Skug Schwerpunkt Popkultur als PDF

Musik-Events als
kultur­politische
und pop­kulturelle
Praktiken
Roundtable & Buchpräsentation
Samstag, 3. Oktober, 20.30 Uhr
Forum Stadtpark, Graz
Anlässlich der Buchpräsentation »10 Jahre Elevate« und dem
Popkulturschwerpunkt in dieser Ausgabe machen das Grazer
Festival und skug gemeinsame ­Sache. In einem Panel wird
über die aktuelle kulturpolitische und popkulturelle Landschaft anhand von Arbeitsbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten von Musikveranstaltungen diskutiert.
Seit einigen Jahren grassiert eine immer heftiger werdende
Gratis-»Kultur«. Ob Musik, Magazine oder Events: Masse
statt Klasse scheint die Parole zu sein, um in dieser beinharten Ökonomie der Aufmerksamkeit bestehen zu können. Was
heißt das für Organisatoren, Publikum und Künstler? Können
Festivals diskurs­bildend sein? Was hat Party mit Politik zu
tun? Wie stehen Community-Building, Kulturvermittlung und
Flexibilität zueinander? Wie kann 2015 über Musik-Events als
politische Utopie, künstlerisches Konzept und soziokultureller
Gegenstand ­gesprochen werden?
Nach einer Runde mit Statements bzw. Impulsvorträgen
­findet eine Roundtable-Diskussion statt.
Podium
Simon Hafner – Vorstand IG Kultur Steiermark
Christian König – Mitorganisator von commandyoursoul, skug
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Bianca Ludewig – schreibt ihre Dissertation über Festivalkultur
Shilla Strelka – Kuratorin von Struma+Iodine, skug
Heinrich Deisl – skug (Moderation)
Danach: Elevate-Buch- und skug-Magazin-Release-Party
mit skug Soundsystem feat. Inou Ki Endo und Dent
Diese Veranstaltung bildet den Auftakt der Elevate-Diskursreihe »Create ­Response«. Beiträge für »10 Jahre Elevate«
kommen von Vandana Shiva, John Holloway, Naomi Klein u. a.
Weiterführende Informationen
www.elevate.at
www.skug.at
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Schwerpunkt
Popkultur
Pop — Over and out?
Überlegungen aus der Perspektive der Generation skug. Zweiter Teil eines Schwerpunktes zum
­Thema »Musik, Geld und Politik« gemeinsam mit der Zeitschrift »MALMOE«.
CHRISTIAN KÖNIG TEXT
Seit der Autor dieser Zeilen vor 25 Jahren die erste Ausgabe
von skug in den Händen hielt, hat sich die Welt der Popmusik komplett verändert. Damals gerade frisch in Wien, gab es
ständig neue Musik zu entdecken – besonders die so fremd erscheinende Welt des »Undergrounds«.
Der musikalische Untergrund versammelte sich um 1990
herum in Wien tatsächlich noch physisch unter der Erde – in
finsteren Kellerlokalen, gefüllt mit schwarz gekleideten Gestalten oder den Überresten vergangener Punk-Glorie. Oben
im Tageslicht waren die Langweiler mit ihrer kommerziellen
Radiopopmusik zu Hause, das waren fast alle. Auch von der
gleichaltrigen Jugend interessierten sich nur wenige für innovative oder schlichtweg wildere Sounds.
Die Informationen über diese Art Musik waren rar.
­Sicherlich, es gab Zeitschriften wie »Spex« und »Chelsea
­Chronicle«, oder die »Musicbox«, aber bei denen musste man
erst mal den Einstieg schaffen, um zu verstehen, wovon überhaupt die Rede war. In dieser Szenerie kam skug als neues heimisches Magazin gerade recht. Vor allem da die hiesige Alternativszene um 1990 vor einem immensen Wachstumsschub
stand und sich auch global einiges tat.
Die musikalische Welt befand sich vor 25 Jahren insgesamt komplett im Umbruch. Techno stand in den Startlöchern (einer der ersten Artikel über Techno in Österreich erschien damals im skug), HipHop war schon groß, und wurde
immer größer, und mit dem Hype um Grunge wurden verloren geglaubte Werte der 1960er in den Mainstream gehoben.
Hierzulande explodierte die Elektronikszene, und Wien konkurrierte plötzlich mit Berlin, London und Detroit in Sachen
­Coolness.
Musikgeschäft im Wandel
Die Tonträgerbranche konnte die neue Situation in einen ungeheuren Boom umsetzen, und diversen lokalen Acts gelang der
Sprung auf das internationale Parkett. Mit der Gründung von
FM4 wurde die lokale Bühne um einige Sitzplätze erweitert.
Ab Mitte der 1990er erhielt der Pop-Boom durch den Ausbau
des Internets noch eine zusätzliche Dynamik in Sachen Vernetzung und Informationsaustausch. Zuvor mühsam erworbenes
Wissen wurde Allgemeingut. Die alte Opposition Mainstream
vs. Underground (auch im Begriff »Alternative« manifestiert)
war mit dem Millennium also erledigt.
Dann begann es im Popgebälk gewaltig zu knirschen. Um
das Jahr 2000 begannen die Verkaufszahlen im Tonträgerbereich zu sinken, und der Wert von Popmusik wurde generell
in Frage gestellt. Zahlreiche Vertriebe gingen in Konkurs, und
auch Musikmagazine verloren LeserInnen.
Mittlerweile schaut es zwar so aus, als hätte die Musikindus­
trie schön langsam einen modus operandi gefunden, mit den
neuen digitalen Herausforderungen umzugehen. Aber sie ist
2015 mit Sicherheit eine ganz andere als 1990. Mit der Tonträgerindustrie liegt der ehemaligen Leader am Boden. Das
große Geschäft machen heute Ticketing-Firmen mit Gebühren
auf Eintrittskarten.
Der oben beschriebene Transformationsprozess hat einerseits zu extrem kleinteiligen und unübersichtlichen Strukturen geführt. Andererseits ist Pop im universalen Sinn eigentlich keine aussagekräftige Kategorie mehr. Wie Thomas Edlinger in seinem neuen Buch »Der wunde Punkt« schreibt, gibt es
kein Außen des Pop mehr, auf das sich dieser beziehen könnte
(vgl. dazu den Textausschnitt auf Seite 40 in diesem Heft).
­Sowohl die volkstümliche, als auch die klassische Musik sind
›popifiziert‹.
Es ist die Ökonomie, Dummkopf!
Beginnt man über die gegenwärtigen Bedingungen der Popmusikproduktion nachzudenken, tun sich sehr viele Fragen
auf. Abgesehen von der durch die Wirtschaftskrise verstärkten allgemeinen politischen Frage, wo eigentlich das ganze
Geld hingekommen ist, wird schnell ein Defizit spürbar, wenn
es um die spezifische Beschreibung gegenwärtiger Popökonomie geht. Insbesondere bei JournalistInnen machen sich oft
breite Lücken im Wissen über die konkrete Ökonomie des Pop
bemerkbar.
Was somit mehr als notwendig erscheint, ist vorerst die
deskriptive Bestandsaufnahme des Bestehenden, die Anfertigung einer neuen Landkarte ohne Scheuklappen und vorschnelle Kategorisierungen. Wohin die Reise geht, ist heute
mehr denn je unklar, und um uns nicht völlig den immer
­intransparenter werdenden Strategien der PR-Agenturen in
­Sachen Pop auszuliefern, ist es umso dringlicher, nach Orientierungsmarken Ausschau zu halten, das Musikschaffen zu
kontextualisieren und den Diskurs zu forcieren.
Der Schwerpunkt auf den folgenden Seiten, der gemeinsam mit der Redaktion der politischen Zeitschrift »MALMOE«
entwickelt wurde, will als Anstoß verstanden werden über
diese Fragen nachzudenken. Während in der eben erschienenen »MALMOE« #72 vor allem über die prekären Arbeitsbedingungen von PopaktivistInnen zu lesen war, geht es auf den
nächsten Seiten vermehrt um globale Fragen zwischen Poptheorie und Popökonomie. Ich denke, diese werden skug auch
die nächsten 25 Jahre beschäftigen.
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Schifoan im
Standortwettbewerb
Was hat bloß das Genre Austropop – seit gut zwei Jahrzehnten vorrangig als Schimpfwort in
­Gebrauch – wieder salonfähig gemacht? Überlegungen zum Zusammenhang von Neo-Austropop
und Kreativwirtschaft.
BEAT WEBER TEXT
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Im Indie-Plattenladen gibt es plötzlich ein »Austropop«-Fach,
auf der Pro-Flüchtlinge-Demo erklingt zum Auftakt eine alte
Ambros-Nummer, Dolezal & Rossacher-Dokus laufen im TV
wieder auf Heavy Rotation, und haufenweise junge Bands setzen mit Erfolg auf Dialekt als Stilmittel.
Kritische Geister begegnen der Begeisterung für ein Wiedererstarken deutschsprachiger Popmusik aus Österreich reserviert. Der Lokalpatriotismus, mit dem so heterogenen
Bands wie Wanda, Bilderbuch und zahlreichen Dialekt-Bands
das Austropop-Mäntelchen medial umgehängt wird, verleiht
der Musik einen unangenehm konservativen Beigeschmack.
Dieser wird durch die Imagepolitik der Bands zum Teil gestützt. Wanda geben quasi die Band zum Buch »Tschocherlreport«, einer erfolgreichen Reportagenserie, die einem studentischen Publikum voyeuristische Einblicke in randständige
rustikale Stammkneipen in Wiener Vorstädten als Refugien
putziger autochton-proletarischer Authentizität gewährt.
Der burschikose Retro-Rockismus von Wanda, aber auch
der androgyne Retro-Futurismus von Bilderbuch verweisen
beide auf ein Lebensgefühl der frühen 1980er, wo Internationalitätsvorstellungen weniger um den Umgang mit Zuwanderung kreisten, sondern vorwiegend den Charakter anglo- und
italophiler Tagträume in einem vergleichsweise provinziellen
gesellschaftlichen Alltag hatten. Einer Zeit, in der »Bologna«
noch für aufregenden Urlaub statt für globale neoliberale
­Bildungsreform stand.
