Kinder und Jugendliche brauchen „Flügel“ – Kultur als Partner von

Tabea Golgath
Kinder und Jugendliche brauchen „Flügel“ – Kultur als Partner von
Schulen
Wird eine Schule durch die effektive Vermittlung des Curriculums zu einer „guten Schule“?
Interessieren sich Kinder und Jugendliche für ihre „Heimat“? Innerhalb des
Förderprogramms COMMUNAUTEN haben mehr als 300 Schüler an 26 nds. Standorten
durch kulturelle Bildung in Projekten ihr Dorf, ihre Stadt und Region entdeckt und eigene
Fragen und Vermittlungsformen für Gleichaltrige entwickelt. An zwei Beispielen lässt sich
viel zu Vor- und Nachteilen von Projektarbeit an Schulen lernen. Auf der Abschlusstagung
des Förderprogramms wurde die Frage diskutiert, ob Schule und Kulturbildung generell
zusammenarbeiten können. Die beteiligten Lehrer, Schüler und Kulturträger kamen zu dem
erfreulichen Ergebnis: „Schule braucht mehr Lehrkräfte als nur die Lehrer und Schüler
brauchen mehr Bildung als das bisherige Curriculum.“
Schlüsselworte: COMMUNAUTEN, Heimaterkundung, Stiftung Niedersachsen,
Projektarbeit, Kulturelle Bildung
Does the effective teaching of the curriculum result in a „good school“? Do children and
youths care at all for their hometown? More than 300 students at 26 locations in lower
saxony, Germany have discovered their hometown and area anew as part of the funding
programme COMMUNAUTEN and developed their own questions and didactic concepts
for their peers. The advantages and disadvantages of project work with schools will be
explained with the help of two examples. Is it possible für schools and cultural education to
cooperate at all? This question was intensely discussed on the final conference of the
funding programme. The partaking teachers, students and representatives of a variety of
cultural education came to the positive conclusion: „schools need more instructors than just
teachers and students need more education than just the current curriculum.“
Keywords: COMMUNAUTEN, cultural education, Stiftung Niedersachsen, project work,
Kinder und Jugendliche haben eine ganz eigene Art, sich Räume und öffentliche Plätze
anzueignen und wertzuschätzen. Eine Bushaltestelle oder ein Supermarktparkplatz mögen
für Erwachsene von geringem Interesse sein und können hingegen für Jugendliche eine
hohe Bedeutung als Ort für Individualität und Freizeit haben. Ähnlich eigenständig und
teilweise unberechenbar verläuft der Bezug zur „Heimat“. Umso wichtiger ist die
Heranführung an Kulturelle Bildung während Kindheit und Jugend für die geistige
Entwicklung.1
Die Stiftung Niedersachsen rief im Schuljahr 2008/2009 das Förderprogramm
COMMUNAUTEN für Kinder und Jugendliche ins Leben, um Kinder und Jugendliche
anzuregen sich mit ihrer „Heimat“, ihrem Dorf, ihrer Stadt und Region zu beschäftigen. Das
Programm startete mit fünf beispielhaften Projekten in Emden, Meppen, Oldenburg,
Osnabrück und Papenburg in eine Pilotphase. Die Teilnehmer sollten ihr unmittelbares
Lebensumfeld entdecken und sich mit der Geschichte und Kultur der eigenen Stadt
auseinandersetzen. Sie sollten ermutigt werden, Vermittlungsformen in eigener Sache zu
1
Siehe Folta-Schoofs, Kristian, Hannover 2012, S. 11-12
1
entwickeln, um ihr erlangtes Wissen an Gleichaltrige weiterzugeben. Bewusst wurde nicht
nur faktisches Wissen vermittelt, sondern sie wurden darin bestärkt, ihre altersgemäßen
Fragen zu stellen und eigene Vermittlungsformen zu entwickeln. Weitere wichtige Aspekte
des Vorhabens waren der intensive Austausch und die Zusammenarbeit der beteiligten
Kultureinrichtungen vor Ort.
Nach der Pilotphase wurden 21 niedersächsische Orte und Konzepte in vier
Wettbewerben ausgewählt. Die Jury vertrat jeweils die verschiedenen Sparten kultureller
Bildung und unterschiedliche niedersächsische Regionen. Neben den erwachsenen JuryMitgliedern ergänzten seit 2011 auch zwei SchülerInnen das Auswahlkomitee um die
jugendliche Perspektive. Die Auswahl von jeweils fünf Projekten pro Jahrgang bei über 40
Bewerbungen fiel nicht leicht und wurde rege diskutiert. Die Jury musste sowohl die
vorgestellten Konzepte auf ihre Umsetzbarkeit prüfen als auch die pädagogische Eignung
der vorgesehenen Projektleiter bewerten. Viele Bewerber hatten bereits ähnliche Projekte
umgesetzt und konnten damit ihre Expertise unter Beweis stellen.
