, die nun von der Ausländerbehörde zur Vorsprache eingeladen wurden. Ohne konkrete Informationen, nach welchem Verfahren und welche Personen die Ausländerbehörde auswählt, wurden zeitweise zwischen 30 und 60 Personen pro Woche eingeladen. Zwischen Erhalt der Einladung und Einladungstermin lagen teilweise nur vier bis sechs Tage. Angesichts der Vielzahl der KlientInnen konnten intensive Beratungsgespräche jedoch nicht unmittelbar von einem auf den anderen Tag stattfinden. Diese oftmals zeitaufwendigen Beratungsgespräche waren notwendig, um die für einen Antrag erforderlichen Informationen zusammenzutragen und einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zu verfassen. Außerdem bestand aufgrund des durch den Senat versagten Zugangs zur medizinischen Versorgung ein erhöhter Aufwand, um Arzttermine für notwendige Untersuchungen zu bekommen und somit auch für Atteste und Gutachten, um darzulegen, dass dem Antragstellenden beispielsweise die Ausreise nach Italien weder möglich noch zumutbar ist. Bitten um Terminverschiebungen seitens der BeraterInnen, um die Vielzahl der Einladungen überhaupt vorbereiten zu können, wurden ignoriert. Nach Versäumnis des ersten Termins folgte binnen weniger Tage die zweite Einladung, wenngleich der Ausländerbehörde eine begründete Bitte um Terminverschiebung vorlag, um Beratungsgespräche in Anspruch nehmen zu können. 12 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 13 Beratungszeit Zu den Vorsprachen bei der Ausländerbehörde sind die Menschen von den BeraterInnen begleitet worden. Teilweise erhielten die KlientInnen schon direkt nach der Vorsprache bei der Ausländerbehörde ein Schreiben, in dem die Behörde ihnen mitteilte, dass sie beabsichtige, ihren Antrag abzulehnen. Sie erhielten im Regelfall eine Woche und in Ausnahmefällen zwei bis drei Wochen Zeit zur Antragsbegründung. Innerhalb dieser Zeit mussten die Antragstellenden alle Gründe vortragen und Dokumente vorlegen. Anträge auf Fristverlängerung lehnte die Ausländerbehörde - teilweise ohne die Menschen darüber zu informieren - ab. Barbara Wessel, Rechtsanwältin von mehreren Mandant- Innen vom Oranienplatz bezeichnet die Umgangsweise und das Vorgehen der Berliner Ausländerbehörde als vergleichsweise restriktiv. „Die AntragsstellerInnen vom Oranienplatz sind deutlich restriktiver behandelt worden als andere anwaltlich vertretene AntragsstellerInnen. Normalerweise wird den AntragstellerInnen eine Fristverlängerung von drei bis vier Wochen eingeräumt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Menschen lange Zeit gar nicht wussten, auf welche Art von Anhörung sie sich vorbereiten sollten und auf was sie sich im sogenannten Oranienplatzverfahren einlassen. Das Vorgehen der Ausländerbehörde legt nahe, dass die Verfahren der Oranienplatz–TeilnehmerInnen so schnell wie möglich beendet werden sollten und das „Einigungspapier Oranienplatz“ keine Berücksichtigung zugunsten der Geflüchteten fand.“ anwaltlich vertreten. In Fällen ohne anwaltliche Vertretung haben die BeraterInnen mit den KlientInnen Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verfasst. „Beratungsgutscheine für die KlientInnen wären hilfreich gewesen, um die BeraterInnen auch zu entlasten, damit die Menschen eine anwaltliche Beratung nutzen können“, sagt Barbara Wessel. Entgegen dem „Einigungspapier“ konnten nicht alle Menschen ihren Antrag bei der Berliner Ausländerbehörde stellen. Personen, denen bei der ersten Vorsprache unerlaubte Einreise vorgeworfen wurde, war es nicht möglich, ihr Verfahren in Berlin zu betreiben. Sie erhielten eine Verteilentscheidung und die Aufforderung, ihr Verfahren in einem anderen Bundesland zu betreiben. Eine umfassende rechtliche Prüfung, wie es die Vereinbarung vorsah, blieb für diesen Personenkreis aus. Andere Personen erhielten bei ihrer ersten Vorsprache Anzeigen wegen illegalen Aufenthalts in Berlin. Obwohl allen Behörden einschließlich Innensenat und Ausländerbehörde schon vor den Verhandlungen und dem Abschluss des „Einigungspapiers“ bekannt war, dass sich die Personen mit Papieren aus einem anderen Schengen-Staat schon länger als drei Monate visumfrei in Deutschland aufhalten. „Es ist als ein absoluter Skandal zu bewerten“, so Rechtsanwältin Barbara Wessel, „dass die Menschen Anzeigen wegen illegalen Aufenthalts bekommen haben.“ Nach Auffassung von Barbara Wessel könnte man den Menschen Die kurzen Einladungsfristen und die ebenso ungewöhnlich kurzen nicht zur Last legen, dass sie zum Zeitpunkt der Befragung Fristen zur Antragsbegründung vor dem Hintergrund der Vielzahl an schon länger als die erlaubten drei Monate in Berlin waren. zu beratenden Menschen, wurden gegenüber der Innenverwaltung Allen Beteiligten war das bekannt. „Man hätte sie gar nicht mehrfach problematisiert. Trotz des großen Zeitdrucks konnten Klient- fragen dürfen, wann sie eingereist sind.“ Innen mit Hilfe des Beratungsteams oder durch anwaltliche Vertretung Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stellen. In Fällen von anwaltlicher Vertretung haben die BeraterInnen eine unterstützende Funktion ausgeübt und bei der Beschaffung von Dokumenten und der Kommunikation zwischen KlientInnen und AnwältInnen geholfen. Nicht alle Menschen hatten die finanziellen Mittel und waren Die ersten Menschen erhielten ihre Ablehnungen schon wenige Wochen nach Antragsstellung, noch bevor alle KlientInnen erstmalig eingeladen worden waren. Dieser Umstand führte ebenso wie eine Inhaftnahme bei der Ausländerbehörde zu großer Verunsicherung unter den verbliebenen Menschen, die dazu führte, dass sich einige von ihnen entschieden, den Einladungen zur Ausländerbehörde nicht zu folgen. Im Beratungszeitraum der Diakonie haben lediglich zwei Personen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis durch die Ausländerbehörde erhalten. Beide Bescheide können jedoch nicht auf die OranienplatzVereinbarung zurückgeführt werden. Die Menschen hatten als daueraufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige ohnehin ein Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt. Rechtsanwältin Inken Stern ist der Auffassung, dass „sicherlich auch andere Entscheidungen möglich gewesen wären, wenn es mehr Zeit für das Einholen von Gutachten und für Behandlungen gegeben hätte.