Konservativ oder bloß retro?
Aber im Gegensatz zu Rechtsrockern, die Zurückgebliebenheit
kongruent in Form und Inhalt zelebrieren, transportieren viele
Neo-Austropop-Acts eine progressive Haltung. Das hat zum
einen mit einer gewissen Autonomie der Codes im Pop zu tun:
Wie in anderen kulturellen Feldern wird auch in der Popmusik
mit ausreichendem Zeitabstand fast jede Stilepoche irgendwann reif für eine Neubetrachtung. Und seit Pop in das Stadium der endlosen Retroschleife eingetreten ist, besteht hier
Innovation vor allem in der Suche und Wiederbelebung entlegener Seitenstränge der Musikgeschichte. Als reine Form werden sie aus ihrem Entstehungszusammenhang gelöst und neu
kontextualisiert (zum Beispiel in einer ironischen Rahmung)
oder mit anderen popkulturellen Versatzstücken kombiniert.
Auch dass Musikstile mit bestimmten Orten verknüpft
werden, ist ein Standardphänomen in der Musikgeschichte:
Merseybeat, Seattle-Sound, Manchester Rave, Italopop und
viele andere Labels sind über die Jahrzehnte entstanden, um
mehr oder weniger treffend aktuelle Musik auf einen lokalen
Nenner zu bringen. Dass nun auch Austropop wiederbelebt
wird, ist somit – abseits der Frage, wie treffend dieses oder
andere Labels sind – nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, das ausschließlich als Indikator heimischer Politikbefindlichkeit deutlich gemacht werden könnte. Am ehesten noch als
Ausdruck eines allgemeinen Zeitgeists, der das Lokale wiedererfindet, um sich in der ökonomischen Globalisierung zu behaupten. Diese Tendenz hat eine defensive und eine offensive
Komponente. In Zeiten allseits erodierender Sicherheiten konstatiert die Soziologin Cornelia Koppetsch eine »Wiederkehr
der Konformität«. Verbreitete Abstiegsängste wecken demnach eine Sehnsucht nach Geborgenheit in Stabilitätskernen
wie Nation und Familie. Wo ökonomische Zukunft prekär wird,
gewinnt die vergleichsweise hohe Verbindlichkeit dieser Gemeinschaften an Attraktivität, insbesondere wenn damit Privilegien gegenüber Nichtzugehörigen verbunden sind.
Regionale Identität wird zudem auch offensiv als ökonomischer Wettbewerbsfaktor instrumentalisiert: Mit lokalen
Images versuchen Unternehmen im globalen Produktüberangebot hervorzustechen und Regionen sich im Standortwettbewerb zu behaupten. Die Popkultur, deren Kernmedium die Popmusik ist, macht heute der ehemaligen Hochkultur den Status
als Repräsentationskultur streitig: Im Rahmen der obligatorischen Homestory auf musikalische Vorlieben angesprochen,
sind PolitikerInnen heute gut beraten, nicht bloß mit Mozart
und Beethoven aufzuwarten. Für eine Stadt oder ein Land gilt
das selbe. Lokale Identität zu vermarkten braucht heute folglich eine Popkomponente. In britischen Städten wie London,
Liverpool, Manchester, Glasgow und anderen ist der Wandel
auf den lokalen Spuren historischer Popmomente und ihrer
zeitgenössischen Ableger längst ein offensiv vermarkteter touristischer Trampelpfad. Kontinentaleuropa versucht zu folgen.
Kampf um die kreative Klasse
In Österreich wurde zur Jahrtausendwende, unter der Ägide
von Schwarz-Blau, die heimische Kreativwirtschaft als Objekt
des öffentlichen Interesses definiert und als ein Hoffnungsträger für wirtschaftliche Entwicklung und Standortattraktivität
ausgemacht. Der vom Burgschauspieler und Popmusiker zum
Kulturstaatssekretär avancierte Franz Morak schaffte es mit
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dieser Ansage, in progressiven Kulturkreisen seinen Status als
neoliberaler bad guy zu festigen. Doch auch in vermeintlichen
Widerstandsnestern gegen Schwarz-Blau wie Wien wurden
bald einschlägige Programme hochgefahren. Dies lag damals
im internationalen Trend.
Berater wie der Regionalwissenschafter Richard Florida
zogen um die Welt, um BürgermeisterInnen und KulturministerInnen Tipps zu geben, wie sie die »kreative Klasse« anlocken
können, die als Schlüssel für künftige Prosperität zu betrachten sei. Zwar riet er genau genommen dazu, eine kulturelle Infrastruktur, ein Klima der Diversität und Toleranz und sonstige
unterstützende Eckpfeiler für eine florierende Boheme zu fördern, weil das Umfeld maßgeblich sei für die Anlockung nicht
steuerbarer Kreativität. Die Politik verstand darin jedoch vor
allem, dass hier ein neues Feld der Wirtschaftsförderung zu
bearbeiten sei, und machte sich ans Werk.
Programme wurden ausgeschrieben, um Geld an Unternehmen zu verteilen, die gewissen Kreativitätsindikatoren genügten. »Kreativwirtschaft« wird unterschiedlich breit definiert, aber neben Design, Kunst, Game-Entwicklung und
Architektur gehört in jedem Fall auch die Popmusik dazu. Erfolgreiche Kreativwirtschaftsförderung würde in diesem Bereich bedeuten, dass regionale Etiketten für Musikgenres nicht
ex post an von selbst herausgebildete lokale Szenen verliehen
werden, sondern versucht wird, die Entstehung solcher Regionalstile aktiv zu fördern: Austropop, powered by Austria.
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Kreativität und Prekarität
Am Beispiel der Popmusik lässt sich das ökonomische Problem veranschaulichen, das die Kreativwirtschaftspropaganda
gern unterschlägt: Die fetten Jahre der Tonträgerindustrie
sind vorbei, und immer weniger MusikerInnen finden mit Musikkonservenverkauf ihr wirtschaftliches Auskommen. Die wenigen, die es schaffen, müssen dafür aber immer mehr leisten,
was über das reine Musikmachen hinausgeht, nämlich flexible
Selbstvermarktung mit innovativen Geschäftsideen über alle
verfügbaren Kanäle betreiben.
Kreativwirtschaftliche Förderprogramme suggerieren jedoch, dass Bereiche wie die Popmusik eine vielversprechende
wirtschaftliche Zukunft haben. Öffentliche Förderungen stehen bereit, allerdings müssen die RezipientInnen in der Regel
Aussicht auf wirtschaftliche Tragfähigkeit unter Beweis stellen. So wie viele andere auch haben Bands wie Wanda und Bilderbuch und deren Labels in den vergangenen Jahren Förderungen erhalten. Die Beträge sind zwar weit entfernt von den
Summen, mit denen Oper und andere Hochkulturträger nach
wie vor gestützt werden. Aber mit dieser Subventionspolitik
stärkt das Wiener und gesamtösterreichische Förderwesen
eine wachsende Struktur kleiner Labels und Bands. Sie finanziert so mit öffentlichen Geldern eine Art Forschungs- und Entwicklungsprogramm, deren erfolgreiche Prototypen dann im
Reifestadium von den großen Tonträgerfirmen übernommen
werden können (vgl. Wanda, deren zweites Album nun bei einem Major-Label erscheint), während positive Ausstrahlungseffekte auf den Standort erhofft werden.
Das ökonomische Problem solcher Förderstrukturen
ist, dass sie mitunter Existenzen in Bereiche mit hoher Wahrscheinlichkeit des ökonomischen Scheiterns locken. Das ist aus
Sicht der Fördergeber kein Problem, weil eine Funktion für den
Standort erfüllen nicht nur die Erfolgreichen: Im Citymarketing lassen sich Gegenden voller Kreativlinge als cooles Umfeld vermarkten, das für Tourismus und High-End-Betriebs­
ansiedelungen attraktiv ist.
Für die Geförderten schließlich bedeutet Förderung auch
Disziplinierung – nicht unbedingt in musikalischer Hinsicht,
schließlich wird auch so manches Experimentelle gefördert.
Aber die Professionalisierung, die auf dem Sektor der heimischen Independent Labels im letzten Jahrzehnt beobachtet
wird, hat sicher auch damit zu tun, dass bei Förderanträgen
Businesspläne vorgelegt werden müssen. Das Indie-typische
Gemisch von kreativer Brillanz auf Basis schlampiger Bilanzierung, die ikonenhafte Wunderschlösser wie etwa Factory Records – die den Postpunk Marke Manchester prägten – oder
Zickzack Records – die die Neue Deutsche Welle anschoben –
ermöglicht hat, wird so ein Stück weit weniger wahrscheinlich.
Und durch die Ausrichtung am Ziel des Standortmarketing ist
der Förderung ein impliziter Filter eingebaut, der jene Musikschaffenden begünstigt, die sich unter ein regionales ­Label
subsumieren lassen.
Alle wollen den Austropop
Mit Förderung allein ließe sich allerdings keine neue Austropop-Welle lostreten. Die Wiederentdeckung lokaler Bezüge im
Musikschaffen mag bürokratisch begünstigt werden, funktioniert aber nur, weil sie nicht verordnet ist, sondern Züge eines
hegemonialen Projekts aufweist. Das heißt, dass es stark von
Leuten aus der Szene, von außerhalb des Staatsapparats getragen wird. In den letzten Jahren gibt es eine Vielzahl von Bemühungen, die in Österreich stattfindende Popkultur als lokales Phänomen zu beschreiben, zu historisieren und zu kanonisieren. Vom skug Research Archive, über Bücher wie »Es muss
was geben«, »Im Puls der Nacht« und »Wien Pop« bis zu Compilations wie »De guade oide Zeit«, »Neonbeats« und »Schnitzelbeat« konvergieren die Bemühungen und Sehnsüchte einer
Vielzahl von AkteurInnen aus den verschiedensten Szenen auf
die Konstruktion einer lokalen Popmusiktradition. Diese Gemengelage bringt Neuinterpretationen, Infrastruktur (vom
FM4 Soundpark über das Mica bis zum Popfest) und Nachfrage für Musikschaffen mit Lokalbezug hervor.