Ziel dieses Programms war es, die Entdeckerlust von Kindern und Jugendlichen an der
eigenen Stadt und Region zu wecken, regionale Identität und Kulturbewusstsein zu fördern
und eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart anzuregen. Hierbei standen
den jungen Forschern Stadtführer, Lehrer, Studenten, Kunst-, Museums- und
Theaterpädagogen zur Seite und unterstützten sie in ihrer Kreativität der Weitervermittlung.
Der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt und so gibt es nun (kostümierte)
Stadtführungen, Comics, Spiele, Kurzfilme, Ausstellungen, Lieder, eine GPS-Rallye und
vieles mehr von Kindern für Kinder. Die 26 Projekte haben belegt, es gibt unendlich viele
Möglichkeiten mit Kindern und Jugendliche „Heimat“ zu erkunden und an jedem Ort gilt es
Einzigartiges zu entdecken.
Die Projektleiter trafen sich alle sechs Monate im verkehrsgünstig gelegenen Hannover
oder bei einzelnen Projekten z.B. in Brake (2011), Stuhr-Brinkum (2012) und Celle (2013).
Neben der Abstimmung gemeinsamer Anliegen wie der Präsentation auf der
COMMUNAUTEN-Website oder bei Facebook stand der Austausch im Vordergrund.
Während sich die „alten“ und „neuen“ Projektleiter beim jeweils ersten Treffen noch
vorsichtig beschnupperten, schien beim zweiten Treffen die Zeit zu kurz. Es wurden die
Ähnlichkeiten und Unterschiede in den jeweiligen Zielgruppen und der Vorgehensweise eifrig
besprochen. Alle Projektleiter profitierten von inhaltlichen Inspirationen und Erfahrungen der
Anderen und manche gute Idee fand auch anderswo Anwendung.
Um einen Einblick in die praktische Arbeit der Projektgruppen mit Schülern zu erlauben,
werden im Folgenden zwei Beispiele detaillierter vorgestellt. Grundsätzlich galt, die Projekte
sollten „außerunterrichtlich“ umgesetzt werden. In den meisten Fällen wurde dies in Form
einer AG realisiert, doch gerade von den wenigen Ausnahmen wie beispielsweise
Wahlpflichtkursen lassen sich Vor- und Nachteile von Projektarbeit mit Schulgruppen
ableiten.
1
„Wii echt – COMMUNAUTEN entdecken die Welt vor ihrer Tür in StuhrBrinkum“2
„Wir entdecken die Welt vor unserer (Schul-)Tür“. Mit diesem Motto starteten kurz nach
Schuljahresbeginn knapp 50 Schülerinnen und Schüler zweier Wahlpflichtkurse (Geschichte
und Politik) des 8. Jahrgangs in das COMMUNAUTEN-Projekt. Es sollte ihren Schulalltag
2
Wunder, 2012, S. 60-67.
2
über das ganze Schuljahr begleiten. Eine Doppelstunde in der Woche war für das Projekt
reserviert, die von der Kunstpädagogin Dorothee Wunder geleitet und von den beiden
Fachlehrern begleitet wurden.
Ziel war es, die eigene Umgebung zu erforschen und dabei die alltägliche, meist
unbewusste Wahrnehmung mit künstlerischen und anderen Mitteln bewusst und sichtbar zu
machen. Die herausgearbeiteten Ergebnisse sollten als Markierungen der erforschten Orte
mit künstlerisch gestalteten Informationstafeln in Brinkum verankert werden. Ausgehen sollte
alles von der Perspektive der Schülerinnen und Schüler, die sie im Laufe des Projektes
durch Forschungen erweitern konnten. Zum Einstieg wurde anhand einer kleinen Umfrage
sowie eines Bewegungsprotokolls erkundet, wo sich die SchülerInnen in ihrer Umgebung
bewegen und welche Orte sie kennen und mögen. Es zeigte sich, dass viele in den
umliegenden Dörfern wohnen und Brinkum kaum kennen. Es folgten Ortsbegehungen, in
Gruppen.
Einblick und Ausblick
Während des ganzen Projektes übernahmen die SchülerInnen auch die Dokumentation: Es
gab ein Protokollbuch und zwei Fotokameras, die jeweils am Anfang der Stunde an die
SchülerInnen verteilt wurden. Die Fotos anschließend zu betrachten, bot der Projektleitung
einen kleinen Einblick in die Sicht der Schülerinnen und Schüler. Was sehen sie, was halten
sie fest?
