Das Referat von Jürg Brühlmann

LEBE-Tag Bern 2015: Potenziale
Referat Jürg Brühlmann
Leiter Pädagogik
Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Liebe Gäste
Geschätzte Damen und Herren
Ich wusste, dass am LEBE-Tag in Bern 5000 Teilnehmende da sein werden.
Aber dass die Anfrage von LEBE zum Thema Potenziale zu einer Forschungsexpedition zum
durch sumpfigen Dschungel wird, das wusste ich noch nicht.
Aus dem Rucksack voller Mitbringsel werde ich gerne hier einiges mit Ihnen teilen. Es ist mir
eine Ehre und ich freue mich.
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Begonnen habe ich vor einigen Wochen mit dem Studium der Reiseprospekte: Dem kleinen
Programmheft mit der Eierschachtel.
Der LEBE-Tag sei "ein Tag, an dem es zu entdecken gebe, was in Menschen und Dingen
schlummere. Etwas, was als Idee, als Konzept, als Plan vorhanden sei, sich aber noch nicht
gänzlich gezeigt und manifestiert habe. Potenzial stecke in allem, was gegenwärtig lebe oder
dereinst entstehen werde."
Das hätte mich schon warnen müssen. Aber es hat mich auch gelockt.
Es gehe "um die schöpferische Kraft des Lebens an sich."
Das fand ich stark.
Mit diesen Worten berührt Geschäftsführerin Regula Bircher den Kern des Lebens:
die Sinngebung und die Zukunftsträume von uns Menschen, das Schöpferische, die
Schöpfung.
Aber auf der Reise fiel mir auf, wie überraschend nah das Wort Schöpfung beim Wort
Er-Schöpfung liegt.
Auch der liebe Gott war am 7. Tag müde und ruhte sich aus. Das sollten wir auch tun, wenn
wir nicht vom Burn-For zum Burn-Out wechseln wollen, wie das Margrit Rasfeld gesagt hat.
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Der von LEBE gewählte Begriff Potenziale ist also vielschichtig.
Einiges davon erahnt man auf dem Kleingedruckten auf der Eierschachtel der Broschüre.
Regula Bircher bringt zum "Potenzial" auch die Worte "aufspüren" und "fördern“ ins Spiel.
Also so etwas wie suchen, entdecken, finden, wecken oder weiter entwickeln von Chancen
und Möglichkeiten, von Stärken.
Gibt es Schöneres? dachte ich.
Sind nicht viele unter uns nicht gerade deswegen Lehrerin und Lehrer geworden? Um
andere dabei zu unterstützen, ihre Potentiale zu finden?
Oder wie Psychotherapeutin Ursula Wirtz spontan geantwortet hat:
"Einen Raum bereitstellen, in dem Möglichkeiten zu Wirklichkeiten werden können."
Und da tauchte schon die zweite Frage auf:
Wo kämen wir Lehrerinnen und Lehrer hin, wenn die Kinder plötzlich alle ihre Potentiale
selber entdecken und umsetzen würden?
Und die nächste Frage war nicht weit:
Wo kämen all die Schul-Berater und Kreativ-Kursleitungen hin, wenn wir Lehrpersonen
unsere Potenziale einfach so selber leben würden?
In der kleinen LEBE-Potenzial-Broschüre wird uns in der Werbung der PH Bern empfohlen:
Nutzen Sie ihr Potenzial!
Da denkt man zuerst, auch die PH Bern wünsche uns nun viel Glück auf unserem Weg und
ihre Mitarbeitenden seien gerade daran gegangen, sich einen anderen Job zu suchen.
Bis dann auf der nächsten Zeile das Kleingedruckte in die Augen springt: "Die PH Bern
unterstützt sie dabei"! - Es geht also doch nicht von ganz allein.
Und weiter unten im Kleingedruckten kommt alles sogar noch um einiges fordernder:
"Wir wollen wissen, was Sie bewegt und welche Unterstützung Sie in Zukunft brauchen".
Das könnte eine Geschäftsidee sein, dachte ich, Big Data und Datamining: Die PH Bern und
andere Anbieter dürfen sich mit ein paar Cookies - gegen Bezahlung selbstverständlich - in
unsere Schulcomputer einnisten. Und die Schulen können sich dann mit diesem Geld ein
paar Kurse mehr leisten.