“ Sie hatte ebenso wie Barbara Wessel MandantInnen vom Oranienplatz vertreten. Anträge und rechtliche Möglichkeiten Menschen mit italienischen Aufenthaltstiteln und ohne Registrierung in Deutschland haben in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen beantragt. Eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann erteilt werden, wenn aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eine Ausreise auf absehbare Zeit nicht möglich ist. Eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 oder 3 AufenthG ist möglich, wenn eine Rückkehr z.B. nach Italien nicht zumutbar ist und eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für die anerkannten Flüchtlinge fühlt sich in Italien niemand zuständig. Die Möglichkeit, in Italien eine Arbeit zu finden, ist aufgrund des angespannten Arbeitsmarktes ausgesprochen gering. Ein Sozialsystem, dass die Menschen auffangen könnte, ist in Italien nicht vorhanden. Sie werden mit Erteilung ihres Aufenthaltstitels obdachlos und infolgedessen auch vom Zugang zur Krankenversorgung ausgeschlossen. Die Krankenversorgung ist nämlich wiederum an die Wohnsitznahme gebunden. Somit besteht für die Menschen bei Rückkehr nach Italien die begründete Gefahr, wieder obdachlos zu sein. Zur Untermauerung kann hier auf das Gutachten von borderline europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. vom Dezember 2012 für das VG Braunschweig verwiesen werden. Demnach muss davon ausgegangen werden, dass eine erhebliche Anzahl (auch) der zurückgeführten Personen nicht auf menschenwürdige Weise untergebracht werden und dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert ist, wenn sie nicht mehr in einer staatlichen Unterkunft lebten. Es wird festgestellt, dass Asylsuchende und Schutzberechtigte, die nicht mehr in einer staatlichen Unterkunft lebten, keinen Anspruch auf Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Taschengeld und sonstige Leistungen haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Ent- scheidung vom 21.01.2011 klargestellt, dass völlige Mittellosigkeit, behördliche Gleichgültigkeit gegenüber ernsthafter Armut, die ständige Furcht, angegriffen oder bestohlen zu werden und das Fehlen jeder Aussicht auf Verbesserung eine erniedrigende Behandlung darstellt und einen Mangel an Respekt für die Würde der Betroffenen zum Ausdruck bringt (EGMR, Urteil vom 21.01.2011, 30696/09 M.S.S gegen Belgien und Griechenland). 18 Kapitelthema Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 15 Seitenthema § 23 I Aufenthaltsgesetz Im Rahmen der Proteste von Flüchtlingen in Berlin ist die Diskussion um § 23 I AufenthG neu entflammt. Rechtsanwältin Berenice Böhlo schreibt über den Inhalt von § 23 I AufenthG und macht Vorschläge zur weiteren Diskussion: In der Vergangenheit fand die Regelung vor allem auf jüdische Kontingentflüchtlinge, traumatisierte bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Personen, die im Rahmen einer Bleiberechtsregelung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, Anwendung. Festzustellen ist, dass sie – abgesehen von den Bleiberechtsregelungen – nur in eng begrenzten Ausnahmefällen angewandt wurde. Viele forderten nun, dass § 23 I AufenthG auch im Fall der protestierenden Flüchtlinge aus Hamburg und Berlin zur Anwendung kommen solle. Satz 1 des Paragraphen lautet wie folgt wie folgt: „(1) Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.“ Ergänzt wird die Bestimmung um Satz 3 und nach diesem gilt: „Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern.“ In der Norm wird also geregelt, dass einer Gruppe aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn das Bundesministerium des Innern sein Einvernehmen erklärt. werden, ist nicht ganz einsichtig, warum dann § 23 I AufenthG zur Anwendung kommen soll. Der Forderung nach einer Gruppenlösung im Sinne von § 23 I AufenthG wohnt zudem etwas überwiegend Appellatives inne. Der Angesprochene – wie Innensenator Henkel - reagiert gar nicht oder mit klarem Nein. Damit ist der rechtliche Handlungsrahmen eng abgesteckt und es besteht die Gefahr, argumentativ festzustecken. Andererseits gilt auch für § 23 I AufenthG nur, was ebenso für alle anderen denkbar einschlägigen Normen im AufenthG – selbst wenn sie individuelle Rechtsansprüche formulieren -, festzustellen ist: Um sie anzuwenden, braucht es den entsprechenden politischen Willen. Ein politischer Wille, der die im Protest durch die Flüchtlinge benannten Probleme und Forderungen als rechtlich relevant anerkennt. In der Virginia Declaration of Rights von 1776 heißt es in Art. 1: Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit. Darin sind zum ersten Mal die politischen, sozialen und ökonomischen Menschenrechte formuliert. Genau dies sprechen auch die Flüchtlinge an. Wir sind der Auffassung, dass es um diese individuellen Rechte jedes Einzelnen geht. Der Kampf ihrer Sichtbarmachung wird erst zu Ende sein, wenn diese Rechtsfragen in fairen Verfahren rechtlich beantwortet werden. Damit werden drei zentrale Probleme dieser Bestimmung benannt: Profitieren kann nur eine abgegrenzte Gruppe und die Landesbehörde kann dies nur gewähren, wenn die Zustimmung des Bundesministeriums des Innern ergeht. Hinzu kommt: Wir bewegen uns im Bereich des Ermessens, es gibt keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf Anwendung von § 23 I AufenthG. Eine nicht zu Ende diskutierte Problematik bei der Anwendung des § 23 I AufenthG besteht darin, wie die jeweilige Gruppe zu definieren und wo die Grenze zu ziehen wäre. Soll eine solche Grenze nicht gezogen Berenice Böhlo Rechtsanwältin Menschen mit Aufenthaltstitel aus Italien und dem Angebot, einen Bundesfreiwilligendienst zu absolvieren, haben einen Antrag zur Ausübung des Freiwilligendienstes gestellt. Bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung eines Freiwilligendienstes kann vom Ermessen Gebrauch gemacht werden. „Die Ausländerbehörde