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Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Pastor Dr. Claas Cordemann, Hannover (Referent des Landesbischofs Ralf Meister)
Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr, 8. November 2015, 18 Uhr
Predigt über 1. Mose 50,15-26
Er liegt im Bett. Seine Hände liegen gefaltet auf der karierten Bettdecke. Seine Frau verlässt das
Zimmer. Neben ihm auf dem Nachttisch: eine Fotographie. Schwarzweiß. Ein Familienbild. Jemand hat
frische Tulpen auf die Fensterbank gestellt. „Was soll ich sagen?“ Er spricht leise. Unter seinen
buschigen Augenbrauen schauen zwei wache Augen hervor. Er und ich, wir wissen: er hat nur noch
kurze Zeit zu leben. Wir schweigen.
Dann fängt er an zu erzählen. Von seiner Kindheit und Jugend. Von der Flucht. Erzählt von seinen
beiden Brüdern. Seit Jahren haben sie keinen Kontakt mehr. Es ging ums Erbe. „Stellen Sie sich das
vor“, sagt er, „seitdem haben wir kein Wort mehr gesprochen. Kann man sich das vorstellen? Wir sind
doch Brüder.“ Er würde sich freuen, seine Brüder noch einmal zu sehen. Sich mit ihnen aussprechen,
bevor er geht.
Versöhnt sterben. Wie geht das? Für mich hört sich das an wie Himmel und Erde. Erde steht für das
Sterben. Wenn zwei sich versöhnen, tut sich der Himmel auf. Versöhnt sterben. Gibt es diesen Ort, wo
sich Himmel und Erde berühren?
Liebe Gemeinde, ich möchte Ihnen vier Mosaiksteine mit auf den Weg geben.
Der erste Mosaikstein: Versöhnt sterben – oder: die Sehnsucht nach einem Sterben in Würde
Am Freitag hat der Bundestag ein neues Gesetz zur Sterbehilfe verabschiedet. Selten werden
Gesetzesvorhaben in der Öffentlichkeit so konträr und emotional diskutiert wie dieses. Warum
emotionalisiert dieses Gesetz zur Sterbehilfe so sehr? Ich denke, es ist bei den meisten die abstrakte
Angst vor dem „Was-wäre-wenn“.
Diese Angst funktioniert so: „Ich glaube nicht, dass es so kommt, aber wenn ich am Ende meines
Lebens unheilbar krank sein sollte, nichts mehr selbst kann und selbst unter Schmerzmitteln diesen Rest
meines Lebens nicht mehr erträglich finde, dann, ja dann wünsche ich mir einen Arzt an meiner Seite,
der mir hilft, mein Leben zu beenden.“ Es ist die Angst vor dem absoluten Grenzfall eines
unerträglichen und unumkehrbaren Leidens, die diese Debatte so angefeuert hat. Es ist die Angst, dass
es mir so gehen könnte, auch wenn das nicht wahrscheinlich ist.
Wie auch immer wir uns in dieser Frage stellen, die Emotionalität, mit der diese Debatte geführt wird,
macht deutlich: wenn es ans Sterben geht, wird es ernst. Es geht immer um die Frage: Wie sterbe ich
würdig? Was ist ein gutes Sterben? Es gibt sie, diese Sehnsucht nach einem würdevollen Tod. Bewusst
gestaltet. Versöhnt mit den Lieben. Am liebsten mit einem Lächeln auf den Lippen.
Der zweite Mosaikstein: Versöhnt sterben – oder: Was ist wirklich wichtig im Leben?
Was ist wirklich wichtig im Leben? Diese Frage gerät im Alltag leicht aus dem Blick. Der Alltag ist voll
von Dingen, die uns auch irgendwie wichtig sind. Der Beruf, Projekte, Termine, selbst die Freizeit
nimmt uns voll in Anspruch. Über Mobiltelefon wollen wir überall erreichbar sein. Die ganze mediale
Wirklichkeit konkurriert um unsere Aufmerksamkeit und will uns sagen, was wichtig ist. Und wir lassen
uns auf das Spiel ein.
Was ist wirklich wichtig im Leben? Diese Frage wird in unserem Alltag unter all dem, was vermeintlich
bedeutsam ist, begraben. Es ist letztlich eine Frage, die sich nur persönlich beantworten lässt: was ist
dir wirklich wichtig im Leben? Diese Frage kann niemand für dich beantworten. Meine Erfahrung, die
ich als Pastor auf dem Dorfe gemacht habe, zeigt mir, dass sich die Antwort auf diese Frage radikal
ändert, wenn das Leben zu Ende geht.
