Ein Viertel mit Geschichte

22.7.2015
Artikeltextausgabe
Artikel aus der STUTTGARTER NACHRICHTEN
STADTAUSGABE (Nr. 164)
vom Montag, den 20. Juli 2015, Seite Nr. II LESEZEICHEN
BILDANSICHT
INNENSTADT
Ein Viertel mit Geschichte
S­Mitte Beim zweiten Schmuddelbankett treffen sich die, denen das Leonhardsviertel am Herzen
liegt. Rebecca Anna Fritzsche
Aus Nostalgie, das sagt Joe Bauer gleich, mache er das nicht. 'Früher war's auch nicht besser, nur anders
schlecht.' Nostalgie ist nicht der Grund, warum am Samstag das zweite Schmuddelbankett stattgefunden
hat. Sondern: 'Wir wollen auf das Viertel aufmerksam machen', sagt Bauer, Kolumnist der Stuttgarter
Nachrichten und Altstadtaktivist. 'Es ist eine alte Stuttgarter Krankheit, dass viele Leute ihre Stadt nicht
kennen. Aber ein Viertel, das Geschichte hat, ist doch viel interessanter als eins, das keine hat.'
Mit dem Viertel ist das Leonhardsviertel gemeint. Beim Schmuddelbankett ist eine Tafel entlang der
Leonhardstraße aufgestellt, man sitzt zusammen, trinkt und isst, auf der kleinen Bühne treten Bands auf,
Peter Grohmann erzählt von den Anfängen des Club Voltaire in der heutigen Bierorgel, die Bezirksvorsteherin
von Mitte, Veronika Kienzle, führt Besuchergruppen durch das Leonhardsviertel und zeigt ihnen das, was es
an historischen Häusern noch gibt. Alle Beteiligten machen das ehrenamtlich, es gibt keine Sponsoren und
keine Gelder für das Schmuddelbankett.
Dass viele Leute genau diese Gegend meiden, hat einen Grund: Das Leonhardsviertel ist das Rotlichtviertel
der Stadt, und auch während des Schmuddelbanketts blinken und leuchten die Schilder, die in die
Etablissements einladen sollen. 'Das ist aber lächerlich', sagt Joe Bauer. 'Das einzig Gefährliche hier sind die
Schlaglöcher. Aber das muss man thematisieren, nicht nur Gläser hoch machen: Reine Feste gibt es genug',
findet er.
Aufmerksam machen will auch Veronika Kienzle. 'Es geht nicht darum, das Milieu ganz zu verdrängen,
sondern verträglich zu machen', sagt sie. 'Wir wollen mehr Wohnen, und keine Armutsprostitution mehr.'
Und, das ist ihr besonders wichtig: 'Die Leute haben jetzt die Möglichkeit, sich einzubringen, zu sagen, was
sie wollen', erklärt Kienzle, beispielsweise beim Runden Tisch Leonhardsviertel oder bei der Bürgerbeteiligung
zur Neugestaltung des nahegelegenen Züblin­Areals.
Der Bezirksbeirat Mitte kämpfe seit 2004 um das Leonhardsviertel, erzählt Kienzle. Das sei anfangs zäh
gewesen: 'Mittlerweile geht es sukzessive voran, die Leute interessieren sich wieder.'
Als Beispiel dafür, dass Veränderung klappen kann, nennt Kienzle zwei Immobilienbesitzer. Der eine, Manfred
Hund, hat ein Gebäude an der Leonhardstraße erworben und Mietwohnungen eingerichtet. Er bereut das
keine Sekunde: 'Aber es geht nur, wenn der Preis in Ordnung ist', sagt er. Viele Gebäude würden zu so
hohen Preisen angeboten, dass sich ein Kauf nur für das Milieu lohnt. 'Das Leonhardsviertel ist trotz Rotlicht
eine der besten Lagen in der Stadt', sagt Hund, 'direkt im Zentrum und trotzdem ruhig.' Jan Eilsberger hat
das Eckhaus am Leonhardsplatz gekauft. Die Wohnungen in den oberen Stockwerken sind mittlerweile alle
vermietet, und in den Flächen im Erdgeschoss möchte Eilsberger eine Eisdiele oder ein Café einrichten. 'Ich
hätte gern jemanden, mit dem ich ein Konzept entwickeln kann', sagt Eilsberger, 'ich will langfristig denken.'
Das Viertel liegt ihm am Herzen, aber er weiß: 'Es ist ein langer Atem notwendig, um hier etwas zu
verändern.'
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