Besondere Orte Kollektives Gedächtnis der Frankfurter Geschichte Melanie Hartlaub und Thomas Ferber engagieren sich als Freiwillige in der Bibliothek der Alten im Historischen Museum I n blauen stoffüberzogenen Kassetten lagern Kostbarkeiten. Briefe, die in Buchenwald geschrieben wurden. Ein handgezeichnetes Bilderbuch, im Zweiten Weltkrieg entstanden. Fotografien, Pläne, ein Stein, der einem Kind wichtig war. Melanie Hartlaub und Thomas Ferber gehören zu denjenigen, die die Schätze hüten und zugänglich machen. Ferber, der vom Niederrhein stammt, lädt Besucher im ersten Obergeschoss des Historischen Museums ein, die Bibliothek der Alten näher zu erkunden. „Manche kommen ganz gezielt; anderen, die nicht wissen, was hier in den Regalen steht, biete ich an, etwas zu erzählen.“ Sein Vorbild dafür fand Ferber in einem Museum in Philadelphia: Eine strahlende Freiwillige, die ihn und seine Frau Melanie Hartlaub nach ihren Interessen fragte, um ih- nen dann ganz individuell die Inhalte des Museums aufzuschlüsseln. Thomas Ferber, der 1993 nach Frankfurt zog und als rechtlicher Betreuer arbeitete, hat „sehr schnell sehr viel mit Frankfurt verbunden“. Genau das vereint ihn auch mit den anderen Autoren der Bibliothek der Alten: Egal ob sie älter oder jünger, männlich, weiblich, jüdisch, muslimisch oder atheistisch sind – einen Bezug zu Frankfurt haben sie alle. Ferber, genau wie Melanie Hartlaub einer der mehr als 80 Autorinnen und Autoren, hat zunächst ein Projekt mit Fotos und Texten von Bewohnern des ersten Passivhauses in Frankfurt-Bockenheim in seine Kassette in einem der hohen Regale der Bibliothek der Alten gelegt. Nun geht er in seinem zweiten Projekt an lang verschüttete Erfahrungen, die er „mit Hunderttausenden der Kriegskindergeneration“ teilt. „Die Traumata zeigten sich am Ende der Berufszeit“, sagt der 74-Jährige. Er möchte nicht zu denjenigen gehören, die ständig öffentlich ihr Inneres nach außen kehren. Die Bibliothek der Alten bietet ihm einen ge- Anzeige „In meinem Buch lebt meine Geschichte weiter.“ Zum Wartturm 11-13 63571 Gelnhausen Tel.: 06051/ 88381-0 www.verlagoo.de 40 verlagoo - AZ Senioren 90x69_v3.indd 1 Fotos (3): Oeser Wir veröffentlichen Ihr Lebenswerk. Melanie Hartlaub und Thomas Ferber versuchen einen Pfad durch Erinnerungen und Gedanken zu schlagen. 11/23/2015 1:00:58 PM Senioren Zeitschrift 1|2016 Besondere Orte schützten Rahmen: „Nur derjenige bekommt meine Kassette in die Hände, der sich wirklich dafür interessiert, man muss hierher kommen, um darin lesen zu können.“ Einen Pfad durch Gedanken und Erinnerungen zu schlagen, das in der Bibliothek versammelte kollektive Gedächtnis in einer Datenbank an der Medienstation im Museum und im Internet auffindbar zu machen, ist die Aufgabe von Melanie Hartlaub. Sie gehört zusammen mit Feli Gürsching als Freiwillige auch zum vierköpfigen Team, das Konzepte entwickelt und Veranstaltungen plant. Hartlaub hatte beruflich zuletzt das E-Government der Stadt Frankfurt mitgestaltet. Ferber und Hartlaub, die lieber das Wort „Freiwillig“ als „Ehrenamt“ verwenden, wollen mit ihrem Engagement keine reguläre Arbeit ersetzen. „Wir füh- ren unsere privaten Interessen in öffentlichen Einrichtungen fort“, sagt Thomas Ferber. Melanie Hartlaub, die sich nach der Altersteilzeit „kontinuierlich“ für etwas engagieren wollte, freut