kann wegen besonderer Härte vom Visumsverfahren absehen, oder eine Vorabzustimmung zum Visum erteilen. Ermessensspielräume hätte es gegeben, wenn der politische Wille bestanden hätte“, erklärt Inken Stern. materiell-rechtliche Vergünstigungen noch eine pauschale Zusicherung der Berliner Ausländerbehörde, humanitäre Titel oder Duldungen zu erteilen. Zu guter Letzt hat Innensenator Henkel jegliche Verantwortung für sich und seine Behörde abgelehnt, indem er feststellte, dass er die Vereinbarung nicht unterschrieben habe.21 Das Verwaltungsgericht Berlin widerspricht in einem ersten Beschluss der Innenverwaltung und misst dem Einigungspapier sehr wohl rechtliche Wirkungen bei. In diesem Fall hatte ein Teilnehmer der Vereinbarung gegen die Verteilung von Berlin nach Bayern im Rahmen des Oranienplatz-Verfahrens geklagt. Das Gericht gab dem Eilantrag des Mannes statt, so dass er bis zur Entscheidung über die eigentliche Klage gegen die Verteilung nach Bayern in Berlin bleiben kann. Aufgrund der Vielzahl an schnellen Ablehnungen und der restriktiven Rechtsauslegung war eine Beratung in beruflichen Fragen nur begrenzt möglich und sinnvoll. In Einzelfällen konnte Kontakt zu potentiellen Arbeitgebern aufgebaut und Freiwilligendienste angefragt werden. Letztlich ist es am politischen Willen gescheitert, den es gebraucht hätte, um den Menschen eine berufliche Perspektive zu ermöglichen. Das Gericht bezieht sich in seiner Begründung auf das „Einigungspapier Oranienplatz“. Demnach bestünden „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit“ der Zuweisung des Mannes nach Bayern. Es bestünden keine Zweifel daran, dass es sich beim „Einigungspapier Oranienplatz“ nicht um eine bloße politische Absichtserklärung, ohne jegliche Rechtswirkung handele. Menschen mit Asylverfahren und Wohnsitzauflage in einem anderen Bundesland haben Anträge auf Umverteilung nach Berlin gestellt. Die Einigung sei vielmehr dahingehend auszulegen, dass es für die Betroffenen eine „umfassende Prüfung“ im Rahmen „aller rechtlichen Möglichkeiten“ geben solle und alle rechtlichen Entscheidungsspielräume ausgeschöpft würden. Mit dem Grundsatz von Treu und Glauben sei es nur schwer zu vereinbaren, der Einigung nachträglich keinerlei rechtliche Bedeutung beizumessen. Schließlich habe der Sinn und Zweck der Vereinbarung darin gelegen, den Platz zu räumen und dafür gewisse Zugeständnisse an die Betroffenen zu machen. 22 Für eine Umverteilung ist gem. § 51 Abs. 1 AsylVfG ein Antrag der betroffenen Person erforderlich. Die Verteilentscheidung kann auf familiären Aspekten, aber auch auf anderen humanitären Gründen beruhen. Prof. Dr. Fischer-Lescano (Universität Bremen) vertritt in dem von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen in Auftrag gegebenen Gutachten zur rechtlichen Situation der Geflüchteten vom Oranienplatz die Auffassung, dass die Menschen infolge der „OranienplatzVereinbarung“ und einer faktischen Duldung durch das Land Berlin einen verbindlichen Rechtsanspruch darauf haben, dass das Land Berlin die Zuständigkeit für sie übernimmt.20 Die Ausländerbehörde wies die AntragstellerInnen allerdings darauf hin, dass die Teilnahme an der „Vereinbarung Oranienplatz“ keine Ansprüche begründen könne. Aus dem „Einigungspapier“ folgten weder Ende Oranienplatz-Verfahren Am 26. August 2014 mussten die ersten 108 TeilnehmerInnen der Oranienplatz-Vereinbarung die vormals vom Senat bereitgestellten Unterkünfte alternativlos verlassen. Die Menschen wurden teilweise erst am Nachmittag des vorherigen Tages durch den Aushang einer Namensliste informiert, dass sie ihre Unterkünfte bis zum nächsten Tag 8 Uhr verlassen müssen. Nach der umstrittenen Auffassung der Ausländerbehörde war in diesen Fällen die aufenthaltsrechtliche Prüfung abgeschlossen. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales forderte daraufhin die Menschen auf, ihre Unterkünfte zu verlassen. 16 Umsetzung „Einigungspapier Oranienplatz“ Beratungszeit 17 „Es ist bedrückend, wie oft Flüchtlinge pauschal kriminalisiert werden, oft nach dem Motto „schwarz = Drogendealer“. Das ist doch zu simpel, man kann ja auch nicht einfach sagen „weiß = Drogenkonsument“. Die meisten unserer früheren Klienten lehnen kriminelle Verhaltensweisen jeder Art strikt ab – wie jeder andere normale Bürger auch, und das trotz ihrer Not“ Ehrenamtliche Helferin „Besonders betroffen gemacht hat mich, dass Geflüchtete ins Gefängnis kommen können, weil sie z.B. schwarzgefahren sind oder den Ort, dem sie in Deutschland zugewiesen wurden, verlassen haben. So sollte jemand eine Freiheitsstrafe verbüßen, weil er bei seiner Einreise kein Bahnticket hatte, er wurde kontrolliert, dann konnte die entsprechende Zahlungsaufforderung ihm nicht zugestellt werden, weil er noch gar keinen Wohnort hatte. Der Richter hat die Geldstrafe dann in Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. Manche Menschen wissen überhaupt nichts davon, dass sie etwas falsch gemacht haben oder etwas zahlen sollen und müssen trotzdem ins Gefängnis. Das ist doch schockierend!“ Journalistin „Immer wieder höre ich das Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“ und frage mich immer wieder, warum das kein „echter“ Flüchtling sein soll. Ist es weniger schlimm, aus Not an Hunger oder Durchfall zu sterben als wegen der Religion oder politischer Ansichten?“ Berliner Bürger „Im November 2012 erhielt ich in Italien einen Aufenthaltstitel. Kurz danach wurde das Lager geschlossen. Wir bekamen 500 Euro und man sagte uns, wir sollten in ein anderes Land fahren. Wir wurden auf die Straße geschickt. Wir haben versucht, im Lager zu bleiben, da wir keine andere Unterkunft hatten, aber die Polizei kam, unsere Sachen wurden auf die Straße gestellt und alles abgeschlossen, damit wir nicht mehr in die Unterkunft hineinkommen konnten. Ich dachte, ich würde in Italien Schutz erhalten. Aber ich habe nur ein Papier bekommen.