HILDE Da begannen wieder jene Tage, die unterm Hund des Sirius sich dehnten, Teer kochten, in dem die Kiesel schwammen, die an den nackten Fußsohlen kleben blieben, schwarze Flecken hinterließen, die mit Benzin abgewaschen werden mussten, und ein Nest Champignons durchstieß mit blendend weißen Köpfen vor der Hauseinfahrt den weichen Asphalt, über den mich die Mutter der Mutter, die Hand wie einen Flügelstumpf flach zwischen meine Schulterblätter gelegt, Schritt für Schritt weiterschob, durch Straßen, die auf mich wirkten, als sähe ich sie zum ersten Mal deutlich vor mir mit ihren säuberlich gereinigten Rändern, dem streng dressierten Buchs und dem Gestank von Rabatten voller Tagetes, dem erst der Juli zu seiner vollen Entfaltung verhalf. Ein kleiner Anstieg und wir kamen in die Stadtgegend, die man Auf dem Berg nannte, dort hatte die Mutter der Mutter gewohnt, hatte sie geheiratet, ihre fünf Kinder bekommen, von denen eines zu schwach gewesen war für ein mehr als vier Jahre anhaltendes Leben, hier hatte sie im Frühjahr Holz geschichtet und im darauffolgenden Winter verheizt und Rhabarber von Stauden eingekocht, die jetzt zwischen allem anderen Zeug im Garten wucherten und mit weißen Spießen, die sie hoch in die Luft stießen, blühten, weil keiner der Italiener, die jetzt in dem Haus lebten, mit dieser Erde im Garten etwas anfange, und in ihren Sätzen fielen noch immer die Ziegelsteine aus der Gartenmauer, die man von der Synagoge hinterher habe zusammenlesen können, und nun schiebe jeden Winter nicht das Feuer sondern der Frost einen Stein über den anderen, bis sie am Ende allesamt zusammenfielen, was das für einen Sinn habe, sagte sie, als wir längst am Fluss entlang gingen, der nach übermäßig viel Fäulnis roch, während man schon zwischen den letzten Häusern der Stadt hindurch sah, zu den Überlandleitungen, deren zwischen hohe Stahlmasten gespannte Drähte in weiten Bögen durchhingen, wie diese Tage des Sommers. Dort, hinter Tennisplätzen, Schwimmbad und Turnhalle, jenen Anlagen, womit man die Freizeit einsammelte, die in der Stadt so kräftig wuchs wie der Müll, hatte der Farre, so nannten ihn in der Verwandtschaft alle, gegen kostenloses Wohnen und ein geringes Einkommen den Farrenstall der Stadt umzutreiben, ein Gebäude, das einen ungewöhnlich hohen Stall und eine um so niedriger geratene Stubendecke besaß, unter der der Farre, ein großgewachsener, allerdings schmalgestaltiger Mann stets etwas gebückt gehen musste, wo inzwischen bereits die vier Schwestern der Mutter der Mutter saßen und es an Männern nur noch den Farre und Österle gab, denn der Großvater hatte sich vor einem Jahr am Karfreitag hingelegt und war am Ostermontag gestorben, und es gab Hilde. Hilde aber war für mich ein Geruch, neben den man sich setzen konnte, der mir einen Platz anbot, doch anders als bei der Mutter der Mutter, die ihr Gebiss mit Klosterfrau Melissengeist einrieb, bevor sie es einsetzte, und ihren Hals mit 4711, bevor sie sich ihren Schwestern aussetzte, hatte der Geruch von Hilde nichts Hergerichtetes, nichts Bestimmtes, er war einfach nur der nackte Geruch eines menschlichen Körpers, angewärmt von einer porösen Hautschicht und mit dem feinen Aroma unabsehbarer Möglichkeiten gesättigt, wie sie in einem solchen Körper lagen und ihn vom Straßenbelag, den verzinkten Zäunen, den Waschbetonplatten und dem Rest des Alls unterschieden. Doch Hildes Geruch, in den ich mich, ohne dass sie es ahnen konnte, wie meinen fröstelnd aus kaltem Wasser kommenden Leib in ein Handtuch einwickelte, kam hier nicht an gegen den an fünf Frauen gespritzten Duft, gegen den Qualm, den Österle vor sich in die Luft pumpte, den Raum mit einem harzigen Aroma