Nein im Ernst. Wie es Matthias Mölleney heute morgen gesagt hat: Auch Lehrpersonen
brauchen Möglichkeiten für eine Projekt- oder Fachlaufbahn. Der LCH setzt sich ein für
schweizweit zertifizierte Weiterbildungsabschlüsse für Expertisefunktionen an Schulen, z.B.
Projekt- und Teamleitung, Praxisausbildung, Coaching junge Kolleginnen, QM, etc.
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Die LEBE-Organisatoren haben sich auch gewünscht, dass ich auch etwas sage, wo denn
die potentiellen Freiräume der Lehrpersonen seien, also die noch unentdeckten Potenziale
im Lehrberuf oder bei Lehrpersonen.
Wir Lehrpersonen können – und müssen! – in unserem Beruf sehr viel gestalten:
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Wir führen Regie über Unterricht, Auswahl und Zugang zu Inhalten, definieren
Anforderungen oder angepasste Herausforderungen,
wir legen Regeln und Strafen fest,
machen Angebote für Methoden und Lernsettings,
steuern Rhythmen, Beziehungen, Umgangsformen, Gespräche,
geben Feedbacks,
nehmen Einfluss auf Pultordnung, Raumgestaltung und Temperatur, Lärm und Ruhe
wir beeinflussen mit unserer Stimmung die Stimmung in den Klassen und im Team,
wir planen Exkursionen und Lager, öffnen Lernräume ausserhalb des Schulzimmers,
wir arbeiten mit Eltern so oder anders zusammen,
wir geben Noten und entscheiden in Zeugnissen und an Runden Tischen über
Bildungskarrieren mit und vieles mehr.
Das sind beeindruckende Potenziale in unserem Beruf - sofern man gerne gestaltet. Und es
sind unausweichliche Tatsachen: Wir können – frei nach Watzlawik - nicht nicht gestalten.
Dazu noch zwei Geschichten: 1973 musste ich kurz vor der Ölpreiskrise und dem Ende des
Lehrermangels nach drei Jahren Seminar mit nicht einmal 19 ein Jahr ins Jahrespraktikum.
Ein Viertklässler war Bettnässer, wurde vom Stiefvater verprügelt, stank manchmal, kam oft
zu spät oder gar nicht und verzog sich gerne unter den Klavier-Flügel in meinem SingsaalSchulzimmer (eine Notlösung).
Seine vorherige Drittklasslehrerin und erfahrene Lehrerzimmer-Kollegin hatte mir den Rat
gegeben, ihn mit harter Hand zu führen und mit Watschen nicht zu geizen. Ich hielt mich
nicht daran. Er war dankbar, einfach dabei sein zu können, auch unter dem Flügel.
Der Lehrer in der nachfolgenden 5. Klasse fackelte nicht lange und nach wenigen Wochen
waren er und zwei weitere Schülerinnen in einer Sonderklasse.
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In der gleichen Klasse hatte es auch ein paar wache Mädchen und Buben. Sie schlugen mir
vor, ein Theater zu produzieren. Ich gab ihnen den Raum, den sie voll nutzten. Sie holten
mich, wenn sie den Eindruck hatten ich könnte hilfreich sein. Nach einem Monat konnten wir
die Eltern zur Aufführung einladen.
Fazit: Es gibt sie, die Freiräume und Möglichkeiten der Lehrerinnen und Lehrer. Die Frage
stellt sich immer, nach welchen Kriterien und beruflichen Standards wir sie nutzen
und ob wir dabei den Potentialen der Kinder ebenfalls Raum geben.
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Wenden wir uns wieder der heutigen Zeit zu:
In der Wirtschaft scheint es im Moment vor allem darum zu gehen, das Potential von
Arbeitskräften (damit sind wir gemeint) zu erkennen, zu analysieren, zu erfassen und
auszuwählen. CEO‘s und Personalchefs oder Schulleiter/innen werden mit derartigen
Beratungsangeboten und Fachbüchern bombardiert.