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Da ist etwa der Unternehmer. Anfang 40. „Die Arbeit war sein Leben.“ Jetzt die Diagnose: Krebs im
Endstadium. Es geht nur noch um Wochen, vielleicht um Tage. Er spricht nicht mehr über seine Arbeit.
Er spricht darüber, dass er gern noch mehr Zeit gehabt hätte. Zeit mit seiner Frau, mit seinen Kindern.
Er sei doch so neugierig, welchen Weg seine Kinder einschlagen würden.
In Gesprächen wie diesen spüre ich es deutlich: von den Sterbenden kann ich für mein Leben lernen. Ich
kann auf ihre Sehnsüchte hören. Kann hören, was sie versäumt haben. Was sie gerne ändern würden,
wenn sie noch die Möglichkeit dazu hätten. Wenn ich darauf höre, was die Sterbenden sagen, bekomme
ich eine Ahnung davon, was im Leben wirklich wichtig ist. Die ars moriendi, die Kunst des versöhnten
Sterbens, beginnt damit, den Sterbenden zuzuhören – um des Lebens willen.
Der dritte Mosaikstein: Versöhnt sterben – oder: vergeben können
Den Geschichten der Sterbenden zu lauschen, heißt auch auf die Geschichten zu hören, die uns die
Toten erzählen. Die Toten unserer Glaubenstradition. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern ist
solch eine Geschichte. Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern ist eine Familiengeschichte. Es ist
die Geschichte von dem einen, Josef, den sein Vater mehr liebt als die anderen. Und das spüren Josefs
Brüder. Sie werden neidisch. Josef tut das seine dazu, dass sie Grund für ihre Missgunst haben.
Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern nimmt ihre ganze Brisanz aus dieser Familienkonstellation.
Es ist am Ende immer die Familie, die die stärksten Gefühle auslöst. Das ist kein Zufall. Denn die
Familie ist die Keimzelle, in der sich mein Selbstgefühl und mein Selbstbild ausbilden. Es macht einen
Unterschied, ob ich mich hier angenommen, geliebt fühle oder immer spüre: es reicht nicht. Ich bin
nicht gut genug. „Jakob aber hatte Josef lieber als alle.“ So heißt es in der Bibel. Wie soll da nicht Neid
entstehen? Neid, ja Hass unter Geschwistern. Gerade weil Blut dicker als Wasser ist.
Die Brüder werfen Josef in den Brunnen. Überlegen ihn zu töten. Verkaufen ihn an Menschenhändler,
die ihn wiederum nach Ägypten verkaufen. Erzählen dem Vater, dass er getötet wurde, von einem Tier
zerrissen. Hatten sie wirklich gehofft, so die Liebe ihres Vaters wieder zu erlangen?
Der biblische Erzählstrang verlässt die Brüder und folgt dem verschlungenen Weg des Aufstiegs Josefs in
Ägypten. Dadurch, dass er dem Pharao Träume deutet, steigt er auf zum zweitmächtigsten Mann am
Nil. Josef und seine Brüder sehen sich erst wieder als diese wegen einer Hungersnot nach Ägypten
kommen. Sie erkennen ihn zunächst nicht. Nachdem Josef seine Brüder auf Herz und Nieren geprüft
hat, ob sie ihren Sinn geändert hätten, gibt er sich ihnen zu erkennen. Und Josef lädt seine ganze
Familie mit ihrem Vater Jakob nach Ägypten ein. 17 Jahre lebt die Familie in Ägypten. Dann stirbt Jakob
versöhnt – hatte er doch seinen totgeglaubten Sohn wieder gefunden. Die Brüder trauern gemeinsam
und beerdigen ihren Vater.
Als unvoreingenommener Leser denkt man, dass die Geschichte hier zu Ende sei. Sie ist es aber nicht,
sondern es geht weiter. Nach dem Tod des Vaters wird deutlich, dass die Lebenszeit des Vaters nicht
genutzt wurde, um die Rivalität zwischen den Geschwistern irgendwie zu bearbeiten.
„Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns
gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein
Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die
Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den
Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder
gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.“
Wir wissen nicht, ob Jakob seinen Söhnen diesen Auftrag, sich auszusöhnen, wirklich mit auf den Weg
gegeben hatte. Und doch, es wird der Wunsch von Jakob gewesen sein, dass Josef und seine Brüder sich
versöhnen. Die Sterbenden wünschen sich, dass ihre Familie versöhnt und in Frieden zusammen lebt.