durchschleiernd, an dem das Licht klebte, nicht gegen die in vielen Schichten und jahrzehntelangen Arbeitsgängen mühsam übereinander gelegten Ausdünstungen von Bohnerwachs, das aus den breiten Dielenbrettern, deren Äste ungezählte Fußtritte präzise herausgearbeitet hatten, die mehr aber noch aus den fingerbreiten Fugen aufstiegen, und auch nicht gegen den Uringeruch der Stiere, der wie ein dünner, hoher, mit einem ewigen Atem angehaltener Ton im Zimmer hing. Hilde war nie in der Schule, war immer beim Österle und seiner Frau gewesen, konnte ihren Namen aber schreiben, schrieb auf die Zeitung vor mir HILDE und hinter der dickglasigen Brille fielen dabei ihre Pupillen in einem grauen Brillenglassee im Mittelpunkt kleiner Brillenglaswellen beständig wie Steinchen in eine unauslotbare, geräuschlose Tiefe, während Bewegung in die Stimmen der fünf Frauen gekommen war, von denen jede die Fähigkeit besaß, sich in drei Gespräche gleichzeitig einzufädeln, sich durch das Gewirr von Stoffen, in welche die alten Muster von Unglück, getäuschter Hoffnung und einem Tod, bei dem es besser so war, eingedruckt waren, mit nicht nachlassender Festigkeit durchzustechen und Hilde, mich sowie die beiden Männer dabei mit einer sich fortwährend weiter aufbauschenden Flickendecke zu bedecken und uns unter ihr schließlich unsichtbar werden zu lassen. Das Zimmer schwitzte von den Körpern an den Fenstern seiner Nordseite und in den Gesichtern der fünf Frauen schwitzte es ebenfalls, selbst jene der Schwestern, die in einer anderen Stadt als Pfarrhaushälterin tätig war und sich in Kirchen und Pfarrhausfluren einen gedämpften Umgang angewöhnt hatte, musste ihr Taschentuch in einer Weise ständig ins Gesicht pressen, mit der man verschütteten Wein von einem Kleid saugte, um den dort entstandenen Fleck nicht noch größer zu machen, dennoch verlor ihr Gesicht nicht die schillernde Farbigkeit einer Kirchenfensterrose, und dabei bildeten die zehn Arme der Frauen ein lautes Orchester, das zwischen ihren Schößen, ihren Schenkeln und all den Geschichten, die sich knapp über dem Kaffeegeschirr auf dem Tisch bewegten und entfalteten, eine mehrstimmige Programmmusik aus einem festen Erinnerungsrepertoire spielte, und manchmal gab es für ein und dieselbe Wirklichkeiten, Geschichte zwischen denen drei die unterschiedliche Töne, Motive und Phrasierungen hin und her geworfen wurden, oftmals eingeübt, ein Leben lang wiederholt. Bis da jemand drüben im Farrenstall stand, und der Farre, nachdem die fünf Frauen die prall mit Sahne gefüllten Windbeutel hinabgeschluckt und den Kaffee getrunken hatten und mittlerweile beim Piccolosekt angelangt waren, zusammen mit Österle hinaus ging, nicht ohne zwischen die Köpfe der Frauen hinein zu erklären, der Farre, den er jetzt brauche, der der Hauptbesamer für die Stadt sei, heiße Erhard, denn er habe die mächtigste Zigarre von allen, was Lachen zwischen die Köpfe der Frauen spritzen ließ, woraufhin der Farre nachlegte, der blase auch den dicksten Rauch aus seiner Havanna, und sich aus dem fünffingrigen Gelächter, das wie eine nervöse Hand im Zimmer herumfuhr, herauswand, während Hilde mich an der Schulter nahm und ebenfalls in Richtung Stall drängte. Denn jemand hatte ein Rind hergebracht, das zum ersten Mal beschält werden sollte, wozu man es in den Besamungsstand kettete, der ein hölzernes V bildete, jene uralte Falle, die mit Weite begann und zuletzt sich zum unentrinnbaren Punkt zusammenzog, und nun bearbeitete der Bauer das müde blickende Tier mit einem alten, rundgeriebenen Stück Dachlatte, indem er ihm zuerst sanft, dann aber immer kräftiger und in sich steigerndem Tempo das Rückgrat entlang fuhr, bis der Farre den riesenhaften