Im Gymi und in der Sek I E tun wir das auch. Auf der Primar und in der Sek G gilt das Prinzip
Integration. Da analysieren wir Potentiale primär, um sie zu fördern.
Kürzlich hörte ich BR Schneider Ammann an einer gemeinsamen Medienkonferenz
zusammen mit der EDK in Bern zu den Zielen der Bildungspolitik.
(18.5.2015 MK EDK/SBFI, Bern)
Er sprach von ausschöpfen von Fachkräftepotential, von mobilisieren von
Arbeitskräftepotential
Und kurz darauf hörte ich Herrn Bigler, Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands
SGV an einer Schweizerischen Konferenz zu den Tagesschulen (Lilienberg Ermatingen TG):
Er sprach von aktivieren des Arbeitskräftepotentials.
Da wähnt man sich fast schon an der Generalmobilmachung für den Aktivdienst.
Im wirtschaftlichen Kontext werden die Begriffe offenbar sowieso etwas anders genutzt als in
der Bildung:
Equity zum Beispiel heisst dort nicht wie bei uns in der Bildung Chancengerechtigkeit,
sondern "Vermögen", genauer: private equity, Besitz.
(Die Neue Zürcher Zeitung NZZ führt eine Beilage mit diesem Titel.)
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Dieses HABEN führt offenbar zu anderen Formen des SEINS als wir sie gewohnt sind:
1. Man kann Vermögen und damit sein Potenzial verstecken, ganz legal, wie das BR
Schneider Amman’s Firma auf der Karibik gemacht hat. Wenn man es illegal macht,
wie einige FIFA-Funktionäre bevor sie verhaftet wurden, sollte man das diskreter tun.
2. Oder man kann sein Potenzial offen zeigen, wie Wilhelm Tell die Armbrust, die
Franzosen ihre Atomraketen oder Putin seine nackten Muskeln.
Es reicht schon, dass andere sehen: Ich könnte etwas kaufen oder bewirken. Ich vermag, ich
vermöchte etwas zu tun - potenziell.
Es reicht eine kleine Geste, um das eigene Vermögen, das Potenzial, die Potenz sichtbar zu
machen.
Es gibt sehr reiche Leute, die vermögen es, andere für sich arbeiten zu lassen, oft recht
riskant – für die Arbeitenden. Man lässt Kapital arbeiten und meint damit zum Beispiel arme
afrikanische Goldminenarbeiter.
Das können auch Bundesparlamentarierinnen sein:
Frau Markwalder (und andere National- und Ständerräte) werden wohl gegen die
Erbschaftssteuerinitiative stimmen, wenn sie weiterhin ihren NR-Lohn durch
Serviceleistungen für Vermögende aufbessern wollen.
Die abgelehnten Steuern für sehr vermögende Erben oder Kapitalgewinne sind
gewissermassen vergebenes Finanzpotential für die Bildung und die Schulen, das wir nicht
ausschöpfen.
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Was ich auch noch angetroffen habe:
Potentiale können aktiviert, genutzt, optimiert, ab- und ausgeschöpft, erweitert, gekauft, oder
realisiert werden.
Oder sogar gekillt werden ("Bill it or Kill it" – Anzeige im Internet für "Potentiale und
Erlösmodelle im Mobile Gaming").
Das ist die pragmatisch-amerikanische Cowboy-Philosophie:
"Potential means nothing if you don't do anything with it."
Einen Colt muss man benutzen nicht nur zeigen.
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Deutsche Philosophen und Dichter aus der Romantik hatten es mehr mit den
schlummernden Potentialen.
Märchen wie der Froschkönig oder das Aschenputtel sind wunderbare Potenzialmärchen.
Und wie heisst es so schön:
"Ach wie gut, dass niemand weiss, dass ich Rumpelstilzchen heiss" ... (Grimm's Märchen)
Auch Entwicklungsromane wie der Grüne Heinrich von Gottfried Keller oder Rousseau's Emile gehören in diese
Kategorie der Potenzialromane.
Unsere deutsche Pädagogik lebte lange von diesen Träumen, bis sie von der anglosächsischen PISA-Empirik
aufgeschreckt wurde.