Der erste praktisch-künstlerische Teil der Annäherung an bestimmte Orte waren gemalte
Ortsansichten: Alle wählten ein Motiv in Brinkum, das sie malen wollten. Als Vorlage
machten sie per Kamera oder Handy Fotos, von Hand eine Skizze oder malten komplett aus
der Erinnerung. Für die meisten war es das erste Mal, dass sie mit Acrylfarben auf einer
großen Leinwand (50x70) arbeiteten. Es machte ihnen großen Spaß und die Malereien
zeigen eine ganz individuelle Wahrnehmung der Orte.
Abb. 1: Ein Motiv aus Brinkum
3
Dazu beschrieben die Schüler und Schülerinnen in wenigen Sätzen, warum sie dieses Motiv
gewählt haben, was es für sie bedeutet. Hier zeigte sich z.B., dass man in einer abstrakten
Kunst-Skulptur ohne Titel, die auf einer Grünfläche steht, auch ein Klettergerüst und in der
3
Für alle Abbildungen hat die Stiftung Niedersachsen die Bildrechte.
3
Grünfläche einen Fußballplatz sehen kann. Eine Schülerin nannte ihr Bild (von der besagten
Skulptur ohne Titel) „Der Spargelstecher“ und schrieb: „Man sieht einen großen Park. Im
Park gibt es einen großen Spargelstecher, viele Bäume und Gras. Ich habe mich dafür
entschieden, weil ich gerne Fußball spiele im Park mit meinen Freunden und meinem
Bruder. Viele Kinder klettern auf den Spargelstecher.“ Auch „Die große Wiese beim
Schützenplatz“ zeigt nicht zu jeder Jahreszeit, was sie zu bieten hat, wie ein anderer Schüler
beschrieb: „Die große Wiese beim Schützenplatz wird im Winter oft als Schlittenbahn
benutzt. Hier steht im Februar auch die Schlittschuhbahn. Im Sommer oder Herbst steht hier
öfters ein Zirkus. Ebenfalls gibt es hier eine Half-Pipe zum Skateboard fahren. Ich habe die
Wiese gewählt, weil sie mir sehr gut gefällt und weil ich mit meinen Freunden hier Schlitten
fahre.“ Daneben gab es Vorlieben für die Architektur alter und neuer Häuser.
„Entdecken Sie Brinkum neu!“
Da wir eine Ausstellung gestalten wollten, wurden die Texte in der Schule am Computer
eingetippt und gestaltet. Hinzu kamen jeweils das Foto der Malvorlage und ein Ausschnitt
aus dem Stadtplan, mit einem Pfeil, der auf den gemalten Ort zeigt. Nach den Osterferien
wurde die Ausstellung im Rathaus unter dem Titel: „Entdecken Sie Brinkum neu!“ eröffnet.
Die Ausstellungseröffnung war ein wichtiger Schritt in die Öffentlichkeit. Die
COMMUNAUTEN konnten erleben, dass ihre Arbeit auch für andere Menschen
gewinnbringend ist, um Bekanntes neu zu sehen.
Die gemalten Ortsansichten waren jedoch nur ein erster Schritt zu unserem Ziel, einige
der für die Kinder bedeutsamen Orte herauszugreifen und intensiver zu bearbeiten, um sie
später im Ortsbild durch von uns gestaltete Informationstafeln zu markieren.
Um Bekanntes neu zu sehen, gab es eine
Einheit, bei der die Schülerinnen und Schüler,
jeder für sich, den Schulhof erkundeten. Alle
machten hundert Schritte aus dem Gebäude
heraus in eine beliebige Richtung und
beschrieben diese Stelle: Was sie sehen, hören,
riechen und wie sich die Stelle anfühlt. Ob es ein
guter Ort ist. Sie pausten die Struktur des
Bodens ab und suchten Fundstücke, zu denen
sie sich eine Geschichte ausdenken sollten.
Geschichten wurden auch zu Straßennamen
erfunden: Warum heißt die Brunnenstraße
Abb. 2: Geschichten zu Fundstücken
Brunnenstraße
und
die
Jupiterstraße
Jupiterstraße?
