Interpretation. Peter Rühmkorf: "Gemeines Liebeslied"

Reclam
Walter Hinck
Peter Rühmkorf: Gemeines Liebeslied
Peter Rühmkorf: Gemeines Liebeslied
»Wie ein verrückter Reim«
Von Walter Hinck
Peter Rühmkorf: »Gemeines Liebeslied«
Abend gießt Rotspon ein,
mir ins Gesicht –
Ewig ist der Wackerstein,
ich bin es nicht.
Wer hält mein Leben kurz?
Fei oder Dschinn?
Leicht wie ein Vogelfurz
fliegt es dahin.
Hagel pickt, Hegel packt
nicht mein Geweid, aber bei
Liebe und Schnickschnack
vergeht mir die Zeit.
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Liebste, ich sing: an dich
denk ich bei Tag und Nacht,
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© 2003 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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weil mich das Ding an sich
trübsinnig macht.
Treib ich meine Dohlen heim,
– you can’t be true dear –
wie ein verrückter Reim
leg ich mich zu dir.
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Tu meinen Wanst, diridum,
vor deinen Birnenbug –
Was du begreifen kannst,
macht mich nicht klug.
Abdruck nach: Peter Rühmkorf: Werke 1: Gedichte.
Reinbek: Rowohlt, 2000. S. 211. – © Peter Rühmkorf,
Hamburg.
»Wie ein verrückter Reim«. Zu Peter Rühmkorfs »Gemeines Liebeslied«
Außer der Liebe nichts, so heißt Peter Rühmkorfs 1986 erschienener Sammelband der
Liebesgedichte. Das Gedicht gleichen Titels steht schon in dem 1962 veröffentlichten
Band Kunststücke. Zitiert sei wenigstens die erste Strophe:
Flüchtig gelagert in dieses mein Gartengeviert,
wo mir der Abend noch nicht aus dem Auge will,
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Peter Rühmkorf: Gemeines Liebeslied
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schön ist’s,
hier noch sagen zu können: schön,
wie sich der Himmel verzieht und die Liebe zu Kopf steigt,
all nach soviel Unsinn und Irrfahrt
an ein seßhaftes Herz zu schlagen, du spürst
einen Messerstich tief in der ledernen Brust
DIE FREUDE.
(GG 70)
Unübersehbar ist die Anordnung der Verse um eine Mittelachse, wie sie aus
Barockgedichten bekannt ist und wie sie Arno Holz wieder einführte. Unüberhörbar sind
aber auch die leicht verfremdeten Anklänge an Verse Hölderlins und an den
Klopstock’schen Odenstil, dessen genauere Kenntnis später Rühmkorfs Buch Walther
von der Vogelweide, Klopstock und ich (1975) dokumentiert. Die Aussage des Gedichts
allerdings, dass außer der Liebe den Dichter nichts fessele und halte, kann für
Rühmkorf keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Das stellt der Titel eines Essays aus
dem Band Strömungslehre I. Poesie (1978) klar: In meinen Kopf passen viele
Widersprüche. Und tatsächlich haben Politik, Sozialismus, Anarchie, Protest und Utopie
ihren gehörigen Anteil an den Themen seines lyrischen, essayistischen und
dramatischen Werks.
Vom Odenton findet sich nichts im Gemeinen Liebeslied. Wie einerseits
›klassische‹ Muster durch ironisch-parodistische Abstriche dem Ohr näher gebracht
werden, so klingt andererseits in Rühmkorfs Versen Dichtung nach, die der
Hochliteratur nicht zugehört. Das lyrische Ich als ›Vagant‹, so hat Herbert Uerlings
einen Abschnitt seiner Rühmkorf-Monographie überschrieben (Uerlings, 1984, S. 88).
Vaganten nennt man die im Hochmittelalter umherziehenden Studierenden (Scholaren),
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entlaufenen Mönche, die Anstellung, aber auch Abenteuer Suchenden, die ihr Publikum
mit literarischer Kunst unterhielten. Die Vagantendichtung umfasst Liebes- und
Tanzlieder, Trink- und Bettellieder, auch Parodien, Scheltlieder und Satiren. Berühmt
geworden ist, zumal durch die Vertonung von Carl Orff, die Sammlung Carmina burana.
Der Titel Gemeines Liebeslied lässt aber auch, bleibt man einmal im Mittelalter,
an Gegenformen des Minnesangs denken, etwa an die Lieder aus dem Leben der
Bauern, mit denen Neidhart von Reuenthal die »niedere minne« hoffähig machte.