Statt wie früher von London oder New York zu träumen,
wollen diese Leute heute ihre eigene Herkunftsregion als Hotspot umdefinieren, an dessen Vibe sie selbst irgendwie partizipieren. Internationale Erfolge von aktuellen heimischen Bands
dienen dieser Selbstdeutung als ultimative Bestätigung. Heimische Berichterstattung über Wanda und Co. mündet deshalb
in so groteske Blüten wie jene, dass Stories über den neuen
Austropop hauptsächlich aus einer stolzen Berichterstattung
über die Beachtung besteht, die das Phänomen in Deutschland genießt.
Wie wird es weitergehen? Die letzte Austropop-Party
mündete in »I am from Austria« und einer anschließenden
jahrzehntelangen Verbannung des Genres in den musikalischen Giftschrank. Wird sich die Geschichte ebenso gruselig
wiederholen? Wie jeder Fan der Populärkultur und des zuletzt
wieder hoch populären Zombie-Genres weiß, birgt die Wiedererweckung der Toten so ihre Risiken.
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Rechtspop
Popkultur ist zum Transmissionsriemen rechter Ideologie geworden, seit die Nachfolge­
organisationen des NS, zu denen neben der deutschen auch die österreichische Kultur gehört,
­verstanden haben, dass sie ein zeitgemäßes Nation Building ermöglicht und sich die schlechte
alte »Heimat« als Popzeichen neu erfinden kann, wie es Andreas Gabalier auf »Mountain Man«
noch einmal vorführt.
FRANK APUNKT SCHNEIDER TEXT
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Der alte Rechtsrock war noch eine klare Ansage. Er trug das
Herz auf der Zunge. Die Südtiroler Kaiserjäger sangen vom
fremdländischen Gesindel, und allen war klar, wer gemeint
und was dagegen zu tun war. Das verdammte sie zum Nischenphänomen. Ohne die dazu gehörige Gesinnung blieben sie unhörbar, weil ihre popferne Verbissenheit die Faustregel, dass rechte Musik stets schlechte Musik ist, bestätigte
und so einen letzten antifaschistischen Schutzwall um die allgemein durchgesetzten Hörgewohnheiten zog. Erst der Relaunch als Frei.Wild machte sie massentauglich, um den Preis,
dass sie wenigstens ein bisschen vom expliziten Rechtsrock abrücken mussten. An den Eingängen der Hallen, die sie heute füllen, wacht die Security penibel darüber, dass keine allzu eindeutigen Symbole das beschaulich identitätsromantische Bild aufscheuchen. Die Überfremdung als Thema mussten Frei.Wild
dafür durch den unverfänglicheren Komplementärkontrast ersetzen: Heimatliebe im lauwarmen Stadionrockformat. Dass
das eine ohne das andere nicht zu haben ist, versteht sich ohnehin von selbst. Trotz eines ermüdenden Hosen-Onkelz-Rockismus haben sie das Rechtsrockmodell mit etwas Neuem überschrieben. Nennen wir es der Einfachheit halber: »Rechtspop«.
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Uneindeutige Eindeutigkeit
Ambivalenz ist das Kerngeschäft der Popkultur. Im deutsch-österreichischen Nachkrieg war sie eine Fluchthelferin aus dem
keinerlei Deutungsspielräume gewährenden Koordinatensystem von Volk und Scholle. Für deren ApologetInnen war Pop
ohnehin viel zu kompliziert. Ihre stets unzweideutigen Absichten und Wertekataloge ließen sich mit ihm nicht transportieren. Dass er sich nicht festlegen lässt, machte Pop bis in
die 1990er hinein zum Erbfeind der Rechten (auf beiden Seiten des politischen Spektrums), während seine unbedrohliche
Ideologiefreiheit andererseits Begehrlichkeiten weckte. Immerhin versprach sie Zugang zu einer Mehrheitsgesellschaft, die
der Ideologie anhängt, keine zu haben. Der vor Widerspruchsfreiheit triefende Rechtsrock war denkbar ungeeignet, seine
Themen in ›die Mitte‹ zu bugsieren. Seine Gewaltphantasien
erinnerten zu sehr an das, was vorerst noch verdrängt werden
musste. Außerdem war er so plump, dass selbst Grönemeyer
dagegen weltläufig wirkte. Erst der neu aufgelegte Rechtspop
verspricht diesen Mangel zu beheben, weil er sich im Dienste
einer noch immer eindeutigen Sache souverän aus dem popkulturellen Fundus der Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten
bedient. Vor allem Andreas Gabalier versteht sich hierauf, wie
seine Inszenierung als intellektuell unbedarfter, aber herzensguter steirischer Bergbauernbub belegt. Sie hat die Baupläne
großer Popinszenierungen längst verinnerlicht. Dass er so tun
kann, als wäre er gar kein Pop, sondern echt, kernig und ein
bisschen doof, eben ein volkstümlicher Sänger, beruht auf dem
keineswegs ungeschickten Spiel mit Zuschreibungen, das von
seinem längst mit Minimalpopkompetenz aufgerüsteten Publikum so weit verstanden wird, dass es bei Konzerten textsicher
mitsingen und ein neues popösterreichisches Lebensgefühl genießen kann. Die Trachten, die es dafür anlegt, sind – wie Lederjacke oder Kutte in Wacken – casual wear, ein kollektives
Rollenspiel und ein großer Spaß, in dem sich der bittere Ernst
österreichischer Identität, wie ihn Geflüchtete zurzeit zu spüren bekommen, vor sich selbst verbergen kann.
Heimatgangbang
Volkstümlichkeit wird dabei selbst Pop: eine schwer zu entwirrende Mixtur aus Travestie, oberflächlicher Ironie und Tiefenernst. Das war sie zwar schon immer, aber nie zuvor hat sie
einen derart unbeschwerten Zugang zur eigenen Widersprüchlichkeit gefunden. In deren völliger Unbewusstheit war sie einmal das Artikulationsfeld jener Gemütsrechten, für die Pop
stets zu komplex und verwirrend blieb, um in ihre Gefühlshaushalte und Identitätsprogramme zu passen. Die sind allerdings
längst ein Auslaufmodell. Dass volkstümliche Musik nirgends
verwurzelt, sondern bloß Pastiche und Behauptung ist, war
stets ihre beste Eigenschaft, wie sich bereits an ihren KritikerInnen zeigt: den erzreaktionären Fans ›echter Volkskultur‹. Pop
dagegen degradiert das ›Authentische‹, nach dem es den autoritären Charakter verlangt, erbarmungslos zur Ware mit angehängtem Fetischcharakter. Das ist ihr politischer Gehalt, der
auf den Seiten dieser Zeitschrift, wo der Nullwert der Authentizität mindestens einmal pro Ausgabe allerneuesten Indieacts
oder uralten Bluesgrößen aufgedrängt wird, nicht oft genug
betont werden kann. Bei Gabalier bekennt sich das Volkstümliche erstmals offensiv zur eigenen Konstruiertheit, weswegen
sich nie (und auch nicht von ihm selbst) mit letzter Bestimmtheit sagen lässt, ob er nur ein Comedyact oder doch der krachlederne Volk-Rock’n’Roller ist, als den ihn eine Selbstbezeichnung ausweist. Seine Welt mag mit einem Bein noch immer im
idealen steirischen Gesamtdorf feststecken, mit dem anderen
steht sie bereits in einem Trashformat, das gerne Camp geworden wäre, wäre das Ausgangsmaterial nur ein klein wenig interessanter. Ihr offensichtlich aus der Zeit und jeglicher realen
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Erfahrung gefallener Zitatcharakter – fast alles, was Gabalier
zu sagen hat, stammt aus Heimatfilmen der 1950er – erschafft ein Popösterreich zwischen Fremdenverkehrsverbandsbroschüre und Themenpark, das zur geistigen Heimat für die
werden kann, die verstanden haben, dass sie nur eine Kulisse,
eben Popkultur, ist. Das entlarvt sie aber nicht als Konstrukt,
sondern setzt sie auf Zeithöhe neu ein: als Heimat 2.0, die das
Popbewusstsein des modernen Subjekts mit seinen eigentlich
ja in dessen Vollzug bereits entmachteten ›Wurzeln‹ versöhnt.
Sie haben nun selbst eine Popform angenommen, ohne dafür
ihre alten blut- und bodenverkrusteten Implikationen aufgeben zu müssen. Die sentimentale innige Heimatliebe der alten
bürgerlichen Ideologie erhält so ein zeitgemäßes pornographisches Update: Sie wird zum streng durcharrangierten Gangbang einschlägiger Zeichen und Diskurse.