Stier brachte, geführt an einer Kette im schweren eisernen Nasenring, einen von denen, die ihn schon einmal an die Wand gedrückt und ihm Rippen gebrochen hatten, und man Hilde und mich zurück zu den fünf Frauen schickte. Doch kannte Hilde, von der Erwin beim Mittagessen einmal gesagt hatte, sie käme aus der hinteren Mongolei der Eierstöcke, einen Weg ums Haus und auch eine hintere Tür, die wir öffneten und schlossen und im Dunkeln sahen, wie Österle seinen Stumpen zu einem nassen Zipfel heruntergeraucht hatte, den er, nach jedem Zug hinter dem Qualm abtauchend und nach einer Weile dann dahinter mit Knopfaugen wieder erscheinend, im Mund balgte, wie der Farre den Kopf des Stiers, dessen hintere Klauen bei jedem Stampfen den Bodenstaub aufwölkten, über den Rist des Rinds zog, wie unterm Stier aus dem Bauch ein langer fleischiger Stock herausfuhr, wie das Tier den von ihm erwarteten Sprung tat, ohne erkennen zu lassen, dass ihm viel daran gelegen war, wie der Farre dem blind suchenden Penis des Stiers mit der Dachlatte half jenen Punkt zu treffen, wo er sich tief in das Rind hinein schieben konnte. Der warme, holzmehlige Geruch, der im Farrenstall gleichmäßig verteilt war, er bräunte das hereinfallende Licht wie auf einer sehr alten Fotografie, und darauf war Hilde mit ihren wackelnden, aufgeregten Schritten, die sie neben mir machte, die Tänzerin mit nackten Beinen und großen, ausgewachsenen Brüsten, die sie zwischen einer kleinen Marmorsäule und einer falschen Palme darbot, als sie sich, mit einer Hand ihren Rock nach oben, ihre Unterhose mit der anderen nach unten schiebend, zu reiben begann, den Unterleib nach vorne drückte, weich aufmachte wie eine Kühlschranktür, hinter der es gedämpft nach frisch gelöschtem Kalk und fettiger Milch roch, und Hildes Oberarm drückte sich fest auf eine ihrer Brüste und Hildes Lippen kneteten die Lust, die sie sich zwischen den Beinen zusammenrieb, noch einmal im Gesicht, das ihre flache Zunge um den Mund in einem großen Oval nassgeleckt hatte. Und da gab Hilde mir diesen Geruch des Körpers, den ich den ganzen Nachmittag vergeblich gesucht hatte, der stärker sein sollte als die Sätze in den Kirchen, die Texte in den Schulen und Universitäten, die Wörter der Zeitungen, das Rauschen der Fernseher, das künstliche Licht der Zukunft und die klaren Versprechungen der Zahlen, und er entsprang in einer knorpeligen Falte neben den Brillenbügeln, wo es dunkelrot glänzte und Zucker karamellisierte wie in den Kupferkesseln, über denen süße Wattebäusche an Holzstäbchen gedreht wurden, ihre Schulter, an die ich mich lehnte, übersprühte dabei einen schwachen Hauch von Rost mit den hellen Duftfarben einer abgeriebenen, und in frischen Butterteig geraspelten Zitronenschale, aus ihrer Achsel kam der trockene Hauch von altem Terpentin, wie er über sommerlang gelagerten Kieferstämmen lag, womit sich der von den Brüsten ausströmende, mich überraschende Geruch von frischem, gelbgrün irisierendem Motoröl mischte, das in meiner Nase und am Gaumen einen herben Widerhall hervorrief, sich allerdings nicht mit dem kräftigen Ährenstaub von Hildes Rücken vermengte, Staub, wie er wochenlang von Mähdreschern in die Luft über den Feldern geblasen wurde, und den Sommer zu einem trüben Leuchten brachte. Und die Hand, die mir Hilde, nachdem der Bulle seine Sache erledigt hatte und die Männer noch ein paar Sätze miteinander redeten, hinstreckte, die sie mir mit ihrem das ganze Gesicht zusammenschiebenden Lachen vor die Nase hielt, roch nach jener Herbstsäuernis, die bald mit dem Obst während der Nächte ins Gras fallen und dort bis am Morgen liegen bleiben würde, umgeben von unangefochtener Stille und der Reglosigkeit