Schließt Frieden! - Donostia / San Sebastián 2016 Europako Kultur

2/8/2016
Europas Kulturhauptstadt 2016 : San Sebastián
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Europas Kulturhauptstadt 2016
Schließt Frieden!
Seebad, Großstadt, Sommerresidenz, Feinschmeckerwalhalla: San Sebastián
trägt viele Seelen in seiner Brust. Und jetzt will es auch noch das Modell für eine
bessere Welt sein.
08.01.2016, von JAKOB STROBEL Y SERRA
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Veröffentlicht: 08.01.2016, 10:30 Uhr
© GUNNAR KNECHTEL/LAIF
Der schönste Schein: Hinter dem Strahlen von San Sebastián verbirgt sich eine tragische Geschichte.
W
ie konnte sie uns nur so täuschen! Wie konnten wir nur so blind sein! Und trotzdem fühlen
wir uns weder getäuscht noch geblendet von der schönsten Stadt am Kantabrischen Meer,
der das Schicksal oder die Schöpfung oder wer auch immer das kostbarste aller Geschenke in die
Wiege gelegt hat: eine Bucht von so vollendeten Rundungen, dass sie gar nicht anders als „La
Concha“, die Muschel, genannt werden kann, eine zärtliche Umarmung des Ozeans, mit der sich
San Sebastián in eine permanente Urlaubsstimmung versetzt, links und rechts so machtvoll von
den letzten Ausläufern der Pyrenäen bewacht, als seien es die Säulen des Herkules. La Concha ist
die Seele San Sebastiáns, das sich Abend für Abend von der Brandung in den Schlaf singen lässt,
ihr verdankt es alles ­ einst die Karriere als Seebad der europäischen Hocharistokratie,
Sommerresidenz der bourbonischen Könige, Regierungssitz während der heißen Monate in
Madrid; und heute ein glanzvolles Dasein als beliebtestes Touristenziel an Spaniens Nordküste
und als die Stadt mit dem schönsten Strand der Welt, noch vor Rio de Janeiro, daran ändern
selbst Copacabana und Ipanema nichts.
Denn an der Concha ist die Welt noch in Ordnung. Sie
duldet keine Halunken und bringt niemanden in
Folgen:
Lebensgefahr, sondern gehört Flaneuren und
Verliebten, Joggern und Radfahrern, Surfern und
Kanuten, todesmutigen Schwimmern im Winter und ausgelassenen Kindern im Sommer, von
deren Juchzen und Jauchzen dann ganz San Sebastián widerhallt, als sei es gar keine Großstadt
Autor: Jakob Strobel y Serra,
Redakteur im „Reiseblatt“.
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mit hundertneunzigtausend Einwohnern, sondern eine einzige Badeanstalt voller Mobiliar aus
dem Fin de Siècle.
Christus gibt seinen Segen
In der Mitte der Promenade stehen zwei verschnörkelte Eisensäulen, an deren Zifferblättern man
nicht nur die Uhrzeit, sondern auch den Luftdruck ablesen kann, denn nichts scheint Donostia, so
der baskische Name der Stadt, wichtiger zu sein als das Badewetter. Gleich daneben reckt sich La
Perla kokett dem Meer entgegen, ein Jugendstil­Capriccio von Balnearium, das übermütig mit
maritimen Motiven spielt, mit Ankerketten, Schiffstauen, Seeungeheuern und Jakobsmuscheln,
weil die Nordroute des Jakobsweges durch San Sebastián führt. Vielleicht war die Stadt früher
eine göttliche Prüfung für die Pilger, die hier ihre Standhaftigkeit beweisen mussten, um ihre
Wallfahrt nicht vorzeitig zugunsten irdischer Freuden zu beenden. Heute sind die Verführungen
nicht weniger geworden: In der Perle kann man in Thalasso­Bädern sein Heil suchen oder auf
ihren Terrassen den stilvollsten Sonnenuntergangs­Aperitif in San Sebastián trinken, während am
Westende der Bucht Eduardo Chillidas eiserne Monumentalskulptur „Peine del Viento“, der
Windkamm, die Brise krault und am Ostende eine ebenso monumentale Christusstatue ihren
Segen zu dem bunten Treiben gibt.