Ein Stadtrundgang mit professionellen Gästeführerinnen ließ uns noch weitere Orte
entdecken. Der Radius erweiterte sich dadurch örtlich aber auch zeitlich, es ging von der
Wahrnehmung, was heute ist, zu Geschichten, die Orte von früher erzählen können. Nun
hatten die SchülerInnen die Wahl, sich für einen Ort zu entscheiden. Es ergaben sich
Gruppen zu folgenden Orten/Themen in Brinkum: Spielplätze, Einkaufsmarkt (Netto), die
Schule und das Jugendfreizeitheim, das Naherholungsgebiet Silbersee, das Tierheim, der
Friedhof (hierfür fand sich in beiden Kursen eine Gruppe), die Kirche, ein alter KriegsBunker, der alte Bahnhof (derzeit ohne Zugverkehr), Persönlichkeiten (Thomas Schaaf) und
das Haus von A. Frick, der sein Rezept für Afri-Cola 1931 nach Köln verkauft hat (von wo es
dann erfolgreich vermarktet wurde).
4
In den Gruppen wurden Fragen ausgearbeitet und dazu recherchiert. Nicht nur in Büchern
über Brinkum. Wir bekamen Besuch von Zeitzeugen, sowohl dem Opa einer Schülerin, als
auch von Mitgliedern der Geschichtswerkstatt. Wir machten gezielte Ausflüge, zum Beispiel
zum Friedhof, wo wir uns mit dem Pfarrer trafen und zur Kirche mit Turmbesteigung. Die
SchülerInnen zeigten bei allen Ausflügen durch ihre vielen Fragen, dass sie Interesse hatten
und sich mit dem, was sie sahen und hörten beschäftigten. Die SchülerInnen führten im
Freizeitheim und in Einkaufsmärkten eigenständig Interviews durch. Besonders beliebt, aber
nicht immer sehr ergiebig war bei den Schülern die Internetrecherche, so, wie sie überhaupt
die Arbeit mit den schuleigenen Computern immer begrüßten.
Abb. 3: Ein fertiges COMMUNAUTEN-Schild
Die SchülerInnen machten ihre Gestaltungsentwürfe auf großen Plakaten, die sie sich
gegenseitig auch inhaltlich zur Diskussion stellten. Da die Informationstafeln auch Bilder
enthalten sollten, wurde gemalt, fotografiert und Bildmaterial gestaltet. Die endgültige
Aufbereitung der Schilder wurde professionell von einer Grafik-Designerin durchgeführt.
Diese erarbeitete mit den Schülerinnen und Schülern Gestaltungsmerkmale, mit denen die
unterschiedlichen Schilder als zusammengehörig wahrgenommen werden. Die Schilder
wurden erst nach Ende des Schuljahres fertig.
Alles in allem waren sowohl die Einbindung in einen doch eher engen schulischen
Rahmen sowie der lange Zeitraum zwar einerseits erschwerend, aber andererseits sehr
bereichernd. Das Projekt erreichte somit viele Jugendliche, die vielleicht von sich aus und in
ihrer Freizeit nie teilgenommen hätten, und brachte somit ganz unterschiedliche Themen ein.
Es gab durch die schulische Einbindung eine große Kontinuität und durch den langen
Zeitraum konnte vieles immer wieder aufgegriffen und weiter vertieft werden. Die
Schülerinnen und Schüler identifizierten sich im Verlauf immer mehr mit dem Projekt.
2
„Stadtbesitzer.de – COMMUNAUTEN suchen nach kommunalpolitischen
Spuren in Hannover“4
Wie wird mein Ort / Stadtteil regiert? Was haben der Werkstoffhof, die Kita und das Freibad
gemeinsam? Diese und andere Fragen stellten sich die »kommunalpolitischen
COMMUNAUTEN Hannover« und erarbeiteten mehrere Rallyes. Das Ziel war es in einem
interessanten Format Gleichaltrigen die kommunalpolitischen Strukturen und ihre Bedeutung
im Alltag zu vermitteln. Zur Beantwortung ihrer Fragen standen den COMMUNAUTEN
Kommunalpolitiker und andere Experten zur Seite. Mit einer Kombination von alten und
neuen Orientierungshilfen wie Kompass oder GPS-Geräten beabsichtigte das Projekt das
4
Gumgowski, 2012, S. 88-97.
5
häufige Fehlen von Interesse und Verständnis für kommunalpolitische Prozesse durch
gezielte Aufklärung auszugleichen und somit auch diese Dimension eines Heimatbezuges
herzustellen.