“ Geflüchteter „Die Menschen hier haben keine Zeit. Wenn der Zug fünf Minuten zu spät kommt, dann werden sie ungeduldig. Aber wir haben auch keine Zeit. Wir wollen leben. Stattdessen müssen wir warten. Warten auf Papiere, warten bei der Ausländerbehörde, warten auf eine Arbeitserlaubnis, warten auf unser Leben. Wir dürfen nichts tun, es macht uns verrückt, unser Leben wird verschwendet.“ Geflüchteter Neun der Geflüchteten weigerten sich, ihre Unterkunft in Friedrichshain zu verlassen und besetzten in ihrer Verzweiflung das Dach des Gebäudes. Nach 13 Tagen beendeten sie die Besetzung und verließen das Dach. Während der gesamten Zeit hatte die Polizei das Gebäude und den Zugang zum Dach abgeriegelt. Die Geflüchteten protestierten mit ihrer Besetzung gegen das unmenschliche Vorgehen der Behörden und für eine umfassende Prüfung der Einzelfälle, wie es ihnen im „Einigungspapier“ zugesichert worden war, und für die Ausnutzung aller rechtlichen Möglichkeiten, um eine Bleibeperspektive in Berlin zu bekommen. Während der Zeit der Besetzung erhielten die Menschen nach eigenen Aussagen lediglich eine minimale Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln. Die durch ÄrztInnen ihres Vertrauens angebotene medizinische Versorgung untersagte die Polizei und ließ auch keine unabhängigen ÄrztInnen zu den Geflüchteten. Fortan folgte fast wöchentlich der Rauswurf von weiteren TeilnehmerInnen. Teilweise wurden die untergebrachten Menschen erst am selben Tag frühmorgens unter Anwesenheit der Polizei aufgefordert, ihre Unterkunft zu verlassen. Folge dieses Handelns des Landesamts für Gesundheit und Soziales waren psychische Zusammenbrüche bis hin zu Suizidversuchen. Gleichwohl in einigen Fällen die aufenthaltsrechtlichen Prüfungen noch nicht abgeschlossen waren, scheute sich die Sozialverwaltung nicht, diese Menschen mittellos der Obdachlosigkeit auszusetzen. In Einzelfällen verpflichtete das Sozialgericht nach Antragstellung auf Eilrechtsschutz die Behörde zur vorläufigen Fortzahlung von Geldleistungen und Unterbringung in einer Unterkunft. Mitte September besetzten fast hundert durch den Auszug obdachlos gewordene Geflüchtete die St. Thomas Kirche am Mariannenplatz in Kreuzberg. Nach viertägigen Verhandlungen mit der Kirchenleitung brachte die Kirche die Geflüchtete in kirchlichen Einrichtungen unter. Seitdem leben etwa 110 Menschen in Unterkünften des evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadtmitte. Andere obdachlos gewordene Menschen leben in wechselnden Wohnungen und Zimmern von UnterstützerInnen. Wiederum andere Personen sind nach Italien zurückgegangen und planen jedoch zurückzukommen, weil sie keine Perspektive in Italien sehen. Ende September hat das Beratungsteam des Diakonischen Werks Berlin Stadtmitte seine Arbeit eingestellt. Eine ursprünglich angedachte Verlängerung und Ausweitung des Beratungsauftrags auf die ehemaligen BewohnerInnen der Gerhart-Hauptmann-Schule lehnten die BeraterInnen und der Träger unter den oben beschriebenen Bedingungen ab. 22 Kapitelthema Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Aus der Sicht der Kirche... 19 Seitenthema Interview mit Marita Leßny Die Unterstützung von Geflüchteten, die nicht arbeiten dürfen und sich daher nicht selbst versorgen können, ist eine aufwendige und herausfordernde Tätigkeit. Eine große Zahl von Freiwilligen engagiert sich in Berlin für die Menschen vom Oranienplatz und andere Geflüchtete. Marita Leßny beschreibt, wie diese Arbeit für sie aussieht: Frau Leßny, wie viele Personen betreuen Sie denn? Es sind 13 junge Männer zwischen 19 und 30 Jahren, die vorher auf dem Oranienplatz gelebt haben. Wo sind die Menschen denn untergebracht? Die Kirche hat sie aufgenommen, denn sie haben keinen anderen Ort, an dem sie leben könnten. Sie wohnen in einem Gebäude auf einem Friedhof. Zuerst fanden sie das sehr unheimlich, aber inzwischen haben sie sich daran gewöhnt. Und was tun Sie konkret für diese Personen? Ganz verschiedene Dinge: ich habe für sie einen Deutschkurs organisiert: drei Mal pro Woche gibt eine ehrenamtliche Lehrerin ihnen Unterricht. Manchmal organisiere ich Arztbesuche und begleite den Kranken dann meistens auch. Einmal in der Woche gehen wir zu den Pfadfindern, da können wir Tischtennis spielen und kickern. Im Moment versuche ich, einen Sportverein zu finden, der Flüchtlinge aufnimmt, aber das ist gar nicht so einfach. Wir haben die Unterkunft hergerichtet und bewohnbar gemacht. Ich zahle auch das Geld aus, denn jeder Flüchtling erhält von der Kirche fünf Euro am Tag aus Spendengeldern. Viel Zeit nimmt auch die Akquisition von Materialspenden in Anspruch. Zu Beginn hatte ich Großes vor: diese jungen Leute möchten gerne lernen und eine Ausbildung machen, wie junge Deutsche auch. Ich habe alles versucht, um ihnen das zu ermöglichen. Wir haben viele Gespräche geführt, bis hin zur Staatssekretärsebene. Aber es war nichts zu machen, es gibt dafür leider keinen politischen Willen, auch wie schnell Politiker aller Ebenen diese Menschen mit Kriminellen in einen Topf werfen. Deshalb bin ich jetzt pragmatischer geworden und möchte, dass sie eine gute Zeit bei uns verbringen, damit sie wieder etwas Kraft tanken können. Oft bin ich einfach nur Ansprechpartnerin für die täglichen Sorgen: es ist für diese jungen Leute extrem wichtig, dass überhaupt jemand für sie da ist. Das klingt nach viel Arbeit. Wie viel Zeit investieren Sie denn? Es mögen etwa zehn Stunden pro Woche sein, eher mehr… Und wie sind Sie dazu gekommen, sich so zu engagieren? Ich bin da so „hineingerutscht“: am Anfang habe ich nur in der Kirchengemeinde einmal ausgeholfen, dann wurde ich immer häufiger gebeten, mit anzupacken und schließlich fragten mich auch die Flüchtlinge, wann ich denn wiederkäme… Inzwischen hat sich zu jedem der Betroffenen auch eine persönliche Beziehung entwickelt. Die Menschen sind durch alles, was sie erlebt haben, sehr erschöpft und benötigen dringend Fürsorge. Sie haben sonst niemanden, auf den sie sich verlassen könnten. Manch einem rutscht schon mal das Wort „Mama“ heraus…. Ich kann diesen Menschen etwas von dieser Fürsorge geben, die ihnen wieder ein wenig Halt gibt. Und es gehört auch zu meinem Selbstverständnis als Christin, dass ich Menschen, die Hilfe brauchen, auch Hilfe leiste. Kostet dieses Engagement nicht auch viel Kraft? Manchmal ist es schon anstrengend und auch frustrierend. Vor allem, weil jede Kleinigkeit mit viel Aufwand verbunden ist. Manche Flüchtlinge sind so erschöpft, vor allem psychisch, dass sie selbst Dinge, die uns banal erscheinen, nicht bewältigen können. Schon Dinge wie die Orientierung und Fortbewegung in der Stadt sind für einige eine riesige Hürde. Ganz zu schweigen natürlich von Problemen wie medizinische Versorgung, rechtliche Beratung oder Polizeikontakte. Man kann natürlich nicht alle Polizisten über einen Kamm scheren, aber so manche Flüchtlinge haben schon wirklich schockierende Dinge erlebt. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass diese Arbeit ein einseitiges Geben meinerseits wäre. Die Arbeit macht auch viel Freude: die jungen Männer freuen sich über die Aufmerksamkeit oft wie kleine Kinder und sie möchten auch ihrerseits etwas geben. Ich denke, dass dies eine wertvolle Arbeit ist. Außerdem ist es eine Arbeit, bei der es sehr viel zu lernen gibt. Dadurch, dass diese Menschen anders sind als ich, halten sie mir auch immer wieder einen Spiegel vor. Niemand macht diese Arbeit nur für die anderen, wir bekommen und lernen alle auch etwas dabei. Das ist sehr bereichernd. Schließlich möchten wir noch wissen, wie die Zukunft für die Menschen aussieht. Das ist eine gute Frage.…. Unser Projekt läuft noch bis Ostern. Was danach wird, lässt sich noch nicht sagen. In der Kirche gibt es viele Pläne und Projekte, aber der politische Dialog stockt zurzeit. Was konkret aus diesen Menschen werden soll, das ist völlig ungewiss. Sie sind hier, wo sollen sie sonst hin? Aus der Sicht der Kirche... Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und das Land Berlin waren sich über lange Zeit nicht einig, wie mit den Bewohnern des Flüchtlingscamps am Oranienplatz und in der Gerhart-Hauptmann-Schule umzugehen sei. Auch das „Oranienplatzabkommen“ zwischen Senat und Geflüchteten wurde innerhalb der Senatsverwaltungen unterschiedlich interpretiert bzw. seine Gültigkeit gänzlich geleugnet. Damit ist das humanitäre Problem nicht gelöst. Zwar sieht sich der Senat nach Prüfung der Ausländerbehörde für diese Menschen nicht mehr verantwortlich, doch sie sind, nachdem sie die Unterkünfte verlassen mussten, noch da und hangeln sich obdachlos von einer Schlafmöglichkeit zur anderen. Obwohl die Geflüchteten sich in ganz unterschiedlichen Rechtslagen befinden, ist ihnen gemein, dass sie nach einer langen Odyssee nach Berlin kamen und teilweise schon lange hier leben. Sie bleiben, weil sie auch an anderen Orten keine Perspektive sehen. Im Wissen um den Zuspruch des allen Menschen in Jesus Christus begegnenden Gottes, im Hören auf die Not und die Erfahrungen der Geflüchteten in unserer Stadt, im Hören auf den das Leben schaffenden und erhaltenden Gott, in der Hoffnung auf eine Lösung des seit Langem gärenden Problems, zu Gunsten der Geflüchteten und der Stadt setzen wir uns auch weiterhin für eine humanitäre Lösung ein, die den Geflüchteten eine echte Perspektive in Berlin ermöglicht. Die Evangelische Kirche mit ihrer Diakonie hat sich in der Vergangenheit für eine humanitäre Lösung für diese Personengruppe eingesetzt und will dazu auch zukünftig einen Beitrag leisten. � dass die Geflüchteten danach wieder obdachlos sind und jegliches Vertrauen verlieren. Evangelische Gemeinden und diakonische Einrichtungen haben nach der Besetzung der Thomaskirche am 11. September 2014 circa 110 Geflüchtete in ihrer ungeklärten Situation in Notunterkünften aufgenommen (ähnlich der Kältehilfe) und versorgen sie mit dem Nötigsten. Als Kirchengemeinden haben wir diese Geflüchtete sieben Monate lang ehrenamtlich und aus Spendenmitteln in kirchlichen Räumen beherbergt. In einem ersten Schritt bedarf es dazu einer Duldung, die eine Arbeitserlaubnis beinhaltet. So könnten Verfahren fortgeführt werden und die rechtlichen Voraussetzungen für Aufenthaltserlaubnisse geschaffen werden. Darüber hinaus würde eine Arbeitserlaubnis endlich integrative Maßnahmen, wie Praktika, Ausbildungen und Arbeit ermöglichen. Dies würde verhindern, � dass sich Menschen radikalisieren und der innerstädtische Konflikt sich weiter zuspitzt. � dass ausgerechnet angesichts der Herausforderung, vor die die Flüchtlingsfrage die Stadtgesellschaft stellt, ein Vertrauensverlust zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen ent- steht. Die Evangelische Kirche ist bereit, dem Senat von Berlin - zusätzlich zu den bisherigen Anstrengungen - Flächen an mindestens zehn Standorten für dezentrale Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung zu stellen und diese durch diakonische Träger zu betreiben. Die Bereitstellung der Grundstücke erfolgt in den ersten Jahren kostenlos. Pfarrer Peter Storck Ev. Kirchengemeinde Heilig Kreuz-Passion 20 Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Danksagung 21 Danksagung Zu danken ist dem Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte e.V., dem Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und seiner Pressestelle für das uns entgegengebrachte Vertrauen. Diese Broschüre ist den Geflüchteten vom Oranienplatz gewidmet. Ob sie von Anfang an dabei waren, oder erst später dazugekommen sind – sie alle kamen aus Not, wie jeder Geflüchtete. Sie haben auf dem Platz einen Kampf um ein würdiges Leben geführt. Wir sollten dafür da sein, sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Sicher konnte diese Aufgabe nicht in der Form erfüllt werden, wie die Geflüchteten und wir selber uns das vorgestellt hatten. Zu groß waren die Probleme, zu klein war der Wille einiger, zu kurz war auch die Zeit. Manche Geflüchteten haben wir nie beraten können, obwohl sie es gewünscht hätten. Zu anderen haben wir nie Vertrauen aufbauen können. Vielen haben wir nach bestem Wissen versucht zu helfen, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Aber selbst die beste Beratung ist sinnlos, wenn die Ablehnung schon feststeht, bevor der Antrag überhaupt gestellt ist. Wir haben mit dieser Dokumentation versucht, Antworten