Das Herzstück der Stadt: Ohne seine Bucht La Concha ist San Sebastián undenkbar.
© CLAUS ECKERT
Nichts Hässliches, nichts Beschwerliches, so scheinen es sich die Donostiarras gegenseitig
geschworen zu haben, soll ihre Bucht und ihre Stadt beschmutzen ­ auch wenn sich an der Concha
eine Handvoll Nachkriegsscheußlichkeiten in das blütenweiße Panorama dieses atlantischen
Nizzas geschmuggelt haben. Nicht ein einziger rostiger Fischkutter stört die Anmut der Bucht, und
auch die kleine Insel in ihrer Mitte, auf die früher die Pestkranken zum Sterben verbannt wurden,
hat längst jeden Schrecken verloren. Kaum eine verwahrloste Gestalt sieht man an der Promenade,
nur ganz wenige Kaffeebecherbettler, dafür umso mehr Damen und Herren gesetzten Alters, deren
Frisuren millimetergenau toupiert und deren Einstecktücher mit größter Akkuratesse drapiert
sind. Selbst die Greise im Rollstuhl, die vom lateinamerikanischen Hauspersonal übers Pflaster
geschoben werden, sind mit äußerster Sorgfalt hergerichtet, stolze Repräsentanten des
Großbürgertums, die Gebrechlichkeit niemals als Entschuldigung für Nachlässigkeit dulden
würden.
Ein fürchterlicher Blutzoll
Auch die Neustadt hinter der Bucht wirkt wie ein einziger Beweis für San Sebastiáns
Schönheitsschwur, für dieses Konkordat zwischen Natur, Stadt und Mensch, alles Unperfekte zu
verbannen. Die Bürgerhäuser mit ihren schmiedeeisernen Balkonen sind so elegant wie die
Passanten. Die neogotische Kathedrale ist ein Wunderwerk der Proportionen, allerdings für
spanische Verhältnisse so ketzerisch klein, als wollten die Donostiarras hier ein für alle Mal
klarstellen, dass sie sich ihre Lebensfreude von keiner Bigotterie trüben lassen wollen. Und die
Zahl der Modegeschäfte, Parfümerien, Schönheitssalons ist so auffallend groß, dass wir uns fast
wie ein Lumpengeselle fühlen ­ immer ein wenig und nicht nur äußerlich „underdressed“ in dieser
Stadt, die uns wie das Lieblingskind des Schicksals vorkommt. Keine Kampfspuren des Lebens
scheint sie davongetragen zu haben. Niemals musste sie sich die Hände mit Schwerindustrie
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schmutzig machen wie das Malocherloch Bilbao. Immer konnte sie ein Leben müheloser
Leichtigkeit genießen, so heiter und souverän, so frei von Misanthropie und Desillusionierung,
dass wir am liebsten für immer hierblieben, geblendet, getäuscht vom schönen Schein.
„Hundertsieben Tote. Hundertsieben Morde. Das ist unser Blutzoll.“ Die Stimme von Eneko Goia
wird tonlos, als er das sagt. In keiner anderen spanischen Stadt seien mehr Menschen durch den
Terror von Eta umgekommen, nirgendwo sonst seien die Wunden tiefer und die Narben
schmerzhafter, sagt der Bürgermeister von San Sebastián, ein schlanker, großgewachsener Mann,
der für die gemäßigte baskische Nationalistenpartei PNV im Rathaus sitzt und mit seinem
Kinnbart an den jungen Fernando Rey erinnert. „Wir lebten in ständiger Angst, die Stadt war
verseucht von Misstrauen, die Bevölkerung zerrissen in Freunde und Feinde der mörderischen
Separatisten. Es war eine grauenvolle Zeit.“ Eneko Goia scheint sie immer noch in den Knochen zu
stecken.