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Im Potential-Dschungel gibt es auch recht glitschige Formulierungen: Denken wir nur an
Wortbeigaben wie: Potenziale herauskitzeln, öffnen, freilegen.
(z.B. Mike Pedler et al.: Das lernende Unternehmen. Potentiale freilegen – Wettbewerbsvorteile sichern.)
Nach Annahme der Initiative gegen Sexualisierung der Volksschule werden uns Eltern für
solche Übergriffe einklagen.
PS:
Wenn bei der Potentialsteigerung gar nicht mehr geht, gibt es auch Pillen:
Berlusconi und Ritalin lassen grüssen.
Dabei müsste es gar nicht immer mehr sein.
Die Homöopathie geht vielmehr davon aus, dass sich Potenzen ins Nichts steigern lassen.
Möglicherweise haben wir es hier mit den gleichen Effekten zu tun wie bei den erwähnten
grossen Vermögen und Männern: Schon die Information zur Potenz und zum Potenzial
reicht, um im Körper Reaktionen auszulösen.
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Auch LEBE-Präsident Martin Gatti’s Spur habe ich im Dschungel angetroffen:
Er spricht in seinem Reisebericht in der Broschüre zuerst von Potentiale schützen und
unterstützen. Das klingt nachhaltig und seriös.
Später im Text dann ahnt man, dass der Durst wohl grösser und grösser wurde:
Das nächste Verb im Bericht ist Potenziale aus-schöpfen.
Das heisst, der Behälter war wohl bald leer.
Und später fantasiert er sogar von "immer wieder neu anzapfen"!
Es wurde mir dann klar, dass Martin Gatti da ganz kühl im Kopf wohl an die die finanziellen
Potenziale der LEBE-Mitglieder gedacht hat, an die finanzielle Potenz seines Verbandes und
offenbar auch an das Streikpotential, wie er heute morgen ausgeführt hat.
Das soll er auch als Präsident.
Nur ein Ämmitaler-Niidle-Buur würde da noch von Potenzial ab-schöpfen sprechen, der
Bayrische EU-Bauer wohl eher von absahnen.
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Franziska Schwab hat mich gebeten, das Symbol des Ei’s vom Titelblatt der TagungsBroschüre im Referat zu nutzen. Auch dieses Sujet hat Potenzial, wie wir sehen werden.
Ich habe am Telefon zwar zuerst "Eis" verstanden, also gefrorenes Wasser und gefragt,
ob gemeint sei "Eis auftauen" oder in gefrierendem Wasser Eis-Konturen zu erkennen".
Das wäre ebenfalls eine schöne Form von Potenzialförderung. Ich wurde dann aufgeklärt, es
gehe um Hühnereier.
Man könnte also Potential auch ausbrüten, und dann ausschlüpfen lassen.
Wenn es aber dumm läuft mit den Ei, fällt es auf den Boden und es wird definitiv glitschig.
Oder jemand schlägt es auf, weil er bei der Potentialentwicklung zu wenig Geduld aufbringt
und darauf drängt zu schauen, was drin ist.
Immerhin gibt uns der Lehrplan 21 hier etwas Luft:
Die Kompetenzen sind nur für alle 4 bzw. 3 Jahre ausformuliert und werden vom
Bildungsmonitoring nicht jährlich überprüft.
Wir müssen also die Eier nicht unbedingt aufschlagen bevor sie ausgebrütet sind.
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Die Leistungsgesellschaft und damit auch die Schulen haben in den letzten Jahren einen
Zacken zugelegt, man könnte auch sagen, sie sind raffinierter geworden beim Fördern von
Potentialen.
Man spricht unterdessen auch von Potentialen "befreien" und "entfesseln", um im globalen
Wettbewerb (auch PISA zählt dazu) mithalten zu können.
Und im Systemwettbewerb ist vor 10 Jahren eine ganze SchulentwicklungsberatungsPhilosophie um das Codewort "capacity building" entstanden.
Gemeint ist Kapazität, Leistungsfähigkeit, das Vermögen etwas zu tun,
Potenzial quasi der Hubraum eines Automotors.