Kommunalpolitik vor der eigenen Haustür
Was haben der Gully, die Kindertagesstätte und der Zebrastreifen gemeinsam und wer kann
dafür sorgen, dass unser Stadtteil einen neuen Bolzplatz bekommt? Mit den StadtbesitzerRallyes erfuhren Kinder und Jugendliche, dass Demokratie direkt vor der eigenen Haustür zu
entdecken ist. Sie fanden spannende kommunalpolitische Orte und recherchierten deren
Bedeutung. Große und kleine, bekannte und völlig unbekannte Orte bezogen die Schüler in
ihre Rallyes mit ein. Diese wurden schließlich logisch miteinander verknüpft und es
entstanden: Stadtteilrallyes von Jugendlichen für Jugendliche.
Ein Stadtteil – tausend Möglichkeiten
Die Produkte des Stadtbesitzer-Projekts sind so vielfältig wie die Stadtteile, in denen die
Rallyes entstanden. Jede Stadtbesitzer-Klasse teilte sich in Teams auf. Diese entschieden
sich wiederum jeweils für eine eigene Art und Weise, die Rallye-Teilnehmer von Station zu
Station zu lotsen:
 Rätselrallye – Kommunalpolitische Wissensfragen und Rätsel führen von Station zu
Station.
 Kompassrallye – Multiple-Choice-Fragen zu den verschiedenen Orten weisen die
Himmelsrichtung: mit der richtigen Antwort geht’s in die richtige Richtung.
 GPS - Rallye – Das Geocachingprinzip. An jeder Station helfen Rätsel und
Rechenaufgaben die Koordinaten des nächsten Ortes herausfinden.
 Fotorallye – Fotodetails, eingefangen an kommunalpolitischen Orten, geben den
Teilnehmenden Hinweise auf ihre Route durch den Stadtteil.
 Video-Walk – Den Film von der Website aufs Handy laden, der Person im Video
hinterherlaufen und den Stadtteil aus anderen Augen sehen.
Die Stadtbesitzer-Gruppen:
Politikkurs des 12. Jahrgangs an der St.-Ursula-Schule
Mitten in Hannovers Südstadt befindet sich die St.-Ursula-Schule. Ausgerechnet
Schülerinnen und Schüler des Politik-Abdecker-Kurses, die eigentlich mit Politik so gar nichts
mehr am Hut haben wollten, entwickelten hier großartige Rallyes für Kinder und Jugendliche
durch die Südstadt. Es bildeten sich vier Teams, die mit verschiedenen Rallye-Methoden
arbeiteten: eine GPS-Rallye, eine Rallye rund um den berühmten hannoverschen Maschsee,
eine Kompassrallye und ein Video-Walk.
Routenplanung mit prominenter Unterstützung
Stadtplan schnappen, Googlemaps durchforsten und eine Menge recherchieren:
kommunalpolitisch bedeutsame Orte in der Südstadt müssen zunächst gefunden und
geographisch sinnvoll verknüpft werden. Anschließend bekamen wir professionelle
Unterstützung: Die Teams erarbeiteten gemeinsam mit dem Bezirksbürgermeister Lothar
Pollähne ihre Routen und tauschten sich mit dem alteingesessenen Südstädter über die
schönsten und kommunalpolitisch bedeutsamsten Orte im Stadtteil aus. Hat die GildeBrauerei am Maschsee überhaupt etwas mit Kommunalpolitik zu tun? Und wie viel Geld
6
bekommt eigentlich das Sprengelmuseum für den Umbau? Herr Pollähne beweist sich als
echter Experte in Südstadt-Angelegenheiten und ist den vier Teams eine große Hilfe.
Ab nach draußen!
Abb. 4: Vorbereitungen der Fotorallye
Mitten im sibirischen Winter machten sich unsere tapferen Stadtbesitzer also auf den Weg
durch die Südstadt, um die perfekten Routen zu definieren und die genauen GPSKoordinaten und Himmelsrichtungen an den verschiedenen Orten zu notieren. Sie liefen ihre
geplanten Rallye-Strecken ab, suchten markante Stellen an den ausgewählten Orten,
notierten Ideen für Rätsel. Der Videowalk stellte eine besondere Herausforderung dar: Mit
der Handkamera die zuvor ausgearbeitete Route ablaufen, dabei möglichst wenig das Bild
verwackeln und bloß nicht die Orientierung verlieren! Die Stadtbesitzer entdeckten die vielen
verschiedenen Bodenbeläge ganz neu: Zebrastreifen, Radwege, Bordsteinkanten und
Kopfsteinpflaster dienten als Anhaltspunkte und lieferten Ideen für kommunalpolitische
Wissensfragen.
Der WPK-Wirtschaft der 9. Klassen an der Gerhart-Hauptmann-Realschule
Der Schwerpunkt „Wirtschaft“ des Wahlpflicht-Kurses an der Gerhart-Hauptmann-Realschule
war auch bei den Rallyes dieser Gruppe Programm: Sie überlegten sich, die Standorte
ehemaliger großer Wirtschaftsunternehmen in ihrem Stadtteil Bothfeld/List zu erkunden und
ihre Geschichte zu erzählen.