Jetzt säen, viel später ernten
Das Grauen endete am 20. November 2011, als Eta sich eingestehen musste, jeden Rückhalt in der
Bevölkerung verloren zu haben, und bedingungslos die Waffen niederlegte. Keine vier Monate
zuvor, am 28. Juni, war San Sebastián neben Breslau zur Europäischen Kulturhauptstadt 2016
gekürt worden. „Einen besseren Zeitpunkt hätte es gar nicht geben können“, sagt Eneko Goia, in
dessen Büro im Rathaus wir hineinspaziert sind, ohne auch nur ein einziges Mal kontrolliert
worden zu sein, vorbei an den echten Lüstern und falschen Marmorsäulen dieses ehemaligen
Kasinos, vorbei an Kassettendecken und Wandgemälden mit nackten Fischerkindern, die an der
Concha nach den hingeworfenen Münzen des Aristokratennachwuchses tauchen. Undenkbar wäre
eine solche Sorglosigkeit vor ein paar Jahren noch gewesen, als nicht nur der Bürgermeister,
sondern auch alle Stadträte ohne den Schutz von Leibwächtern kaum überlebt hätten. Heute sei
San Sebastián eine glückliche Stadt und bereit dafür, die Geister der Vergangenheit endgültig zu
vertreiben, sagt Goia. Er wünsche sich, dass die Bürger am Ende des Kulturhauptstadtjahres
versöhnt, vereint seien und die Idee eines friedlichen Zusammenlebens für immer verinnerlicht
hätten.
© CLAUS ECKERT
Das delikateste Finger­Fast­Food der Welt: In der Altstadt wird den Pintxos mit Inbrunst gehuldigt.
Das friedliche Zusammenleben aller Menschen ist das Generalmotto von San Sebastián 2016. In
anderen Städten wäre das nur eine gefällige Floskel, hier aber ist es die Überwindung eines
Traumas, hier ist es ein Lebenstraum. Deswegen habe die Beteiligung der Bürger an Foren,
Workshops, Konferenzen auf Stadtteilebene, Laboratorien für jedermann oberste Priorität, sagt
Pablo Berástegui, der Chef des Kulturhauptstadtkomitees. „Cultura para convivir“, eine Kultur, die
man gemeinsam erlebt ­ darum gehe es bei fast allen Veranstaltungen, und deswegen habe man
weitgehend darauf verzichtet, große Namen mit dem Scheckheft einzukaufen. Die Choreographin
Sasha Waltz sei fast schon die berühmteste Künstlerin, meint Berástegui, der wie der sanftmütige,
intellektuellenbebrillte Bruder des Fußballgrobmotorikers Xabi Alonso aussieht. Als geistigen
Patron hat man den Philosophen José Ortega y Gasset gewählt, der den Menschen immer auch als
Resultat seiner Umgebung verstand: „Ich bin ich und meine Umstände“, lautet einer seiner
Leitsätze. Diese Wechselwirkung mit den sozialen, politischen, ökologischen, kulturellen,
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kulinarischen Umständen sollen die Menschen 2016 verstehen lernen, damit sie ­ so viel
Weltverbesserung muss sein ­ am Ende eines langen Weges glücklicher, friedlicher und
harmonischer zusammenleben können. „Das wird nicht im Dezember 2016 sein“, sagt Berástegui,
„sondern irgendwann viel später. Wir werden in den nächsten zwölf Monaten säen, nicht ernten.“
Ein Friedensvertrag für ganz Europa
Nicht nur in seiner intellektuellen Radikalität geht San Sebastián andere Wege als die meisten
europäischen Kulturhauptstädte bisher. Man verzichtet darauf, ein ganz und gar eigenständiges
Veranstaltungsprogramm auf die Beine zu stellen, und kooperiert stattdessen lieber mit
bestehenden Kultureinrichtungen. Man betrachtet das Jubeljahr nicht als
Fremdenverkehrswerbung, weil San Sebastián seit dem Ende der Eta­Gewalt ohnehin aus allen
Tourismusnähten platzt. Man ist auch bei den Finanzen baskisch quadratschädelig und investiert
keinen einzigen Cent des Fünfzig­Millionen­Euro­Etats in die Infrastruktur, sondern alles Geld ins
Programm. Selbst die Verwandlung der Tabakalera, eines der Hauptschauplätze im
Kulturhauptstadtjahr, vom Aschenputtel einer ruinösen Tabakfabrik in einen riesigen Raum für
zeitgenössische Kunst mit viel nacktem Beton, offenen Lüftungsrohren und alten, knarzenden
Holztreppenhäusern wurde aus anderen Töpfen finanziert.