anzudeuten, wie es dazu kommen konnte, warum ein Erfolg unserer Arbeit kaum sichtbar ist. Vielen, die die Geflüchteten und uns unterstützt haben, ist Dank zu sagen. Vor allem AnwältInnen und MedizinerInnen, aber auch viele andere Menschen haben in großartiger Weise Solidarität bewiesen, Zeit und Energie aufgebracht und die Arbeit des Beratungsteams damit maßgeblich unterstützt. Stellvertretend für alle sei Thea Jordan und Jürgen Hölzinger gedankt, die als ÄrztInnen ehrenamtlich und unermüdlich die Menschen in der Gürtelstraße versorgt haben - und noch immer versorgen - und auch für uns immer ein offenes Ohr und ein gutes Wort hatten. Dank gebührt aber vor allem den Geflüchteten selbst: Dank an Richard, für Dein Vertrauen, Dank an Jimoh, für den Löwen, Dank an Rhissa, für die Ehrlichkeit Deiner Wut, Dank an Valentine, der das Essen nicht wollte, Dank an Asif, für die Freude mit Deinen Freunden, Dank an Saidou, für Deine Ruhe und Dein Lächeln, Dank an Anwar, für Dein Essen, Dank an Kelvin, für Dein Gemecker und das Gegenteil, Dank an Baba, für Deine Geduld, Dank an Abdoul, für Dein Misstrauen, das dann doch Vertrauen wurde, Dank an Ibrahim, für Deine Würde, auch als es nicht mehr weiterging, Dank an Rasheed, für Deinen Willen wieder auf die Beine zu kommen… Dank an Euch für alles, was wir mit Euch lernen konnten (sehr viel!), für Euren Respekt, für Eure Geduld mit uns, für Eure Geschichten, für Euer Vertrauen, für Euren Willen, für Eure Solidarität, für Euer aufrechtes Ringen um würdigen Platz in der Zukunft. Wir haben eine Vorstellung davon bekommen, wie schwierig Eure Lage ist und wünschen Euch ein erfolgreiches Gelingen für ein Leben in unserer Stadt! Im Namen des Beratungsteams Cecilia und Katharina 22 Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz 26 Mobile Kapitelthema Seitenthema Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Kapitelthema Fluchtgeschichte Seitenthema 27 23 Fluchtgeschichte Fluchtgeschichte Ich wurde 1985 einem Land südlich der Sahara geboren und habe dort bis zum Jahr 2010 gelebt und gearbeitet. Ich habe dort eine Ausbildung als Zweiradmechaniker gemacht und eine eigene Werk- statt betrieben. Um ein ausreichendes und regelmässiges Einkommen zu erhalten und so auch für meine Familie, insbesondere meinen Sohn sorgen zu können, habe ich eine Ausbildung in der Gartenpflege gemacht und dann eine Stelle bei dem Sohn des früheren Präsidenten angetreten. Ich war als Gärtner in seinem Privathaus tätig. Dort habe ich mehrere Jahre lang gearbeitet. Mein Arbeitgeber war im Streit mit einem Konkurrenten, es gab Un- ruhen. Wegen dieser politischen Differenzen drangen bewaffnete Personen in das Wohngebäude meines Arbeitgebers ein. Zwei meiner Kollegen wurden dabei angeschossen, andere wurden entführt. Nun wurden alle Angestellten und Anhänger gesucht. Ich bin nicht wieder zur Arbeit gegangen, stattdessen brachte ich meinen Sohn und meine Frau in das Dorf zu meinen Eltern. Dann bin ich nach Niger ausgereist und weiter dann nach Libyen gefahren, nach Tripolis. Als die die Rebellion gegen Gaddafi begann, wurde ich auf der Straße verhaftet. Ich wurde verdächtigt, Soldat von Gaddafi zu sein. Ich trage im Gesicht Markierungen (Skarifizierungen) meines Volkes und wurde daher sofort als nicht-lybischer Schwarzer erkannt. Wir verbrachten ungefähr sechs Monate in einem Gefängnis und wurden dann entlassen. Ein paar Monate lang haben wir uns mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, dann wurden wir erneut verhaftet, weil wir keine gültigen Papiere zeigen konnten. Wir verbrachten mehrere Monate in einer Art Polizeiwache, es war ein Haus mit vielen Zimmern, vor den Fenstern waren Gitter, in jedem Zimmer waren etwa acht bis zehn Gefangene untergebracht, wir waren acht. Es gab nur alte Matratzen auf dem Boden. Wir bekamen jeden Tag ein langes Brot und eine Dose Sardinen zu essen, jeden Tag dasselbe, sonst gab es nichts. Wir mussten oft arbeiten, auf dem Bau, wir mussten Sand, Steine und Zement tragen und ähnliches, schwere Arbeit. Aber wenn wir arbeiteten, dann bekamen wir richtiges Essen, mit Reis und Sauce. Bei der Arbeit wurden wir ständig bewacht, ein oder mehrere Soldaten saßen mit ihrem Gewehr neben uns und beobachteten uns ständig. Wir wurden beschimpft und auch geschlagen. Wer nicht arbeiten wollte, wurde geschlagen. Wir wurden geohrfeigt und mit den Füssen getreten, auch mit dem Gürtel der Soldaten wurden wir geschlagen. Manchmal war ich angekettet, ich habe Narben davon am Handgelenk. Ich habe auch Narben auf dem Rücken und am Knie von den Schlägen. Wir wurden gedemütigt, ich kann nicht sagen, was noch alles geschehen ist. Ich weiss nicht, wie lange wir dort waren, mehrere Monate. Später wurde ich an einem anderen Ort ungefähr zwei Wochen lang festgehalten, mit vielen anderen Menschen zusammen. Man sagte, man würde uns in ein anderes Land bringen. In einer Nacht wurden wir zum Wasser gebracht. Wir waren viele Menschen, vielleicht 250. Es waren Menschen aus vielen Ländern, Männer und Frauen, auch Kinder und schwangere Frauen waren dabei. Wir mussten auf ein grosses Schiff und wurden weggebracht, nach Lampedusa. Vier Tage hat die Fahrt gedauert. Wir bekamen Kekse zu essen. Ich kam in das Lager in Mineo auf Sizilien. Das ist ein sehr großes Lager, wir waren sicher mehr als Tausend Geflüchtete dort. Es ist eines der größten Lager, die es in Italien und Europa gibt. Es waren dort schlimme Zustände. Wir waren in Häusern, die einmal für Amerikaner gebaut worden waren. Wir waren acht oder zehn Personen in einem Zimmer, es gab eine Küche. Das Essen im Lager war so, dass man es kaum essen konnte. Es gab jeden Tag Reis, jeden Tag, er war meistens gar nicht fertig gekocht, immer Reis mit einer Sauce, die man wirklich nicht essen konnte. Ich glaube, die Leute wollten richtig kochen, aber wir waren viel zu viele, für so viele Menschen konnten sie nicht kochen. Wir bekamen 2,50 Euro am Tag („two and a half“). Davon haben wir dann z.B. Tomaten gekauft und eine Sauce gemacht und den Reis fertig gekocht, damit wir etwas Richtiges zu essen