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Das Leben als Aufgabe
Brigitte Fuchs
Ich bin.
Aber ich habe mich nicht.
Darum werden wir erst.
Ernst Bloch1
Ich bin
Ich bin da. Ich finde mich vor. Ich habe mir meine Existenz nicht aussuchen können.
Meinen Leib, meinen Kopf, die Arme, die Hände, meine Sinnesorgane, aber auch mein
inneres Wesen, meine Fähigkeit mich zu freuen, zu trauern, zu hoffen, zu denken,
meine Begabungen – ich finde mich vor als ein individuelles Wesen, verschieden von
anderen.
Aber ich habe mich nicht
NACHGEDACHT
Das, was ich vorfinde, habe ich nicht als festen Besitzstand. Ich habe keine vollständige Verfügung über mich. Viele Stoffwechselfunktionen lassen sich nicht willentlich
beeinflussen; ich bin, ob ich will oder nicht, Veränderungen unterworfen, so wachsen
Haare und Nägel ohne mein Zutun; Muskeln, die ich nicht benütze, bilden sich zurück
(use it or loose it), Gelenke, die ich nicht bewege, versteifen; der Geist will geübt werden, um aufnahmefähig zu bleiben; mein Organismus braucht Phasen der Ruhe und
des Schlafes; und egal, was ich tue, bin ich, wie alles, was lebt, dem Prozess des Alterns
unterworfen, und ich werde sterben. Ich bin, aber ich habe mich nicht.
Darum WERDEN wir ERST
Ich finde mich nicht vor als ein fertiges, unveränderliches Seiendes.
Ich bin mir als Entwurf gegeben, ich bin angelegt auf Veränderung, Wachstum,
auf Entfaltung, auf Verwirklichung von bestimmten Möglichkeiten, Fähigkeiten und
Anlagen. Manches teile ich mit anderen, manches ist nur mir gegeben. Immer aber
kann ich mich nur in meinen Grenzen bewegen, in dem, was mir vorgegeben ist.
Werden und Wachsen sind nicht einfach durch materielle Faktoren bestimmt:
Mein Werden ist nicht einfach Schicksal, ich kann Dinge in mir nähren und entfalten,
meine Fähigkeiten, meine Anlagen zum Blühen bringen.
Ich bin mir aufgegeben.
Meine Lebensaufgabe ist nicht etwas, das ich aus einer Art Supermarkt der Möglichkeiten auswählen könnte. Die Lebensaufgabe hat mit mir und meiner Identität, zu tun.
Meine Auf-Gabe entsteht aus der Gabe, die mir gegeben ist.
1 Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt/Main 1970, S. 13.
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Das, was mir mit meinem Leben aufgegeben ist, ist mir in der Regel nicht von Anfang
an klar und offensichtlich, ich muss es erst entdecken. „Der Hauptfaktor beim Entdecken der eigenen Lebensaufgabe ist die Selbsterkenntnis. Welche Form diese Aufgabe
auch immer annehmen mag, sie wurzelt in der Identität des jeweiligen Menschen.“2
Um meine Aufgabe zu finden, brauche ich den nüchternen Blick auf mich selbst, meine
Fähigkeiten und Begabungen. Was ist mir gegeben? Ich brauche auch den nüchternen
Blick auf meine Schwächen und Begrenzungen. Was ist mir nicht gegeben?
Darum werden WIR erst
Meine Aufgabe erschließt sich nicht im luftleeren Raum. Meine Aufgabe hat immer
einen Bezug zur Welt, die mich umgibt, sie steht in Verbindung mit anderen. Werden
und Wachsen geschehen nie isoliert, beides ist nur mit anderen, durch andere und für
andere möglich. „Leben ist Austausch“ (Niklas Luhmann).
Die Lebensaufgabe erschließt sich im Kontakt des Menschen, der sich selbst mit
wachen Augen wahrnimmt, mit der Außenwelt. Etwas oder jemand zieht uns an,
beginnt uns brennend zu interessieren, fasziniert uns, lässt uns nicht mehr los.
Für einige ist es ein Ereignis, das ihnen klarmacht, schlagartig klarmacht: Das ist es,
das will ich tun, das muss ich tun, bei anderen wächst das Verständnis langsam,
nach und nach durch viele kleine Begegnungen und Ereignisse.
Fast immer ist die Entdeckung der Lebensaufgabe auch mit Ängsten verbunden:
Kann ich das auch? Bin ich dem gewachsen? Was sagen die anderen dazu?
Im Gleichnis von den Talenten gibt es einen, der versteckt die Talente, die ihm
anvertraut sind, aus Angst. Besser nichts riskieren, sagt uns die Angst, du könntest
versagen, dann verlierst du, was du hast und wie stehst du vor den anderen da?
Besser die Talente verbergen, vergraben, dann liegen sie sicher. Und über die anderen
klagen (den strengen Herrn), die es verunmöglichen, über die Umstände, die es nicht
zulassen, dass ich etwas aus dem mache, was mir gegeben ist. Aber nicht der Ängstliche wird belohnt, nicht der, der sich beschwert und einen anderen für seine Angst
verantwortlich macht. Reichlich belohnt werden die, die ihre Talente zum Wachsen
gebracht haben. Die riskiert haben zu scheitern. Talente sind Wachstumspotential für
unsere Lebensaufgabe.
Ich bin, aber ich habe mich nicht – meine Talente sind nach unserer christlichen
Auffassung nicht mein Eigentum, das ich bewahren kann, indem ich sie vergrabe.
Sie verlieren ihren Wert, wenn sie nicht eingesetzt werden, wenn ich mich nicht riskiere.
Als Christinnen und Christen verstehen wir unsere Talente als Kapital, das es einzusetzen gilt für andere. Als Gnadengaben, die uns gegeben sind, zum Segen für uns und
für andere.
2 Monbourquette, Jean: Finde deinen Platz im Leben: der inneren Bestimmung folgen, Freiburg 2003, S.23.
Dr. theol. habil. Brigitte Fuchs, PD, Mentorin und Lehrerseelsorgerin
in der Abteilung Schule und Religionsunterricht
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