Der Staat bin ich

F U NC H A L
Der Staat bin ich
Global Village Wie ein portugiesischer Kunstlehrer
Herrscher über eine Atlantikinsel wurde
Staatsoberhaupt Dom Renato
„Ein kleines Loch in der Außengrenze der EU“
ürst Dom Renato I. ist gerade dabei, seine Katzen zu
füttern, als sich oben auf der Aussichtsplattform seiner
Festung ein deutsches Rentnerehepaar an ihm vorbeischiebt. Die zwei mustern ihn mit diesem fragenden, leicht
herablassenden Blick, den die meisten aufsetzen, die den Weg
hier herauf gefunden haben. Auf den Treppen, die sich durch
die alten Mauern winden, sind sie an Bildern vorbeigekommen,
auf denen Dom Renato einen goldenen Umhang trägt. Ein
Mann in Adelspose, sein Spitzname: der Starke, der Gerechte,
der Verrückte. Selbst ernannter Herrscher über das kleinste
Land der Welt, so würde er es wohl sagen.
Die Deutschen gucken, als wäre er der Hausmeister. Dom
Renato, das Katzenfutter in der Hand, lächelt freundlich. Als
er etwas sagen will, gehen sie weiter. „Schon klar“, meint er.
„Die interessiert ja nur der Blick aufs Meer.“
Dom Renatos Fürstentum ist ein Felsen in der Bucht von
Funchal, der Hauptstadt der zu Portugal gehörenden Atlantikinsel Madeira. Die Grundfläche seines Reichs ist kaum größer
als die Pools an Deck der Kreuzfahrtschiffe, die drüben im
Hafen liegen. Im 15. Jahrhundert soll Kolumbus hier geankert
haben. Später haben die Portugiesen eine Festung auf den Felsen gesetzt, um Funchal gegen Piraten zu verteidigen.
Als sie im 19. Jahrhundert den Hafen ausbauten, machten
sie den Vorposten zu einem Teil der neuen Kaimauer, und weil
er nun strategisch wertlos war, verkaufte ihn König Dom Carlos I. 1903 an eine wohlhabende Familie namens Blandy, die
Dampfschiffe betrieb und den Kerker als Kohlenlager nutzte.
Seit dem Jahr 2000 ist Dom Renato der Besitzer, ein 56-jähriger Sohn eines Taxifahrers, der die portugiesischen Behörden
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DER SPIEGEL 1 / 2015
in den Wahnsinn treibt, seit er seinen Fels 2007 zum souveränen
Staat erklärte. „Irgendwo vor Afrika“, sagt er mit einem Grinsen, „klafft jetzt ein kleines Loch in der Außengrenze der EU.“
Man könnte es sich leicht machen und Dom Renato als einen
Kauz abtun, der gern provoziert. Die meisten tun das, aber dabei weichen sie der Frage aus, die er mit seinem Felsen verhandeln will: Ab wann ist ein Stück Land ein Staat? Wie viel
Unabhängigkeit gesteht man einem Bürger wie ihm zu?
Neulich, sagt Dom Renato, sei Russlands Botschafter aus
Lissabon bei ihm zu Besuch gewesen. Sie hätten ein erbauliches
Gespräch geführt. Worum ging es da genau?
„Staatsgeheimnis“, flüstert er.
Dom Renato, der eigentlich Renato Barros heißt, unterrichtet
seit 25 Jahren an einer öffentlichen Schule in Funchal Kunst,
seine beiden Kinder sind längst aus dem Haus. Auf den Felsen,
sagt er, sei er schon als Jugendlicher gern gekommen, am liebsten in Begleitung hübscher Mädchen. Als er hörte, dass die
Blandys ihn verkaufen wollten, versetzte er sein Auto, sein
Fahrrad und sein Atelier. 25 000 Euro blätterte er für den Felsen
hin. Er dachte: Vielleicht könnte er in der Ruine ein Café aufmachen, vielleicht ein Restaurant. Woran er nicht dachte: dass
er mal Staatschef werden würde. Wutbürger. Separatist.
Er stellte sich beim Gouverneur der Insel vor und erläuterte
ihm seine Pläne, aber der Gouverneur senkte den Daumen.
Keine Lizenz für ein Gewerbe. Kein Stromanschluss. Kein Wasser. Immer wieder rannte Dom Renato in den folgenden Jahren
gegen verschlossene Türen. Dann zog er andere Saiten auf.
Mit dem Kauf hatte Dom Renato einen königlichen Brief
von 1903 erworben, der dem Besitzer des Felsens nicht nur
das Grundstück zusichert, sondern auch die Hoheitsrechte über
das Territorium. Dom Renato kann hier also tun und lassen,
was er will. Zum Beispiel kann er einen Staat ausrufen.
Nach gängiger Definition muss ein Staat drei Kriterien erfüllen. Neben einem Territorium braucht es ein Volk sowie
eine Staatsgewalt. Bezüglich seines Volks, das aus dem Fürsten,
seiner Frau und seinen Kindern besteht, merkt Dom Renato
an, dass es sich im Gegensatz zu dem des Vatikans immerhin
aus eigener Kraft vermehren könnte. Zur Staatsgewalt erklärte
Dom Renato sich aus praktischen Gründen einfach selbst.
Seine Verfassung schrieb er in fünf Minuten. Sie hat zwei
Artikel. Artikel eins: Das Wort von Dom Renato ist Gesetz.
Artikel zwei: bei Zweifeln siehe oben.
Theoretisch, sagt Dom Renato, könne er Hafengebühren
von den Kreuzfahrtschiffen verlangen oder den Portugiesen
verbieten, in seiner 200-Meilen-Zone zu fischen. Es wäre ihm
eine Freude, afrikanische Bootsflüchtlinge über seinen Felsen
in die EU einzuschleusen, auch wenn das die friedliche Koexistenz mit der Hafenpolizei stören könnte, die bis jetzt ein
Auge zudrückt, wenn er seinen Wagen im Halteverbot vor
dem Eingang parkt.
Er steigt die Treppen hinunter in den Kerker, wo er sich ein
Atelier eingerichtet hat. Er malt dort seine Wappen. Der russische Violinist Grigorij Seduch hat ihm eine Hymne komponiert.
Ein Franzose hat in Erfahrung gebracht, dass Dom Renato im
Südsudan problemlos Diplomatenpässe drucken lassen könnte.
Nachdem der Guardian kürzlich über ihn berichtet hatte, boten
sich Leser als Konsul für den Felsen an.
Wahrscheinlich ist Dom Renato vor allem eine Projektionsfläche – die von einem Kunstlehrer entworfene Utopie eines
selbstbestimmten Landes. Eines Landes ohne Korruption und
Zeitdruck, das der Europäischen Union, die Renatos Gesuch
um Anerkennung abgelehnt hat, einen Spiegel vorhält. „Es
gibt viele, die sich damit identifizieren können“, sagt Dom Renato. Im vergangenen Jahr hat ihn eine venezolanische Universität zum Ehrendoktor ernannt. Für seinen Einsatz für die
Menschlichkeit.
Marian Blasberg
FOTO: MARIAN BLASBERG / DER SPIEGEL
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