Roll over Entwurzelung
Dass völkische Authentizität ersatzlos gestrichen werden
kann, ohne das dazugehörige Wir-Gefühl nennenswert zu beschädigen, zeigt, dass es auch im Pop nicht ganz egal ist, womit die Zeichenkanonen gefüttert werden. Sein Defätismus
kann sich nämlich gegen sich selbst wenden. Davon handelt
»Mountain Man«, auf dem Gabalier den alten Widerspruch
zwischen Bodenständigkeit und Popsozialisation materialästhetisch noch gründlicher auflöst als zuvor. Bisher hatte er das
Volkstümliche (wenn auch von diesem manchmal beinahe erdrückt) durch einen keineswegs kenntnisfreien und bis zur Elvistolle konsequent durchgehaltenen Rockabilly-Einfluss sekundiert. Der Rock’n’Roller im Volks-Rock’n’Roller meldete
Ansprüche an. Nur in den gefühligen Balladen über ikonographische Alpenblumen oder großelterliche Spruchweisheiten
klingt er volkstümlich-schlaff. Up-tempo-Nummern wie »Sweet
Little Rehlein« oder »Mountain Man« haben dagegen durchaus Groove, der das Volkstümliche mit der ihm einmal entgegengesetzten Rockmusik kurzschließt. Das macht sie auch
für Popsozialisierte attraktiv und erzeugt ideologischen Mehrwert, weil der Rock’n’Roll eine Schlüsselrolle in der postnazistischen Geschichte einnimmt. Mit ihm brach erstmals das popkulturelle Andere in die Diktatur von Heimat und Scholle ein,
um den eigenen Talkessel als das auffliegen zu lassen, was
er seit jeher war: die schlechteste der möglichen Welten, eine
Brutstätte des Mangels und der Erfahrungsarmut. Indem Gabalier die Soundtracks von Ver- und Entwurzelung, von kultureller Sippenhaft und individueller Popfreiheit amalgamiert,
kittet er jenen Bruch, der die österreichische Identitätsgeschichte durchzieht, seit die ersten Elvis-Singles in die hiesigen Läden kamen. Eine rückwirkende Eingemeindung, die ein
neues Heimatgefühl ermöglicht: »Zwischen Austropop und
Rock’n’Roll / Und der Volksmusik fühl ich mich wohl«. Dass er
ansatzlos zwischen Steirischer Harmonika (die sich bis zu Zydeco-als-ob steigern kann), Dancefloor-Rhythmen (nicht zwingend, aber von anderen schon schlechter programmiert), Stadionrock und Alpenintimität umschalten kann, steht emblematisch für die endlich gefundene, mit sich selbst zufriedene
österreichische Popidentität. Die durch Pop (re-)sozialisierte
Heimat muss sich nicht mehr zwischen den Kastelruther Spatzen und Jerry Lee Lewis, den Gabalier für den ORF treffen
durfte, entscheiden. »Mountain Man« erweitert nun das pop-
kulturelle Bezugssystem um Manga-Ästhetik und alpinisierte
Superheldennarrative, in denen sich Gabalier zum eigenen
Volks-Cyborg-Dasein bekennt. Einigen ist das schon wieder zuviel Pop. In Fanforen beschweren sie sich über Mainstreamisierung und Amerikanisierung. Beruhigend, dass auch in Pop­
österreich auf gewisse Ressentiments noch immer Verlass ist.
Heimat bist du großer Großteile
Es gehört zum Wesen des Rechtspop, dass nie wirklich geklärt
werden kann, wie rechts er nun eigentlich ist. Auch »A Meinung haben«, das Frei.Wild-hafte Freidenkerstück auf »Mountain Man«, indem »ana aufsteht und sagt was er si denkt«, um
Fragen zu stellen wie: »Wie kann des sein / Dass a poar Leut, /
Glauben zu wissen, / Wos a Land so wü?«, hilft nicht wirklich
weiter. Es bleibt so vage wie die anderen ungenauen Grenzüberschreitungen, mit denen Gabalier sich im Gespräch hält. Seine
Popbauernschläue ist dem alarmistischen Bierernst seiner bürgerlichen KritikerInnen, die sich panisch an letzte Aufklärungsreste klammern, haus(verstands)hoch überlegen. Sie müssen
weiter ratlos nach Eindeutigkeit stochern, um doch nur Pop­
zeichenschrott zu Tage zu fördern. Den wirren, ungeordneten
und darin: pophaften Bezügen auf die schlimme Vergangenheit
– das Hakenkreuz-Posing (das die Rock’n’Roll-Verrenkung wieder in eine volkskörperliche Form rücküberführt, entsprechend
eingefroren wirkt sie), das beziehungslose Achsenmächte-Dropping im Radsportsong »Biker« oder das EK-Gipfelkreuz in »Mein
Bergkamerad« – lässt sich Unmissverständlichkeit nicht nachweisen. Dem Rechtspop wird auf diese Weise nicht beizukommen sein, zumal die kritischen Distanzierungen von Hubert
von Goisern oder der EAV doch nur einen Kampf um popnationale Deutungshoheit führen – file ­under: Waschzwang. Das
gute Pop­österreich hat mit dem fiesen nämlich in erster Linie ein
Nesthygieneproblem. Das zeigt vor allem die Auseinandersetzung um die Nationalhymne, die Gabalier beim Formel-1-GrandPrix 2014 kurzerhand in der alten Fassung gesungen hatte,
also ohne die 2012 eingefügten »Töchter«, die das hämmerreiche Zukunftsland von der Männersache in eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit transformierten. Das Vaterland sollte
zur Elterngesellschaft verharmlost werden und die nachgegenderte Hymne der gentrifizierten Nation zu angemessen holprigem Ausdruck verhelfen. Gegen derlei politische Kosmetik beharrt Gabalier auf die urösterreichische Bürgerpflicht zur Unbelehrbarkeit, weil andernfalls der »schöne Moment der Hymne«
zu »verblassen« drohe. Empört insistierten die Grünen Frauen
Wien auf ihre nationalkollektive Mitgemeintheit und ereiferten
sich darüber, dass Gabalier die »Leistungen der Frauen« beim
Aufbau des postnazistischen Landes nicht hinreichend »gewürdigt« habe. Sie holten zum ganz großen Schlag aus und ersuchten »um eine Klarstellung, aus welchem Grund Sie Gesetzes­
beschlüsse umgehen«. Eine Steilvorlage, die dem Volksmundstück Gabalier Gelegenheit gab, darauf hinzuweisen, dass dem
»großen Großteil« der HeimatinhaberInnen die alte Fassung
besser gefalle, wie eine Ö3-Umfrage sogleich vernichtend bestätigte. Aber das sollen die guten und die schlechten PostnazistInnen gefälligst unter sich ausmachen.
—
Andreas Gablier: »Mountain Man« (Universal)
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Pop und
Populismus
Aktuell zeigen sich die Widersprüche der Europäischen (Grenz-)Regime besonders drastisch.
Innerhalb der Popmusik wird Solidarität mit Geflüchteten dabei zu einem wichtigen Thema.
Die Positionen bergen manche Ambivalenzen.
JANNIK EDER TEXT
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Das Geheimnis ist tatsächlich aufgeflogen: Europa und seine
Nationalstaaten haben versagt! Die vorherrschende Politik
hat eine widerliche, menschenverachtende Seite! Bis sich diese
Erkenntnis im deutschsprachigen Raum verbreitete, benötigte
es gewaltvolle Nazimobs, tote Refugees auf den Autobahnen
und das Foto eines toten Dreijährigen.
Nun ist Eile angesagt für Personen des öffentlichen Interesses, um rechtzeitig auf den Zug der Trauerbekundungen und
Verurteilungen aufzuspringen. Es soll ja nicht heißen, dass
man in jenem Moment, wo die in unserem Gesellschaftssystem angelegten Übel unübersehbar wurden, kein passendes
Statement parat hatte. Die Losung »Refugees welcome« ist im
Vokabular der bürgerlichen Mitte angekommen.
Mit der Offensichtlichkeit, mit der die Antagonismen europäischer Politik zu Tage treten, wird Solidarität mit Geflüchteten einerseits und die Frage nach dem Umgang mit den Ressentiments in Politik und Zivilbevölkerung andererseits auch
für die Popmusik verstärkt relevant.
Die Popwelt als Sphäre, die in Wechselwirkung zur Gesellschaft stehend deren Brüche und Brisanzen aufnimmt, versucht derzeit auf das Problem zu reagieren, welches Europa
lange nicht erblicken wollte. Dass sich Pop per se dissident
und progressiv verhält, ist zwar ein längst entlarvter Mythos,
dennoch melden sich mehr und mehr PopprotagonistInnen zu
Wort, die dem Gedanken der Festung Europa widersprechen.
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Zwischen Kritik und Identitätsgehabe
Dabei ist der Gehalt der Statements sehr unterschiedlich. In
Deutschland sind die Popetablierten vorsichtig, was Abgrenzung zum Establishment betrifft. Denn eigentlich herrscht
Einverständnis mit sich selbst und der Gesellschaft, höchstens wird für mehr Humanität plädiert. Zwischen der Absicht, dezidiert Stellung zu beziehen, und der Idee, etwas für
die ­eigene PR zu tun, verschwimmen die Grenzen oft. Deshalb ist es mit der Kritik häufig nicht weit her. Unerträglich
findet man auf der einen Seite das Leid der Geflüchteten (wobei kaum in Frage gestellt wird, wodurch dieses Leid bedingt
wird), und auf der anderen Seite die rechten Mobs. Mit diesen sind die Schuldigen für die Misere oft schon ausgemacht.
Das Problem wäre ohne diesen Schandfleck der Gesellschaft
weniger gravierend. Die Popprominenz erhält medial viel Platz
für ihr pseudokritisches Gewäsch. Volksrocker Udo Lindenberg
ist überzeugt von der Offenheit und Pluralität seiner Heimat
und möchte diese vor Besudelung schützen: »Das wird immer
mehr eine echte bunte Republik Deutschland. Es gibt noch ein
paar dunkle Flecken, aber die kriegen wir auch noch weg.«
Etwas bewusster positionieren sich einige jener, die musikalisch zwar einen deutschen Identitätspop vorantreiben, deren Engagement gegenwärtig dennoch symbolisch wertvoll
erscheint. Während Thees Uhlmann, Kraftklub oder Jupiter
Jones sich sonst mit ihrer Heimat versöhnlich zeigen und ihre
Musik größtenteils vom Prinzip kleinbürgerlicher Subjektivität
als Weltanschauung lebt, wird der Ton in Interviews oder Facebook-Postings jetzt schärfer. Man unterstützt einen energischen Appell der Vereine »Pro Asyl« und »Kein Bock auf Nazis«
und bringt einen Sampler zu Spendenzwecken heraus. Es ist
sind zwar vergleichsweise dezente Attacken, aber immerhin.
Demgegenüber stehen ProtagonistInnen, die sich nicht
erst seit gestern der herrschaftlichen Verhältnisse annehmen
und sowohl künstlerisch als auch öffentlichkeitswirksam Auswege aus dem deutschen Herrschaftsgefüge aufzeigen wollen. Dabei nimmt man weiten Abstand von Pop als nationalem Projekt. Tocotronic, Bernadette La Hengst oder die Artists
des Labels Audiolith sind die Bekannteren unter denjenigen,
die allzeit wenig Billigung für die Gesamtverhältnisse aufbringen. Darüber hinaus verläuft herrschaftskritisches Popschaffen selbstredend in unzähligen Subkulturarealen von den Städten bis tief in die Provinz hinein, wobei vor allem die Technosowie die Punkszene engagiert ist.