Es ist tatsächlich nicht der schlechteste Moment, in Zeiten des Terrors von einer Stadt zu lernen,
die den Terror gerade überwunden hat. Und damit der Friede auch ja mit allen sei, heißt das
zentrale Projekt des Kulturhauptstadtjahres „Tratado de Paz“, Friedensvertrag: eine Ausstellung in
verschiedenen Museen, die fünf Jahrhunderte Friedensgeschichte von 1516 bis 2016 und ihren
Niederschlag in der Kunst mit Werken von Zurbarán, Murillo und Ribera, Picasso, Le Corbusier
und Yoko Ono dokumentiert. Die Ausstellung wird nicht nur in San Sebastián stattfinden, sondern
auch in anderen Orten des Baskenlandes, etwa in Gernika, das am 26. April 1937 von der
deutschen Legion Condor in Schutt und Asche gebombt wurde, oder in der Kleinstadt Eibar, in der
traditionell die baskische Waffenindustrie angesiedelt ist.
Welthauptstadt der Spitzenküche
Natürlich gibt es auch klassische Kultur, Tanz, Theater, Musik, Shakespeares
„Sommernachtstraum“ als Open­Air­Spektakel in einem Park, Cervantes’ „Der Gefangene von
Algier“ als Neuinterpretation im Angesicht der Flüchtlingskrise, ein Massenkonzert von
Jugendorchestern mit zwanzigtausend Musikern und immer wieder Programmpunkte, die sich
ums Essen und Trinken drehen. Die „Time Machine Soup“ zum Beispiel geht auf eine Idee des
baskischen Bildhauers Jorge Oteiza zurück, der ausgerechnet hat, dass der moderne Mensch
gerade einmal achtzig Großmütter vom Homo sapiens in der Höhle entfernt ist. Also hat man zwar
nicht achtzig ­ das wäre unpraktikabel ­, aber immerhin zwölf Suppen aus allen Epochen der
Menschheitsgeschichte kreiert, die in einem multimedialen Happening gekocht und verkostet
werden: eine Reise durch die Jahrtausende der Kulinarik, die zeigen soll, wie sich der Geschmack
im Lauf der Zeit immer weiter verfeinert hat, und die beweisen will, dass die Kunst des Kochens
nicht nur Spaß und Genuss bereitet, sondern auch ein fundamentaler Bestandteil der
Kulturgeschichte ist.
© ARCHIV
Wie der Vater, so die Tochter: Elena und Juan Mari Arzak stehen in einem der berühmtesten
Restaurants der Erde gemeinsam am Herd.
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Eigentlich ist das in San Sebastián vollkommen überflüssig, weil diese gesegnete
Seebadgroßstadtsommerresidenz zu allem Überfluss auch noch eine kulinarische Weltmetropole
ist, ein Walhalla aller Feinschmecker, die an der Concha nicht nur das Glück gleich dreier Drei­
Sterne­Häuser finden. Hier gibt es auch eine grandiose gastronomische Alltagskultur, von der ­
vielleicht außer Tokio ­ jede andere Stadt des Erdenrunds nur träumen kann und die in Lokalen
wie dem „Narru“ des jungen Kochs Iñigo Peña zelebriert wird. Er tischt keine Haute Cuisine auf
und hegt keine avantgardistischen Ambitionen, verfeinert aber die baskische Hausmannskost
derart virtuos, dass man sich bei ihm auch so im siebten Sternhimmel fühlt.