Josef weint. Vielleicht kommen noch einmal alle Bilder aus seinem Innersten hoch. Allein im Brunnen,
tief in der Erde. Nur ein Spalt vom Himmel ist zu sehen. Das Verdrängte drängt an die Oberfläche. Josef
weint. Die Worte seiner Brüder rühren ihn an.
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„Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse
mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich
am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder
versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.“
„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Auf diesen Satz zieht
sich auf einmal die ganze Geschichte zusammen. 23 Kapitel lang Menschliches, allzu Menschliches. Hass,
Verrat, Lüge, Trauer. Und dann dieser erlösende Satz.
Zweierlei ist mir hier wichtig. Da ist die aufrichtige Bitte um Vergebung. Die Brüder können ihre Schuld
zugeben und sie gegenüber Josef eingestehen. Ohne die aufrichtige Bitte um Vergebung kann es keine
Versöhnung geben. Versöhnung kann es geben, wenn du bereit bist, über deinen eigenen Schatten zu
springen. Wenn du nicht um jeden Preis rechtbehalten willst.
Das andere, was mir hier wichtig ist: Wenn ich am Ende so auf mein Leben blicken kann, dass ich sagen
kann „Gott gedachte es gut zu machen“, dann ist das ein echtes Gottesgeschenk, eine Gnade Gottes.
Eine Gnade, die ausstrahlt. Diese Gnade behält Josef nicht für sich, sondern er nimmt seine Brüder mit
hinein und vergibt ihnen. Echte Gnade verschenkt sich. Das ermöglicht es ihm, Josef, und seinen
Brüdern versöhnt zu sterben.
Von den Toten unserer Glaubenstradition kann ich für mein Leben lernen. Ich kann lernen, um
Vergebung zu bitten. Mich nicht rausreden. Eingestehen, wo ich gefehlt habe. Und ich kann lernen zu
vergeben. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. In beidem liegt die
Würde unseres Lebens: in der Bitte um Vergebung wie in dem Gewähren von Vergebung. Wenn ich
beides vermag, stehen die Chancen nicht schlecht, dass ich eines Tages versöhnt sterben kann.
Der vierte Mosaikstein: Versöhnt sterben – oder: getragen sein
Ich werde an sein Bett gerufen. Seine Frau ist die ganze Zeit an seiner Seite. Der Atem geht schwer.
Setzt aus. Setzt wieder ein. Er liegt im Sterben. Die Hände auf der karierten Decke. Frische Tulpen. Eine
Frau vom Hospizdienst ist da. Verschafft Linderung. Wir beten das Vaterunser. Meine Hand auf seiner
warmen Stirn. Spreche ihm den Segen zu. Nimm hin das Zeichen des Kreuzes. Du bist erlöst. Du
gehörst zu Jesus Christus dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Es ging am Ende schneller als
erwartet. Seine beiden Brüder waren nicht mehr da. Sein Wunsch hat sich nicht erfüllt. Ich werde sie
erst bei seiner Beerdigung sehen.
Auch von diesem Mann habe ich gelernt. Die Dinge regeln, solange ich die Kraft und die Möglichkeit
dazu habe. Ich weiß nicht, wieviel Zeit mir bleibt. Irgendwann kommt der Punkt, an dem ich nichts
mehr gerade rücken kann.
Ich weiß aber auch, dass da am Ende mein Vertrauen ist. Wenn mir der Tod zuvor kommt, es das
klärende Gespräch nicht mehr gibt. Wenn ich es nicht mehr vermag, um Vergebung zu bitten. Wenn es
wirklich so kommt, dann vertraue ich darauf: Ich sterbe in die Hände dessen, der auch diese Schuld
meines Lebens vergeben wird.
Liebe Gemeinde, vier Mosaiksteine habe ich Ihnen vorgestellt. Vier Mosaiksteine ergeben noch kein
Bild, aber sie sind der Anfang dazu. Das Bild wird erst Konturen annehmen, wenn Sie die Mosaiksteine
Ihres eigenen Lebens eintragen. Ihr Bild eines versöhnten Sterbens. Wie mag für Sie der Ort aussehen,
an dem sich Himmel und Erde berühren?
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus
Jesus. Amen.
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