Entwicklung des Popengagements in Österreich
Auch in Österreich melden sich allmählich namhafte Pop­
protagonistInnen zu Wort. Christina Stürmer setzt sich für die
Schwafel-Challenge #showyourface vor die Webcam, Wanda
erfüllen ihr moralisches Soll mit einem zehnsekündigen Videoclip. Der bisher kaum bekannte Designer und Künstler Raoul
Haspel schaffte es hingegen mit seinem »Schweigeminute«Track an die Chartspitze. Ebenfalls viel Aufmerksamkeit erhielt die Initiative »Die schweigende Mehrheit sagt Ja« mit
ihrer Mahnwache vor der Staatsoper und der mit Refugees
gemeinsam erarbeiteten Inszenierung von »Die Schutzbefohlenen«. Mit dem »Bock auf Kultur«-Festival sorgt der immerfort engagierte Ute Bock Verein für ein Treffen der alternativen Musikszene. Das zum Sammeln von Geldspenden angedachte Großevent »Voices for Refugees« lässt vor allem mit
einem sehr klanghaften Line-up aufhorchen: von Konstan-
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tin Wecker bis Conchita Wurst über die Toten Hosen bis Bilderbuch und Soap & Skin. Für ein »menschliches Europa« soll
auf dem Heldenplatz ein Zeichen gesetzt werden, »lauter als
je zuvor«. Bei anderen Popgrößen wie Gustav, Ja, Panik oder
Clara Luzia weiß man um ihre Haltung zum herrschaftlichen
Konsens. Ja, Panik hätten sich schon 2011 nicht groß darum
gekümmert, wenn man zu Angela Merkel »Bomben hin[ge]
tragen« hätte, und ebenso wie die beiden anderen eben
­Genannten unterstützt man den »Schienenersatzverkehr« zwischen Ungarn und Österreich.
Ansonsten regt sich die Solidaritätsbewegung in kleineren Kontexten. Für einen Politisierungsschub sorgte vor allem
der Erfolg der FPÖ bei den letzten Nationalratswahlen. Die
Rechten fühlten sich bestärkt und hetzten mit solch jenseitigen Aktionen wie in Erdberg, wo man geflüchtete Familien mit
»Nein zum Asylantenheim« empfing. In Wien ließ sich daraufhin beobachten, dass sich die Szene wieder mehr politisierte
und verantwortlich fühlte. Die Grelle Forelle (die schon bei der
Nationalratswahl bekannt gab, dass FPÖ-WählerInnen personae non gratae seien) organisierte eine »Refugees welcome«Veranstaltung, ähnliche Events folgten in der Arena, im Venster und andernorts. Generell spielt sich zudem vieles auf
einer DIY-Ebene ab. Innerhalb sich überschneidender Politund Popzusammenhänge organisieren sich viele AktivistIn-
nen, die zwischen Traiskirchen und Röszke ihre Hilfe anbieten.
Zu erwähnen ist auch der Kleylehof bei Nickelsdorf, der momentan eine zwischenzeitliche Herberge für Geflüchtete ist.
Bereits im Juli startete beim 15-Jahre-Jubiläumsfest eine Spendenaktion unter dem Motto »Das Boot muss voll werden!«
Bei all der Kritik sollte jedoch nicht außer Acht gelassen
werden, dass es in der jetzigen Situation enorm wichtig ist,
Stellung zu beziehen. Natürlich ist es richtig, Missstände und
Hass anzuprangern. Aber gerade bei den großen Namen der
Branche zeigt sich, wo ihre Kritik stecken bleibt. Sich als AkteurIn des Pop zu positionieren und in Diskursen zu intervenieren ist von hoher Symbolkraft. Ein Stillstand in solchen Fragen
wäre das eigentlich Verheerende. Pop ist immer auch Statement und hat diskursives Gewicht. Nur weiß man manchmal
nicht, wohin manche Bekundungen führen sollen. Verbleibt
das Ansprechen der Misere letztlich bei dem Versuch, das nationale Image zu retten? Wie und wo können tatsächlich die
Bruchstellen der Gesellschaft aufgezeigt und kann schließlich die Erkenntnis über die Abwegigkeit des Ganzen befördert
werden? Ein Nationalstaat und seine Kulturindustrie können
etwaige Bruchstellen schnell zuschütten. Pop ist notwendig
auch Ware; wenn er zudem noch eine Bestärkung des eigenen
Identität propagiert, wird er keine progressiven Perspektive
aufzeigen können.
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­ ie Dialektik
D
des Dabei­s eins
David Keenan erklärte zu Beginn des Jahres in »Wire« den musikalischen Underground für tot.
Ein paar Meilen südlich behält Rob Hayler schon länger Ruhe und Nerven und relativiert die
pessimistische Perspektive aus Glasgow mit Bezug auf seine Vorstellung vom »No-Audience
Underground«. Wer hat recht – oder ist das vielleicht die falsche Frage?
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HOLGER ADAM TEXT
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David Keenan ist nicht irgendwer. Als Chronist des britischen
Post-Industrial um Nurse With Wound, Current 93 und Coil
hat er »England’s Hidden Reverse« beleuchtet und als Autor
für das britische Magazin »Wire« international diskursmächtige Begriffe wie »New Weird America« und »Hypnagogic Pop«
geprägt. Bis Anfang 2015 betrieb er zehn Jahre lang zusammen mit seiner Frau, der Musikerin Heather Leigh Murray, in
Glasgow den Plattenladen und Mailorder Volcanic Tongue.
Dessen Webseite konnte auch als Online-Fanzine gelesen werden, da zu jeder angebotenen Veröffentlichung eine eigene
Kritik verfasst wurde und nicht auf die Waschzetteltexte der
Labels zurückgegriffen wurde. Kurz gesagt, Keenan ist eine
wortmächtige Stimme innerhalb einer international vernetzten
Szene.
Zu Beginn dieses Jahres schloss Volcanic Tongue seine
Pforten. Ein Ereignis, das in den interessierten Kreisen weltweit Reaktionen hervorrief, und durch Keenan selbst nicht unkommentiert blieb: »Es scheint uns, als schließe sich 2014 für
Undergroundmusik ein Kreis, und wir sind gespannt zu sehen,
wie sich diese Kultur ohne uns weiterentwickeln wird«, hieß es
in der Ankündigung. Etwa vier Wochen zuvor hatte Keenan
bereits drastischere Worte gefunden, und in der Jahresrückblickausgabe von »Wire« (Januar 2015) gezürnt: »Es ist 2014
und der Underground endgültig tot. Ein Leichnam, den jede
x-beliebige Generation nach Belieben fleddert. Jeder Künstler ist seine eigene PR-Maschine und Kritiker sind nicht mehr
als hemmungslose Marktschreier für ihre Lieblingsmusiker, deren Talente sie via Twitter im Tausch für Gefälligkeiten in den
höchsten Tönen preisen.« Rückwirkend schien das, als habe
Keenan mit diesen Worten schon die Erklärung dafür vorausgeschickt, warum Volcanic Tongue im Monat darauf schließen
würde.
Hat da bloß jemand die eigene ökonomische Misere zur
ästhetischen Gegenwartsdiagnose aufgeblasen, oder steckt
doch mehr hinter der genervten Haltung des gelangweilten Veteranen: »Heutzutage spinnen sich neue Bands mit Bezug auf vorhergehende Underground-Acts ein sinnloses Netz
aus Referenzen zusammen. Keine Ahnung, wie viele Kassetten, SoundCloud-Links, CD-Rs und Downloads ich in den letzten zwölf Monaten erhalten habe, alle mit derselben ominösen Behauptung, ich werde dieses und jenes lieben, denn es
klinge genau wie Harry Pussy. – Tat es natürlich nie.« Und wei-
ter: »Wir haben derzeit Underground-Künstler, deren Performance darin besteht, auf der Bühne hinter einem Tisch sitzend
Aufnahmen von Kassetten abzuspielen – legitimiert durch
den Hinweis, ihre eigene Arbeitsweise und Aufführungspraxis
stehe irgendwie im Zusammenhang mit der Tradition elektroakustischer Komposition des 20. Jahrhunderts!« Blasphemie,
gewissermaßen.
Alles gesehen, gegessen, getrunken?
Ohne Zweifel ermöglicht heute die digitale Verfügbarkeit ehemals schwer zugänglicher Musik, sich selbst im eigenen Keller
in deren Geist zu erfinden und entsprechend mit dem Namen
einer heiligen Kuh (hier: Harry Pussy) im eigenen Interesse
(und vielleicht vergebens) hausieren zu gehen. Aber Keenan
an dieser Stelle nur einen retromanischen Koller zu unterstellen, das griffe schlicht zu kurz. Und sicherlich liegt Keenan
auch nicht daneben, wenn er auf einem Unterschied zwischen
Stockhausen oder Schaeffer gegenüber einem (wahrscheinlich
eher jüngeren) Menschen besteht, der Tape-Loops mit Hilfe
von handelsüblichen Leerkassetten erstellt, abspielt und in­
einandermischt.
Aber wer hat gesagt, dass Underground gleich Avantgarde gleich Kunst ist? Diese Gleichung geht schon länger
nicht mehr auf. Das setzt die jungen Menschen an den Kassetten nicht ins Unrecht – und es macht sie auch nicht zu KünstlerInnen im Sinne der elektroakustischen Altvorderen. Daraus folgt aber nicht, dass nicht auch die selbst gebastelten
Tape-Loops erstaunliche Klangerlebnisse mit sich bringen können. »Klingt fast wie Stockhausen« ist Keenan jedoch zu wenig, denn was er von KlangkünstlerInnen erwartet, ist Genie,
die erzeugende Kraft und das Vermögen, das radikal Neue
in die Welt zu bringen. Er referiert in diesem Zusammenhang
nicht nur auf Schaeffer, sondern auch auf (vermeintlich) einsame Wölfe wie Jandek, Peter Brötzmann oder Loren Connors.