der Luft oder milder Tage, einem schwebenden Moment zwischen Sommer und Winter, lastender Hitze und nassem Schnee, hitzeroter und frostroter Haut, einem Augenblick, der noch nicht berührt war, den noch der mattblaue Schleier frisch gefallener Pflaumen überzog, welchen die erste, unausweichliche Berührung zerstören würde, eine Stelle glänzender Tatsächlichkeit zurücklassend, hinter der Hildes unordentlicher Haushalt von Gerüchen, ihr Straßengewirr der Düfte, ihre Flussläufe dunstender Kontinente und ihre rasch wechselnden Monatsaromen als eine dunkel gespiegelte Erinnerung versanken. Dann machte sich Hilde durch die Hintertür zum restlichen Kuchen in der Küche davon, ich ging zum Farre, der zog gerade einen weiteren Kreidestrich, schrieb dann eine neue Kreideziffer auf die Tafel an der Wand hinter dem Stand des Stiers, eine Zahl in der natürlichen Zahlenreihe höher, die hatte in diesem Jahr das Tier bis jetzt erreicht, aus dessen sich selbst zurückschiebendem Rohr es auf den Boden tropfte, dabei zog der Tropfen in der Luft einen glitzernden Faden, der abriss, als der Farre mir auf die Schulter klopfte, mich an den vier Buchten vorbeischob, bis wir zu dem Besamungsstand kamen, wo durch die nur angelehnte Scheunentür mittlerweile ein kreideheller Lichtstrich auf den Boden gezeichnet war, dessen Spitze genau zwischen die Schenkel des hölzernen V lief, und dort ahnte ich erstmals das Basiszeichen, fühlte ich den kleinen Keim jener viel späteren Einsicht, mit der mir meine Kindheit als jener andre Teil in der stets doppelten Buchführung der Zeit verzeichnet erschien, in welche die Geschichte so lange ihre falschen Zahlen eintrug, bis sie schließlich eine vollkommen eigenwillige Rechnung aufgemacht hatte und mit Ziffern spielte und abrechnete, die keiner jemals zu kennen in der Lage war, bis er irgendwann die unmöglich abzutragende Größe seiner Schuldensumme vorgelegt bekommen würde. In der Stube trugen die fünf Frauen mittlerweile jene Müdigkeit am Leib, die ihre Kleider grau und zu gestaltlosen Lappen werden ließ, worin ihre Körper so fassungslos waren, dass ihre Gesten die kurzatmig gewordenen Sätze nur noch ein kleines Stück fortzuführen vermochten, Österles Husten kullerte wie ein zahlenloser Würfel, mit dem niemand etwas anfangen konnte, zwischen die Gläser, eine Wanduhr, die man erst jetzt wahrnahm, hielt auch hier die Sekunden einzeln und mit kleinen Schuhmachernägeln fest, und Hilde war untergetaucht im Dampf des Schweißes und der zungenfeuchten Sätze, die nun trocken geworden waren, allenfalls noch das gesunde, nützliche Kraut, mit dem man sich im Winter Tee aufgoss, an das sich aber jetzt noch niemand erinnert wissen wollte. Als der Himmel das fleischfarbene Korsett der Mutter der Mutter hätte sein können, verschnürt mit Stromleitungen, da dünstete der Fluss neben mir und der Mutter der Mutter zu viel Fäulnis aus, aber unter den Kastanien bei den Tennisplätzen gab es noch nicht jenes schwach nach Muskat riechende Nussaroma, welches sich erst in ein paar Wochen zwischen den Stämmen dort ablagern würde, denn die Hitze war auch der beginnenden Nacht geblieben, stand zähflüssig da und schien von nichts mehr aus der Stadt vertrieben werden zu können, die Mutter der Mutter wischte sich mit ihrem, einen Nachmittag lang durchgeweichten Taschentuch den Nacken und von dort brachte sie einen Geruch mit, der roch nach einem sehr, sehr alten Sommer, der ein türloses Zimmer ohne Fenster war, an dessen bilderlosen Wänden kein Licht sich bewegte, dessen Boden keinen Stuhl, keinen Tisch, kein Bett und keinen Fußabdruck trug und über dem es am Himmel längst keinen Mond mehr gab.
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