Gleichzeitig schwingt Angst mit, er könnte stottern, der Wirtschaftsmotor, die Leistungen in
den Schulrankings könnten abfallen, man könne im Wettbewerb nicht mehr mithalten, die
individuelle berufliche Zukunft könnte unsicher werden.
Die Angst ist heute gross, nicht zu genügen.
Eltern wissen, was zu tun ist.
Kinder werden gefördert was das Zeug hält, damit sie ins Gymi kommen.
Psychiater warnen unterdessen von Kinder-Burnout.
Aber es gibt sie noch, die Leute, welche in der Schule nicht besonders erfolgreich waren,
irgendwann ausgestiegen sind und heute trotzdem Milliardäre sind.
In unserer Gesellschaft gilt Reichtum als Tatbeweis für Schultrauma-Resilienz.
Diese Leute konnten ihre unentdeckten Potentiale irgendwann doch noch einsetzen. Sie
haben ihr Vermögen entdeckt und dann gemacht.
Erwähnt seien mit unserer ganz doppelsinnigen Sprache die „vermögenden“
Studienabbrecher wie Bill Gates oder Steve Jobs.
Auch wir hier im Saal sind sicher noch einige, die noch nicht sind, was sie sein könnten.
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Was man heute von uns allen erwartet, ist nicht wenig.
Arbeitnehmer sollen heute
flexibel, agil, strukturiert, tatkräftig,
begeisterungsfähig, optimistisch,
zuverlässig, exakt, erfahren,
kontaktfreudig, integrationsfähig, kollegial
kritik- und konfliktfähig, durchsetzungsfähig, sozialkompetent,
und offen für Veränderungen sein,
gerne neue Herausforderungen anpacken,
ideenreich, vorausschauend,
reisebereit und zielstrebig sein.
Nur leider liegt es gar nicht immer in unserer Potenz, ob wir unser Potenzial realisieren
können.
Da reicht manchmal schon ein 'ic im Namen.
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«In die Fachbereichs- und Modullehrpläne sind überfachliche Kompetenzen eingearbeitet.
(…) Wissen und Können, fachliche und personale, soziale und methodische Kompetenzen
werden miteinander verknüpft.»
Auf die Frage, ob denn alles beurteilt werden müsse, was im LP21 steht heisst die Antwort
im Papier "Fragen und Antworten" zum LP21:
"Nein. Nicht alle im Lehrplan 21 aufgeführten Kompetenzen und Kompetenzstufen müssen
beurteilt werden. (...) Wie bisher obliegt es der Professionalität der Lehrpersonen
einzuschätzen, wann und mit welchen Mitteln sie Leistungen der Schülerinnen und Schüler
einschätzen und beurteilen. Sie beachten dabei die im Kanton geltenden Regelungen.»
Da frage ich also Sie hier im Saal: wie beurteilen sie überfachliche personale und soziale
Kompetenzen?
Machen Sie das mit Strichlisten bei Vergehen um auf der sicheren Seite zu sein?
> nach 5 Regelübertretungen eine Strafe mit Mitteilung an die Eltern,
> nach 10 Verstössen ein Eintrag im Zeugnis?
Oder verwenden Sie mindestens auch gleich viel - oder mehr Energie
für substantielle Feedbacks zu erfolgreich umgesetzten Sozialkompetenzen?
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Traditionellerweise betrachten wir an den Schulen Verhaltensnormen als Regeln, die wir
bekannt geben, durchsetzen und deren Nichteinhalten wir notfalls mit
Disziplinarmassnahmen oder Zeugniseinträgen sanktionieren.
Meist müssen wir die reichen potentiellen Waffenarsenale der Schule und der Lehrpersonen
gar nicht einsetzen sondern nur zeigen. Es reicht die Drohung (wir haben davon
gesprochen).
Werden nun soziale und personale Kompetenzen zu Lernzielen, also Unterrichtsinhalten,
dann haben wir es mit einer neuen Situation zu tun.
Es gibt Schulen, die haben ihre Elternkontakthefte umgestellt: Anstatt Strichlisten zu führen,
Übertretungen zu dokumentieren und Mängel nach Hause zu melden, werden Ziele
vereinbart, substantielle Feedbacks zu Erfolgen und positiven Entwicklungen gegeben und
Fortschritte gemeldet.