Der Stadtteil bietet viel Potential, denn früher hat hier zum Beispiel Hermann Bahlsen die
erste „Cakes-Fabrik“ gegründet, Pelikan produzierte Füller und auch die erste Schallplatte
wurde hier hergestellt. Die vier Teams in diesem Kurs teilten sich nach den (ehemaligen)
Wirtschaftsunternehmen auf, die sie besonders interessieren: Bahlsen, Pelikan, Deutsche
Grammophon und der neue Einkaufspark Klein-Buchholz sind ihre Schwerpunkte.
Warum wurde die große Bahlsen-Fabrik geschlossen?
Warum wurde ein ganzes Viertel im Stadtteil nach der Firma Pelikan benannt? Und was war
vorher dort, wo jetzt der Einkaufspark Klein-Buchholz ist? Die Schülerinnen und Schüler des
Kurses durchforsten das Internet, recherchieren in Unternehmenschroniken und begeben
sich auf Entdeckungsreise durch die heutigen Gebäude der Fabriken. Auf dem ehemaligen
Bahlsen-Fabrikgelände befindet sich zum Beispiel ein großer Büro- und
Dienstleistungskomplex, natürlich inklusive Bahlsen-Fabrikverkauf. Am Eingang des PelikanWohnviertels finden die Schüler den berühmten Brunnen, in dem früher echte Pelikane
lebten.
7
Abb. 5: Ortsbegehung mit Herrn Emmelmann
Und im heutigen Einkaufspark Klein-Buchholz wird das Stadtbesitzer-Team vom Inhaber
persönlich durch die alten und neuen Räumlichkeiten geführt. Jens-Michael Emmelmann,
dessen Familie das Grundstück bereits seit 3 Generationen verpachtet, ist auch Ratsherr der
Stadt Hannover. So kann er aus den verschiedenen Perspektiven über die frühere Nutzung
als Omnibusfabrik sowie über die Umgestaltung zum Einkaufspark berichten. Die
SchülerInnen fragen, welche Anträge Herr Emmelmann einreichen musste, um das Gebäude
umnutzen zu dürfen. Eine weitere Gruppe unterhält sich mit ehemaligen Mitarbeitern der
Deutschen Grammophon AG. Diese erzählen aus eigener Erinnerung, wie und wo in dem
heutigen Möwenpick-Weinkeller früher Schallplatten produziert wurden. Sogar eine originale
Schallplatte von früher bekamen unsere Stadtbesitzer zu sehen!
Die Rallyes wurden natürlich in hoher Auflage als Flyer gedruckt und an alle Schulen im
jeweiligen Stadtteil verteilt. Da das Thema „Politik im Nahbereich“ in der 8. Klasse im
Kerncurriculum steht, drängt sich eine kommunalpolitische Rallye durch den eigenen
Stadtteil geradezu auf und bietet Lehrern die perfekte Möglichkeit, Politikunterricht mal „ganz
anders“ zu gestalten.
Reaktionen: „Was ich am COMMUNAUTEN-Projekt toll fand war, dass wir älteren Schüler
uns aktiv mit Kommunalpolitik auseinander gesetzt haben, um Jüngeren auf spielerische Art
und Weise nahe zu bringen, dass alles, was für uns irgendwie selbstverständlich geworden
ist, ohne die entsprechenden politischen Entscheidungen und Entscheidungsträger nicht
existieren würde. Dadurch, dass wir uns Rallyes für jüngere Schüler ausgedacht haben, war
es besonders wichtig, die politischen Hintergründe zu verstehen. Schließlich kann man nur
das einfach und verständlich ausdrücken, was man auch wirklich verstanden hat. (Katharina
Wien, Schülerin St. Ursula-Schule Hannover)
3
Schule ≠ Kulturbildung?
Am 24. Februar wurden auf der Tagung „Heimatforscher und Stadtexperten – Wie Kinder
und Jugendliche ihre Lebensumwelt wahrnehmen“ im Rahmen des Förderprogramms
COMMUNAUTEN in Oldenburg die Erkenntnisse aus den einzelnen Projekten
zusammengetragen und Bilanz gezogen. Die Sozialraumforscher Prof. Dr. Ulrich Deinet und
Prof. Dr. Peter Rahn regten Kultureinrichtungen und Jugendarbeit an, darüber
nachzudenken, ob sie in ihrer praktischen Arbeit der Zielgruppe tatsächlich passende
Angebote offerieren und sie entsprechend ihrer Bedürfnisse ausreichend fordern und
fördern.