Der Pintxo als kulinarisches Glaubensbekenntnis
Die kulinarische Ikone San Sebastiáns aber ist der Pintxo, der baskische Bruder der Tapa, geboren
in der Altstadt von San Sebastián, die bis heute das Epizentrum dieser Finger­Fast­Food­
Delikatesse ist. Tür an Tür reihen sich in den Gassen die Pintxo­Bars aneinander und verwandeln
ihre Theken in Buffets akkurat aufgetürmter Versuchungen. Wildschweinpresskopf mit Anchoa
und Blauschimmelkäse, rote Minipaprika mit Krebsfleischfüllung, Chorizo mit Cidre­Aromen,
Salat aus Hummer und Glasaal, Brioche mit verschiedenen Waldpilzen ­ das ist nur ein Ausschnitt
aus der Auswahl einer ganz normalen Pintxo­Pinte und nicht einmal eines besseren Lokals wie der
„Cuchara de San Telmo“. Dort gibt es noch raffiniertere Kreationen wie Kabeljau­Ravioli mit
konfierter Tomate und schwarzem Knoblauch aus Aragonien, Jakobsmuscheln mit
Blumenkohlpüree und Kräuter­Curry oder eine Riesengamba mit Limettenparfüm und Kokos­Pil­
Pil.
Im Sommer ist die Altstadt ein einziger Party­Schlemmer­Rummelplatz, dann wird es selbst den
duldsamen Bewohnern Donostias zu viel, die an den Hauswänden mit Plakaten um ein bisschen
Ruhe für ihren Schlaf bitten. Doch jenseits der Hochsaison ist die Altstadt noch immer das
Territorium der Einheimischen, die hier ihre Tante­Emma­Läden, Flickschustereien und
Feinkostgeschäfte wie Aitor Lasa finden, eine Ali­Baba­Höhle der Hochgenüsse, ein
badehandtuchschmaler Schlauch voller Schätze von unvorstellbarem Wert. Allein fünfzig
verschiedene Schafskäse, allesamt von baskischen Schäfern in Handarbeit hergestellt, findet man
hier, dazu besten Pata­Negra­Schinken für hundertfünfzig Euro das Kilo und Berge von frischen,
getrockneten, tiefgefrorenen Steinpilzen, Pfifferlingen, Totentrompeten, Trompetenpfifferlingen,
Morcheln, Maipilzen, Semmelstoppelpilzen und noch ganz anderen Kostbarkeiten aus den
baskischen Pyrenäen.
Ein sehr vergnügter Revolutionär
Das Schönste an Geschäften wie Aitor Lasa ist, dass alle hier einkaufen, die weltberühmten Drei­
Sterne­Köche, die Mütterchen aus der Nachbarschaft, die Mitglieder der gastronomischen
Gesellschaften, die für San Sebastián so prägend sind wie die Concha oder die Pintxos. Hinter
beschlagenen Fenstern in der Altstadt sehen wir diese Männerbünde von freimaurerischer
Verschworenheit werkeln, lauter Kerle in Schürzen ohne Macho­Attitüde, die sich mit heiligem
Ernst zum gemeinsamen Kochen treffen, um den Küchendienst als Gottesdienst und die
Huldigung des Geschmacks als liturgisches Hochamt zu zelebrieren.
© ARCHIV
Das kann man alles essen, und es schmeckt grandios: eine Rotbarbe mit Herbstlaub von Elena und
Juan Mari Arzak.