Hattie's Studien geben uns dafür den notwendigen Rückhalt: Wenn sich alle Beteiligten
gegenseitig regelmässig Rückmeldungen geben, sind wir erfolgreicher.
In solchen Kontaktheft schreiben dann nicht nur Klassenlehrpersonen sondern alle
Lehrpersonen und auch Peers, bei denen man selber Feedbacks einholt. Margrit Rasfeld hat
heute morgen schöne Beispiele zur Lobkultur gegeben.
Im Schulsystem liegt es nahe, Differenzen zu messen:
Wir vergleichen den IST-Stand mit zu erreichenden Zielen und stellen fest, wo noch Potential
vorhanden wäre.
"Da ist noch Luft drin", meint nicht den fast platten Veloreifen, sondern das noch nicht gefüllte
Gefäss, Platz nach oben.
Die vermeintliche Chance der Potenziale mündet auf dieses Weise gerne in die
Beschreibung eines Defizits, unsere déformation professionelle.
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Fragen sind deshalb ein probates Mittel für gute Gespräche, auch in Kontaktheften.
Feststellungen, "du bist" oder Ratschläge "du solltest" sind auch bei Mitarbeitergesprächen
mit Schulleitungen Gesprächskiller.
Was wir in Kontaktheften, Lernjournalen oder Gesprächen (vgl. M. Rasfeld) fragen können:
• Wovon träumst du? Für später beruflich, für dein Leben, für die nächste Zeit?
• Wofür willst Du deine Energie investieren?
• Was hast du dir für hier und heute, für diese Woche vorgenommen?
• Was hat dir heute am meisten Spass gemacht?
• Was hörst Du an Rückmeldungen von Peers oder anderen Lehrpersonen
• Was machst Du mit den Rückmeldungen?
• Was nehme ich nach diesem Tag, nach dieser Lerneinheit mit?
• Gibt es vielleicht etwas, was über all das hinausgeht, wir noch nie besprochen haben?
Schulen und Lehrpersonen haben es in der Hand, eine Potenzial-Kultur zu etablieren.
Das sind Orte, wo wir als Profession handlungsfähig sind.
Noch ein Beispiel zu den Potentialen, welche in unseren Schulen da wären, wenn wir
voneinander lernen können:
Die Sekundarschule Elsau ZH hatte sich entschieden, klassenübergreifende
selbstorganisierte Lerngruppen einzuführen, in denen wöchentlich über den Lernprozess in
der vergangenen Woche Rechenschaft abgelegt wird und neue Ziele vereinbart werden. Die
Gruppen übernehmen auch Aufgaben für die gesamte Schule. Das Modell stammt von den
Mosaik-Sekundarschulen.ch.
Um die erste Generation von Lerngruppenmoderatorinnen in ihre neue Aufgabe einzuführen,
wurden Lerngruppenmoderatorinnen aus der Sekundarschule Horn TG eingeladen. Sie
führten in Elsau selbstständig exemplarische Lerngruppen-Sitzungen durch (sogar mit einem
Sitzungsschema, das sie so nicht kannten) und informierten nachher die im Lehrerzimmer
wartenden Lehrpersonen zu ihrer Rolle.
Im Wesentlichen ging es darum, wie Lehrerinnen und Lehrer die Arbeit in den Lerngruppen
am wenigsten stören. Heute nach drei Jahren sind die Lerngruppen auch in Elsau kaum
mehr wegzudenken und die Lehrpersonen konzentrieren sich auf das Coaching der
Lerngruppenleitungen. Das Erlebnis werde ich nie mehr vergessen, wie an jenem
Nachmittag innert kürzester Zeit die vorher noch blödelnden Elsauer Schüler die
Ernsthaftigkeit ihrer Horner Gäste übernommen haben.
PS:
LCH und VSLCH unterstützen das Lernen von Schulen untereinander mit der Möglichkeit zu
Schulbesuchen über die Kantonsgrenzen hinaus:
www.profilQ.ch
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Regula Bircher hat es für diesen LEBE Tag versprochen:
"Geniessen Sie einen Tag, an dem es zu entdecken gibt,
was in Menschen und Dingen schlummert".