Ein mit Spannung erwarteter Tagesordnungspunkt war die Podiumsdiskussion zum
Thema „Schule ≠ Kulturbildung?“ zwischen Vertretern mehrerer Kultureinrichtungen,
Kulturbildungsprogrammen wie den Kulturagenten und dem neuen Programm des Landes
8
Niedersachsen SCHULE:KULTUR!, zwei Vertreterinnen von Schule und einem Schüler. In
der konstruktiven Diskussion wurden Beispiele für eine gute Zusammenarbeit zwischen
Kulturträgern und Schulen erläutert. Eine Form das Schulsystem mit der freien Projektarbeit
z.B. eines Theaterpädagogen zu verbinden, kann die Registrierung von Fehlzeiten und
Engagement umfassen, die in einem dem Zeugnis angefügten Zertifikat aufgeführt werden.
Die beiden Lehrkräfte wiesen darauf hin, dass nicht alle Projekte für jede Schulform oder
Schülergruppe geeignet seien und Schulen Kontinuität brauchen. Hier scheinen Projekte
nicht immer das Format der Wahl zu sein. Besser geeignet ist die Nutzung von Museen als
konstante Rechercheorte oder Theater als feste Kooperationspartner. Ähnlich wird es im
„KulturSchul-Programm des Landes Hessen“ empfohlen.5 Für Schule sind u.a. Aspekte wie
Verlässlichkeit und Kontinuität wichtig. Das fächerübergreifende Lernen beispielsweise in
Profilfächern erlaubt wiederum im Schulalltag einige Flexibilität. Nichtsdestotrotz gilt es zwei
Ansätze zu verfolgen: „Zum Einen muss ästhetisch-kulturelle Praxis für die in den Schulen
arbeitenden Fachkräfte als tatsächlicher Mehrwert für ihre tägliche Arbeit erfahrbar werden.
Zum anderen setzt dies eine Veränderung der schulischen Rahmenbedingungen voraus.“6
Der Überlastung von Lehrern und Schule im Allgemeinen durch die wachsenden
Anforderungen kann durch Engagement seitens der Kulturträger entgegengewirkt werden,
während sich die Erfahrbarkeit des Mehrwerts von Kultureller Praxis vornehmlich durch
eigene Erfahrungen oder eine regelmäßige „Konfrontation“ mit den positiven Effekten
erwirken lässt. Die Übersendung von Angebotsinformationen oder Einladung zu
Einführungsveranstaltungen genügt nur selten. Projekte und Kooperationen lassen sich am
Besten gemeinsam entwickeln, allerdings haben Lehrer oft wenig Kapazität, sich
beispielsweise um die Finanzierung der Umsetzung zu kümmern.
Eine vielfach von Kunst-, Theater- und Museumspädagogen festgestellte Schwäche ist
die teilweise geringe Wertschätzung von Lehrern für Projektarbeit mit Kulturpartnern und für
kulturelle Bildung im Allgemeinen. Auch Regina Münderlein stuft erfolgreiche Kooperationen
als sehr komplexe Strukturen ein, die langfristig geplant werden müssen und viele Variablen
enthalten.7 Gerade langfristig aufgebaute und fein abgestimmte Kooperationen haben den
Vorteil, dass nicht regelmäßig neu Zielvereinbarungen und Ähnliches getroffen werden
müssen, sondern dass sich die Partner auf die jeweiligen Schwerpunkte und Interessen
verlassen können.8 Ein Schüler der 10. Klasse wies während der Podiumsdiskussion
daraufhin: „Wir Schüler wissen oft noch gar nicht, was uns interessiert und Spaß macht. Wir
brauchen das Ausprobieren mehrerer kultureller Angebote in der Schule, um für uns selbst
entscheiden zu können, ich interessiere mich nicht für Kunst, aber für Theater und das
möchte ich außerhalb des Unterrichts mehr machen.“ Die didaktische Leiterin einer IGS gab
ebenfalls zu bedenken: „Schule braucht mehr Lehrkräfte als nur die Lehrer und Schüler
brauchen mehr Bildung als das bisherige Curriculum.“ Ein Ziel muss sein, Kulturbildung in
das Profil von Schule und somit auch in das Curriculum fest zu integrieren, um den Schülern
die Vorteile in der Zusammenarbeit mit Künstlern, Museen, Theatern u.v.m. dauerhaft zu
sichern.
