Maturarede von Paul Betschart, Direktor der FKSZ Maturafeier – Freie Katholische Schulen Zürich, 8. Juli 2015 Liebe Maturandinnen und Maturanden Sehr geehrte Eltern und Angehörige Liebe Lehrerinnen und Lehrer Am 19. Mai dieses Jahres las ich im Tages Anzeiger folgende Notiz: „Bund und Kantone wollen herausfinden, warum Studierende so häufig das Studium wechseln oder abbrechen und was dagegen getan werden kann. … Dass die Abbruchquote hoch ist, zeigt der Bildungsbericht 2014. Von den Maturanden beginnen knapp 80 Prozent ein Studium an einer Schweizer Universität. Nur etwas mehr als die Hälfte macht einen Masterabschluss, den Regelabschluss der Universitäten. Ein Viertel verlässt die Uni ohne Abschluss.“ Mit einer indischen Fabel nehme ich Bezug auf diese Zeitungsnotiz. Die Fabel handelt von einem Tigerjungen, das zwischen Ziegen aufwuchs. Von diesen in mütterlicher Liebe angenommen, lernte es die Ziegensprache und passte seine Stimme ihrem sanften Meckern an. Doch eines Tages brach ein starker alter Tiger in die Herde ein. Alle stoben auseinander, nur das Tigerjunge blieb furchtlos stehen und starrte das schreckliche Dschungelwesen verblüfft an. Auch der grosse Tiger wunderte sich sehr. Dann frage er; „Was tust du hier unter den Ziegen?“ Das sonderbare kleine Wesen meckerte. Der Alte brüllte nun: „Was soll dieser alberne Laut?“ Und ehe der Kleine antworten konnte, packte er ihn beim Kragen und schüttelte ihn tüchtig. Dann schleppte er ihn zu einem nahen Teich und liess ihn hineinblicken. „Schau dein Bild im Wasser an, bist du nicht ganz wie ich? Warum bildest du dir ein, eine Ziege zu sein?“ Und wiederum packte ihn der Alte und trug ihn bis zu seiner Höhle, wo er ihm ein von seinem letzten Mahl übrig gebliebenes Stück rohen Fleisches vorlegte. Das Tigerjunge schüttelte sich vor Ekel. Aber der Alte befahl schroff: „Nimm das! Friss! Schluck es hinunter!“ Mit kläglichem Meckern würgte es die ersten Bissen hinunter, fand aber bald Geschmack daran und frass den Rest mit grosser Lust. Es leckte sich die Lefzen, erhob sich und riss das Maul zu einem riesigen Gähnen auf, so als erwache es aus tiefem Schlaf – einem Schlaf, der es jahrelang in seinem Bann gehalten hatte, und plötzlich brach ein Furcht erregendes triumphierendes Tigerbrüllen aus seiner Kehle. Die Verwandlung war geglückt. Als das Brüllen verstummt war, fragte der Alte: „Weisst du jetzt was du wirklich bist? Komm mit mir in den Dschungel, du sollst lernen, der Tiger zu werden, der du immer schon warst.“ Ich nehme lediglich auf drei Passagen in dieser Fabel Bezug. Da heisst es an einer Stelle; „Das Tigerjunge schüttelte sich vor Ekel.“ Auch die Universität wird Ihnen immer wieder ungewohnte Nahrung vorsetzen und von Ihnen erwarten, dass Sie sich überwinden, dass Sie an den vorgeworfenen Wissensbrocken nicht bloss schnuppern, um sich abzuwenden; dass Sie anbeissen, zubeissen und nicht- wie das Tigerjungegleich meckern. Wer das Meckern nicht lassen kann, lernt nicht dazu; wer das Meckern nicht lassen kann, entdeckt seine eigentlichen Stärken nie. Und noch etwas erzählt die Fabel: Wer das Meckern nicht lassen kann, entdeckt nie den Geschmack einer neuen Speise. Wer hingegen die ersten Bissen beherzt schluckt, wird belohnt mit der Entdeckung, dass die neue Nahrung auch Genuss bereiten und mit Lust verschlungen werden kann. Es empfiehlt sich also, einer gestellten Aufgabe Energie und Aufmerksamkeit zu schenken, so lange eben, bis man selber damit zurechtkommt und Appetit auf mehr bekommt. Welch ein Erfolgserlebnis! Bleiben Sie also daran, halten Sie durch, auch wenn Ihnen etwas mal nicht gleich schmeckt. Eine zweite Stelle interessiert mich: Die Verwandlung des Tigerjungen, der meinte, eine Ziege zu sein. Der junge Tiger wird sich bewusst, dass er ja gar keine Ziege, nein, dass er ein Tiger ist. – Wissen Sie, wer Sie sind? Wer, glauben Sie, sind Sie? Wissen Sie weshalb Sie sich für ein bestimmtes Studium an der Uni einschreiben wollen? Sind Sie von selbst, aus eigenem Antrieb, aus einem ganz persönlichen Herzenswunsch heraus zu einem bestimmten Studium gekommen? Oder haben Sie in den letzten Jahren immer wieder den Satz gehört: „Es wäre schon schön einen Juristen in der Familie zu haben.“ Überprüfen Sie das, ziehen Sie sich ab und zu in Ihr stilles Kämmerlein zurück und fragen Sie Ihr Herz was es will. Ich verspreche Ihnen, es lohnt sich! Vor rund 10 Jahren war ich an einer Lizentiatsfeier, heute würde man von der Masterabschlussfeier sprechen, an der Universität Basel. Die Festrede wurde vom ehemaligen Gewerkschaftsboss, Herr Beat Kappeler, gehalten. An einen Satz kann ich mich auch heute noch erinnern. Er sagte sinngemäss: „Wenn Sie eines Tages an der Geschäftsleitungssitzung teilnehmen, haben Sie bitte den Mut, Ihre Meinung kund zu tun, zu sagen, was Sie denken, denn ich glaube, dass noch viele Firmen bestehen würden, wenn alle am Tisch sitzenden Personen offen und ehrlich gesagt hätten, was sie dachten.“ Dieser Satz bringt uns wieder zu unserem Tiger zurück. Zeigen sie Ihre Zähne, haben Sie den nötigen Biss, am richtigen Ort und zur richtigen Zeit und meckern sie nicht erst nach der Sitzung, denn dann könnte es zu spät sein. Fazit: Ich wünsche mir, dass Sie bereit sind, herauszufinden wer Sie sind, dass Sie bereit sind, Ihr Selbstbild, wenn nötig, zu korrigieren. Dann – das sage ich Ihnen als alter Tiger- dann werden Sie Ihre eigene Sprache sprechen, und sich mit Bestimmtheit für ein für Sie passendes Studium einschreiben. So werden Sie zu der Hälfte gehören, die den Masterabschluss an der Universität schaffen werden. Das ist ein hohes Ziel und fordert Ihnen einiges ab. Ich wünsche Ihnen den dafür nötigen Mut und die dafür nötige Ausdauer. Paul Betschart
© Copyright 2024 ExpyDoc