hatten. Während meiner Anwesenheit dort in Mineo gab es mehrmals Rebellionen der Geflüchteten, weil die Bedingungen dort so katastrophal waren. Wir haben gewartet, konnten nichts tun. Der nächste Ort ist mehrere Kilometer weit weg. Auf der Überfahrt nach Lampedusa war ich krank geworden. Auf Lampedusa wurde ich untersucht und bekam Tabletten, ich hatte sehr starke Schmerzen, ich konnte nicht sitzen und hatte Fieber. Ich wurde in der Krankenstation untersucht und eine Operation wurde angeraten. Stattdessen bekam ich aber Medikamente, allerdings auch das nicht immer, oft gab es gar keine. Es war sehr mühsam, überhaupt welche zu erhalten. Und manchmal wurde die für eine Person bestimmte Dosis auf zwei Personen aufgeteilt, weil es nicht mehr gab, der Krankenschwester tat das auch leid, aber sie hatte nicht mehr Medikamente. Ich hatte die ganze Zeit über starke Schmerzen und konnte nichts tun, meistens habe ich nur im Zimmer gelegen, ich habe mich sehr schlecht gefühlt. Ich war sehr niedergeschlagen und hatte große Angst, weil ich nicht wusste, was aus mir werden würde. Ich konnte nicht zum Unterricht und auch sonst nichts tun, so war es viele Monate. Oft war ich so verzweifelt, dass ich daran gedacht habe, mir das Leben zu nehmen. Erst nach mehr als fünf Monaten, im September 2013, wurde die Operation durchgeführt. Die Operation und die Nachsorge waren aber sehr unzureichend. Ich bekam nur ein paar Tage lang Tabletten, dann gab es keine mehr, alle. So wurde schon bald, ich glaube in November 2013, der Bedarf für eine weitere Operation diagnostiziert. Anfang 2014 habe ich dann meine Papiere bekommen. Da musste ich dann aus dem Lager, innerhalb von drei Tagen. Jetzt war ich plötzlich komplett auf mich gestellt. Mir wurde keinerlei Schutz oder Unterstützung zuteil, weder erhielt ich eine Unterkunft, noch Lebensmittel oder finanzielle Unterstützung, geschweige denn irgendeine medizinische Versorgung oder die dringend notwendige Operation. Arbeit fand ich nicht. Ich kann ja auch kein Italienisch. Ich lebte von Almosen, dafür musste ich Menschen auf der Straße irgend- wie darum bitten, an manchen Tagen habe ich fast nichts gegessen. Wozu geben die Italiener uns dieses Papier, diese Plastikkarte? Zwei Wochen lang schlief ich nur auf der Straße, dann half mir ein Mann in einer Kirche, ich durfte auch bei ihm übernachten. Ich versuchte vor allem, medizinische Hilfe zu erhalten, damit die dringend erforderliche Operation durchgeführt wurde, mir ging es sehr schlecht. Mir wurde allerdings mitgeteilt, dass dies nur mit einem Papier der Krankenschwester des Lagers möglich sei. Dieses Papier wurde mir jedoch verweigert, da ich nun nicht mehr Bewohner des Camps war. Anderweitige Behandlung wurde mir verwehrt, bzw. es gab keinerlei Unterstützung dafür, diese zu finden. Ich war sehr verzweifelt, hatte große Angst um mein Leben. Da ich keinerlei Unterstützung oder medizinische Versorgung erhielt und es keinen anderen Ausweg gab, half mir der Mann, der mich bei sich hatte übernachten lassen, ein Ticket zu kaufen und ich flog im Februar 2014 nach Berlin. Ich wollte einen Freund suchen, von dem ich wusste, dass er in Deutschland war, um zu sehen, ob er mir helfen konnte. In Berlin habe ich mich den Flüchtlingen auf dem Oranienplatz angeschlossen. Im April 2014 wurde ich im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin operiert. Mir geht es nicht gut. Ich habe nach wie vor Selbstmord- gedanken aufgrund meiner fragilen Gesundheit und weil in meinem Leben so viele Dinge geschehen sind, dass ich ganz verwirrt bin. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren und muss ständig an die Vergangenheit denken. Nachts kann ich nicht schlafen und wenn, dann habe ich oft schlimme Träume. Ich will nicht wieder auf der Straße leben. Aber auch wenn ich heute nicht weiß, wohin mein Leben führen wird und mich noch oft antriebslos, hilflos und durcheinander fühle, möchte ich doch mein Leben wieder selbst in die Hände nehmen. Es war nie mein Plan nach Europa zu kommen, aber die Umstände haben es so gewollt und mich hierher gebracht. In meinem Heimatland konnte ich nicht leben, in Libyen nicht und in Italien auch nicht und jetzt habe ich endlich wieder eine Chance, mein Leben wieder auf eine Bahn zu bringen. Neben der Therapie mache ich jetzt auch einen intensiven Deutschkurs, vier Mal in der Woche, das motiviert mich sehr. Ich habe auch schon einige Menschen kennengelernt, zu denen ich Vertrauen haben kann. Und wenn ich auch noch arbeiten und wieder für mich selber sorgen könnte, ja dann denke ich, dass das gehen könnte mit meinem Leben. 24 Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Endnoten 25 „Ich saß in einer Runde, jeder stellte sich vor: der eine war Krankenpfleger, eine Frau Ärztin, eine andere Sozialarbeiterin, ich - der Flüchtling. Das war nicht gut, Flüchtling ist doch kein Beruf. Wie würden Sie sich fühlen?“ Geflüchteter „Manche Leute behandeln die Geflüchteten sehr von oben herab. Sie sollen doch bitte nehmen, was man ihnen anbietet! Wir haben z.B. einen Fahrradaufruf gemacht. Manche Leute waren sauer, weil wir ihre Fahrradleichen abgelehnt haben. Die Geflüchteten sollen nehmen, was wir nicht mehr haben wollen, damit wir uns gut und großzügig fühlen können und dann sollen sie auch noch brav „danke“ sagen.“ Ehrenamtlicher Berater „Was bleibt von einem Menschen, der nichts mehr hat: Keine Heimat, keine Familie, keine Freunde, keine Wohnung, keinen Besitz, kein Vertrauen, keine Arbeit, keine Papiere, keine Perspektive: es bleibt nur der Mensch mit seiner Würde. Ein hohes Maß an Würde haben die Flüchtlinge vom Oranienplatz sich bewahrt, den wenigsten Deutschen wäre das gelungen. Ich bin beeindruckt von der Stärke dieser Menschen, viel können wir von ihnen lernen.“ Arzt „Innensenator Henkel: Ist er nicht selbst aus der DDR in ein besseres Leben geflohen? Hat er nicht auch erwartet, im anderen Deutschland willkommen zu sein und Hilfe zu erlangen? Ist das alles wirklich nur eine Frage des Reisepasses oder der Hautfarbe?