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Der Gottvater dieser Männer aber, den San Sebastián im Kulturhauptstadtjahr mit einem
Dokumentarfilm ehren wird, ist in einer Weiberwirtschaft groß geworden. Juan Mari Arzak verlor
früh seinen Vater, die Mutter stand in der Gastwirtschaft der Familie an einer Ausfallstraße im
Osten der Stadt plötzlich allein am Herd, kochte solide Hausmannskost und wollte, dass ihr Bub
etwas Besseres würde, Arzt, Anwalt, Architekt, das Übliche eben. Doch Juan Mari wollte nichts
anderes sein als Koch. Dass er schließlich einer der besten der Welt werden würde, konnte ja
niemand ahnen. Mitte der siebziger Jahre zettelte er die Revolution der Neuen Baskischen Küche
an, hob das Niveau im familiären Wirtshaus in schwindelerregende Sphären, bekam 1989 seinen
dritten Michelin­Stern, verteidigt ihn bis zum heutigen Tag und hat damit mehr Sterne erkocht als
jeder andere Chef in Spanien ­ worum dieser quietschfidele Mann von dreiundsiebzig Jahren
selbst das allerwenigste Aufhebens macht, weil ihm etwas anderes viel wichtiger ist: „Der größte
Lotteriegewinn meines Lebens ist meine Tochter Elena“, sagt er mit einer so rührenden
Zärtlichkeit, dass wir ihn am liebsten in den Arm nehmen würden ­ und seine Tochter gleich dazu,
denn sie schlägt ganz nach dem Vater.
Die beste Köchin des Planeten
Es ist natürlich ein inoffizieller Titel, doch man liegt ganz und gar nicht falsch, wenn man Elena
Arzak als die beste Köchin der Welt bezeichnet, eine Frau, so zart wie zäh und dabei von einer
derart unkomplizierten Freundlichkeit, dass wir uns gelegentlich ins Ohrläppchen kneifen
müssen, um glauben zu können, dass sie da gegenübersitzt ­ die Anna Netrebko, die Cate
Blanchett, die Madonna der Haute Cuisine. „Mein Vater und ich sind Komplizen in der Küche“,
sagt Elena mit strahlendem Lächeln, wobei er immer noch den Part des impulsiven Revoluzzers
übernehme, während sie die Besonnene sei. Gerade weil sie grundverschieden seien, klappe es so
gut in ihrem Restaurant, dessen Personal übrigens zu achtzig Prozent weiblich sei, die Chefs de
Partie mitgerechnet. „Juan Mari war nie ein Übervater, gegen dessen Allmacht ich meine Freiheit
erkämpfen musste. Wir haben uns immer gegenseitig vertraut und respektiert“, sagt Elena und
macht uns als Vater pubertierender Töchter mit ihrer Vaterliebe ganz neidisch. So ist nicht nur ein
kochendes Tandem entstanden, das es in der Welt der Haute Cuisine kein zweites Mal gibt,
sondern auch am Herd ein Generationenvertrag der friedlichen Convivence geschlossen worden,
der ganz dem programmatischen Anspruch der Kulturhauptstadt San Sebastián 2016 entspricht.
Wie unverbrüchlich er ist, erleben wir dann beim großen Degustationsmenü ­ bei Hummer mit
verflüssigten, lilafarbenen Kartoffeln, die als winzige Oktagone in eine Orangensauce getupft sind;
bei einem taufrischen Ei, das vierzig Minuten lang bei fünfundsechzig Grad gekocht, in ein rotes
Mäntelchen aus Piquillo­Paprika gekleidet, auf ein Bett aus knusprigen Schweinefußstücken gelegt
und von bunten Saucentupfern aus Paprika, Spinat und Kardamom begleitet wird. Und schließlich
servieren uns Elena und Juan Mari Arzak den „Peine del Viento“ Eduardo Chillidas ­ als kunstvoll
geschnitzte Kartoffel­Tranche mit schwarzem Trüffel aus Navarra, als Liebeserklärung an ihre
Heimatstadt, deren Schönheit nie wieder so gut schmecken wird wie hier und jetzt.
Informationen über das Programm des Kulturhauptstadtjahres findet
man online unter www.dss2016.eu, touristische Auskünfte über die Stadt
unter www.sansebastianturismo.com. Das Restaurant Arzak hat die
Website www.arzak.info, das Narru www.narru.es und der Feinkostladen Aitor Lasa
www.aitorlasa.com.
Zur Homepage
Quelle: F.A.Z.
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