Nutzen wir also die Gelegenheit hier im Saal: Wenn Sie also mögen und sich trauen dürfen,
mache ich einen Vorschlag für eine kleine Übung.
ÜBUNG
Achten Sie darauf, was Sie sehen, wenn Sie jetzt nach vorne schauen
Schauen Sie nach hinten, was sehen Sie?
nach rechts, was sehen Sie?
nach links, was sehen Sie?
Schauen Sie nach oben, was sehen Sie?
Potential? Potenziale? Welche?
Das ist das Bild immer noch in vielen Schulzimmern, was Kinder voneinander sehen.
Nun drehen Sie sich gegenseitig zu, zu zweit oder zu dritt vorne und auch hinten.
Was ist der Unterschied?
Schauen Sie sich an.
Dann geben sie sich in 2' eine kleine Rückmeldung:
Welches Potential vermuten Sie, wenn sie dieses Gesicht ansehen, die Mimik beobachten,
die Augen?
Was schlummert da?
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Zum Schluss der Forschungsexpedition in den Potenzialdschungel wollen wir die Ergebnisse
etwas sortieren:
Ich kann drei Muster zum Begriff Potenziale erkennen:
1. Das normorientierte "Luft nach oben" - Modell:
Andere wissen, was sein könnte / sollte:
> fördern, vergrössern, füllen, ausweiten. In rigider Form: Normerfüllung, messen,
nachbessern, definierte IST-SOLL-Differenz verkleinern,
2. Das konsumorientierte "Verbraucher" – Modell:
Man (be-)nutzt und (ver-)braucht, was man hat:
> Anzapfen, einsetzen, abschöpfen, er-schöpfen. Im Idealfall nachhaltig: (Ressourcen)
schützen, unterstützen, fördern.
3. Das Raum schaffende "Ermöglichungs"-Modell
Mit allen Sinnen in Kontakt gehen:
> Raum bereit stellen, Erfahrungen ermöglichen, entfalten lassen. Mit Sorgfalt: aufspüren,
berühren, sichtbar machen. Mit Risiken; freilegen, herauskitzeln.
Im Lehrplan 21 wird betont, dass die Nutzung von Potentialen viel mit Wollen, Dürfen und
verantwortlicher Steuerung zu tun hat:
Es gehe um "motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften und Fähigkeiten", die
"verantwortungsvoll" genutzt werden sollen, wie Franz E. Weinert zitiert wird.
Der Österreicher Karl Valentin ist sich da nicht so sicher und meint:
"Mögen hätt i schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut."
Dabei kann ein bisschen Potenz und Angeberei mit unserem Vermögen nicht schaden:
Man muss nämlich die Eier legen, bevor man sie ausbrüten kann.
Für diesen Schöpfungsakt braucht es potente Güggel und ebenso potente Hühner.
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Das führt uns zurück zum Begriff Potenzial, früher auch Potential mit „t“ geschrieben. Das
erinnert nicht nur an potent, sondern in seiner Kurzversion auch an das frz. Wort le pot:
Da ist etwas im Pot drin.
Wenn man wie Asterix den richtigen Mix rührt und köchelt, soll das Gebräu sogar hochpotent
sein.
"Es steht in meinem Vermögen“ bedeutet heisst immer auch "ich könnte" (vermöchte) etwas
zu tun – wenn ich wollte, möchte und mag.
Ist unser Potenzial ist also auch Magie?
(Das war die letzte Frage, die nächste stellt ein Berner).
Wir sind hier in Bern, in der heimlichen Hauptstadt für sinnliche Musik und Lyrik, und es
muss wieder einmal gesagt sein:
Wo chiemtemer hi wenn alli seite wo chiemtemerhi und niemergiengti für einisch z’luege
wohi dass me chiem wenn me gieng
(Kurt Marti)
Danke für Ihre Aufmerksamkeit, für das Aushalten vieler Fragen.
Und auch der letzte Satz stammt aus Bern, aus dem neuesten Buch von Lukas Hartmann:
„Nichts, was man erzählt, ist je vollständig.
Alles bleibt Fragment, erschwindelt, ein Seiltanz von Bild zu Bild“.
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