“ Berliner Bürgerin „In der Presse stand zu lesen, die Flüchtlinge würden den deutschen Staat „erpressen“. Auch der Senator Henkel soll so etwas gesagt haben. Erpressung ist eine Straftat. Auch die ersten Frauen, die studieren oder gar wählen wollten, waren also Straftäterinnen? Auch die Schwarze Rosa Parks, die ihren Platz im Bus nicht einer Weißen freimachen wollte, war also eine Straftäterin? Die Französische Revolution – das Werk von Straftätern? Streikende, die bessere Arbeitsbedingungen fordern – alles Straftäter? Es gibt doch einen Unterschied zwischen einer Straftat und politischem Kampf!“ Endnoten 1 Dublin II und Dublin III: Europäische Verordnungen, nach denen ein Geflüchteter in dem Land Schutz zu suchen hat, in dem er angekommen ist. 16 Der Protest der Flüchtlinge wurde durch den Selbstmord eines iranischen Flüchtlings in einer bayerischen Gemeinschaftsunterkunft ausgelöst. 17 2 Die meisten Geflüchteten verliessen die Gerhart-Hauptmann-Schule, in der zeitweise schätzungsweise 200 Geflüchtete lebten, im Juni 2014 unter massiver Polizeipräsenz. Rund 40 Geflüchtete weigerten sich, das Gebäude zu verlassen. Nach Verhandlungn durften sie bis auf weiteres in der Schule verbleiben. 3 4 Namen aus datenschutz-rechtlichen Gründen geändert. Der Begriff “Flüchtling” wird hier wie auch an anderen Stelle nicht im juristischen Sinne verwendet (danach ist “Flüchtling” nur, wer als solcher anerkannt wurde), sondern im weiteren Sinne einer “Person, die geflohen ist”. 5 Bis zum 31. März 2014 unterzeichneten dann noch vier weitere Geflüchtete das Einigungspapier. Dies geschah unter grosser Polizeipräsenz. Filmsequenzen von der Räumung können eingesehen werden unter https://www.youtube.com/watch?v=x2iwR47qYcU. Dabei wird auch sehr deutlich, dass sich die Bewohner nicht einig waren. Offener Brief von Berliner ÄrztInnen an den ehemaligen Regierenden Bürgermeister Wowereit und Sozialsenator Czaja vom 22.06.2014, abrufbar unter: http://www.fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/OffenerBrief_ medVersorgung.pdf. 18 19 Flüchtlingsrat Berlin, Presseerklärung vom 16.07.14: Senat verweigert medizinische Versorung für Oranienplatz-Flüchtlinge, abrufbar unter: http://www. fluechtlingsrat-berlin.de/print_pe2.php?post_id=683. 20 Diskussionsbeitrag Asylbewerber können sich ihren Wohnort nicht aussuchen, sondern werden nach dem sog. “Königsteiner Schlüssel” auf die Bundesländer verteilt, unabhängig davon, ob sie an anderen Orten bereits diverse Anbindungen haben. 6 7 Ultimatum des Senators für Inneres und Sport vom 26.11.2013, unter http://www. berlin.de/sen/inneres/aktuelles/artikel.55226.php 8 Pressemitteilung des Senators für Inneres und Sport vom 17.12.2013 unter http:// www.berlin.de/sen/inneres/presse/pressemitteilungen/2013/pressemitteilung.59088. php Andreas Fischer-Lescano und Matthias Lehnert: „Rechtliche Situation der Flüchtlinge vom Oranienplatz - Gutachten vor dem Hintergrund des „Einigungspapiers Oranienplatz“ und des Umgangs mit den Personen und dem Protestcamp durch das Land Berlin“, abrufbar unter: http://www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/ themen/auslaender_asylrecht/140618_Rechtliche_Situation_der_Fluechtlinge_vom_ Oranienplatz.pdf. S. 11. 9 „Im Libanon ist mittlerweile jeder vierte ein Flüchtling. Der Libanon ist halb so groß wie Hessen, hat vier Millionen Einwohner. Mittlerweile leben dort über eine Million Flüchtlinge. In Berlin schafft man es nicht, gerade mal 500 Menschen vom Oranienplatz eine Aufenthaltsperspektive zu ermöglichen“ Unterstützer 10 Gutachten Fischer-Lescano S. 11f. Pressemitteilung des Flüchtlingsrates vom 16.4.2014 unter http://www.fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/BilanzRaeumung.pdf. 11 Siehe TAZ vom 12.5.2014 unter http://www.taz.de/!134739/, Pressemitteilung des Republikanischen Anwaltsvereins vom 22.9.2014 unter http://www.rav.de/ publikationen/mitteilungen/mitteilung/senatorin-kolat-schafft-klarheit-371/. 12 13 Gutachten Fischer-Lescano S. 12. Zum Teil waren diese allerdings auch durch das Land Berlin nicht erfüllbar, da sie in die Zuständigkeit des Bundes oder der EU fallen. 14 15 Dazu die Pressemitteilung des Flüchtlingsrates vom 16.4.2014 unter http://www. fluechtlingsrat-berlin.de/lepton/media/pdf/BilanzRaeumung.pdf; ebenso Berliner Zeitung vom 22.3.2014 unter http://www.berliner-zeitung.de/berlin/fluechtlinge-vomoranienplatz-fluechtlingsrat-fordert-transparenz-vom-senat,10809148,26627904. html. Zum Zeit- und Erfolgsdruck auch http://www.taz.de/!134739/. Siehe Gutachten Fischer-Lescano Heiser, Thomas; Gürgen, Malene: Berliner Senat betrügt O-Platz Flüchtlinge. In: taz, 1.9.2014, abrufbar unter: http://www.taz.de/!145209/. 21 22 Vgl. Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 4. 11.2014 Az. 24 L 293.14., abrufbar unter; http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/ portal/t/279b/bs/10/page/sammlung.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1& js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=yes&do c.id=JURE140017996&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint. Kapitelthema 31 Mobile Beratung der Geflüchteten vom Oranienplatz Seitenthema Impressum 27 Impressum Herausgeber Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V. Wilhelmstr. 115 10963 Berlin Tel: (030) 69 03 82 44 E-Mail: geschaeftsstelle@ diakonie-stadtmitte.de Das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte ist auf Spenden angewiesen, um weiterhin Geflüchtete in Berlin unterstützen zu können. Spendenkonto Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V. KD-BANK | BLZ 350 601 90 | Konto-Nr. 155 798 30 62 IBAN DE97 3506 0190 1557 9830 62 | BIC GENODEF1DKD Texte und Interviews Katharina Müller Cecilia Juretzka Evelyn Gülzow Geflüchteter Michael Bashir Zakarayau Dr. Thea Jordan Berenice Böhlo Marita Leßny Peter Storck Fotos mit freundlicher Genehmigung von: Medibüro- Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin Anke Nehrig Taina Gärtner Titelbild und Fotos Seite 17,19, 20 Florian Boillot www.florianboillot.com www.diakonie-stadtmtte.de
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