sich über die vielfältigen Möglichkeiten in der Bibliothek der Alten. Neben freundschaftlichen Bezügen und spannenden inhaltlichen Aspekten ergeben sich auch immer wieder Verbindungen zu anderen Autoren: „Bei einer Lesung erwähnte Sylvia Kade ihre jüdische Mutter, die von Berlin ins Vogtland emigrierte. Es stellte sich heraus, dass der Bruder meiner Großmutter, der rote Baron, sie dort unterstützte und schützte. Es kommt ziemlich häufig vor, dass Personen auch mit anderen Geschichten in der Bibliothek der Alten verknüpft sind.“ Susanne Schmidt-Lüer Briefwechsel aus Zeiten des Kalten Krieges zwischen Ostberlin und Frankfurt. Die Bibliothek der Alten – Sigrid Sigurdsson – 2000–2105 Die Bibliothek der Alten ist ein künstlerisches Erinnerungsprojekt von Sigrid Sigurdsson, das im Historischen Museum Frankfurt aufgestellt ist. Es ist generationenübergreifend angelegt und läuft seit dem Jahr 2000 bis 2105. Am Ende wird es über 200 Jahre erinnerter Geschichte umfassen. Momentan füllen rund 130 Personen und Institutionen – die Autoren genannt werden – die Bibliothek mit ihren Lebenserinnerungen oder thematischen Betrachtungen. Sie steuern Texte, Briefe, Fotos, aber auch Zeichnungen, Musikstücke, Interviews und Filme bei. Jedes Jahr kommen zwei Autoren hinzu. Die Bibliothek der Alten soll für die Museumsbesucher besser nutzbar werden. Daher werden derzeit alle Beiträge, das heißt Themen und Personen, erfasst und „suchbar“ gemacht. Das Projekt, das ehrenamtlich von Melanie Hartlaub betreut wird, soll 2017 abgeschlossen sein. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Digitalisierung der eingereichten Medien, denn die Haltbarkeit von VHS-Kassetten oder CDs ist begrenzt. Die verschiedenen Medien und Datenträger werden von einer Fachkraft digitalisiert und auf dem Museumsserver archiviert. Auf diese Weise können die Informationen gesichert und für die Nachwelt aufbewahrt werden, auch wenn die Datenträger selbst verfallen und nicht mehr lesbar sind. 1|2016 Senioren Zeitschrift Was aber ist eine Bibliothek ohne Leser? Jeden Dienstagnachmittag von 14 bis 17 Uhr ist daher ein Autor vor Ort, um den Besuchern das Projekt zu erklären und einzelne Beiträge zu zeigen. Thomas Ferber ist einer von acht ehrenamtlichen Mitarbeitern, die diese wichtige publikumsbezogene Aufgabe übernommen haben. Mehr Informationen unter: www. historisches-museum-frankfurt.de. Sehen und erleben Für die Leser der Senioren Zeitschrift gibt es eine kostenfreie Führung – inklusive freiem Eintritt – am Dienstag, 26. Januar, um 10 Uhr. Da die Teilnehmerzahl auf 15 Personen begrenzt ist, bedarf es der Anmeldung. Interessenten können sich unter dem Stichwort „Senioren Zeitschrift“ beim Besucherservice des Historischen Museums bei Susanne Angetter von Montag bis Donnerstag zwischen 10 und 15.30 Uhr unter Telefon 069/212-351 54 anmelden. red Außerdem hält Prof. Dr. Astrid Erll von der Goethe-Universität am 24. Februar um 18.30 Uhr in der Bibliothek der Alten einen Vortrag zum Thema „Vom kulturellen Gedächtnis zur transkulturellen Erinnerung: Neue Perspektiven auf die Bibliothek der Alten in der Migrationsgesellschaft“. Dazu sind zehn Leserinnen und Leser der Senioren Zeitschrift herzlich eingeladen. Anmeldungen erbeten unter Telefon 069/212-351 54. red 41
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