„Man kann hierbei verschiedene Elemente unterscheiden:
ein von ausgebildeten Fachkräften durchgeführter
Fachunterricht
interessante AGs
5
Siehe Ackermann/Retzar et.al., Wiesbaden 2015, S. 46.
Fuchs/Braun, Weinheim 2015, S. 273.
7
Münderlein, Wiesbaden 2014, S. 245.
8
Braun/Fuchs/Kelb/Schorn, München 2013, S. 136.
6
9
regelmäßiger
und
qualifizierter
-
eine gute Kooperation mit außerschulischen Kulturpartnern
eigene Schulkulturakteure (Chor, Schauspielgruppe, Band etc.)
9
ein ästhetisch gestaltetes Gebäude“
In Zeiten der vielfach diskutierten Kompetenzen, die es gilt Schülern zu vermitteln, erscheint
die Zusammenarbeit von Schule und Kultureinrichtungen unbedingt empfehlenswert. Aus der
Perspektive einer kulturfördernden Einrichtung wie der Stiftung Niedersachsen sollte eine
gute Schule ihren Schülern neben den Hauptfächern Zugang zu mehreren Kultursparten
bieten, um so das Erforschen der eigenen Interessen und Befähigung zu fördern und
gleichzeitig junge, aktive und selbstbestimmte Menschen und Mitglieder der Gesellschaft mit
einem breiten inneren Horizont zu formen. Gerade die kulturelle Praxis erlaubt
Querverbindungen zwischen den unterschiedlichsten Schulfächern und ermöglicht
fächerübergreifendes Lernen und Denken wie der spätere Berufs- und Lebensalltag
notwendig macht. Welche Organisationsform für die Einbringung Kultureller Bildung in das
Curriculum und den Schulalltag gewählt wird, ist erstmal peripher. Wichtiger ist eine
Implementierung nicht nur als optionales Add-on, sondern als grundlegendes Element, das
von Schulleitung, Kollegium, Schüler- und Elternschaft mitgetragen wird.
Literatur
Ackermann, Heike/ Retzar, Michael/ Mützlitz, Sigrun/ Kammler, Christian (2015):
KulturSchule. Kulturelle Bildung und Schulentwicklung, Wiesbaden 2015.
Braun, Tom/ Fuchs, Max/ Kelb, Viola (2010): Auf dem Weg zur Kulturschule – Bausteine zu
Theorie und Praxis der Kulturellen Schulentwicklung, München 2010.
Braun, Tom/ Fuchs, Max/ Kelb, Viola/ Schorn, Brigitte (Hrsg.) (2013). Auf dem Weg zur
Kulturschule II – Weitere Bausteine zu Theorie und Praxis der Kulturellen
Schulentwicklung. München 2013.
Folta-Schoofs, Kristian (2012): Das kulturell lernende Gehirn. Neurobiologische Grundlagen
Kultureller Bildung. In LKJ, BKJ (Hrsg.): Kultur macht Schule in Niedersachsen. Hannover
2012.
Fuchs, Max/Braun, Tom (Hrsg.)(2015): Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung –
Grundlagen, Analysen und Kritik, Weinheim 2015.
Gumgowski, Larissa (2012): Stadtbesitzer.de – COMMUNAUTEN suchen nach
kommunalpolitischen Spuren in Hannover. In Stiftung Niedersachsen (Hrsg.):
COMMUNAUTEN – Entdecken. Erforschen. Erklären. Kinder & Jugendliche präsentieren
ihre Heimat, Hannover 2012.
Münderlein, Regina (2014): Erfolgreiche Schulkooperationen. Eine doppelperspektivische
Studie zur Zusammenarbeit von Schule und Jugendarbeit. Wiesbaden 2014.
Wunder, Dorothee (2012): Wii echt - – COMMUNAUTEN entdecken die Welt vor ihrer Tür in
Stuhr-Brinkum. In Stiftung Niedersachsen (Hrsg.). COMMUNAUTEN – Entdecken.
Erforschen. Erklären. Kinder & Jugendliche präsentieren ihre Heimat. Hannover 2012.
9
Braun/Fuchs/Kelb, München 2010, S. 68.
10
Dr. Tabea Golgath
machte ihren Magister in Amerikanistik und Geschichte und wurde
hier mit dem Thema der effektiven Vermittlung in
Museumsausstellungen promoviert. Sie arbeitete als
Museumspädagogin und Feuerwehrlehrkraft und ist seit 2010
Referentin für Museen und Kunst bei der Stiftung Niedersachsen.
Hier leitet sie die Förderprogramme COMMUNAUTEN und den
ersten Jugendkulturpreis Niedersachsen.
11