Keenans romantische Vorstellung von KünstlerInnen, auch
oder gerade im Underground, als freie, gesellschaftlich marginalisierte, verkannte (und daher auch wahrscheinlich arme)
Schöpfergeister stößt sich am allgegenwärtigen HeimwerkerModell von Nach-Feierabend-KünstlerInnen, die er im Modus
des Recyclings operieren sieht. Und dann, als könne es nicht
schlimmer kommen, twittern, liken und bloggen auch noch
alle wohlwollend übereinander!
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Kein Schulterklopfen
Angesichts solch inzestuöser Verhältnisse die Motten zu kriegen, das ist legitim – daraus abzuleiten, es könne innerhalb
solcher Verhältnisse nichts mehr von Interesse und Dauer entstehen, das ist – bei aller Liebe zur Polemik – doch zuviel des
Guten. Und dass eine ästhetische Praxis, ihrer Form und ihrem
Inhalt nach, im Zuge des historischen und technischen Fortschritts ihre Aura einbüßen kann, weil sie nachgeahmt wird,
das ist eigentlich ein alter Hut und wohl auch nur halb richtig. Eine elektroakustische Komposition von Delia Derbyshire
bleibt eine beeindruckende – und in gewisser Hinsicht unnachahmliche – Erfahrung, auch wegen des damals notwendigen
Aufwands, sie zu erstellen, und weil sie noch immer originell
klingt und solange nicht altert, wie es Ohren gibt, die zu hören
­verstehen.
Wenn in der Folge durch die Hände angeregter HörerInnen ähnliche Klangerzeugnisse unter Zuhilfenahme von Magnet­
band, Skalpell und Kleber entstehen – warum nicht!? Solche
Aufnahmen mögen in Kleinstauflagen als CD-Rs oder auf Bandcamp erscheinen, getwittert und gelikt werden, und ­David
Keenan mag angesichts dessen gähnen. Das sagt aber noch
nicht viel darüber aus, ob der Underground (deshalb?) tot ist.
Falls doch, so ist Keenan als Totengräber selbst dafür mitverantwortlich. Er hat als Autor für »Wire« viel dazu beigetragen, dass unzählige Labels und KünstlerInnen, die lange Zeit
eher unbeachtet operierten, einen (teilweise retrospektiven)
Hype erfuhren, und auf diese Weise jeweils spezifische oder
einzigartige Ästhetiken einem potentiell größeren Publikum
zugeführt (und einzelne bzw. viele darunter zur Nachahmung
angeregt) und so auch geholfen, all dies – den ganzen sogenannten Underground – zu Grabe getragen. (An dieser Stelle
sei nachholend angemerkt, dass es – falls es noch nicht aufgefallen ist – den Underground nicht gibt, dass aber der Underground, über den nicht nur Keenan schreibt, sich historisch
vage von »Dada bis Punk« (Greil Marcus) und darüber hinaus
durch die Lektüre von »Wire« nicht unzutreffend nachvollziehen lässt.).
Beharren und weitermachen
Demgegenüber und schon bevor Keenan seine Grabrede hielt,
hat der in Leeds ansässige Aktivist (Blog, Label, Konzertveranstalter, eigene Musikprojekte) Rob Hayler eine nüchternere
Perspektive auf den Umstand eingenommen, dass Leute, unter
Zuhilfenahme welcher technischen Mittel auch immer und jenseits von Trends und Moden, Klänge jeder Art erzeugen. Und
das unterhalb der Aufmerksamkeitsgrenze derer, die nur einmal im Jahr das Glastonbury Festival besuchen.
In diesem Kontext ist nicht jede/r gleich ein »artist«, nur
weil er mit »sound« hantiert, aber mit gefälliger Kleinkunst hat
die Produktivität auch nichts gemein, denn sie entzieht sich in
aller Regel noch immer absichtsvoll und erfolgreich dem wohlklingenden musikalischen Biedermeier. Vorrangig gegenüber
der sicher nicht unwichtigen Frage nach der Materialästhetik
und der Bewertung der »Sounds« ist für Rob Hayler, dass den
von ihm so genannten »No-Audience Underground« kein Publikum im allgemeinen Verständnis des Wortes auszeichnet,
»weil fast jeder, der ein Interesse an der Szene hat, selbst in
die Szene involviert ist. Die Übergänge – ob Musiker, Promoter, Label-Macher, Händler, Autor, Kritiker, zahlender Kunde
usw. – sind fließend und nicht hierarchisch, die Rollen können
jederzeit und je nach Gelegenheit oder Notwendigkeit wechseln. Und ich möchte hervorheben, dass es sich hierbei nicht
um eine versnobte Clique von Insidern handelt, die sich einfach
nur völlig besessen um jeden Aspekt ihres Hobbies (nennen wir
es ruhig so, wer kann heutzutage von experimenteller Musik
schon seinen Lebensunterhalt bestreiten?) kümmert, sondern
um freundliche und offene Leute die realisiert haben, dass sie
Dinge, die sie sehen und hören wollen, schon selbst organisieren müssen, weil es sonst niemand für sie tun wird.«
Haylers Beschreibung von Underground trifft sich nicht
nur mit der Erfahrung aller, die in DIY-Szenen aktiv waren
und sind, sondern auch mit den Erfahrungen Keenans. Derer
scheint er aber überdrüssig, weil er sie durch massenhafte Imitation entwertet glaubt. Die Dialektik des Dabeiseins schlägt
den frühen Szenevogel mit gereizter Müdigkeit, so scheint es,
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wenn am Abend die Langschläfer mit einem Wurm im Schnabel daherkommen, von dessen Sorte Keenan längst und in allen Geschmacksrichtungen gekostet hat. Er reagiert darauf
mit teilweisem Rückzug und der programmatischen Forderung
nach Isolation für ästhetische Praxis: »Wir brauchen eine neue
Art von Kunst, die aufgrund ihrer Zurückgezogenheit beinahe
soziopathische Züge trägt.« Er artikuliert so zugleich seine
Sehnsucht nach einem Künstlergenie, das im Verborgenen vor
sich hin brütet und wütet und seiner Entdeckung (und kongenialen Interpretation) durch den Kritikerfürsten (Keenan natürlich, wer sonst!) harrt.
Haylers Vorstellung ist demgegenüber profan. Die Forderung Beuys’, dass jeder Mensch ein Künstler sei, findet hier
ein zeitgenössisches Echo – und darin auch das Herabsinken
des Künstlers in die Niederungen der Existenz von jedermann.
­Hayler legt – in deutlichem Widerspruch zu Keenans Forderung – sein Augenmerk auf die soziale Seite dessen, was Underground genannt werden kann und worin Keenan sich seit Langem höchst aktiv bewegt und weiterhin bewegen wird. Haylers
nüchterne, ebenfalls über die Jahrzehnte des Dabeiseins gereiften Überlegungen reflektieren die Notwendigkeit der alltäglichen Erfahrung von Solidarität, Dickköpfigkeit und Ausdauervermögen als Voraussetzung für jede (auch die des Genies) widerständige ästhetische Praxis jenseits dessen, was einem nicht
nur an akustischem Müll tagein, tagaus zugemutet wird.
Long Live The Underground
Dass es diesen ganzen Müll gibt, darüber sind sich Keenan
und Hayler einig, dass es weiterhin Orte gibt, geben wird und
geben muss, an denen etwas anderes und Besseres entsteht
und gepflegt wird, auch darüber herrscht – wie könnte es anders sein? – Konsens. Mit Hang zur dramatischen Pose und so
vorhersehbar wie unabwendbar deklamiert Keenan zum Ende
seiner Grabrede: »Lang lebe der Underground«, und man
fragt sich mit Hayler, weshalb Keenan zunächst das Kind mit
dem Bade ausschütten musste? Die Antwort liegt allerdings
auf der Hand und fällt zugunsten von Keenan aus: Es ist seinem feinen Sinn für den richtigen Moment geschuldet, solche
Fragen aufzuwerfen und seiner Position, dass anschließend
auch darüber geredet wird, was denn mit »Underground«
2015 gemeint sein kann.
Quellen:
Joeri Bruyninckx: »Volcanic Tongue Interview With David Keenan«, It’s Psychedelic Baby,
15. August 2015 (online)
Rob Hayler: »What I Mean By The Term ‘No-Audience Underground’, 2015 Remix«, Radio Free
Midwich, 14. Juni 2015 (online)
David Keenan: »Subterranean Homesick Blues«, The Wire, Jänner 2015 (No. 371), S. 47
—
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Queer
As in Fuck You
Ein Interview mit Katharina Wiedlack zu »Queer-Feminist Punk. An Anti-Social History«.
HELGA HOFBAUER TEXT
Laut, schmutzig, mit sexuellem death drive, in einer antisozialen Haltung. Gerichtet gegen Normativitäten, aber auch gegen die eigenen, eben nicht queeren, sondern gay-happiness
Anteile und jene Anteile an Szenen, die weiße, normierende
Mehrheitsstrukturen nicht infrage stellen. Das ist queer-feminist Punk. Dazu gibt’s jetzt ein Buch von Katharina Wiedlack.
Eine Schatzkiste an Informationen rund um politische Geschichte, Aktivismen, auch wissenschaftliche Theorien und natürlich Musik, Performance und Lyrics. Wiedlack stellt jedem
Kapitel in »Queer-Feminist Punk« ein Zitat aus einem Punksong
voran. Das Gespräch mit der Autorin entspann sich entlang
­einiger dieser Songzitate.
skug: Welche wissenschaftlichen Theorien haben Sie hilfreich gefunden, um sich queer-feminist Punk zu nähern?