»Vogelfurz« und »Wanst« (Z. 7, 21) sind Zeugnisse eines »niederen« Stils, wie er in
Bauern- oder Landsknechtsliedern fortlebte, während sich das anakreontische Lied
mehr an die Sprache der Geselligkeitspoesie hielt.
Dass das Liebeslied mit dem Trinklied verbunden bleibt, darüber lässt in
Rühmkorfs Gemeinem Liebeslied gleich der erste Vers keinen Zweifel. Mit Rotwein
wartet der Abend auf, ja, der Abend erscheint geradezu als ein Wirt mit rohen Sitten.
Reichlicher Genuss von Wein kann melancholische Gedanken wecken. Lebensgenuss
und Vergänglichkeit sind zwei Grundthemen Rühmkorf’scher Dichtung, die unmittelbar
zusammengehören; hier ist Maßstab der eigenen Hinfälligkeit die Dauer des Gesteins
(Z. 3). In die Rolle der Instanzen, die über die Lebensgeschicke entscheiden, treten
nun volksmythologische Gestalten: Feen und Dämonen, die gute Fei und der nach
arabischer Überlieferung Verderben bringende Dschinn (Z. 6). Aber trotz des
Bewusstseins der Lebenskürze wird das Dasein als leicht empfunden.
Mit der dritten Strophe stellt sich unabweisbar die Frage nach der lyrischen Form.
Rühmkorf wählt für das Gedicht einen sehr offenen Grundriss der vierzeiligen
Volksliedstrophe mit drei- und zweihebigen Versen, mit freier Füllung der Senkungen
und mit Kreuzreim. Die dritte Strophe verletzt die Reinheit des Reims, weil die
Reimwörter in ihren Schlusskonsonanten nicht übereinstimmen (packt – schnack, bei –
Zeit). Dieser Verstoß wird aber in Z. 9 vorweg schon kompensiert durch die auffälligen
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Stabreime. Diese Stabreimzeile will nicht konsequent nach ihrem Inhalt befragt
werden. Schon der Zusammenstellung von »Hagel« und »Hegel« und von »pickt« und
»packt« fehlt Logik, und für die mangelnde Lust, sich beim Rotweingenuss der
Philosophie hinzugeben, wirkt die Umschreibung »Hegel packt / nicht mein Geweid«
(Eingeweide) gesucht. »Schnickschnack« pointiert die Absage an das gehobene,
ambitiöse Gespräch viel besser. Es kommt aber eben auf die logische Abrundung dieser
Strophe nicht an. Dass der Dichter die Abweichung von der Endreimnorm mit
forciertem Stabreim wettmacht, kündigt ein spielerisches Prinzip an.
Dieses Spielprinzip ist zunächst weiterzuverfolgen. In der vierten Strophe
versteckt sich ein Schüttelreim. Auf dieses Beispiel hat Rühmkorf in seiner Schrift agar
agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen
Anklangsnerven (1981) selbst aufmerksam gemacht. Als einen markanten Punkt in
seiner »Artistenlaufbahn« betrachtet er es, dass er »selbst ein Unding wie den
Schüttelreim als eine ernst zu nehmende dichterische Herausforderung annahm« (agar
113). Solch ein Schüttelreim liegt vor in »sing: an dich« – »Ding an sich« (Z. 13, 15).
Eine Art »Kehrreimeffekt« oder eine »Wiederholung als Unwiederholbarkeit« sieht
Rühmkorf in der fünften Strophe (»dear« – »dir«). Aber auch die sechste Strophe treibt
ihr Spiel mit dem Reim. Rühmkorf verschiebt das Endreimwort »Wanst« (Z. 21) auf die
vorletzte Position des Verses, versteckt es also hinter einem Füll- und Leierwort der
Kinderpoesie. Kinderverse hat Rühmkorf gesammelt und aufgenommen in den Band
Über das Volksvermögen (1967); der Kinderpoesie widmet er einen ganzen Abschnitt in
der Naturgeschichte des Reims.
Mit der Unlust an der Hegel-Lektüre in der dritten Strophe korrespondiert in der
vierten das Missvergnügen am »Ding an sich«, also an einem Begriff Kants. Zu dieser
doppelten Absage an philosophische Reflexion gesellt sich in den beiden Schlussversen
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