Katharina Wiedlack: Ich war immer schon ein Punkfan, ich
habe das aber nie mit meiner wissenschaftlichen Tätigkeit
in Verbindung gesetzt. In meiner Beschäftigung mit QueerTheorie bin ich auf die antisoziale Queer-Theorie gestoßen, die 2010 bis 2012 viel diskutiert wurde. Eine superkomplizierte Theorie, die viele Dinge aus der Psychoanalyse verwendet und mit Lacan arbeitet. Jack Halberstam, von dem
ich viel gelesen habe, war der Erste, der Punk mit dieser anti­
sozialen Queer-Theorie in Verbindung gebracht hat, und ich
dachte, dass das total auf der Hand liegt. Denn Punk verwendet queerness als das negative, das gegen die Normgesellschaft gerichtete und auch verletzende Moment – was es ursprünglich auch mal bedeutet hat­ – und eignet sich diese damit fast schon wieder positiv an. Was nicht mehr die, die als
queer bezeichnet werden, verletzen kann, sondern sich gegen
die Normgesellschaft richtet.
»To Sir with Hate« – Fifth Column
G. B. Jones, Mitglied der Band Fifth Column, hat mit gemeinsam Bruce LaBruce Anfang/Mitte der 1980er in ­Toronto
ein Zine herausgegeben. Und sie haben das erste Mal gesagt: »Wir machen queeren, schwulen, lesbischen Punk.«
G. B. Jones hat gesagt, ihr Punk ist auch feministisch. Die
Punkszene damals in Toronto, aber genauso in anderen Teilen Nordamerikas, war super machistisch, männerdominiert,
weiß und auch brutal. Frauen, Minderheiten und Queers hatten keinen Platz, es war eine sehr sexistische und rassistische Gesellschaft. Frauen waren, wenn überhaupt, nur als
Zuschauerinnen erwünscht. G. B. Jones, Bruce LaBruce und
Vaginal Creme Davies wollten auch Punk machen und intervenierten in diese Szenerie. Sie haben ihren Platz auch in
den schwul-lesbischen Musikszenen nicht gefunden. Sie fanden Disco öde, wollten ihre Punkmusik machen und wollten
ihre Punk-Clubs. Sie haben mit ganz krassen Texten in ­Zines
und Liedern interveniert und die Leute angegriffen: »Ihr seid
Scheiße, weil ihr sexistisch, rassistisch und homophob seid,
und wir lassen das nicht mit uns machen!« Ihre Strategie
war einerseits antisozial, indem sie derartiges den Betreffenden direkt an den Kopf warfen. Auf der anderen Seite war die
Strategie, zu behaupten, eine Bewegung zu sein, obwohl es
vielleicht noch gar keine war, und mit den imaginären Massen anzurücken. Das hat ganz gut funktioniert und einen Wirbel in der nordamerikanischen Punk Community ausgelöst.
»Come Ride with me, come ride with me« – Inner Princess
Inner Princess war eine Band, die mir sehr am Herzen lag
und mit der ich sehr viel Spaß hatte. Die erste Band, mit der
ich 2009 so richtig abgehangen bin. So ein gutes Beispiel für
Punk. Einerseits haben sie lustigen und energischen Punk gemacht. Für mich ist Punk etwas Lustvolles, zum richtig DieSau-Rauslassen, wo man in Fahrt kommen und diesen drive,
über den ich ja auch viel schreibe, genießen kann. Das ist
auch ein Loslassen von intellektuellem Zeug. Nicht vom Politischen, aber vom dezidiert Inhaltlichen, Verbalen. Man kann
sich einlassen auf das Schreien und das Körperliche am Punk.
Gleichzeitig ist es politisch, weil die Leute machen Punk als
»Pseudo Intellectual Slut, You Went to School. Did You
Learn How to Fuck?« – tribe 8
Ein interessanter Aspekt der Band tribe 8 ist, dass sie sich
vielfach den Labels widersetzt hat. Wobei dazu zu sagen
ist, dass queer-feminist Punk nicht unbedingt eine Bewegung ist, die sehr auf Labels bedacht ist. tribe 8 haben Begriffe gewechselt und immer wieder thematisiert, wieso sie
gewisse Labels wie z. B. ›Riot Grrrl‹ nicht für sich verwenden.
Sie identifizierten sich nicht als girls/grrrls. Sie sagen: Bei uns
gibt’s Leute, die sind eher trans* oder gar nicht einzuordnen
… Manchmal haben sie homocore, queercore oder dykecore
verwendet. Manche aus der Band haben yellowcore für sich
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emanzipatorisches, selbstermächtigendes Moment, um sich
selbst einfach einmal eine Stimme zu geben. Es ist eine relativ
barrierefreie Form der Musik. Man kann mit wenigen Vorkenntnissen voll einsteigen und sich in ihr entwickeln. Und natürlich
lassen sich politische Inhalte gut verbal kommunizieren.
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verwendet, um darauf hinzuweisen, dass tribe 8 nicht nur
eine weiße Band ist. Das Wichtige dabei ist, dass diese Labels
meistens als freches Statement zu verstehen sind und nicht
als Identität.
»Black Love, Black Love! / Who’ll Be There till the End /
­ ocking to the NTN« – NighTraiN
R
NighTraiN ist eine Band aus Seattle, die machen sehr lustigen, coolen Locomotive Punk. So nennen sie das. Nicht alle
Leute würden das sofort als Punk identifizieren, aber für mich
ist das punkig, weil es DIY drin hat und Politik, und weil sie in
der Punk Community verortet sind. Sie erinnern in ihrer Musik
an schwarze Musikgeschichte. Ich habe das Gefühl, da wird
gerade viel Erinnerungsarbeit im Punk geleistet. In dem Lied
»Black Love« z. B. geht es um Beziehungen zwischen schwarzen Frauen und weißen Männern, darum, wie schwierig das
sein kann. Aber das ist natürlich kein Statement dagegen, sondern eine Aufarbeitung von Erfahrungen, Exotisierung, davon,
als Sexualobjekt gesehen zu werden, als schwarze Frau. Das
wird ganz stark thematisiert und zurückgewiesen. In dem Lied
reden sie über Thomas Jefferson und die Sklavin, mit der er
eine Beziehung hatte. Das wird kritisch bearbeitet, und gleichzeitig reden sie immer auch über ihre eigene Punk Community,
und das finde ich so spannend, weil sie dadurch einerseits Geschichtsarbeit machen, und gleichzeitig sagen sie: Diese rassistische Geschichte ist nicht vorbei; schaut her, was bei uns
passiert und welche Bezüge das hat.
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»Not gay as in happy, but queer as in fuck you« – Agatha
Das ist ein Zitat von den queer Avengers aus den 1990ern,
und Agatha hat das dann geklaut. Es ist ein total wichtiges
Zitat. Agatha ist eine Band aus Seattle, die 2010 gegründet
wurde, die nicht rein weiß ist, die einen sehr feministischen
Anspruch hat und vor allem auch diese ›wunderbare‹ queere
weiße Szene in Seattle aufmischt. Der Ausspruch »Not gay as
in happy, but queer as in fuck you« soll die Leute wachrütteln,
und erzählt gleichzeitig eine Geschichte zu früheren Bewegungen. Er sagt aber auch, mit uns ist nicht zu spaßen, wir machen einerseits Politik und andererseits ist dieses »fuck you«
ein sexueller Akt, und das kommt auch im Liedtext vor. Queer
ist nicht nur ein Lifestyle, nicht nur die wunderbare PinkBubble, sondern auch Sexualität, und auch darüber wollen wir
reden.
Das vollständige Interview (von Radio Grille @ Orange 94.0) zum
­Nachhören: cba.fro.at/294365
—
Maria Katharina Wiedlack: »Queer-Feminist Punk.
An Anti-Social History«
Wien: Zaglossus, 2015, 430 Seiten, EUR 19,95
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Madame Tussauds Wien © Nils Olger
Biennales Festival der internationalen Plattform für Klangkunst,
intermediale Projekte und experimentelle Musik
Thema: Geste als Gender-sensibler Parameter der Musikszene
Live: Audrey Chen, Katherina Ernst, JUUN, Mia Makela, Zahra
Mani, Maja Osojnik, Maren Rahmann, Matija Schellander, Irene
Suchy, Mia Zabelka …
phonoFEMME 2015
7. & 8. Oktober 2015 mit Workshop!
Wiener Konzerthaus/Berio Saal
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Perspektiven eines
belagerten
Idealisten
In der Validierung von Kunst und Kultur ausschließlich entlang marktlogischer Parameter
spiegelt sich eine umfassendere Entwicklung
mit weitreichenden politischen Implikationen.
Aber die umkämpften Felder bieten durchaus
auch Instrumente für Reflexion und Dissens an.
paläontologische Neugier hinausgeht – braucht es im Sinne
gelebte Demokratie eine Besinnung auf Angebote, die aus den
umfehdeten Gegenden stammen: Mit Ethik und Kritik lassen
sich beispielsweise zwei wirkmächtige Strategien benennen,
die zwar nicht mit schnellen Antworten dienen können – sehr
wohl aber mit einer Ermutigung zur Formulierung der richtigen, unbequemen Fragen. Eingebettet in eine noch weiter auszubildende intellektuelle Logistik und Beförderung von Bildung
– denn wie erreicht bzw. ermuntert man mit Philosophie eine
Öffentlichkeit, die nicht ohnehin schon Diskurstauglichkeit erreicht hat –, muss deshalb etwa eruiert werden, auf welche
Weise man auf welche Form von Gemeinschaft ausgerichtet
ist oder wie die Relation von Demokratie und Dissens gegenwärtig einzuschätzen ist. Ethisch abgefederte Kritik ist deshalb mehr als schlichte Verweigerung, sie ist nichts weniger
als die Anfechtung verordneter ›Rationalität‹ und, als Fortführung ihrer selbst gedacht, die Reflexion der gesellschaftlichen
Bedingungen, unter denen sie entsteht – ohne sofort vereinnahmt, antizipiert oder gezähmt zu werden. Das Unbedingte
kann und wird niemals das Bedingungslose sein. Wir alle sind
in der Verantwortung.
P O P K U L T U R
Noah Horowitz hat in seiner vielbeachteten Studie »Art of the
Deal. Contemporary Art in a Global Financial Market« (2011)
die Verflechtungen zwischen Finanzwelt und Kunstmarkt herausgearbeitet und drei Arten von »values« beschrieben, die
sich an den Werken unterscheiden lassen: So sind sie »economic«, da sie mit Gewinn oder Verlust gehandelt werden können, sie sind »critical«, insoweit sie von einander unterscheidbar sind, und sie sind eben auch »symbolic« – etwa im Sinne
eines Zugewinns an sozialem Status für die Besitzenden. Dabei gilt die letztgenannte Wertkategorie als zentral, weil sie
dazu beträgt, den Kunstmarkt von anderen Märkten unterscheidbar zu machen. Doch das Alleinstellungsmerkmal des
Symbolischen ist nicht nur im Kunstmarkt einer Erosion ausgesetzt – das gesamte Feld der Kultur ist davon mit weit­
reichenden Folgen betroffen, erstreckt sich die Dominanz der
Marktlogik doch auf alle relevanten Kategorien, die sich abstrakt als Produktion, Distribution und Rezeption fassen lassen.
Die laufenden Zumutungen und ursächlichen Verschiebungen
sind dabei auch von AkteurInnen aus den betroffenen Feldern
mitgetragen, wenn nicht sogar mitverursacht worden. Unter
dem Deckmantel der wirtschaftlichen Zwänge sind Gedanken
der Vernutzung, die Abwertung von bezahlter Arbeitsleistung
oder auch sprachlich schöngefärbte Tendenzen einer vorauseilenden Privatisierung des Öffentlichen an die Stelle von realem Engagement und gelebter Verantwortung getreten.
S C H W E R P U N K T
THOMAS BALLHAUSEN TEXT
Unbedingte Kritik
Die Ursachen dafür sind aber nicht nur in lokaler Mikropolitik und sinkenden Fördersummen zu suchen, sondern vielmehr
in der gesamtgesellschaftlichen Verschiebung von einem poli­
tischen (Zoon politikon) zu einem ökonomischen Menschenbild (Homo oeconomicos). Abseits der Zweifelhaftigkeit politischer Extreme – die in den vielbeschworenen »Zeiten wie diesen« Zuspruch bekommen, der bedauerlicherweise weit über
40
Weltinnenraum des
Pop
THOMAS EDLINGER TEXT
Als Radiojournalist war Thomas Edlinger schon bei der Ö3Sendung »Musicbox« mit dabei, seit mehr als zwanzig Jahren
gestaltet er zusammen mit Fritz Ostermayer »Im Sumpf« auf
FM4. Und ab 2016 ist er künstlerischer Leiter des Kremser Donaufestivals. Als Buchautor hat sich Edlinger immer wieder
mit Gesellschaftskritik an den Nahtstellen von Pop und Kunst
beschäftigt. Das vor kurzem bei Suhrkamp erschienene Werk
»Der wunde Punkt« ist auf mehr als dreihundert Seiten mal
Streitschrift, mal (pop-)theoretische Exegese: Es ist von der leidenschaftlichen Absicht geprägt, Faszination und Reflexion
als »dialektische Verfeinerung des Blicks auf die gesellschaftliche Wirklichkeit« (Stefan Grissemann, »profil«) zu verhandeln.
skug druckt daraus ein Kapitel ab, das derzeitige Kritikdebatten vor allem aus den Blickwinkeln von eindeutig uneindeutiger Popkultur beleuchtet. Von Feminismus, Cyber-R&B und
­Geschlechter-Rekombinationen.
HEINRICH DEISL
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Was könnte man unter experimentellen Lebensformen verstehen? Feminismus etwa, weil sich in ihm so viel bündelt: praktisches Handeln und Theorie, kulturelle Produktion und die
Problematisierung der Natur. Besonders interessiert mich dabei das Vokabular der Popkultur. In ihm zeigt sich eine spielerische, bewusst uneindeutige Art und Weise, mit Identität
und Desidentifikation, mit Subjektivierung und Entsubjektivierung umzugehen. Das Spiel wird auf Kosten einer Kritik gespielt, wenn man darunter ein um Nachvollziehbarkeit bemühtes, sauber differenzierendes und nicht zuletzt urteilendes Verfahren versteht. Kritik und Pop schließen einander nicht aus,
leiden aber an tendenzieller Unverträglichkeit. Der Appell der
Kritik an die diskutierbare oder zumindest darstellbare Begründbarkeit von Einsprüchen widerspricht der Affektenlehre des Pop, die auf Intensität statt auf Argumentation setzt.
Das heißt aber nicht, dass die Popkultur einfach affirmativ verfährt, wie manche vorschnell meinen. Pop heute ist nicht unkritisch, sondern jenseits von Kritik. Die für den Theaterdonner
der Popmusik zentralen Posen, Stile, Sounds und Performances
legen auf den Kontakt zu politisch anschlussfähigen Projekten der Kritik kaum mehr Wert. Die heroische Phase der Counter Culture, die Pop mit Politik kurzschloss, ist weitgehend Geschichte. Pop ist schon lange nicht mehr Gegenkultur, sondern
wird selbst von Gegen- und Subströmungen im Sinne eines
hermetischen Antipop unterspült. Alle diese Popbotschaften
wenden sich schon deshalb nicht an ein gesellschaftliches Außen, weil ein Außen von Pop heute kaum mehr beschreibbar
wäre. ›Reale‹ Verhältnisse außerhalb von Pop existieren nicht
einmal für jene jungen Neo-Gotteskrieger, die beim Posing für
Allah nicht den Vorstadt-Rapper aus dem Selfie bekommen.
Was ständig zirkuliert, sind einander oft widersprechende, wild durcheinanderpurzelnde Zeichen und Codes. Die Popkultur feiert seit jeher die Verflüssigung der Zeichen und die
Relativierung der Kulturen. Alles kann ihrem Recycling als
Stoff dienen. Früher, als man sich von der Kollision des semiotisch Unvereinbaren noch die Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse erhoffte, hätte man dazu in linken
Poptheroriezirkeln emphatisch Subversion gesagt. Doch spätestens, seit PEGIDA-Demonstrationen als Spaziergänge annonciert werden, weiß man, dass die Unterminierung eines
bestehenden Schemas oder Kontexts nicht per se etwas Begrüßenswertes sein muss. Im Popuniversum ist die Unterwanderung des Bestehenden ein modisches Muss, aber die Wanderung kann nach rechts oder nach links führen. Die Subversion zeigt bloß den Innovationsgrad der Abweichung an. Die
Re- und Decodierung von kulturindustriellen Standards wie
Beats und Looks zielt durch Subversion des Alten auf vermarktbare Unterscheidbarkeit des neuen Produkts. Man könnte sogar behaupten: Die Subversion, verstanden als Wirbelsturm des Neuen, Überraschenden, ist die Normativität der
Popkultur. Die Popkultur kann, wirft man etwa einen Blick
auf die Ausweitung der Geschlechterdifferenzzone, alles und
nichts sagen. Aber sie soll es immer etwas frischer sagen als
der Hit von letzter Woche. Die Sprachen und Moden der Gegenwart herrschen über die Vergangenheit, selbst wenn keine
sonderlich relevanten Aussagen mehr aus dem ästhetisch diffusen Popcocktail extrahiert werden können. Insofern ist der
Mainstream-Pop heute das Gegenteil der oben angesproche-
nen religiösen Rückbesinnung auf Gründungstexte. In den rituellen Rekursen auf heilige Offenbarungen soll die Vergangenheit über die Gegenwart herrschen. Man soll nur etwas ganz
Bestimmtes sagen, und das soll immer genau so fern klingen
wie ein entschwundenes Jahrhundert, denn gerade diese Ferne beglaubigt die Authentizität des Werkes und die Demut
des menschlichen Heute angesichts des göttlichen Gestern.
Aktuelle Popmusik variiert den beliebigen Zugriff auf Archive und Stile, aber sie hat kein Patentrezept für Zukunftsentwürfe parat. Wenn die Gegenwart endlos wird und eher
lähmt als befreit, erscheint das Spiel mit den Zeichen der Abweichung umso verführerischer. Hier ein Stück Neo-Soul im
Retrolook, da ein wenig Footwork-Beinverknotungscredibility für das Video. Die Subversion feiert das Fluide der Zeichen,
aber die endlose Rekombinierbarkeit richtet sich auf kein beschreibbares Ziel und somit nicht auf eine Subversion von Verhältnissen jenseits der Zeichen. Dem gegenwärtig angesagten Cyber-R&B zumeist weiblicher Menschmaschinen geht es
weniger um ein neues, erstrebenswertes Bild der Geschlechter, sondern um das geile Gefühl, die alten Rollenbilder zu verlassen. Wohin der Weg im silbernen Raumanzug führt, weiß
niemand – im Zweifelsfall zur Umwertung aller Klischeewerte.
Es ist aber auch möglich, dass man sich auf Planeten wiederfindet, wo lässige Baggy-Jeans noch richtigen Gangstan gehören und Frauen endlich wieder richtige Bitches für eine Nacht
sind.
Unfreiwillig oder unbewusst affirmativ am Willen zur Verflüssigung ist allerdings, dass sich die Feier der Instabilität,
wie auch der sogenannte Akzelerationismus sie strategisch eskaliert, bestens mit der Verdampfung (fast) alles Ständischen
verträgt, das Marx dem beschleunigten Kapitalismus prophezeit hat. Auch Subversion verdampft als bloßer Novelty-Effekt,
wenn sie nichts anderes produziert als die Aufbrechung von
Routinen um ihrer selbst willen. Die Subversion, so ließe sich
spekulieren, galt lange Zeit als die schlauere Schwester der
braven Kritik. Heute legitimiert sie, wie ein guter Teil der Kritik, den Betrieb dessen, was sie angeblich umzustürzen trachtet. Andreas Gabalier gibt den Volks-Rock’n’Roller mit glokaler Lederhose und Retro-Elvis-Tolle, weil er damit die Maschine
genauso am Laufen hält wie jene – natürlich viel interessanteren und avancierten – Cyber-R&B-Queens, die sperrige Alienhaftigkeit und sexismusfähige Sexyness zu Markte tragen.
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Aus: Thomas Edlinger: »Der wunde Punkt.
Vom Unbehagen an der Kritik«
Berlin: Suhrkamp 2015, 317 Seiten, EUR 18,–
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